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Landesgeschichte in Europa. Traditionen – Institutionen – Perspektiven

in: Freitag, Werner / Kißener, Michael / Reinle, Christine / Ullmann, Sabine (Hrsg.): Handbuch Landesgeschichte, Berlin/Boston 2018, S. 102–125.

Andreas Rutz Landesgeschichte in Europa. Traditionen – Institutionen – Perspektiven Die Geschichte von Räumen mittlerer Größe, also von Regionen, Landschaften, Ländern, Territorien, Provinzen, Bezirken usw., wird in allen Teilen Europas in unterschiedlicher Ausformung und Intensität betrieben. Ein gemeinsamer, in die diversen Sprachen zu übersetzender Begriff zur Kennzeichnung dieser Forschungsrichtung fehlt. Jedes europäische Land und viele Regionen in Europa haben diesbezüglich eigene historiographische Traditionen und Institutionen ausgebildet. Gemein ist ihnen die Fokussierung auf einen mehr oder weniger klar begrenzten Raum unterhalb der gesamt- bzw. nationalstaatlichen Ebene, zumeist angelehnt an politische, kirchliche oder verwaltungstechnische Einheiten, geographisch bestimmte Formationen, durch bestimmte Strukturen oder Phänomene geprägte Regionen (Wirtschaft, Sprache, Kultur usw.) oder mental konstruierte Geschichtslandschaften. Eine genaue Abgrenzung zur Geschichte kleiner Räume, etwa der Stadt- und Ortsgeschichte oder der Mikrogeschichte, ist nicht möglich. Vielmehr finden sich in der Forschungspraxis und der methodischen Diskussion vielfältige Überschneidungen und Kongruenzen. Zumindest die Stadt- und Ortsgeschichte wird in der Regel als integrativer Teil der Landesgeschichte verstanden. Ohne die unterschiedlichen Zugriffe bei der Erforschung von Räumen mittlerer Größe in Europa begrifflich in eins setzen und methodische Differenzen überdecken zu wollen, wird im Folgenden der Terminus ‚Landesgeschichte‘ als Sammelbegriff für die betreffenden Forschungen verwandt. Zunächst sollen in einem Überblick die Traditionen und Institutionen landesgeschichtlicher Forschung in den verschiedenen europäischen Staaten benannt werden (1). Angesichts der Vielfalt der Entwicklungen muss derselbe notwendigerweise kursorisch ausfallen. Anschließend werden Perspektiven für eine europäisch ausgerichtete Landesgeschichte aufgezeigt (2). 1 Traditionen und Institutionen Eine regionale Geschichtsschreibung entwickelte sich in vielen europäischen Ländern bereits in der Vormoderne. Bei allen Unterschieden im Detail lassen sich dabei mehrere vergleichbare Formen mit gemeinsamer historiographischer Tradition identifizieren. Zu nennen sind bereits seit dem Mittelalter Werke der Dynastie- und Territorialgeschichte sowie der Diözesangeschichtsschreibung, die Landesbeschreibungen humanistischer Provenienz und die staatenkundlichen Abhandlungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die jüngeren Ausprägungen der wissenschaftlichen Landeshttps://doi.org/10.1515/9783110354188-006 Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet Heruntergeladen am | 20.08.18 15:38 Landesgeschichte in Europa  103 geschichte seit dem 19. Jahrhundert sind dagegen eher heterogen. Eine gemeinsame Problemstellung der unterschiedlichen Ansätze liegt aber in der notwendigen Bestimmung des Verhältnisses von regionaler und gesamtstaatlicher bzw. nationaler, wenn nicht europäischer und globaler Ebene. Landesgeschichte kann nicht ausschließlich auf die regionale Ebene fokussieren, denn Letztere ist immer eingebunden in übergeordnete Strukturen und Prozesse, zu denen sich die lokalen und regionalen Akteure verhalten müssen, mit denen aber auch die strukturellen Bedingungen vor Ort in Beziehung stehen. Aus dem je spezifischen Verhältnis von Region und Gesamtstaat ergeben sich in den verschiedenen Ländern Europas unterschiedliche historiographische Traditionen und inhaltliche Akzentuierungen von Landesgeschichte. So lässt sich grob zwischen Staaten mit einer föderalistischen bzw. weitgehend dezentralisierten und solchen mit einer zentralistischen Struktur und Tradition unterscheiden. Erstere weisen in der Regel eine institutionell und vielfach universitär verankerte landesgeschichtliche Forschung von beachtlicher Kontinuität auf, deren Erkenntnisziel die jeweilige Region als solche, ihre spezifische Eigenart und Entwicklung, ist. Einen wichtigen Referenzrahmen bilden dabei die Territorien der Vormoderne und die territorialstaatlichen Gliederungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Nationale Gesichtspunkte spielen demgegenüber eine nachgeordnete Rolle. In zentralistisch organisierten Staaten, in denen eine eigenstaatliche Tradition auf regionaler Ebene nicht oder kaum vorhanden ist, weist die Landesgeschichte meist keinen entsprechenden Institutionalisierungsgrad auf, sieht man einmal von den auch dort in großer Vielfalt anzutreffenden lokalen und regionalen Geschichtsvereinen ab. Zugleich ist sie zumindest in ihrer akademischen Variante stärker auf den Gesamtstaat ausgerichtet, dient also eher als Exemplum für das Allgemeine denn als Forschungsobjekt sui generis. Eine dritte Gruppe von Ländern, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, bilden solche, die aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Größe unterhalb der gesamtstaatlichen Ebene keine oder kaum nennenswerte Regionen ausgeprägt haben. Landes- und Nationalgeschichte fallen hier in gewisser Weise zusammen. Das historiographische Problem von Gesamtstaat und Region stellt sich dabei in einem umgekehrten Sinne, insofern sich die betreffenden Nationalgeschichten zur Geschichte der sie umgebenden Großregion positionieren müssen. Hierzu gehören etwa Luxemburg1 oder die baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen.2 1 Hendrickx, Westen 2000, S. 168–170; Pauly, Muschelkette 2007. 2 Hackmann, Peripherie 2012. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet Heruntergeladen am | 20.08.18 15:38 Handbuch Landesgeschichte  Herausgegeben von Werner Freitag, Michael Kißener, Christine Reinle, Sabine Ullmann Bereitgestellt von | ULB Bonn Angemeldet Heruntergeladen am | 20.08.18 17:33 ISBN 978-3-11-035411-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035418-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039754-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Tobias Kniep, IStG Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Redaktion: Ria Hänisch, Institut für vergleichende Städtegeschichte Münster www.degruyter.com Bereitgestellt von | ULB Bonn Angemeldet Heruntergeladen am | 20.08.18 17:33