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2017 | 3 Bertrand Forclaz, Philippe Martin (dir.), Religion et piété au déi de la guerre de Trente Ans, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2015, 346 p., nombr. ill. en n/b, ISBN 978-2-7535-4077-4, EUR 21,00. Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815) DOI: 10.11588/frrec.2017.3.41444 Seite | page 1 rezensiert von | compte rendu rédigé par Andreas Rutz, Bonn Während der Dreißigjährige Krieg in Deutschland ein vielbeachtetes Forschungsfeld darstellt, gilt er in der französischen Forschung als ein »sujet encore sous-étudié« (S. 13). Dabei war Frankreich nicht nur ein zentraler Akteur des Krieges, sondern insbesondere in seinen Grenzregionen zum Reich in vielfältiger Weise vom Kriegsgeschehen betroffen. Der vorliegende Band, der auf zwei Tagungen in Lyon und Neuchâtel im September 2013 und im Januar 2014 zurückgeht, widmet sich weniger der politischen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Vielmehr geht es um Religion und Frömmigkeit in dieser Zeit und damit um die zentralen Bezugspunkte der frühneuzeitlichen Menschen zur Einordnung und Verarbeitung der leidvollen Kriegserfahrungen. Als Quellengrundlage spielen in diesem Zusammenhang Selbstzeugnisse eine hervorragende Rolle, aber auch Chroniken, Flugblätter, Literatur und Bildwerke werden in den facettenreichen Aufsätzen des Bandes intensiv mit Blick auf das Thema ausgewertet. Kritisch anzumerken ist, dass fast ausschließlich das Denken und Handeln von Angehörigen der Eliten analysiert werden. Der »gemeine Mann« gerät dabei allenfalls indirekt, etwa als Teilnehmer von kollektiven Frömmigkeitsritualen oder in den Beschreibungen kriegerischer Gewalt, in den Blick, Frauen, egal welchen Standes, spielen quasi keine Rolle. Den regionalen Fokus bilden vor allem Lothringen, die Franche-Comté sowie die (südlichen) Niederlande. Es handelt sich dabei um Regionen, die mit Blick auf den Dreißigjährigen Krieg noch vergleichsweise wenig behandelt wurden und die in diesem Zusammenhang auch eine abweichende Chronologie kennen – so begann der Dreißigjährige Krieg in Lothringen erst 1631 und dauerte bis 1661, in der Franche-Comté spricht man vom Zehnjährigen Krieg (1634–1644) und die Niederlande erlebten bekanntlich einen Achtzigjährigen Krieg (1568–1648). Aber auch andere Regionen, etwa Böhmen und die Schweiz, begegnen in dem Sammelband. Leider fehlt ein Register, sodass die vielen Details, die insbesondere für die orts- und territorialgeschichtliche Forschung spannend wären, nicht recherchierbar sind (vgl. etwa für Wesel im Herzogtum Kleve, S. 191–193). Neben der Einleitung der Herausgeber und einem Kommentar von Kaspar von Greyerz und Yves Krumenacker, der die zentralen Aspekte des Bandes aufgreift und mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand perspektiviert, umfasst der Band 20 Beiträge. Sie sind in drei thematisch überschriebenen Sektionen gebündelt. Inhaltlich am konsistentesten sind der zweite und der dritte Teil, die auch untereinander starke Bezüge aufweisen. Der erste Teil mit dem recht allgemeinen Titel »Politique et confession« umfasst dagegen ein relativ heterogenes Spektrum an Beiträgen. Der größere Teil nimmt politische bzw. konfessionelle Akteure oder Akteursgruppen im Krieg in den Blick, deren Handeln jeweils in ihrem religiösen bzw. konfessionellen Selbstverständnis wurzelte, so die österreichischen Erzherzöge in den spanischen Niederlanden Herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut Paris | publiée par l’Institut historique allemand Publiziert unter | publiée sous CC BY 4.0 2017 | 3 (Nicolas Simon), die Reformierten in Metz (Julien Léonard) sowie zwei in habsburgischen Diensten stehende Militärs aus Fribourg, die Brüder FrançoisPierre und Albert-Nicolas König (Verena Villiger, Jean Steinauer). Auch der Beitrag von Nina Fehrlen-Weiß und Anton Schindling zu den Marienstatuen in München, Wien und Prag gehört in diesen Zusammenhang, geht es doch um die konfessionell motivierte Erinnerungspolitik der betreffenden Landesherren mit Blick auf den Dreißigjährigen Krieg. Bei den von Axelle Chassagnette analysierten Flugblättern lassen sich hingegen in der Regel weder Autoren noch Druckorte ausmachen, so dass die artikulierte und vielfach der »vox populi« zugeschriebene konfessionelle Polemik zwar inhaltlich diskutiert, aber nicht individuell oder gruppenspeziisch konkretisiert werden kann. Gelegenheitsschriften sind auch Gegenstand des Aufsatzes von Willem Frijhoff, der die konfessionspolitisch motivierte Publizistik in den Niederlanden insbesondere in den ersten Jahren des Krieges untersucht. Der zweite Teil des Bandes (»Le clergé dans l’action«) befasst sich mit dem Handeln der Geistlichkeit. Mehrere Beiträge thematisieren einzelne, auch überregional bekannte Geistliche, namentlich Pierre Fourier in Lothringen (Cédric Andriot) und Richard Pauli-Stravius in den Niederlanden (Philippe Desmette), deren Perspektive auf den Krieg anhand ihrer Korrespondenzen analysiert wird, sowie Vincent de Paul (Fabienne Henryot), dessen Missionswerk in Lothringen karitativen Zwecken gewidmet war und zugleich die französische Okkupationspolitik unterstützte. Die missionarische Tätigkeit von Geistlichen steht auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von Silvia Mostaccio, die sich mit den Jesuiten und deren enger Zusammenarbeit mit den spanischen Truppen in den Niederlanden seit 1587 befasst. Zwei weitere Beiträge thematisieren die militärischen Aktivitäten der böhmischen Geistlichkeit im Dreißigjährigen Krieg (Nicolas Richard) und bei der Belagerung von Prag 1648 (Olivier Chaline). Mit den spanischen Soldaten-Katechismen stellt schließlich Vincenzo Lavenia eine bislang kaum berücksichtigte Quellengattung vor. Die »Katechismen« bieten einen sehr präzisen Einblick in das religiös-ethische Normensystem, dem die Soldaten unterworfen werden sollten, sowie die moralischen Dilemmata, in die sie der Krieg trieb. Der dritte Teil (»Piété et dévotion«) ist der Frömmigkeit und den individuellen Versuchen gewidmet, das Kriegsgeschehen religiös zu verarbeiten resp. zu verstehen: »La guerre brouille les situations. Elle ne façonne pas les confessions. Elle atomise la vie religieuse: chacun trouve ses solutions face au malheur« (S. 15). Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit einzelnen Persönlichkeiten bzw. ihrem Werk und arbeiten die unterschiedlichen Ansätze heraus, der Katastrophe des Krieges und dem verursachten Leid einen religiösen Sinn zu geben. So erklärt der Zisterzienser Jean de la Barre das Ende der Belagerung von Cambrai 1649 mit dem Schutz und der Fürbitte der Stadtpatronin Notre-Dame-de-Grâce (Alain Lottin), der Gelehrte und Politiker Jean Boyvin interpretiert die Belagerung von Dôle 1636 als Strafe Gottes für die Ungläubigkeit und die Sünden der Belagerten, die erst durch eine Rückkehr zum rechten Glauben aufgehoben werden kann (Corinne Marchal), der Priester des Wallfahrtsorts Avioth Jean Delhotel sieht im Krieg insgesamt die Aufforderung und Chance umzukehren und sich Gott hinzugeben (Philippe Martin), eine Interpretation, die sich ganz ähnlich auch bei dem lutherischen Schriftsteller Hans Michael Moscherosch indet (Laurent Jalabert). Zwei weitere Beiträge behandeln auf der Basis des ikonograischen Befundes die Entstehung neuer Kulte und Frömmigkeitsrituale während und unter dem Eindruck des Krieges, namentlich die Verehrung der Notre-Dame Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815) DOI: 10.11588/frrec.2017.3.41444 Seite | page 2 Herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut Paris | publiée par l’Institut historique allemand Publiziert unter | publiée sous CC BY 4.0 2017 | 3 Libératrice in Salins-les-Bains (Jean-François Ryon) und der Kult des Heiligen Fidelis von Sigmaringen (Matthias Ilg). Neben diesen Einzelbeispielen besticht der übergreifende Artikel von Claire Gantet, der die Versuche der politischen Instrumentalisierung und die tatsächlich transportierten politischen Zielsetzungen von Visionen und Mirakelberichten der Jahre zwischen 1620 und 1640 analysiert. Der Sammelband beinhaltet viele interessante, quellenbasierte und sorgfältig argumentierende Beiträge. Sie bereichern die regionalgeschichtliche Forschung, können als Fallbeispiele aber auch gewinnbringend in die übergreifende Diskussion zu Religion und Krieg in der Frühen Neuzeit einbezogen werden. Die einschlägigen Sammelbände zum Thema erfahren damit eine hervorragende Ergänzung und regionale Erweiterung . Schließlich sei nachdrücklich auf den günstigen Preis des Bandes von nur 21 Euro hingewiesen, der für die Presses universitaires de Rennes normal, in der deutschen Verlagslandschaft dagegen leider undenkbar ist. Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815) DOI: 10.11588/frrec.2017.3.41444 Seite | page 3 Herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut Paris | publiée par l’Institut historique allemand Publiziert unter | publiée sous CC BY 4.0