Tino Plümecke
Rasse in der Ära der Genetik
Die Ordnung des Menschen in den Lebenswissenschaften
Juni 2013, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2145-7
Die Einteilung von Menschen in Rassen ist eine der umstrittensten Praktiken biologischer Forschung. Doch statt ihres Endes zeichnet sich in den letzten Jahrzehnten eine
Renaissance rassifizierter Konzepte ab.
Tino Plümeckes detaillierte Studie geht erstmals der Frage nach, wieso Rasse immer
wieder Teil modernster Forschungen werden konnte. Analysiert werden die Rassifizierungen in verschiedenen biologischen Disziplinen und die Entwicklungslinien im
Kontext genetischer Ansätze. Das Buch führt Kompetenzen aus den Bio- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen und liefert einen Beitrag zur Weiterentwicklung kritischer und intervenierender Wissenschaftsforschung.
Tino Plümecke (Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie,
Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft der Goethe-Universität Frankfurt
am Main.
Weitere Informationen und Bestellung unter:
www.transcript-verlag.de/ts2145/ts2145.php
Inhalt
Einleitung
Differenzierende Verhältnisse .......................................................................................... 9
Ungleichheit in den Lebenswissenschaften .............................................................13
Kapitel Eins
Perspektiven und Grundlagen ........................................................................................19
Was ist Rasse? .........................................................................................................................19
Sozialität der Differenz ......................................................................................................23
Gesellschaftsforschung als Wissenschaftsforschung ...........................................25
Gesellschaftskritische Wissenschaftsforschung.......................................................28
Gesellschaftstheorie und Historisierung.....................................................................33
Rasse, Rassifizierung, Rassismus: Theorien ................................................................34
Bedingungen der Rassismusanalyse ............................................................................37
Dimensionen von Rassismen...........................................................................................39
Nichts ist wie es bleibt: Zur Fassung von (Dis)Kontinuitäten ............................46
Begriffe und Semantiken ..................................................................................................49
Kapitel Zwei
Geschichte: Die Vergangenheit untersuchen,
um die Gegenwart zu destabilisieren .......................................................................... 5
Gesellschaftliche Funktionalitäten von Rasse .........................................................59
Differenzen und Teilungen der Moderne ..................................................................61
Historie des Rassebegriffs und der Rassekonzepte ...............................................66
Wie Rassismus wissenschaftlich wurde ......................................................................69
Akademisierung und Naturalisierung: Boom der Rassen-Anthropologie ....75
Antirassismus: Von der Kritik an Rasse
zur Zurückweisung des wissenschaftlichen Rassismus .......................................78
Kritiken: Gegen Bio-Essentialismus,
Determinismus und Hierarchisierung der Rassen .................................................81
UNESCO-Statements zur »Rassenfrage« ....................................................................84
Kontinuitäten und Brüche seit 1945: Zur Gegenwart der Vergangenheit ....93
Weiterführung typologischer Rassekonzepte nach 1945 ...................................95
Kapitel Drei
Genetifizierung .......................................................................................................................99
Genetische Verhältnisse ................................................................................................ 100
Problematisierungen:
Gen-Determinismus, Genetischer Essentialismus, Genetifizierung ............ 102
Genetifizierung von Rasse – Rassifizierte Genetik .............................................. 105
Die Ära der Genetik ......................................................................................................... 108
Die Vererbung des Unterschieds ............................................................................... 111
Biopolitik der Vererbung: Die Erfassung des Lebens ........................................ 114
Genetifizierung der Lebenswissenschaften .......................................................... 118
Vom Phän zum Gen ......................................................................................................... 121
Verinnerlichung und Verkleinerung ......................................................................... 125
Knochen, Haut und Haare ............................................................................................ 129
Psyche – Das Seelenleben der Rasse ........................................................................ 134
Transfusionen zwischen Rasse und Blut ................................................................. 139
Proteine – Grundstoff des Lebens und der Differenz ........................................ 147
Populationsgenetik:
Rasse als Merkmalsverteilungen und Frequenzunterschiede ....................... 152
Seroanthropologie als epistemische Schwelle .................................................... 156
Metamorphosen genetischer Rassekonzepte ...................................................... 161
Kapitel Vier
Rasse in der Post/Genomik:
Die neuen Differenzen der Lebenswissenschaften ............................................169
Differenzierende Genomik – Das Human Genome Diversity Project ......... 170
Von der Genetik zur Genomik zur Postgenomik ................................................. 178
Modernisierungslinien rassischer Differenz .......................................................... 180
Molekularisierung ......................................................................................................... 182
Die Sequenzierung des Lebens .................................................................................. 183
Genetische Marker der Differenz:
Vom Blut zu Mitochondrien, Satelliten und repetitiver DNA ......................... 185
Der Junge aus Ghana und die Knochen von Mengele ..................................... 189
Einzelnukleotid-Polymorphismen und Admixture Mapping ......................... 191
Herkunfts-Marker und Phänotypisierung in der Molekularen Forensik ..... 193
Medikalisierung ............................................................................................................. 197
Rasse auf Rezept: BiDil ................................................................................................... 197
Gesellschaftliche Aushandlungen um Gesundheit und Krankheit .............. 200
Der lange Schatten rassistischer Medizin .............................................................. 203
Genetische Screenings als Mittler zur neuen Rasseforschung ...................... 206
Zensuskategorien und »Biomultikulturalismus« ................................................. 209
Differenzdilemma der Gesundheitsunterschiede .............................................. 211
Bio-Integrationismus ................................................................................................... 217
Genetische Herkunftstests ............................................................................................ 217
Differente Differenzierungen:
Von der sozialen zur genetischen Ungleichheit .................................................. 223
Von Minderwertigkeit zu Diversity ............................................................................ 225
Diversity Marketing – Rasse© als Produkt ................................................................ 229
Humanitarisierung und rhetorische Adaptionen ................................................ 231
Kapitel Fünf
Analytik rassifizierender Gesellschaften ................................................................ 237
Kontinuierungen kategorialer Differenz ................................................................. 238
Moderne gesellschaftliche Teilungen und moderne Genetik ....................... 242
Erfolge der Kritik… .......................................................................................................... 246
…und Erfolge der neuen Rassifizierungen ............................................................ 252
Resistenzen biologischer Rassekonzepte ............................................................... 255
Kontinuitäten rassifizierender Biopolitik ................................................................ 259
Radikalisierung sozialwissenschaftlicher Analyse und Kritik .......................... 264
Für eine postrassifizierende Wissenschaft vom Menschen ............................. 270
Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 277
Register ....................................................................................................................................... 313
Einleitung
Differenzierende Verhältnisse
Am . Juli kehrte Henry Louis Gates Jr. von einer Reise nach China zu
seinem Wohnhaus in Cambridge, Massachusetts zurück und fand die Tür beschädigt vor. Da sie sich nicht öffnen ließ, betrat er sein Haus durch den Hintereingang
und konnte schließlich mit Hilfe seines Fahrers die Eingangstür aufdrücken.
Gates hatte auf seiner Chinareise als Teil seiner genetisch-genealogischen
Nachforschungen die Familiengeschichte des Cellisten Yo-Yo Ma für die von ihm
koproduzierte Fernsehserie »Faces of America« untersucht. In dieser wie auch in
der ebenfalls von ihm produzierten Sendung »African American Lives« stellt er
die Herkunsgeschichten prominenter Afroamerikanerˍinnen vor. Er arbeitet dafür
mit klassisch genealogischen Materialien ebenso wie neuesten genetischen Methoden. Gates popularisiert aber nicht nur moderne molekulargenetische Forschungsansätze, er ist auch Professor für Englische Literatur an der Harvard University
sowie Direktor des W.E.B. Du Bois Institute for African and African American
Research. Er ist bekannt für seine Arbeiten zu black literature, für seine Kritik an
rassistischen westlichen Diskursen und für seine Argumentationen gegen »intellektuellen Rassismus« europäischer ästhetischer Normen. Das Magazin Time bezeichnete ihn als einen der » Most Influential Americans«.
An jenem Tag, an dem Gates zurückgekehrt war, und sich schon einige Minuten in seinem Haus befand, stand plötzlich ein Beamter der örtlichen Polizei vor
dem Eingang. Officer James Crowley forderte Gates auf, aus dem Haus herauszutreten. Jemand hatte, mit dem Hinweis auf einen möglichen Einbruch, die Polizei
gerufen. Gates weigerte sich der Aufforderung des Polizisten Folge zu leisten,
denn schließlich sei er der rechtmäßige Bewohner des Hauses und könne sich
ausweisen. Nach einem Wortgefecht nahm ihn der Beamte jedoch fest und brachte
ihn in Handschellen auf die Polizeiwache (Ogletree ).
10 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Der Vorfall erlangte schnell öffentliche Aufmerksamkeit und wurde in verschiedenen regionalen und landesweiten Medien als Beispiel für racial profiling debattiert.
Auch Gates kritisierte die Festnahme als rassistische Ungleichbehandlung. Schon
zwei Tage später äußerte sich Präsident Barack Obama auf einer Pressekonferenz
zu der Angelegenheit und kommentierte, dass die Polizei »stupidly« (zit. nach
McPhee ) reagiert habe, was wiederum weitere öffentliche Auseinandersetzungen hervorrief. Als Ergebnis lud Obama kurz darauf Gates und Crowley
ins Weiße Haus zu einem »beer summit« ein, um über den Vorfall zu sprechen.
Die Festnahme hat über die öffentliche Aufmerksamkeit und die Debatte um
rassistische Polizeipraktiken hinaus noch weitere Bedeutungen. Gates betätigt
sich seit dem Tod seines Großvaters im Jahr als Hobbygenealoge. Damals
fand er ein Bild einer Vorfahrin, der geborenen Sklavin Jane Gates. Seitdem
beschäigt er sich mit seiner Familiengeschichte – zunächst per klassischer genealogischer Recherche in Akten, behördlichen Einträgen etc. Im Jahr ließ Gates
dann einen der damals ersten genetischen Herkunstests durchführen, mit dem
Ergebnis, dass seine mütterliche Linie am ehesten nach Äthiopien, wahrscheinlich zu den Nubiern zurück zu verfolgen sei. Fünf Jahre später ließ er einen weiteren Test von einem anderen Gentest-Anbieter vornehmen, der allerdings herausfand, dass seine Vorfahren mütterlicherseits nicht von den Nubiern, nicht mal aus
Afrika, sondern mutmaßlich aus Europa stammten (Nixon ). Dies hatte zur
Folge, dass Gates sich seither genauer mit genetischen Testmöglichkeiten befasst.
So genau, dass er mittlerweile Mitglied des Personal Genome Project an der Harvard
Medical School ist. Er und sein Vater sind die ersten Afroamerikaner, deren
Genom vollständig sequenziert wurde. Neben dem Harvard-Projekt ist Gates
Partner des personal genomics-Testanbieters »andme« und »AfricanDNA«, mit
deren ancestry tests er die eben schon erwähnten Familiengenealogien prominenter
Afroamerikanerˍinnen als genetische Geschichte(n) präsentiert. 1 Er selbst erfuhr
durch den Gentest von »andme«, dass sein Genom zu über europäischer
Herkun sei und er zehn von elf Marker-Übereinstimmungen mit mutmaßlichen
Abkömmlingen des irischen Königs »Niall of the Nine Hostages« (Niall Noígíallach) besitze (Bayton ). Dieselbe Markerkombination wie der im vierten
Jahrhundert geborene König besitzt auch der Polizeibeamte Crowley, weshalb er
und Gates entfernte genetische Cousins sind. Aber das ist noch nicht alles: Diese
»irischen Gene« verbinden beide auch mit Präsident Obama (O'Dowd ).
Die DNA des Afro-Amerikaners Gates besteht also zu mehr als aus europäischen Genen? Kann er dann überhaupt Opfer einer rassistisch motivierten Polizeibehandlung werden, wie Bloggerˍinnen im Kontext der Festnahme fragten?
Was macht Gates zu einem Schwarzen? Die Hautfarbe, die Gene, wie viele Gene,
1
Siehe www.andme.com/partner/foa und http://www.africandna.com, Stand ...
DIFFERENZEN IN DEN LEBENSWISSENSCHAFTEN | 11
die ›one-drop rule‹ 2, Politiken der Segregation oder die Erfahrung rassistischer
Handlungen? Wieso sollte eine Einteilung von Genen in europäisch, afrikanisch,
asiatisch und Native American überhaupt sinnvoll sein? Obwohl Gates, wie auch
Obama, aufgrund ihrer Abstammung ebenfalls sowohl als »multiracial« wie auch
als »weiß« klassifziert werden könnten, scheint ihre Zugehörigkeit im Kontext der
US-amerikanischen Gesellscha nur mit dem Label »schwarz« richtig benannt zu
sein. Die Gene, deren rassifzierte Zuordnung den Anbietern und Konsumentˍ
innen von genetischen Herkunstests vernünig erscheint, sind offenbar als Faktum genealogischer Herkun dienlich, können gleichzeitig aber die politische
Bedeutung rassischer Zuordnungskategorien wenig erschüttern. Zwar eignen sich
die genetischen Marker offenbar gut dazu, eine Herkun zu einem »Ursprungsvolk« zu enthüllen und damit die eigene Familiengeschichte in eine Zeit zurückzuverfolgen, für die es keine schrilichen Aufzeichnungen gibt. Gegen die
›harten‹ sozialen Einteilungspraktiken kommen sie offensichtlich aber nicht an.
Die mehr als europäischen Gene und die ›irische Markerkombination‹ seines
Y-Chromosoms machen Gates nicht zu einem Irish American, genauso wenig
wie Obama als Sohn einer weißen Amerikanerin (überwiegend englischer Herkun) und eines Kenianers kaum als Angloamerikaner wahrgenommen wird.
Die als Fakten präsentierten rassifzierten Ergebnisse der Gentests erlangen
also vor dem Hintergrund der Bedeutung alltäglicher wie institutionalisierter rassifzierender Zuordnungen wenig Wirkmacht. Selbst die Macht der Zahlen von
›über Gene europäischer Abstammung‹ scheint in diesem Fall nicht relevant.
An anderer Stelle werden ›große‹ Zahlen aber mit allerlei Bedeutung aufgeladen.
So schaltete das Monatsmagazin »U.S. News & World Report« zwei Tage nach
dem Vorfall am . Juli eine Onlineumfrage: »Wer hat recht: Henry Louis
Gates oder Officer James Crowley? Spielte Rasse eine Rolle bei dem Vorfall?«
Das Ergebnis war, dass , Gates und , Crowley glaubten (U.S. News
Staff ). Nach Obamas Äußerungen zu dem Vorfall auf der Pressekonferenz
fel die Zustimmung weißer Wählerˍinnen zu seiner Politik innerhalb von zwei
Tagen von auf (Harnden ).
Was aus all dem deutlich wird, ist zunächst, dass rassische 3 Einteilungen in
Politik und Alltagssituationen mit Machtverhältnissen, sozialer Ungleichheit, mit
Politiken des Empowerment, mit Hierarchisierungen, Wertungen und mit Geschichte(n) verwoben sind. Darüber hinaus zeigt der Fall Gates, dass Rasse ein
2
3
Die ›one-drop rule‹ beschreibt die historischen und kulturell auch heute gängigen Praktiken
zur Einteilung von Schwarzen und Weißen in den USA, bei der etwa eine Person mit einer/m
schwarzen Vorfahrˍin in der Urgroßelterngeneration ebenfalls als schwarz gilt. Ein Tropfen
»schwarzes Blut« wird zum ausschlaggebenden Merkmal.
Zur umfangreichen Debatte um die Verwendung und Schreibung des Begriffs »Rasse« siehe
die Ausführungen unter »Begriffe und Semantiken« ab Seite .
12 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
heikles und brisantes ema ist – nicht nur in den Vereinigten Staaten. Gates’
Geschichte verdeutlicht vor allem die Verwicklung von biologischen Aussagen
mit sozialen Kategorien. Die öffentliche Aufmerksamkeit rund um seine Verhaung zeigt zuallererst eine politische Bedeutung rassischer Zuordnungen in
Alltagsinteraktionen und institutionalisierten Settings wie etwa Polizeikontrollen
auf. Was ist aber mit Gates’ genetischem Engagement? Viele Menschen entrüsteten
sich über seine Festnahme und werteten sie als Indiz einer rassistischen Exekutive. Aber maßen sie den von Gates durchgeführten rassifzierten Gentests eine
ähnliche Bedeutung zu? Wie sind die Gentests im Kontext rassifzierend segregierender Verhältnisse zu bewerten?
Welche Rolle könnte ein Fall wie der von Gates im deutschsprachigen Kontext spielen? Der Begriff »Rasse« ist im Deutschen nur wenig gebräuchlich. Rasse
ist vielmehr das Unwort der letzten Jahre, semantisch verknüp mit der auf
Reinheit und Vernichtung ausgerichteten eugenischen Politik der Nazis. Nicht
einmal rassistische Schmähschrien wie ilo Sarrazins »Deutschland scha
sich ab« dürfen dieses Wort enthalten, weil es ihm im Verlagslektorat durch den
Begriff »Ethnie« ersetzt wurde (Broder ). Trotz solcher Vermeidungen des
Begriffs Rasse im öffentlichen Raum sind rassi(sti)sche Zuordnungen omnipräsent. Wenn Gates oder Obama nach Deutschland kommen, werden sie nicht
nur als Bürger eines anderen Landes, sondern zudem als Schwarze wahrgenommen. Auch wenn Sarrazins Buch nicht den Titel »Das weiße Deutschland schaf
sich ab« trägt, so enthält es dennoch diese Bedeutung. Denn der Autor geht wie
selbstverständlich von einem Deutschland aus, zu dem Migrantˍinnen, Muslimˍ
innen, People of Color und Schwarze nicht gehören. 4 Obwohl der Begriff Rasse also
vergleichsweise wenig in Erscheinung tritt, tri das für Rassismus und Rassifzierungen keinesfalls zu.
Ausgangspunkt für die weiteren Erörterungen ist deshalb, dass es sich bei
Rasse, Rassismus und Rassifzierung um verwickelte Verhältnisse handelt, in denen
biologische und politische Bedeutungen miteinander verwoben sind, sich erst gegenseitig Sinn verleihen und entsprechend schwer zu entwirren sind. Der Frage,
was dies mit Genen und mit neuesten genetischen Forschungen zu tun hat, widmet
sich dieses Buch. Eine Grundannahme ist dabei, dass Macht und Wissen konstitutiv aufeinander bezogen und moderne Gesellschaen durch eine In-FunktionSetzung insbesondere lebenswissenschalichen Wissens gekennzeichnet sind. Um
diese Verwicklungen von Politik und Wissen zu entwirren, gilt es zunächst einige
Ausgangspunkte des Blicks auf diese Verhältnisse zu besprechen. Denn Rasse ist
4
Das amerikanische Pedant zu Sarrazins Buch ist wohl Patrick J. Buchanans »Suicide of a
Superpower: Will America Survive to ?«, in dem er im . Kapitel mit dem Titel »e
End of White America« über die Gefährdung des »weißen Amerikas« schreibt.
DIFFERENZEN IN DEN LEBENSWISSENSCHAFTEN | 13
kein sachliches Objekt in einem neutralen Kontext, weshalb es nicht ausreichen
kann, von einem vermeintlich unbeteiligten Standpunkt aus Gebrauchsweisen der
Kategorie Rasse zu beobachten. Für die Untersuchung des Inhalts aktueller biologischer Rasse-Verständnisse ist entsprechend eine gesellschastheoretische Grundlegung und eine Perspektivierung der hier zu erörternden Fragen notwendig.
Ungleichheit in den Lebenswissenschaften
Eigentlich schienen sich doch fast alle einig zu sein: Rasse, dieser Begriff zur biologischen Kategorisierung von Menschen, der wie kaum ein anderer äußerst negative Assoziationen zu wecken vermag, ist überholt. Dieser Annahme, die sich aus
einer antirassistischen Hoffnung und einem sozialwissenschalichen Basiswissen
speist, steht jedoch eine Persistenz biowissenschalicher Forschungspapieren,
Studien und Untersuchungsansätzen entgegen, die in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden. Keinesfalls gehört also die rassische Einteilung von Menschen der Vergangenheit an. Dabei sind es aber nicht etwa nur jene vermeintlich
Ewiggestrigen, jene Nazis, Rassistˍinnen oder Populistˍinnen, die sich immer
wieder rassifzierender Taxonomien bedienen. Nein, Unterteilungen der Menschheit in Rassen anhand biologischer Merkmale sind en vogue, auch und gerade in
den produktivsten wissenschalichen Disziplinen der Gegenwart.
Rassekonzepte fnden in den hochtechnisierten Laboren der Lebenswissenschaen 5 Verwendung, sowohl als Untersuchungsobjekt, als Erkenntnismittel sowie
als Resultat der Forschung. Biologische Rassemodelle und verschiedene Formen
von Rassifzierung sind in der Mitte der lebenswissenschalichen Disziplinen, in
diversen gesundheitsrelevanten Forschungen, in medizinischen, pharmakologi-
5
In Anlehnung an den angloamerikanischen Sammelbegriff life sciences ist der Terminus
»Lebenswissenschaften« in den letzten beiden Jahrzehnten geläufig geworden. Im deutschen Sprachraum wird der Begriff mittlerweile o als Eigenbezeichnung synonym zu
Biowissenschaften verwendet und bezeichn et allgemein die Wissenschaften vom Leben
wie die Genetik, Medizin, Forensik, Pharmakologie, Neurowissenschaen, häufg auch
die Psychologie, Anthropologie usw. Erst gegen Ende des . Jahrhunderts wurden im
Kontext einer epistemischen Verschiebung zum Lebensbegriff die Lebenswissenschaften
zu einer Chiffre innovativer, zumeist genetischer oder neurobiologischer Forschung
sowie für anwendungs- und marktorientierte Bereiche der Biowissenschaen. Vor der
Biologisierung des Begriffs umfasste dieser auch geisteswissenschaftliche Zugänge: »Was
ist das Leben?« war zur Mitte des . Jahrhunderts keine Frage, die sich auf die kleinsten
Einheiten von Leben und dessen Dispositions- und Determinationsverhältnisse, sondern vielmehr auf Kultur und Gesellscha richtete. Im Folgenden werden die Begriffe
»Bio-« und »Lebenswissenschaen« zumeist synonym verwendet, wobei mir für historische Ausführungen der Begriff »Biowissenschaen« angemessener erscheint.
14 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
schen, epidemiologischen und forensischen Studien zu fnden. Zudem wird Rasse
in kommerziellen genetischen Abstammungstests konstruiert und vermarktet sowie in der biologischen Anthropologie unter Zuhilfenahme genetischer Marker neu
formiert. Eine über die letzten beiden Jahrzehnte steigende Anzahl an Forschungsprojekten postuliert die Brauchbarkeit rassischer Einteilungsmodelle unter der Annahme einer genetischen Bestimmbarkeit menschlicher Differenz.
Rassekonzepte zur Einteilung von Menschen besitzen also wissenschaliche
Aktualität. Dennoch bleibt die Verwendung rassischer Kategorien hoch umstritten – sowohl innerhalb wie außerhalb lebenswissenschalicher Disziplinen. Um
die Bedeutung von Rasse in den heutigen Lebenswissenschaen zu untersuchen,
sind also auch die Kritiken, Infragestellungen und begrifflichen Ersetzungen des
Terminus »Rasse« in die Analyse einzubeziehen. Es geht somit darum, den konstitutiven Nexus von Macht und Wissen in den spezifschen Verknüpfungen von
rassischen Kategorien mit Wissenscha als Teil von Gesellscha zu untersuchen.
Rasse kann dabei nicht aus sich heraus bestimmt oder als rein wissenschalicher
Gegenstand verstanden werden. Vielmehr muss für ein Verständnis von Rasse in
der Gegenwart die Geschichte des Konzepts in den Biowissenschaen einbezogen
werden. Es ist zu rekonstruieren, warum rassifzierende Konzepte bis in die heutige Zeit Bestand haben, wie sie reformuliert und modifziert werden, und
schließlich, welche Auseinandersetzungen und Kämpfe um Deutungsmacht im
Konglomerat aus Wissenscha, Politik und Gesellscha ausgetragen werden.
Ansatzpunkt dieser Untersuchung ist die Persistenz rassischer Konzepte und
die Konjunktur der Rassifzierung menschlicher Differenz in aktuellen Forschungen. Hierzu lässt sich eine Reihe von Fragen stellen, denen aus verschiedenen
Perspektiven nachgegangen wird. Leitend ist die Frage, warum es noch immer
biologische Rassekonzepte gibt und wieso Rasse angesichts der massiven Kritik
nicht schon längst ins Museum für Wissenschasgeschichte verabschiedet worden
ist. Wie kommt es, dass stattdessen rassifzierte und rassifzierende Forschung in
den letzten Jahrzehnten wieder eine Ausweitung erfährt?
Aufbauend auf diesen Leitfragen wird die gesellschaliche Verfasstheit menschlicher Unterschiede und wissenschalicher Differenzierungen in den Blick genommen: Wie erlangen lebenswissenschaliche Forschungen zu Rasse trotz aller
Kritik den Status seriöser Wissenscha? Um dies zu klären, ist dem Bedeutungswandel wissenschalicher Rassekonzepte von ihren Ursprüngen über ihre Genetifzierung bis in die Gegenwart zu folgen. Die hieran geknüpen Fragen lauten:
Warum sind in modernen, demokratischen und liberalen Gesellschaen rassische Taxonomien (noch immer) relevant – und nicht völlig andere oder gar keine?
Welche Rolle nehmen die verschiedenen Wissenschaen dabei ein? Inwiefern wirken sie an der Reproduktion rassischer Differenz und der (Re)Formulierung kate-
DIFFERENZEN IN DEN LEBENSWISSENSCHAFTEN | 15
gorialer Einteilungen von Menschen oder aber an der Kritik rassistischer Zuschreibungen und rassifzierender Konzepte mit? Auf welches ›Problem‹ suchen die
vielfältigen Rasseeinteilungen zu antworten? Welche Effekte erzeugt ein Liberalismus, der das Leben und das Wissen um dieses ins Zentrum von Regierungshandeln setzt? Und letztlich, wieso wird überhaupt nach biologischen Erklärungen
für ein zuallererst soziales Phänomen gesellschalicher Stratifzierung gesucht?
Zu ergründen ist also, wie Rassekonzepte immer wieder mit neuem Leben erfüllt,
in je aktuellen Modellen reformuliert werden, und in welchen Bedingungsgefügen
dies geschieht.
Die theoretische Rahmung der Untersuchung bildet ein sozialwissenschaliches Verständnis von Rasse, mit dem davon ausgegangen wird, dass rassische Kategorisierungen Resultat sozialer Sinnproduktion und institutionalisierter (Zu)Ordnungen sind, durch die menschliche Heterogenität anhand kontingenter Unterscheidungen (meist nach Hautfarbe, Augenform, Haarstruktur, Herkun, Genen,
aber auch kulturellen und sozialen Attribute wie Religion, Staatszugehörigkeit,
Sprache) auf eindeutige Differenzen festgeschrieben wird. Um die Funktionen
und Wirkungen rassifzierter Taxonomien zu erfassen, bedarf es einer gesellschastheoretischen, mithin gesellschaskritischen Perspektive. Die damit verbundene
Ausgangsthese lautet daher, dass Rasse eine gesellschaliche Teilungspraxis ist,
deren lebenswissenschaliche Konzeptionen keinesfalls aus der Biologie heraus
erklärt werden können, sondern im Kontext einer gesellschalichen Legitimationsordnung und – im Konkreten – als Praxen der Rassifzierung zu begreifen sind.
Rassifzierte Konzepte in den Lebenswissenschaen sind, entgegen der Darstellung mancher kulturalistischer Ansätze, keinesfalls allein aus den gesellschalichen
Bedingungen heraus zu bestimmen. Weder sind biologische Rassekonzeptionen
von gesellschalichen Mythen oder rassistischen Stereotypen determiniert, noch
reicht ein ideologietheoretischer Zugang aus, der Rassifzierungen lediglich als
pseudowissenschaliche Versuche der Rechtfertigung bestehender UngleichheitsVerhältnisse zu fassen versucht. Vielmehr unterliegt Gesellscha – und in ihr
Wissenscha – mit ihren rassifzierenden Teilungskonzepten jeweils eigenen,
spezifschen Dynamiken. Die wissenschalichen Akteure betreten eigene, den
gesellschalichen und politischen Anrufungen o nicht bzw. nicht in Gänze
entsprechende Wege. Zudem beugt sich menschliche Differenz immer nur bedingt
den theoretischen Entwürfen und gesellschalichen Kategorisierungen. Rasse
und lebenswissenschaliche Rassifzierungen sind deshalb als komplexe Konfgurationen mit spezifscher Dynamik zu begreifen, für deren Analyse ein multiperspektivischer Ansatz erforderlich ist. Insbesondere bedarf es für die neue,
modernisierte Rasseforschung in der gegenwärtigen Ära der Genetik, Genomik
und Postgenomik einer aktuellen sozialwissenschalichen Analyse und Kritik.
16 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Die hier aufgeworfenen Fragen werden in fünf Schritten bearbeitet: Im ersten
Kapitel erfolgt eine gesellschastheoretische und historiologische Einordnung der
Teilungsdimension Rasse und der wissenschalichen Rassekonzepte in Relation zu
außerwissenschalichen sozialen Praktiken, ökonomischen Bedingungen und
politischen Deutungsmustern. Hierfür werden somit zunächst gesellschas- und
rassismustheoretische Dimensionen, die Heuristik der Wissenschasforschung
und das begriffliche und konzeptionelle Vorgehen erläutert.
Das zweite Kapitel erkundet mittels einer Historisierung den Rassebegriff und
die Rassekonzeptionen in Relation zur Entstehung der europäischen Moderne. Ziel
dieses Vorgehens ist es, eine Grundlegung für die Ausgangsthese zu erarbeiten, mit
welcher die Gesellschalichkeit rassifzierender und rassifzierter Teilungskonzepte verstanden werden kann. Der Fokus liegt dabei auf biowissenschalichen
Konzeptualisierungen von Rasse und deren stetigen Veränderungen und Erneuerungen. Daher werden die wechselnden Bedeutungen, Funktionalitäten, aber
auch Kontinuitäten von Rasse mit Blick auf deren Verwissenschalichung und
die damit verbundenen (Aus)Wirkungen beleuchtet. Besondere Beachtung erhält
darin die Entstehung der Kritik und der Absagen an Rassevorstellungen. Bedeutungsvoll für die Erörterung von Kontinuitäten und Brüchen in der Rasseforschung der letzten Jahrzehnte sind insbesondere die Nachkriegsdebatten um die
Validität von rassischen Einteilungen.
Während die Historisierung im zweiten Kapitel weitgehend einem linearen
Muster folgt, aus dem die gesellschalichen Bedingungen, die Auseinandersetzungen um Rasse und die wissenschaliche Produktion rassischer Konzepte deutlich
werden sollen, geht es im dritten Kapitel vor allem darum, den stetigen Wandel bei
gleichzeitigem Bestand rassischer Konzepte anhand verschiedener Forschungsstränge herauszuarbeiten. Rassekonzepte zeichnen sich von Anfang an durch eine
koproduktive Bindung an Vererbungsmodelle aus, die sich bereits zu Beginn des
. Jahrhunderts mit dem Aufkommen genetischer Vererbungstheorien und Untersuchungsmethoden massiv verstärkt. Rekonstruiert wird deshalb, wie Rassemodelle
in Relation zur Entwicklung der Genetik (und genetischer Narrative) fortgeschrieben wurden. Neben den Kontinuitäten rassifzierter Differenzforschung stehen
dabei auch die Brüche in den Konzepten, d. h. die Veränderungen der Erzählungen
über die ›Natur der Differenz‹ und die Wechsel in deren Signaturen – Knochen,
Psyche, Blut, Proteine, Gene und Punktmutationen – im Fokus.
Auauend auf der Analyse zunehmender Genetifzierung von Rasse im .
Jahrhundert werden im vierten Kapitel die aktuellen Rassifzierungen der Genomik
und Postgenomik untersucht. In den Blick geraten die mit der technischen Darstellbarkeit von Nukleotidbasensequenzen der DNA (ab Mitte der er Jahre)
im Zusammenhang stehenden Transformationen lebenswissenschalicher Rasse-
DIFFERENZEN IN DEN LEBENSWISSENSCHAFTEN | 17
konzepte. Die Reform(ul)ierungen rassifzierender Differenz sind dabei als Modernisierungen entlang den Prozessen der Molekularisierung, Medikalisierung und
des Bio-Integrationismus zu untersuchen. Im Schlusskapitel werden die vorgenommen Analysen, die historischen Erörterungen und die Modernisierungen rassischer Kategorien, ihre Beständigkeit und Wandlungsfähigkeit diskutiert sowie die
gesellschalichen Verhältnisse und Potentiale einer Radikalisierung sozialwissenschalicher Kritik nochmals in den Fokus gesetzt. Für die Bearbeitung der aufgestellten Fragen wird nun zuerst eine Klärung der sozialwissenschalichen Perspektive und theoretischen Grundlagen der Gesamtuntersuchung vorgenommen.
Kapitel Eins
Perspektiven und Grundlagen
Despite public declarations of the end of biological
race, however, the concept refuses to die.
Anne Fausto-Sterling , S.
Was ist Rasse?
Die Einteilung von Menschen in Rassen ist aus sozialwissenschalicher Perspektive betrachtet ein Tun, eine Praxis kategorisierender Zuordnung von Individuen
zu Gruppen. Eine solche Praxis der Unterscheidung und Zuordnung kann der
Sichtbarmachung von Gleichheit, Ähnlichkeit und Unterschieden dienen. Über
eine solche Zwecksetzung hinaus ist die Einteilung von Menschen in Rassen zumeist mit weiteren Bedeutungszuweisungen und Wertungen sowie mit Hierarchisierung, Privilegierung und Deprivilegierung verbunden, wie in zahlreichen
Studien herausgearbeitet wurde. 6 Mithin wird Rasse in Interaktionen und wissenschaftlich-technischen Handlungen erzeugt. Rasse ist dabei nichts Statisches, dessen Faktizität erschlossen werden kann, sie wird vielmehr hergestellt und in
unterschiedlichen Praxen mit biologischen, kulturellen, politischen, religiösen und
psychischen Eigenschaften verknüpft. Dabei ist das Zuordnungs- bzw. Teilungskonzept Rasse nicht nur durch eine Fülle an Bedeutungen, sondern vor allem – wie
auch der Gates-Fall verdeutlicht – durch eine grundlegend unentwirrbare Verschränkung sozial-kultureller, politischer und biologischer Sinnstiungen gekennzeichnet. Sowohl historisch wie aktuell oszilliert Rasse deshalb immer
wieder zwischen sozial-kulturellen sowie naturalisierenden Zuschreibungen und
verbindet diese miteinander. Zusammen mit weiteren Differenzdimensionen wie
6
Herauszuheben aus der Fülle von Studien sind Fanon ; Omi/Winant ; Poliakov/
Delacampagne/Girard ; Hall .
20 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Geschlecht, Sexualität, oder Behinderung ist Rasse dabei immer wieder Gegenstand von Debatten über Natur versus Kultur (nature-nurture) und über das Biologische versus das Soziale.
Seit der Verwissenschalichung rassischer Konzepte wurde versucht, die konstitutive Verwobenheit biologischer und sozialer Dimensionen mittels der Behauptung eines natürlichen Unterschieds zur biologischen Seite hin aufzulösen. Für die
Rechtfertigungsordnung der westlichen Moderne schien der Nachweis natürlicher Unterschiede zwischen den Rassen das Mittel der Wahl. Zwar erzeugten die
biologischen Merkmale immer auch Probleme bei der Suche nach kategorialen
Unterschieden, sodass nie ein allgemeiner Konsens über eine ›Ordnung der Natur
des Menschen‹ erlangt werden konnte. Der Erfolg dieser naturalisierenden Einteilungsweise liegt aber darin, ein Konzept erschaffen zu haben – wie die Rassismustheoretiker Michael Omi und Howard Winant herausarbeiteten – »mit dem
soziale Konflikte und Interessen durch eine Referenz auf verschiedene Arten des
menschlichen Körpers benannt und symbolisiert werden können« 7 (: ).
Der Rekurs auf die Biologie des Menschen hat sich seit seiner Entstehung als
sehr funktional erwiesen, gerade weil er soziale Konfikte und Herrscha hinter
einer vermeintlich nicht hinterfragbaren Natur verbergen kann. Bis heute hat dieses
Konzept trotz vielerlei Kritiken und erheblicher Veränderungen kaum an Wirkmacht verloren, sodass weiterhin biologisch rassifzierte Einteilungen von Menschen konzipiert werden, etwa in klinischen Studien, bei Medikamententests, bei
Screenings für genetische Erkrankungen, in Samenbanken oder in Kliniken, die
Eizellspenden vermitteln, in forensischen Datenbanken, bei genetischen Abstammungstests oder in verschiedenen Projekten der Humanevolutionsforschung. In
den verschiedenen Anwendungen und unterschiedlichen Kontexten werden Rassenkategorien mit sehr differenten Anforderungen belegt. Die Unterschiedlichkeit
zeigt sich in der Vielzahl an Zuordnungspraktiken und Benennungen sowie in der
Feingliedrigkeit der unterteilten Gruppen. Mal wird für eine Zuordnung die Selbstbezeichnung der Individuen verwendet, mal werden historische Begriffe verwendet, ethnische oder kontinentale Zuordnungen von Forschenden ›nach Augenschein‹ vorgenommen, mal geht es um binäre Einteilungen etwa in »schwarz« und
»weiß«, mal fnden bürokratisch-administrative Zensuskategorien in biowissenschaliche Untersuchungen Eingang. Innerhalb der jeweiligen Forschungskontexte unterliegen die Anforderungen an die Einteilung von Menschen ständiger
Umarbeitung und Veränderung. Diese Unterschiedlichkeit rassischer Zuordnungen in den verschiedenen Anwendungspraxen wird noch Gegenstand der weiteren Analyse sein.
7
Übersetzung von mir, wie bei weiteren Zitaten, wenn keine deutsche Übersetzung vorliegt.
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 21
Die konzeptionelle und inhaltliche Vielfalt rassifzierter Einteilungen steht zwar
der innerbiologischen Programmatik vom Auffinden einer eindeutigen Ordnung
entgegen. Doch trotz dieser Widersprüchlichkeiten konnten sich Rassekonzepte
bisher in den unterschiedlichen Feldern – von der Wissenscha über das Alltagsverständnis bis zu administrativen Politiken – immer wieder als nützlich und
letztlich produktiv erweisen. Diese Nützlichkeit und Produktivität diente jahrhundertelang zur Rechtfertigung von Privilegiensicherung, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt, heute legitimiert sie molekulargenetische Forschungen zur
Differenz oder die Regulierung und Optimierung des Lebens durch zeitgenössische
Regierungspraktiken. Dieser Funktionalität der Rassekonzepte steht jedoch die
weitgehend enttäuschte Hoffnung der Rasseforscher 8 entgegen, jemals eine überzeitliche bzw. mindestens mehrere Jahrtausende zurückreichende Ordnung der
Menschheit auffinden zu können. Kennzeichnend für die Rasseforschung ist
vielmehr, dass im Laufe ihrer Geschichte eine Unzahl an Systematiken aufgestellt
wurde, und auch heutige Konzepte keinesfalls die Forschung einigen, sondern
vielmehr heig umstritten sind (vgl. Kattmann ). Biologische Vorstellungen
von Rasse sind also trotz einer mittlerweile mehr als zwei Jahrhunderte währenden
biowissenschaftlichen Forschung zu diesem Ordnungsmodell nach wie vor außerordentlich unklar. 9 Aber auch diese Unklarheit hat bisher nicht zu einem Ende
biologischer Rassekonzepte geführt. Stattdessen werden weiterhin immer neue
Untersuchungsmethoden angewandt und Klassifkationsmodelle überarbeitet,
mit dem gleichgebliebenen Ziel, eine endgültig zutreffende Einteilung zu fnden.
Damit stehen wir also vor der paradoxen Situation, dass trotz der Fülle an biologischen, sozialwissenschalichen und politischen Kritiken, dennoch weiterhin
rassifzierende Differenzforschung betrieben wird und damit über die Kritik hinaus nach Antworten für die Weiterverwendung und Reformulierung von Rasse in
den Lebenswissenschaen gesucht werden muss.
Während in den letzten Jahrzehnten verhältnismäßig viele historische Arbeiten zu wissenschalichem Rassismus oder zu Verknüpfungen von biologischen
8
9
Naheliegenderweise gab und gibt es auch Forscherinnen, die sich mit der Einteilung von
Menschen in Rassen anhand biologischer Merkmale beschäigten. Bis in die er Jahre
fnden sich jedoch nur vereinzelt Wissenschalerinnen, sodass ich in den historischen Ausführungen die männliche Form wähle, um nicht die Dominanz von Männern in der Wissenscha zu verschleiern.
Flexibilität und Bedeutungsweite fnden sich auch bei anderen Konzepten der Biowissenschaen. Paradigmatisch ist etwa die Unschärfe des Gen-Begriffs, die noch Gegenstand des
Kapitels zur »Genetifzierung« sein wird. Die Besonderheit solcher Bedeutungsweite besteht
in einer Ambivalenz, in der die Bedeutungsfülle einerseits mit der biowissenschalichen
Vorstellung materialer Konkretheit der Untersuchungsobjekte bricht, andererseits aber auch
eine außergewöhnliche Produktivität des Begriffs bzw. Konzepts bewirkt. Vgl. hierzu Arbeiten
zu boundary objects (Star/Griesemer ; Löwy ).
22 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Rassevorstellungen und staatlichen Handlungen vorgelegt wurden und auch ein
Spektrum an Untersuchungen zu Rassekonstrukten im Alltag, in den Medien, zu
staatlichen, strukturellen, kulturellen und alltäglichen Rassismen existiert, 10 gibt
es zu gegenwärtigen Rassifzierungen in den Lebenswissenschaen (insbesondere
im deutschsprachigen Raum) nur wenige Analysen. Das liegt vor allem daran,
dass einem Großteil gegenwärtiger Analytikerˍinnen biologische Rassekonstrukte
als ausreichend ›wissenschaftlich widerlegt‹ gelten, vor allem, weil sie auch innerhalb der biologischen Disziplinen massiv kritisiert worden sind und weil heute in
antirassistischen Ansätzen »symbolischer Rassismus« (Sears/Henry ), »racism
without racists« (Bonilla-Silva ) sowie deterministische Kulturkonzepte, ein
»Rassismus ohne Rassen« (Balibar ), als dominante Probleme angesehen
werden. Viele sozialwissenschaftliche Autorˍinnen sprechen daher in Bezug auf
Rasse von einer »biologischen Bedeutungslosigkeit«, »genetischen Widerlegtheit«,
einem »retreat of scientifc racism« oder einer »Crisis of ›Race‹ and Raciology«. 11
Solchen Darstellungen vom ›Ende biologischer Rassekonzepte‹ stehen allerdings
vielfältige Analysen vor allem aus dem englischsprachigen Raum gegenüber, in denen
die Zunahme und Ausweitung bzw. ein Wiederauferstehen, eine Renaissance der
Rasseforschung seit den er Jahren und vor allem im letzten Jahrzehnt, untersucht und skandalisiert werden. 12
Die neue biowissenschaftliche Beschäftigung mit Rasse stellt die kritische Untersuchung allerdings vor einige Probleme. Die mit klassischen Mitteln vorgenommen sozialwissenschalichen Analysen tendieren zu linearen Interpretationen, die aktuelle biowissenschaliche Rassifzierungen entweder in Kontinuität
mit rassistischen und eugenischen Konzepten des . und frühen . Jahrhunderts
sehen oder sie als vollkommen neue Zugänge wahrnehmen. Fragen nach den
Gründen für die anhaltende biowissenschaliche Beschäigung mit Rasse und
nach den Auswirkungen auf alltagsrelevante Vorstellungen oder auch nur eine
Analyse der Sinnproduktion in lebenswissenschalicher Forschung können dabei
nicht hinreichend mit allein internalistischen, institutionen- oder akteursfokussierenden Untersuchungen beantwortet werden. Ebenso wie nicht bereits aus den
einzelnen lebenswissenschaftlichen Projekten heraus über die Sinnhaftigkeit von
Rasseeinteilungen entschieden werden kann, sind auch Untersuchungen, die lediglich auf einzelne Aspekte rassifzierter Differenz eingehen, dem Problem Rasse
10 Siehe etwa Balibar/Wallerstein ; Delacampagne ; Fredrickson ; Hannaford
; Hund ; Kerner a.; Priester ; Weingart/Kroll/Bayertz .
11 Siehe Arndt ; Barkan ; Degele , Eggers et al. ; Gilroy , ; Gissis
; Guillaumin .
12 Siehe etwa Duster ; Wade ; Fausto-Sterling ; Fujimura/Duster/Rajagopalan
; Gissis ; Koenig/Lee/Richardson ; Müller-Wille/Rheinberger ; Whitmarsh/
Jones ; Roberts ; Morning ; Bliss ; Wailoo/Nelson/Lee .
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 23
nicht angemessen. Denn rassische Teilungskonzepte und -praktiken sind mit einer
Reihe von Aspekten verbunden, wie denen nach der Unterschiedlichkeit von
Menschen und menschlichen Lebensweisen, nach Vielfalt, aber auch sozialer
Ungleichheit, nach der Rechtfertigung für die ungleiche Verteilung beschränkter
Güter, nach gesellschaftlichen Produktionsformen und deren Aueilung sowie der
Vorenthaltung von Lebensgestaltungsmöglichkeiten. Rasse ist jedoch nicht ›einfach nur‹ eine soziale Teilungspraxis, sondern wird immer wieder biowissenschaftlich begründet. Rassische Zuordnungen fnden diskursiv statt, sind materiell an
Praxen auf der Ebene von Interaktionen sowie auf gesellschaftsstruktureller Ebene
in Institutionen, Subjektivierungen, Rechten und Zugangsregulierungen zu sozialen
Positionen und Gütern verortet. Zugleich sind rassifzierte Identitätskategorien
aber auch Ansatzpunkt für Antidiskriminierungspolitiken, für die Darstellung und
Benennung sozialer Ungleichheit sowie für Empowermentpolitiken. Rasse ist –
das liegt auf der Hand – eine zutiefst problematische aber auch ambivalente Kategorie, der es sich in Refexion dieser Ambivalenz, ihrer Entstehung im Kontext
der westlichen Moderne und deren Postulat der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu widmen gilt.
Sozialität der Differenz
Klassische sozialwissenschaliche eorieansätze waren zuallererst mit Fragen
nach gesellschalicher Stabilität und Kohäsion beschäigt und fassten in dieser
Ausrichtung auch gesellschaliche Entwicklungen, indem sozialer Wandel von
sogenannten traditionalen zu entwickelten Gesellschaen in Form von Stufenoder Stadienmodellen dargestellt wurde. Kennzeichnend für diese frühen Sozialtheorien sind etwa teleologische Entwicklungsmodelle, wie Auguste Comtes’
Dreistadiengesetz, das Modell naturgeschichtlicher Entwicklungsstufen ökonomischer Gesellschasformationen bei Karl Marx oder Émile Durkheims Darstellung der gesellschalichen Erscheinungsformen, der zufolge mechanische
durch organische Solidarität abgelöst werde. Gleich sind sich alle klassischen
eorien darin, dass sie je einer Triebkra einen Vorrang als Kausalgrund von
Veränderung einräumen. Die Unterschiede zwischen den Positionen bestehen
dagegen darin, welche Ursache für die historischen und aktuellen Transformationen als zentrale angenommen wird: kapitalistische Warenproduktion und der
Kapitalzyklus Investition-Proft-Investition, komplexe Arbeitsteilung in der industriellen Ordnung oder technologische Rationalität sowie Organisierung und
Versachlichung von Herrschaft. Auch die später aufgestellten, als »moderne soziologische eorien« bezeichneten Ansätze beschäigen sich größtenteils mit ähn-
24 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
lichen Fragen gesellschaftlicher Ordnung: der Erfassung, Beschreibung und Erklärung von Operationen sozialer Stabilität, jedoch mit einer Ausdifferenzierung der
untersuchten und als relevant angesehenen Aspekte sozialer Kohäsion, Formen von
Macht, Herrscha und Regierung.
In neueren Sozialtheorien entstanden demgegenüber Ansätze, mit denen die
Binnendifferenzierungen und der Wandel moderner Gesellschaften sowie Soziales
nicht lediglich als inkludierende, Ordnung erschaffende Prozesse, sondern ebenso
als klassifzierendes, normierendes und normalisierendes Gebilde zu verstehen
sein sollen. Analysen zur ›Totalität instrumenteller Vernunft‹ oder zu den ›Rissen,
Brüchen und Dysfunktionen‹ gesellschalicher Institutionen, der Rationalität,
und der Ordnung ermöglichen einen quasi konträren Zugang zur Gesellscha.
Nicht die faustische Frage nach dem ›was die Welt im Innersten zusammenhält‹,
sondern die Frage nach der Dynamik, nach ›jener Kra‹, die mit einer stetigen
Grenzarbeit erst ein Inneres von Gesellscha scha, rückt damit ins Zentrum.
Gesellscha ist demnach nicht als Konglomerat aggregierter Handlungen auf der
Ebene von Individuen und Gruppen und auch nicht als integrierende, Gemeinscha erzeugende Entität zu fassen. Vielmehr zeigen solche Analysen die Herstellung von Gesellscha durch Ausgrenzung sowie die Be- und Umgrenzungen von
Handlungsmöglichkeiten durch ideologische Anrufungen, Praxen der Unterwerfung, des Verwerfens sowie durch Techniken der Führung und Kontrolle auf.
Wenn etwa Foucault die »Rationalität des Abscheulichen« als eines Faktums
zeitgenössischer Geschichte oder Judith Butler die »Grenzen der Intelligibilität«,
das abject, ins Zentrum ihrer sozialtheoretischen Ansätze stellen, werden sowohl
Undenk- wie Unlebbares – etwa Handlungsoptionen, Körper, Begehrensweisen
etc. – als auch Genealogien und eine historische Ontologie Gegenstand herrschaftskritischer Analyse (Dreyfus/Rabinow : ; Butler : , ). Doch
geht es bei solcherart Fokus auf Begrenzungs- und Segregationsmechanismen sozialer Formierung nicht einfach ›nur‹ um Nichtdenk- oder Nichtlebbares, sondern
gerade um die Analyse jener Gleichzeitigkeit und prinzipiellen Unentwirrbarkeit
von In- und Exklusion, in der sich Sozialität demnach gerade aus der Relevanz des
Abwesenden herstellt. Foucaults Begriff der Biomacht verdeutlicht diese Simultanität, in der die Potenzierung des Lebens ebenso mit Eliminierung einhergeht.
Derartige Analysen geben letztlich die Gesellscha selbst in die Mühle historischkritischer Untersuchungen und nehmen diese ob ihrer spezifschen Regierungsformen unter die Lupe. Mithin erscheinen das Konzept und der analytische Begriff
der Gesellschaft selbst in eine bürgerlich-kapitalistische Form der Herrschaft (mehr
oder weniger) fest eingebunden.
Die Wandelbarkeit sozialer Gebilde wird in Theorietraditionen des Poststrukturalismus und in dekonstruktivistischen Ansätzen vornehmlich von jenen eben
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 25
erwähnten ›Rändern‹ des Gesellschaftlichen her konzipiert. Sei es in Foucaults
Strategien der Kritik, der Entunterwerfung/Desubjektivierung, Derridas Entwürfen zur Differenzialität von Bedeutungen, von Verschiebungen in Iterationen,
aber auch den von Butler umrissenen subversiven Optionen performativer Aneignungen und Rekonstruktionen – allen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie Veränderung als konstitutiv für Stabilität ansehen und die Auseinandersetzungen an
vielfältigen Orten (und damit nicht nur in einem vermeintlichen Zentrum der
Macht) ausfndig machen. Diese Stränge sozialphilosophischer Theorien erzeugten
auch eigene Modernisierungsvorstellungen, in denen erkenntnistheoretische Begründungsversuche und Vernunftentwürfe der Aufklärung selber dekonstruiert
werden. Die Postmoderne von Jean-François Lyotard etwa führt demnach weg
von einer auf Fortschritt hoffenden Emanzipation des Menschen, weg von den
›großen Erzählungen‹, weg von einer alles umgreifenden ›Geschichte‹, mit der
letztlich die allgemein verbindlichen Rationalitäten der Aulärung und des Humanismus legitimiert werden sollten (Lyotard ). Plausibel wird damit die
Behauptung der Postmoderne, dass wir uns von der Vorstellung einer fortschreitenden rationalen Erkenntnis und vernünig geordneten Welt verabschieden
müssen. Statt dass sich die Hoffnung der Aulärung auf eine zunehmend durchschaubarere Welt erfüllen würde, ist im Gegenteil die grundsätzliche ›Ambivalenz
alles Menschlichen‹ (Bauman ), die Kontingenz sozialer Existenz bestimmende
Grundlage dieses sozialwissenschaftlichen Zugangs zum Verständnis der Welt.
Gesellschaftsforschung als Wissenschaftsforschung
Wissenscha machte Rassismus historisch und
bis in die jüngere Vergangenheit theoretisch verfügbar und stellte nicht etwa eine Barriere für die
Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus dar,
sondern war schließlich maßgeblich an ihrer Operationalisierung und Exekution beteiligt.
Ruth Stiasny , S. f.
Rasse ist zusammen mit Klasse und Geschlecht eine der zentralen, alle modernen 13
Gesellschaen strukturierenden Ungleichheitsdimensionen. Zwar entstanden
13 Der Begriff modern beinhaltet in sich nicht nur eine Epochenbezeichnung, die durch Industrialisierung, Entstehung der Nationalstaaten, Säkularisierung und die wissenschaftlichtechnische Beherrschung der Natur gekennzeichnet ist, sondern lässt auch eine Abgrenzung
zu »unmodern«, »vormodern« bzw. »rückständig« assoziieren. Hier sollen jedoch jene Verän-
26 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
rassische Gruppenkategorien bereits bevor sich Wissenschaftler mit menschlichen
Varietäten beschäigten; sie wurden herangezogen für die Abwertung, Ausbeutung, Ermordung und Vertreibung verschiedener Menschengruppen (siehe Ausführungen zur Geschichte im Kapitel ). Doch entstand mit der Verwissenschalichung von Rasse eine Verbindung zwischen dieser Ordnungsform und
wissenschalichem Wissen, die bis in die heutige Zeit anhält.
Neben den Differenzen, die Aulärer wie Montesquieu oder Kant am
Menschen feststellten, hatten insbesondere die Rassekonzeptionen der Naturforscher, Mediziner und Anthropologen, wie Blumenbach, Linné, Bernier und
Darwin, an der Konsolidierung von Rasse als omnipräsenter Strukturdimension
quasi aller moderner Gesellschaften einen maßgeblichen Anteil. Mit biologischem
Wissen über die Unterschiede ließ sich die bestehende soziale Ordnung, die ständische Schichtung mit ihrer religiös abgesicherten Zuteilung neu begründen.
Darüber hinaus konnten damit jene mit der Säkularisierung und Industrialisierung intensivierten Teilungspraktiken (vor allem Geschlecht/Sexualität, Klasse,
Krankheit/Behinderung) mit einem neuen, sich auf Natur stützenden Klassifkationssystem legitimiert und konsolidiert werden. Die wissenschalichen Differenzierungen waren nicht lediglich ein Versuch, Ordnung in die ›Natur der
Gesellscha‹ zu bringen, sondern dienten ebenso der Rechtfertigung sozialer
Ungleichheiten, die mit den kolonialen Eroberungen sowie der durch geschlechtliche Arbeitsteilung und kapitalistische Produktionsverhältnisse erzeugten Ungleichverteilung gesellschalicher Güter entstanden.
Die Relation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ist in Bezug auf die Legitimationsfunktion gesellschaftlicher Teilungsdimensionen aber keinesfalls ein unidirektionales Verhältnis. Wissenschaftliche Wissensproduktion über ›natürliche
Differenz‹ ist kein verlängerter Arm bestehender gesellschaftlicher Ungleichheiten,
sondern produziert jene Verhältnisse mit, in die sie selber eingebunden ist. Wissenscha kann aus diesem Grunde niemals als unabhängige Instanz, keineswegs als
unschuldig gelten. Andererseits wäre es jedoch auch falsch, wissenschalicher
Wissensproduktion, mithin den Biowissenschaen, eine einseitige Verantwortung
für die Konstruktion von Differenz im Kontext sozialer Ungleichheiten zuzuweisen.
Stattdessen bedarf es einer Analyse, die von der prinzipiellen Reziprozität von
Wissenscha und Gesellscha ausgeht und das Spektrum der gesellschaftlichen
Kräfte, die an der (Re)Produktion von Rassekonzepten beteiligt sind, aufzeigt.
derungen benannt werden, die mit der Entstehung der westlichen Moderne verbunden sind
und sich in den spezifschen Ausprägungen von Teilungskonzepten ausdrücken. In dieser
Perspektive sind in der heutigen (globalisierten) Welt fast alle Gesellschaen nach Maßgabe
der Moderne durch die zentralen Ungleichheitskategorien Rasse, Klasse und Geschlecht
strukturiert.
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 27
Biowissenschaen tragen somit eine Verantwortung für rassifzierende Praktiken,
da sie ebenso wie nicht-wissenschaftliches Wissen, politische Regulationen, institutionalisierte Stratifzierungen und alltägliche Interaktionen Rassifzierungen erzeugen und perpetuieren.
Bei der Analyse biowissenschalicher Forschung über Differenz ist zudem zu
beachten, dass das erzeugte Wissen gleichzeitig für rassistische Argumentationen
und als Quelle der Kritik, Infragestellung und Widerlegung von Rassekonzepten
verwendet wird. Von beiden Argumentationspolen in den Auseinandersetzungen
um Rasse – für deren Begründung ebenso wie für deren Widerlegung – eingesetzt.
Diese Besonderheit macht es umso notwendiger, die Verwicklungen von Wissenschaft, rassischen Gruppenzuordnungen und Gesellschaft zu analysieren. Darüber
hinaus begründen die Wirkungen biologischen Differenzwissen und deren Verquickung mit gesellschalichen Teilungspraxen einen sozialwissenschaftlichen
Analysebedarf. Erklärungsnotwendig sind zudem, die Resistenzen und stetigen
Modifkationen von Differenzkonzepten im Kontext der gegenwärtigen Autorität
lebenswissenschaftlicher Aussagen. Wenn die »Praktiken des Lebens […] gegenwärtig das bedeutendste Feld von Macht und Wissen bilden«, wie der Anthropologe und Analytiker kontemporärer Biowissenschaen Paul Rabinow (: )
konstatiert, dann ist eine kritische Analyse vorherrschender lebenswissenschaftlicher Wissensproduktionen zur Kategorisierung des Menschen umso dringlicher.
Rabinows ese folgend muss eine Untersuchung biowissenschalicher Wissensproduktion zu Rasse bei jenen Praktiken der Forschung, Konzeptualisierung und
Sinnstiftung ansetzen, die autorisiert sind »im Namen der Wahrheit über das Leben
zu sprechen« (ebd.: ), und sie muss jene Disziplinen befragen, die derzeit die
bedeutungs- und machtvollsten Aussagen zum Wesen des Menschen, seinem Innersten, seinen Bestimmungen und seinem Wert produzieren.
Obschon sich die Inhalte lebenswissenschalicher Differenzkonzepte stetig
verschoben haben, sind auch heutige wissenschaliche Diskurse weiterhin in die
Rechtfertigung gesellschalicher Teilungen verstrickt. Entsprechend steht wissenschaliches Wissen in Relation zu sozialer Ungleichheit, nicht nur, »weil die Wissenscha die herrschende Form des legitimen Diskurses darstellt; sondern auch
und vor allem deshalb, weil eine Macht, die meint, sie habe eine wissenschaliche
Grundlage, von der Wissenscha natürlich verlangt, daß sie dieser Macht die
Grundlage liefert« (Bourdieu : ). »Die Wissenschaft« so vermerkt Bourdieu
»ist verbunden mit dem, dessen Legitimierung von ihr verlangt wird« (ebd.: ). 14
Dies ernst genommen, besteht kritische soziologische Analyse darin, eine »umsichtige Darstellung der Strukturen, die ein Objekt des Wissens erzeugen« (Spivak
14 Leicht korrigierte Übersetzung des Originals: »La science a partie liée avec ce qu’on lui demande de justifer.«
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: ) indem eine ›historische Ontologie der Gegenwart‹ herausgearbeitet
wird. Im Sinne Michel Foucaults ist damit eine Ausgrabung der »Akzeptabilitätsbedingungen eines Systems« und (: ) vorzunehmen. Hierfür bedarf es – neben
den Untersuchungen zu verschiedenen Formen von Rassifzierungen, zu staatlichen, institutionalisierten oder alltäglichen Rassismen, zu Stereotypisierungen
und individuellen Vorurteilen – einer Untersuchung der lebenswissenschalichen Wissensproduktion, um die gesamte Realität von Rasse, ihrer Strukturen,
Effekte und Wirkungen sichtbar und damit anfechtbar zu machen.
Gesellschaftskritische Wissenschaftsforschung
Entgegen mündlichen Überlieferungen, bei denen es vor allem um die Weitergabe
von Traditionen, um die Erhaltung des Wissens und der mit ihr verbundenen
Werte und Normen geht, steht bei Wissenschaen konstitutiv das Innovative im
Vordergrund (vgl. Steinert : ). Da sich im Niedergeschriebenen Erkenntnisse, Sicht- und Denkweisen festhalten lassen, bedarf Wissenschaft im Unterschied zur Traditionspflege eines stetigen Erschaffens von Neuem, einer Neuinterpretation des schon Vorhandenen, einer entdeckenden, erfndenden Praxis und
des Neudenkens von Noch-nicht-Dagewesenem. Zwar werden in der Wissenscha ebenso Werte und Normen vermittelt und festgeschrieben, dennoch entstand gerade in der Anwendung von Schri ein Primat (vor allem, aber nicht
nur) der Hervorbringung von Neuem. Wissenscha ist somit an und für sich eine
auf Dauer gestellte Praxis der Erneuerung.
Auch die wissenschaliche Beschäigung mit Rasse ist entsprechend per se
stetigen Reinterpretionen, Überarbeitungen und Modifkation unterworfen. Denn
von da an, wo Rasseforschung nur das Althergebrachte erörtern würde, geriete sie
zur reinen Nacherzählung und verlöre die Legitimation zu weiteren Forschungen.
Zwar ließe Rasse als Gegenstand der Biowissenschaften zunächst Konstanz erwarten, da das Konzept in diesem Zusammenhang für eine zehntausende bis Millionen
Jahre zurückreichende Teilung der Menschheit in differente Gruppen steht. Entgegen dieser fachinternen Grundannahme ist die Rasseforschung jedoch durch
sehr unterschiedliche Gruppierungsformen und eine Fülle an Einteilungen (von
drei bis mehreren Hundert) gekennzeichnet. Diese stetige Wandlung wissenschaftlicher Rassekonzeptionen liegt im Sinne der hier vertretenen These in deren gesellschalicher Bedingtheit begründet.
Mit dem Fokus auf den gesellschaftlichen Bedingungen der Wissensproduktion
bietet die folgende Untersuchung eine weitere Antwortperspektive auf die eröffnete Frage nach der Aktualität von Rasse. Ansätze der Wissenschasforschung
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 29
ermöglichen mit ihren relationalen Perspektivierungen, mit ihrem Methodenrepertoire eine weitreichende Analyse der Verquickungen von Gesellscha und
Wissenscha, von Wissen und Macht, von als »wahr« autorisierten Aussagen und
gesellschalicher Ordnung. Die diversen Zugänge der Wissenschasforschung –
Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie, Wissenschaftssoziologie sowie Erkenntnis-, Wissenschas- und Technikkritik – stellen vielfältige Mittel zur Verfügung, um Wissenscha als gesellschaliche Praxis und realitätsschaffende Macht
zu untersuchen. Entgegen dem üblichen Selbstbild der Wissenschaften als lediglich
beschreibende, objektives Wissen schaffende Unternehmungen, deren Repräsentation der ›Natur‹ unabhängig von Geschichte, Kultur und Gesellscha sei, entwickelte sich zu Beginn des . Jahrhunderts eine Wissenschaswissenscha, mit
der diese Sonderstellung hinterfragt und die sozialen Bedingungen von Wissenscha untersucht werden können.
Die Sozialisierung der Wissenschaen ist eine Perspektive, deren Grundsteine
zunächst in den und er Jahren mit Arbeiten der frühen Wissenssoziologie
und Wissenschaftsforschung (z. B. Fleck ; Mannheim ; Scheler ) gelegt
wurden. Statt die Wissenschaften weiterhin als Ideal einer objektiven, die ›Geheimnisse der Natur‹ entdeckenden Kunde zu verstehen, begann eine neue Sichtweise,
die wissenschaftliches Wissen als gesellschaftlich eingebundene, an Denkstile und
Denkkollektive gebundene Wissensform fasst. Wissenscha wurde mit dieser
Sichtweise perspektivisch und relational.
Zu einem weiteren Bruch mit dem bis dahin vorherrschenden Idealbild von
Wissenscha kam es in Folge der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, indem diese politische Problematisierungen von Wissenschaft und Technik
und deren negativen Auswirkungen auf gesellschaliche Verhältnisse nach sich
zogen. Wissenschaft und Technik wurden seitdem nicht mehr nur als Heilsbringende einer fortschreitenden Emanzipation des Menschen angesehen. Vielmehr
ließen die oftmals gravierenden Auswirkungen wissenschaftlicher und technischer
Entwicklungen vermehrt Fragen nach den Gefahren und nach den politischen Indienstnahmen von Wissenschaft aufkommen. Debatten über die Auswirkungen
wissenschaftlichen Forschens, um Ethik, Risiken und normative Fragen wie ›Welche Wissenschaft brauchen wir?‹ führten, wie Nico Stehr formuliert, auch dazu,
ausgehend von der Besorgnis »über die destruktiven Konsequenzen von Wissenschaft und Technik […] den Weg zu Diskussionen über die konstruktiven Konsequenzen von Wissenschaft und Technik« zu eröffnen (: ).
In den er Jahren wurden die Perspektiven der Wissenschasforschung
auf Wissenschaen als soziales Feld erheblich erweitert. Auauend auf Ludwik
Flecks zuerst erschienener Monographie »Entstehung und Entwicklung einer
wissenschalichen Tatsache«, in der er seine Argumentationen zur Kollektivität
30 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
von Wissenscha, zum »Denkstil« und der Bestimmung von Wissenscha durch
externe Faktoren entwickelte, löste die Arbeit des Wissenschasphilosophen und
-historikers omas Kuhn, »Die Struktur wissenschalicher Revolutionen«
(), heige Debatten darüber aus, ob Erkenntnisprozesse ›durch die Natur geleitet‹ seien oder sich bestenfalls ›der Natur annäherten‹. Kuhn vertritt die
Auffassung, dass Erkenntnis- und Wissensbildung nicht im fortschreitenden kumulativen Entdecken und Verstehen bestehe. Stattdessen sei der Prozess von aufeinander folgenden Paradigmen geprägt, das heißt von der sozialen Konstellation
von »Meinungen, Werten, Methoden usw.« sowie von – in der gegebenen wissenschalichen Gemeinscha geteilten – »Problemlösungen«, die regelten, welche
Aussagen als wahr anerkannt würden (ebd.: ). Die Repräsentationen der Natur
seien bedingt und zudem begrenzt durch die von vornherein paradigmatisch
eingeschränkten eorien, Methoden und Problemlösungsansätze. Kuhns Arbeit
sowie der in derselben Zeit formulierte Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmann ) stimulierten Forschungsansätze, die sowohl die Praktiken als auch
die Inhalte der Wissenschaen immer weiter sozialisierten. So entstand als ein
neues Forschungsfeld die Sociology of Scientifc nowledge, als deren bekanntester
Ansatz das sogenannte strong programme entwickelt wurde. Mit diesem Ansatz
konnten wissenschaliche Aussagen als durch vielfältige Faktoren geformt (kulturelle Kontexte und individuelle wie Gruppeninteressen) verstanden werden
(Bloor ). Statt die Wirkung des Sozialen nur in der Verzerrung der Wissenscha zu sehen, bei der von außen an diese herangetragene politische Interessen
zu ›falschen‹ eorien und schließlich deren ›Scheitern‹ führen, fordert das
strong programme, alle wissenschalichen Praktiken und Aussagen unabhängig
von deren nachträglicher Bewertung zu untersuchen und Wissenscha in ihrer
Verwicklung mit gesellschalichen Verhältnissen (und nicht nur als Opfer politischer Instrumentalisierungen) zu fassen (vgl. Kaufmann ). Dieser Ansatz provozierte eine Reihe von Fragen: Wie wird wissenschaftliches Wissen und Technologie konstruiert, wenn nicht die Natur die Erkenntnisse leitet und Wissen statt
›entdeckt‹ vielmehr umkämpft ist? Wie kommt es, dass (Labor-)Experimente zur
wichtigsten Methode der (Natur)Wissenschaften wurden? Welchem epistemischen
Wandel unterliegen scheinbar eherne Vorstellungen von Objektivität, Wahrheit
und Evidenz? (vgl. Shapin/Schaffer ; Fujimura ; Daston/Galison )
Während sich die Wissenschasgeschichte damit befasst, wann und wie die
vorherrschenden Formen der Erkenntnisproduktion aufkamen, bildete sich zudem
ein praxeologischer Ansatz der Wissenschasforschung heraus, der Wissenscha
als Gefüge von Handlungen fasst, von Praktiken in den Laboren oder in den Besprechungsräumen sowie von lokalen Aushandlungen über die Inhalte des Wissens (Knorr Cetina ; Law ; Latour/Woolgar ). Ebenfalls ab Mitte der
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 31
er Jahre entwickelten feministische Wissenschastheoretikerinnen einen
wissenschaskritischen Zugang, demzufolge »die gesellschaliche Struktur der
Wissenscha nicht nur sexistisch, sondern auch rassistisch, kulturfeindlich und
von der herrschenden Klasse bestimmt ist« (Harding : ). Sowohl die Problemstellungen, Begriffe, Theorien und Methodologien, als auch die mit diesen erzeugten Wahrheiten seien von ihren kollektiven und individuellen Entstehungsbedingungen geprägt. Daher versprächen eine »wertabhängige Forschung«,
worunter antisexistische Forschungsvorhaben verstanden wurden (ebd. u. ),
sowie eine »partiale Perspektive«, die den »Standpunkten der Unterworfenen«
geschuldet ist, bisweilen ein höheres Maß an Objektivität als der vermeintlich
wertfreie und neutrale Blick der Mächtigen, die sich als »bescheidene Zeugen«
darstellen würden (Haraway , ). In Anlehnung an die Ansätze des strong
programme und an marxistische Standpunkttheorien kritisiert die feministische
Wissenschasforschung an der vorherrschenden Forschung, dass allein die ›Wissenden‹ und ihre Institutionen sowie ›Irrtümer‹ der Wissenscha untersucht
würden. Diese Herangehensweise könne weder den erkennenden Menschen als
Teil eines sozialen Zusammenhangs, noch allgemein das Wissen – auch die als
»wahr« und »korrekt« anerkannten Erkenntnisse – als sozial determiniert erkennen
(Felt/Nowotny/Taschwer : u. ). So greife, wie die Wissenschastheoretikerin Sandra Harding herausstellt, eine Kritik an »schlechter Wissenscha« zu
kurz. Stattdessen müsse Wissenscha als »science-as-usual« in ihrer herrschasstützenden Verfasstheit untersucht werden (: ff.).
Für die hier vorgenommene Untersuchung bedeutet dies, dass die untersuchten
Begriffe, Konzepte und wissenschalichen Praktiken nicht als vermeintlich wertfreie, lediglich analytische oder beschreibende angesehen werden können und
dass der Fokus nicht auf dem (alleinigen) Nachweis »schlechter Wissenscha«
liegt. Vielmehr sollen die typischen, aktuellen und modernsten wissenschaftlichen
Arbeiten in den Blick genommen werden. Wissenscha, die »Entzauberin der
modernen Welt« (Weber ; vgl. Felt/Nowotny/Taschwer : ), muss selber
entzaubert, d. h. hinsichtlich ihrer Bedingungen, Zusammenhänge und Wirkungen
befragt werden.
Aus den bisherigen Ausführungen darf jedoch nicht missverstehend geschlossen werden, dass Wissenschaft ein bloßes Anhängsel kultureller, politischer, sozialer
Mythen und weiter nichts als eine Autorisierungsinstanz der Macht sei. Wissenschaftliche Wissensproduktion ist nicht durch gesellschaftliche Verhältnisse determiniert. Biowissenschaliche Differenzforschungen sind aber andererseits nicht
losgelöst von gesellschalichen Problemstellungen und entsprechend nicht ohne
eine gesellschastheoretische und gesellschaskritische Perspektive zu verstehen.
Ebenso schreibt umgekehrt biowissenschaliche Wissensproduktion trotz aller
32 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Autorität die alltagsweltlichen Vorstellungen auch nicht einfach fest. Stattdessen
ist Wissenscha als »agonistisches Machtfeld« (Haraway : ) zu analysieren,
in dem wie in allen sozialen Gefügen um Deutungsmacht gerungen wird und in
dem sich Aushandlungs- und Anerkennungskämpfe abspielen. Wissenschaftliches
Wissen ist damit als eigene, gesellschaftsgestaltende Kraft zu verstehen, durch deren
Streben nach Hegemonie ambivalente Wirklichkeiten produziert werden. Trotz
ihrer gesellschalichen Grundlegung geht Wissenscha eben nicht glatt in den
jeweiligen Herrschasverhältnissen auf, sondern kann auch dazu dienen, diese
herauszufordern. Diese Ambivalenz wissenschalichen Wissens arbeiteten insbesondere marxistische, poststrukturalistische und feministische Wissenschasforschung und -kritik heraus, in dem sie einerseits zeigten, dass Wissenscha in
Herrschas- und Unterdrückungsverhältnisse eingebunden ist, andererseits aber
auch deutlich machten, wie in und mit den Wissenschaften ebenso Widerständigkeiten, Subversionen und eigensinnige Begründungs- und Bedeutungsstrukturen
erzeugt werden. Entsprechend wird Wissenschaft in neuen Ansätzen nicht länger
darauf reduziert, die »Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln« zu sein (Latour
: ). Stattdessen liegt der Fokus nunmehr darauf, die Fähigkeit von Wissensobjekten, Bedeutungen hervorzubringen und ›performativ‹ zu wirken, zu untersuchen (Hammer/Stieß ). Die Eigendynamik der Materialität, die ›Widerständigkeit‹ der Dinge, d. h. der Untersuchungsobjekte, Apparaturen und Experimentalsysteme (Palm ), dient auch der vorliegenden Arbeit als Ausgangspunkt für
die Analyse von Kontinuitätslinien und Brüchen wissenschalicher Rassekonzeptionen. Im Sinne eines praxeologischen Zugangs ist Rasse quasi als Verb zu betrachten, als ein Tun, als erzeugte, gemachte Relation, als währender Prozess, der
verdinglicht, verstetigt, institutionalisiert, zu Struktur wird. Auch wenn im Folgenden vor allem Texte als Untersuchungsobjekte dienen, gilt es über den Blick
auf Zeichen- und Sinnsysteme, Normen und Semantiken hinaus ebenso auf die
Dynamik, Vieldeutigkeit und Veränderbarkeit kultureller Phänomene zu fokussieren. Wie zu zeigen sein wird, sind biowissenschaliche Differenzforschungen in
diesem Sinne Schauplätze sehr unterschiedlicher, oft konträrer Erkenntnisbildung,
die durchaus auch als Quelle wirkmächtiger Kritiken an rassischen Einteilungen
der Menschheit dienen können. Zur Annäherung an diese Argumentation werden
nun die zentralen Vorgehensweisen sowie die für die Analyse notwendigen rassismustheoretischen Ansätze und Begriffe einer Klärung unterzogen.
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 33
Gesellschaftstheorie und Historisierung
Wie schon Gates’ Verhaung deutlich machte, ist Rasse keine Entität, die mit
ausreichend feingeschliffenen mikrologischen Analyseinstrumenten aus der sozialen Situation heraus seziert werden könnte, genauso, wie kein biologischer ›Urgrund‹ übrigbliebe, wenn die kulturellen Wertungen extrahiert würden. Rasse
kann nicht mit monokausalen Ansätzen oder einseitig strukturalen Zugängen
ausreichend analysiert und verstanden werden. Statt also nur von einem Punkt
aus zu blicken, muss Rassifzierung hier in jener Verwobenheit körperlicher und
kultureller Zuschreibungen, biologischer, genetischer und sozialer Bestimmungen
untersucht werden. Eine solche Analyse macht eine historische und gesellschaftstheoretische Einbettung notwendig, die einerseits die Gewordenheit rassifzierter
Ordnungskonzepte im Blick behält, andererseits die Erzeugung neuer Konzepte
insbesondere mithilfe molekulargenetischer Ansätze verstehbar macht. Dies erfolgt
ausgehend von der ese, dass lebenswissenschaliche Rassekonzeptionen und
deren zeitgenössische Aktualisierungen nur mit einem gesellschaftliche Verhältnisse
einbegreifenden Ansatz, also aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive begriffen werden können. Die Analyse von Rasse bedarf einer kritischen Gesellschastheorie – und umgekehrt ist für eine zeitgemäße Gesellschastheorie und -kritik
sowohl ein Verständnis von lebenswissenschaftlicher Wissensproduktion als auch
von Rassismus (und weiteren Teilungsdimensionen) in der westlichen Moderne
Voraussetzung. Es bedarf einer Analyse der Moderne, in der trotz ihres Freiheitsund Gleichheitsversprechens keinesfalls alle Menschen gleichermaßen in den Genuss der postulierten Gleichheit und Liberalität kommen. Auf der Grundlage ungleicher gesellschalicher Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten einer stratifzierten Gesellscha können rassifzierende Einteilungen von Menschen niemals –
auch nicht in ihren wissenschalichen Formulierungen – unschuldig sein. Sie können nicht neutral, wertfrei oder unpolitisch sein, da sowohl die verwendeten Bezeichnungen als auch die Einteilungskonzepte bei rassischen Taxonomien immer
in Relation zu gesellschalichen Wertungen, Stereotypisierungen, Hierarchisierungen sowie zu Identitäts- und Subjektivierungsformen stehen.
Der hier bisher als Verwicklung und Verwobenheit benannte Untersuchungszusammenhang ist dabei nicht in einzelne Stränge sinnvoll aufzulösen. Bei der
Analyse biologischer Rassekonzeptionen geht es nicht im Wortsinne um eine
Auflösung aller einzelnen Bestandteile, die dann den »wahren Gehalt« von Rasse
zum Vorschein bringen würden, sondern um die Klärung der einzelnen Bestandteile, aus denen rassische Gruppenzuordnungen gebildet werden und die sich gegenseitig begründen und zugleich bestärken. Historisierende und gesellschastheoretische Perspektiven sind deshalb notwendig, um Rasse als ein komplexes
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Konglomerat in den Blick zu bekommen. Rasse ist, wie die sozialen Strukturdimensionen Geschlecht und Klasse, nur als vielfältiges und widersprüchliches Ensemble analysierbar, in dem Diskurse, Institutionen, Gesetze, moralische und
normative Regelungen, wissenschaftliche Aussagen sowie Nichtdiskursives wirken
(vgl. Foucault : f.). Eine Untersuchung der Elemente dieses Ensembles soll
dazu dienen, die Entstehung, Konstanz und Veränderung von Rassekonzeptionen
verstehbar zu machen. Rasse kann in diesem Sinne nur als komplexes Phänomen
verstanden werden, in welchem divergente, sich gegenseitig unterstützende und
infrage stellende Elemente, biologische wie soziale, historische, kulturelle wie
technische Bestimmungen aufeinander treffen. Nur unter dem Einbezug mehrerer
Perspektiven kann erklärt werden, warum Rassekonzepte in einer »funktionalen
Überdeterminierung« (ebd.: ) trotz aller Kritiken nicht verabschiedet, sondern
bisher immer wieder erneuert wurden. Für eine solche Bestimmung werden die
Entstehungsbedingungen rassischer Einteilungen in der europäischen Moderne
und deren Legitimationsfunktion bei der Kolonisierung der »Neuen Welt« erörtert.
Nachverfolgt wird ebenfalls die Verwissenschaftlichung rassischer Einteilungen der
Menschheit und deren jeweilige Erneuerungen entlang vorherrschender biowissenschaftlicher Methoden und Forschungsparadigmen. Zu klären ist auch das Verhältnis von Kritik an biologischen Rassekonzeptionen und deren produktiver Wendung und Einmündung in neue Modelle. Erforderlich ist aus diesem Grund zunächst
eine Erörterung der Ansätze einer Untersuchung rassifzierender Verhältnisse.
Rasse, Rassifizierung, Rassismus: Theorien
»Das Grundprinzip von Rassismus ist der Glaube an Rassen« postuliert die Historikerin Barbara Fields (: ) und die Fachkollegin Michelle Brattaine präzisiert, dass »ein Konzept von Rassen als natürlich, zeitlos und außerhalb
menschlichen Einwirkens unzweifelhaft einer der hartnäckigsten Rückstände des
Rassismus« ist (: ). Beide Aussagen stellen den Glauben an bzw. die Existenz des Konzepts Rasse in eine enge Beziehung zu Rassismus – erstens als Grundprinzip und zweitens als Überbleibsel (residue) rassistischer Verhältnisse. Für beide
stellt die Einordnung von Menschen in rassifizierte Gruppen ein zentrales Element
des Rassismus dar. Aus einer analytischen Perspektive ist einem Bedingungsverhältnis zwischen Einteilungen von Menschen und Rassismus zunächst leicht zuzustimmen. Aber was ist mit dem umgekehrten Blick auf die verschiedenen ematisierungen von Rasse? Sind alle Verwendungen des Rassebegriffs per se rassistisch,
weil Rasse als ein Residuum des Rassismus zu verstehen ist?
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 35
Tatsächlich plädier(t)en viele Rassismus-Analytikerˍinnen und -Theoretikerˍinnen
für eine Abschaffung der Begriffs Rasse, um dem Rassismus die biologische bzw.
biologisierte Basis zu entziehen und um alternative, mit einer sozial konnotierten
Bedeutung versehene Begriffe für die gesellschalich konstruierte Einteilung von
Menschen zu verwenden. 15 Andere sprechen sich vehement für die Verwendung
des Begriffs Rasse bzw. der englischen Vokabel race aus, um soziale Ungleichheit
und Diskriminierung entlang von Gruppeneinteilungen klar in der gebotenen
Deutlichkeit benennen zu können. 16 Erschwert wird die Analyse des Begriffs und
die Entscheidung über seine sinnvolle Verwendung oder Nicht-Verwendung
dadurch, dass er in sehr unterschiedlichen Diskursen auaucht und häufg nur
unscharf defniert wird. Zur Systematisierung dieser Unschärfe unterscheidet z. B.
der Soziologe Robert Miles den Gebrauch des Rassebegriffs im Englischen in
den drei (miteinander interagierenden) Diskursen der Biologie (Genetik), der
Sozialwissenschaen und des Alltags (: ). Diese mit Blick auf die Bedeutungsunterschiede sinnvolle Aufteilung muss hier unter der Frage nach dem rassistischen Gehalt noch weiter differenziert werden, da etwa ein sozialwissenschalicher Gebrauch zur Kennzeichnung von Diskriminierung oder die analytische
und antirassistische Verwendung im Zusammenhang mit Empowerment-Politiken
sowie im Kontext postkolonialer eoriebildung eine völlig andere Bedeutung
erhält als im rassistischen Alltagsdiskurs. Damit ist auch die Unterscheidbarkeit in
affrmative und kritische Bedeutungen angesprochen, wobei jedoch auch die antirassistischen und analytischen – also die Rassifzierungen kritisierenden – Gebrauchsweisen selbst Gegenstand von Kritiken sind. Denn auch ein kritischer
Gebrauch des Begriffs oder von Ersatzbegriffen wie »Ethnie« läu Gefahr, rassistische Kategorisierungen gerade durch die Abfrage, Benennung und Zuordnung
zu reifzieren. 17
15 Zum Beispiel verwendet Max Weber in seinen Ausführungen zur »Rassenzugehörigkeit«
zwar auch den Begriff »Rasse«, bevorzugt aber die Bezeichnung »ethnische Gruppen«, da er
»ständische, also anerzogene Unterschiede und […] Bildung« (: ) gegenüber »ererbten und vererblichen Anlagen« (ebd.: ) als bedeutender einschätzt. Ebenfalls für den Begriff Ethnizität votiert etwa das erste UNESCO-Statement »e Race Question« von .
Hier wird konstatiert: »it would be better when speaking of human races to drop the term
›race‹ altogether and speak of ethnic groups« (: ). Seitdem gab es eine Reihe von Vorschlägen zu Alternativen zum Rassebegriff und auch heute wenden sich viele Akteurˍinnen
mit guten Gründen gegen seine Verwendung etwa in Gesetzestexten (Cremer ; Liebscher
et al. ) oder innerhalb der Biologie und Genetik (Freeman ; Fullilove ; Kattmann
; UNESCO a).
16 Barskanmaz ; vgl. hierzu sowie zu den Begriffsdifferenzen zwischen Rasse und race die
Ausführungen unter »Begriffe und Semantiken«.
17 Mit Blick auf die Reifzierung ethnischer Differenz durch Forschung weisen beispielsweise
Diehm/Kuhn/Machold () darauf hin, dass auch kritische, etwa sozialkonstruktivistische
36 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Mit solchen Unterscheidungen und Problematisierungen der Gebrauchsweisen
von Rasse ist noch keinesfalls die oben formulierte Frage beantwortet, ob der
Rassebegriff per se und ob biowissenschaftliche Rassekonzeptionen notwendigerweise rassistisch sind. Zwar haben Theorien, die rassische Einteilungen als Ergebnis
von Rassismus auffassen, auf diese Frage folgerichtig eine bejahende Antwort. In
der vorliegenden Studie wird zwar auch davon ausgegangen, dass eine enge Beziehung zwischen Rassekonzepten und Rassismus besteht, jedoch nicht einer einfachen Ableitungslogik gefolgt. Stattdessen wird hier eine praxeologische und
gesellschaftstheoretische Perspektivierung vorgenommen, mittels derer eine Untersuchung der Inhalte, also ein Blick auf das Was und Wie sowie auf die jeweiligen
Wirkungen rassifzierter Differenzforschung erfolgen kann.
Eine soziologische Beschreibung und Kritik, die sich bloß an die Nutzung des
Rassebegriffs wendet, reicht angesichts der zahlreichen unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen und Verwendungsformen nicht aus. Statt eines deduktiven
Vorgehens, bei dem schon die Wirkverhältnisse feststehen und in der Empirie
Fälle aufgefunden werden müssen, die die eorie bestätigen, gilt es folglich, das
Wie und die inhaltlichen Bedeutungen jener Konzeption von und wissenschalichen Beschäigung mit Rasse zu klären. Zu dem schon erörterten sozialwissenschalichen Analysebedarf bezüglich der neuen lebenswissenschalichen Rasseforschungen kommt also noch hinzu, dass den jeweiligen Projekten und ihren
spezifschen Bedeutungsproduktionen zu folgen ist, um biologische Rassekonzeptionen in all ihren Formen zu verstehen. Eine Voraussetzung für eine solche Klärung
ist zunächst die nähere Bestimmung von Rassismus anhand einer Erörterung relevanter Aspekte bestehender Rassismustheorien.
Perspektiven von diesem Problem der Reifizierung betroffen sind und dies eben schon allein
aufgrund der sprachlichen Möglichkeiten der Benennung von diskriminierungsrelevanten
Dimensionen und Kategorien. Mithin besteht stets jene auch von der feministischen Theorie
hinsichtlich der Kategorien Geschlecht und Frauen umfangreich diskutierte Gleichzeitigkeit
von Analyse und Konstruktion des beforschten und analysierten Gegenstandes. D. h. »Forschung über soziale Differenz ist immer auch eine Forschung unter Bedingungen von sozialer
Differenz« (ebd.: ). Die damit aufgeworfenen nicht nur forschungsethischen, sondern wissenschastheoretischen Fragen machen es, wie auch Sabine Hark () mit Blick auf die
Sozialfigur der »Überflüssigen« einwendet, notwendig, soziologische Analyse und wissenschaliches Wissen kritisch auf seine Bedeutungsambivalenzen hin zu hinterfragen. Denn
soziologische Beschreibungen nehmen ihrerseits stets Bezug auf gesellschaliche Stereotype,
die sich als »kulturelles Sediment« in sozialwissenschaliche Aussagensysteme einschleichen
und Herrschas- und Ausschließungswissen produzieren (ebd.: ).
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 37
Bedingungen der Rassismusanalyse
Der Bestand an theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Rassismus ist sehr divers.
In Bezug auf die hier gestellten Fragen divergieren die einzelnen Ansätze so stark,
dass sie nicht zu einer Rahmentheorie zusammengefügt werden können. Fundamentale Differenzen zeigen sich etwa in den Annahmen zum Ursprung des Rassismus, den einige eoretikerˍinnen in der Antike, andere erst in den Aus- und
Einschlüssen der Moderne verorten oder in der Reichweite der theoretischen Ansätze, in denen sehr unterschiedliche Kriterien angelegt werden, wer als Objekt
bzw. Opfer des Rassismus anzusehen und welche Diskriminierungen als rassistisch
zu bezeichnen seien. Unterschiede bestehen auch hinsichtlich des Status einzelner
Abwertungs- und Vernichtungsideologien. So werden Antisemitismus und Antiromanismus teilweise als Formen von Rassismus defniert, in anderen eorien
kategorisch davon abgegrenzt. Diese Differenzen sind so fundamental, dass aus
ihnen kein Basistheorem extrahiert werden kann, das der vorliegenden Arbeit als
Ausgangstheorie dienen könnten. 18 Schon über die Akteure rassistischer Handlungen besteht große Uneinigkeit, da Rassismus entweder als Problem individueller
Einstellungen und Vorurteile sowie Ängste (Xenophobie) oder als strukturelles, institutionalisiertes und in der ›Mitte der Gesellschaft‹ 19 verankertes Problem gefasst
wird. Die große Unterschiedlichkeit der verschiedenen theoretischen Ansätze mag
zum einen an den historisch und kontextuell verschiedenen sowie auf unterschiedliche Gruppen gerichteten Ausprägungen von Rassismen liegen, begründet sich
aber auch in einem bisher schwierigen Verhältnis zwischen dem Mainstream sozialwissenschalicher Forschung und den darin eher randständigen Rassismusanalysen und -theorien.
Zwar hat sich vor allem im angelsächsischen Sprachraum in den letzten Jahrzehnten eine relativ umfangreiche Rassismusforschung etablieren können. Diesem
Forschungs- und Theoretisierungsfeld kommt im internationalen, insbesondere
kontinentaleuropäischen Soziologiediskurs jedoch nach wie vor eine marginale
Position zu, sodass Rassismus und Rassifzierungen statt als zentrale Dimension
18 Eine Vielfalt an eorien an sich ist nicht überraschend. Aber im Vergleich zum eorienbestand etwa im Bereich der Geschlechterforschung, bei dem so unterschiedliche Ansätze
wie das sex/gender system, doing gender, Dekonstruktion, Klassen-Geschlechts-Hypothese,
zumindest zueinander in Beziehung gesetzt werden können, sind viele der rassismustheoretischen Ansätze entschieden differenter und weniger kompatibel.
19 Ansätze, die rassistische und antisemitische Einstellungen in typischen, ›normalen‹ Persönlichkeitsstrukturen verorten, existierten auch schon in den psychoanalytisch inspirierten
Untersuchungen zur »autoritären Persönlichkeit« (Adorno et al. /). Vorherrschend in
der deutschsprachigen Forschung waren aber bis in die er Jahre Untersuchungen zu sogenannter »Fremdenfeindlichkeit«, zu Vorurteilsmustern oder Desintegrationsphänomenen
(vgl. Institut für Sozialforschung ).
38 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
zur Analyse von Gesellschaft eher als Randphänomen behandelt werden. So haben
sozialwissenschaliche Untersuchungen zu rassistischen Ausgrenzungen nach
wie vor zumeist einen Nischenstatus und werden nicht in den Kanon zentraler
gesellschastheoretischer Fragestellungen aufgenommen. Zudem beschäigen
sich die bestehenden Studien eher mit den offensichtlichsten Auswirkungen von
Rassismus, mit historischen Erklärungen zum ›Rassenwahn‹ der Nazis, dem eliminatorischen Antisemitismus sowie mit Lynchmorden und »Rassengesetzgebungen«, die Schwarze von gesellschalicher Teilhabe ausgrenzten und Weiße
privilegierten. Mit der Analyse dieser Ausbeutungs-, Gewalt- und Vernichtungspraktiken wurden zwar wichtige und zum Teil noch immer relevante Erklärungen
vorgelegt, die Untersuchung der alltäglichen ›Normalität‹ rassistischer Verhältnisse
blieb aber lange auf psychologische und ideologietheoretische Zugänge beschränkt.
Diese Situation spiegelt sich deutlich in den kanonischen Lehrbüchern, Lexika
und Einführungsbänden der deutschsprachigen Soziologie wider, in denen in aller
Regel nur marginale Beiträge zu Rasse, Rassismus oder ethnischer Diskriminierung zu fnden sind. 20 Mit Ausnahme der Forschungen zu »Gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit« (Heitmeyer ) und einigen Ansätzen der Vorurteilsund Ungleichheitsforschung, die im Mainstream sozialwissenschaftlicher Analysen
mittlerweile einen akzeptierten Platz eingenommen haben, werden Forschungen
zu Rassismus, Rassifzierung und Diskriminierung bisher nicht zu denjenigen sozialtheoretischen Analysen gezählt, die für das Verstehen von Gesellschaft unerlässlich sind. »Während die Rassenforschung in Deutschland zu ihrer mörderischen
Blüte gelangte, ist es mit der Rassismusforschung hierzulande nicht weit her«,
kommentiert treffend die Antirassistin Lou Sander den bisherigen Stand sozialwissenschalicher eoriebildung (: ). Rassismus ausschließlich im Sinne
individueller oder kollektiver Vorurteile, Stereotype und intentional-ideologischer Konstrukte zu fassen, verfehlt zentrale gesellschaftliche Dimensionen und
bedeutende Bereiche alltäglicher Diskriminierung, von denen jene betroffen sind,
die nicht zur Mehrheitsbevölkerung zählen.
Für die bisherige Marginalisierung der Rassismusforschung gibt es mehrere
Gründe: Erstens wird in den Sozialwissenschaen Rassismus als ein Phänomen
an den Rändern der Gesellscha, etwa als extremer Ausdruck einiger weniger
Altnazis oder desintegrierter Jugendlicher verortet, dass in allen demokratischen
Staaten mehr oder weniger zum ›Normalzustand‹ gehöre. Zweitens sehen manche
20 Siehe etwa Farzin/Jordan ; Fuchs-Heinritz/Barlösius ; Hillmann ; Joas ;
Korte/Schäfers . Neben dem Fehlen von Analysen und theoretischen Bearbeitungen in
den kanonischen Werken deutschsprachiger Soziologie zeigt sich der Stellenwert von Rassismus, Rassifizierungen und Ethnisierung auch an den thematischen Untergruppen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in der sich keine der Sektionen explizit mit Rassismus
oder der gesellschaftlichen Segregation entlang der Teilungsdimension Rasse beschäftigt.
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 39
Sozialwissenschalerˍinnen Rassismus als ein vormodernes Phänomen an, als
Atavismus, der sich in Prozessen der Globalisierung, Individualisierung oder unter
der sich ausweitenden kapitalistischen Verwertungslogik auflösen werde. Drittens
verlangt eine Analyse, die Rassismus in der Mitte der Gesellscha verortet, auch
die kritische Beschäftigung mit sich selbst, mit der Wissensproduktion der eigenen
Disziplin und den eigenen Verfechtungen in rassistischen Strukturen und Privilegiensystemen. Und zuletzt gilt die Beschäigung mit Rassismus o als politisch
anrüchig und moralisch motiviert. Analysen der rassistischen Verhältnisse werden
vom Mainstream mit einem Ideologieverdacht belegt, oder den Wissenschaler
ˍinnen selbst wird eine problematische Nähe zum Gegenstand unterstellt, um
ihnen damit die Wissenschalichkeit abzusprechen.
Trotz der Randlage und der beschriebenen Schwierigkeiten besteht mittlerweile ein Spektrum verschiedener Ansätze, die Rassismen sowie die mit ihnen
zusammenhängenden Wirkverhältnisse erklären. Diese dienen im Folgenden der
weiteren Erarbeitung eines Verständnisses der Dynamiken zwischen biowissenschalichen Rassifzierungen und Rassismus.
Dimensionen von Rassismen
Für die gesellschas- und rassismustheoretische Grundlegung der weiteren
Überlegungen ist eine Systematisierung der bestehenden Zugänge und Analyseansätze anhand ihrer unterschiedlichen Perspektiven auf die Untersuchung von
Rassismus sinnvoll, um sich den Problematiken von Rassismus, Rassifzierung
und modernen biologischen Rassekonzepten zu nähern. Eine erste Unterscheidung lässt sich anhand des Ziels der Rassismusanalysen vornehmen, die entweder
den Kerngehalt verschiedener Ausprägungen von Rassismen suchen, oder aber
die Funktionen von Rassifzierungen bestimmen wollen. Viele Ansätze fokussieren
nach diesem Unterteilungsschema auf die Gemeinsamkeiten von Rassismen, auf
eine Grundstruktur, die hinter den unterschiedlichen historischen und aktuellen
Ausprägungen bestehe. Andere fokussieren dagegen vor allem auf gesellschaftliche
und individuelle Ursachen und versuchen daraus Rassismus zu bestimmen. Der
ersten Bestimmung entsprechend fasste die Anthropologin Ruth Benedict schon
Rassismus als ein »Dogma, wonach eine ethnische Gruppe von Natur aus zu
erblicher Minderwertigkeit verdammt ist, während einer anderen erbliche Überlegenheit bestimmt ward« (: ). Benedict stellt also zur Bestimmung von
Rassismus die Behauptung erblicher Wertigkeit von Gruppen als Gemeinsamkeit
aller Rassismen und damit als Merkmal heraus.
40 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Andere heben statt der Wertungen und erblichen Zuschreibungen die »Verbindung von Vorurteilen und Macht« hervor, aus der etwa weiße Vorherrscha
(white supremacy) als Essenz der Konstruktion von Differenz zusammen mit Hierarchisierungen und Macht hervorgehe (Kilomba : ; vgl. bell hooks )
oder stellen heraus, dass Rassismus dort anfange, wo für »gesellschaliche Unterschiede eine naturbedingte Rechtfertigung« gesucht (Delacampagne : )
bzw. ein unlösbarer Zusammenhang von »somatischen und psychischen, körperlichen und seelisch-intellektuellen Eigenschaen oder Fähigkeiten« angenommen
werde (Priester : ). Anhand der Funktion(en) wird Rassismus etwa als
»machtvolles, mit Rassekonstruktionen operierendes […] System von Diskursen
und Praxen« defniert, »mit welchen Ungleichbehandlung und hegemoniale
Machtverhältnisse erstens wirksam und zweitens plausibilisiert werden« (Mecheril/
Melter : f. oder Rommelspacher : ). Ähnlich argumentieren auch
Untersuchungen, die Rassismus als »ideologische Formation« (Demirović : )
fassen und herausstellen, dass etwa »körperliche Merkmale zur Klassifzierung«
benutzt werden, die »dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen« (Hall : ).
Selbstverständlich lassen sich nicht alle eorien zum Rassismus entlang der
Zielrichtung der Rassismusanalyse – gerichtet auf die Gemeinsamkeiten der Rassismen oder auf deren gesellschaliche Funktion – zuordnen. Insbesondere werden in einigen Analysen die beiden Perspektiven miteinander verglichen und
zusammengebracht und Rassismus etwa als »verallgemeinerte und verabsolutierte
Wertung tatsächlicher oder fktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des
Anklägers und zum Schaden seines Opfers« defniert (Memmi : ; vgl. auch
Hall : ; Räthzel ). Entsprechend könnten Rassismustheorien auch anders
systematisiert werden, z. B. entlang der Pole psychologisch-individueller versus
gesellschaftlicher Erklärungsansätze, hinsichtlich intentionaler versus struktureller
Dynamiken oder aber anhand der Reichweite sehr enger Defnitionen (die den
Rassenrassismus des NS erklären) versus sehr weiten (die jegliche Differenzzuschreibung als Rassismen fassen).
Für die hier vorgenommene Untersuchung ist es sinnvoll, an das Analysepotential von Ansätzen anzuschließen, die Rassismus als eine soziale Praxis betrachten, »bei der körperliche Merkmale zur Klassifzierung bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzt werden« (Hall : ) und die auf Prozesse der
»Hervorhebung von Unterschieden« (Memmi : ) und der »Signifzierung«
(Miles : ) fokussieren. In diesem Sinne bieten sich für eine Analyse gegenwärtiger biowissenschalicher Differenzforschungen Ansätze an, die sowohl die
Inhalte und historisch sowie kulturell spezifschen Ausprägungen als auch die gesellschaftliche Funktionalität von Rassifzierungen in den Blick nehmen. Als Rah-
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 41
mung der Erörterungen dienen somit immer wieder auch eorien, die nach
dem »Willen zur« und der »Legitimation von Vorherrscha« (Priester : u.
), nach der »Erklärungs- und Rechtfertigungsideologie« (Geiss : ) und
nach ihren Verknüpfungen mit der Kolonialisierung, mit Macht und Herrscha
sowie schließlich mit zentralen Entwicklungen der westlichen Moderne fragen.
Als Referenzpunkt einer solchen Analyse, die nach den Verwicklungen von Rassismen mit der Moderne fragt, sind Michel Foucaults Untersuchungen hilfreich,
in denen er Rassismus als Teil der ›Normalisierungsgesellscha‹ fasst, deren Ziel
die Regelung, Kontrolle und letztlich Steigerung des Lebens ist.
Eine wichtige Grundlage für die Untersuchung biowissenschalicher Rassifzierungen bieten also jene Analysen, die qualitative Veränderungen von Rassismen in der Herausbildung der Moderne in Europa in den Fokus rücken. Diese
betrachten Rassismus im Zusammenhang mit biowissenschalichen Rassekonzepten, mit der kolonialen Expansion Europas, mit der Herausbildung von Nationalstaaten und Staatsbürgerrechten, mit der Entstehung kapitalistischer Ökonomien und mit dem Wechsel von einer theologisch abgesicherten zu einer auf
Natur rekurrierenden Rechtfertigungsordnung (Fanon ; Hannaford ;
Kerner a; Kilomba ; Müller ; Priester ). Die hier hervorzuhebende heuristische Stärke derartiger Analyseansätze besteht darin, die Bedeutung
von Rasseklassifkationen für die Legitimierung sozialer Ungleichheit ergründen
zu können. So lässt sich etwa fragen, inwiefern das othering, die naturalisierende
Veranderung von Personen, diese zu unterdrückbaren Subjekten macht. Können
die ›Anderen‹ beherrscht, entmenschlicht, ausgebeutet und vernichtet werden,
weil in der bestehenden Rechtfertigungsordnung ihre soziale Ungleichheit als biologische Differenz begründet werden kann?
Einer der Ansätze, mit dem aus einer gesellschaskritischen Perspektive die
Dynamiken und Funktionalitäten der Moderne in den Blick genommen werden
können, ist Foucaults Analyse der Biomacht. Seine Studien bilden in den folgenden Erörterungen einen wichtigen Referenzrahmen, um etwa das produktive
Verhältnis moderner Gesellschaen zu Rasseeinteilungen und Rassismus als das
Gegenüber der Optimierung des Lebens fassen zu können. Foucault ermöglicht
mit dem Begriff der Biomacht oder auch Biopolitik eine Schärfung des Blicks für
moderne Regierungstechniken sowohl der Überwachung und Kontrolle als auch
der Liberalisierung, Verschiebung von Verantwortlichkeit vom Staat auf die Individuen und der Regierung des Selbst. Ab dem . Jahrhundert ging laut Foucault
mit dem ›Eintritt des Lebens in den Bereich der bewussten Kalküle‹ einher, dass
neue bzw. intensivierte Praktiken der Subjektivierung, Unterwerfung und Kategorisierung entstanden, deren produktive Seite notwendigerweise auch die andere
Seite des Ausschlusses, der Umgrenzung, Normierung und Eliminierung, mithin
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den Tod, erzeugte (Foucault ). Rassismus versteht Foucault im Anschluss
daran als das notwendige Gegenüber biopolitischen Kalküls, das vordringlich die
Vermehrung des Lebens zum Ziel hat. In seinen Untersuchungen zur »Vereinnahmung des Lebens durch die Macht«, zur »Verstaatlichung des Biologischen«
(Foucault : ), arbeitet er heraus, wie im . und . Jahrhundert Machttechniken entstanden, die sich auf den Körper richteten, der im doppelten Sinne,
nämlich als individueller und als Gattungs-Körper, zum Zielpunkt von Regierungstechniken wurde (ebd. ). Als »Biopolitik der menschlichen Gattung«
seien die Lenkung der Geburten- und Sterberaten sowie die Verbesserung der
Gattung zum Bestandteil rationaler Führung geworden; die Optimierung des
Lebens geriet zum Credo der Regierung. Für das Leben interessiert sich Foucault
nicht etwa im Sinne eines biologischen Substrats, sondern er untersucht dieses als
Korrelat historischer Formationen von Macht und Wissen. In diesem Korrelat sei
auch der Tod von vornherein schon eingeschrieben, da die Feststellung des Lebens,
die Heraushebung dessen aus dem Reich des Anorganischen, die Entstehung der
Wissenschaen vom Leben auf Grundlage eines »Mortalismus« (Foucault /
: ) vor sich gehe. Foucault hebt dabei auf die Bedeutung der Pathologie
und der ›Öffnung der Leichen‹ für die Bestimmung des Lebens ab, geht aber darüber hinaus, indem er ein in den Lebenswissenschaften verortetes »fundamentales
Band zwischen dem Leben und dem Tod« (ebd.) sieht. Seit dem . Jahrhundert
defnierten die Lebenswissenschaen das Leben über seine grundlegenden Prozesse der Ernährung und Atmung, also über die Zusammenführung von toter
Materie und Organischem. In der Konzeption des Tieres verkörpere sich genau
diese Manifestation des Lebens, es »erscheint als Träger jenes Todes« indem »[e]s
tötet, weil es lebt« (Foucault : ).
Die Bestimmung des Lebens in Relation zum Tod grei Foucault in seinen
Analysen der modernen Regierungskünste auf. So folgert er, dass mit der Politisierung des Gattungswesens Mensch in Form eines auf den Volkskörper gerichteten
Verbesserungsgebots notwendigerweise zugleich ein »Staatsrassismus« als Gegenüber entstanden sei. Mit dem Aufkommen der Biomacht ziehe nicht nur das Leben,
sondern mit ihm auch der Tod, »der Rassismus in die Mechanismen des Staates
ein«. Dieser werde notwendig, um Gruppen innerhalb der menschlichen Spezies
gegeneinander zu differenzieren und zu hierarchisieren sowie den »Tod des Anderen […], der bösen Rasse, der niederen (oder degenerierten oder anormalen)
Rasse« in Kauf zu nehmen, um »das Leben im allgemeinen […] gesünder und
reiner« zu machen (ebd.: u. ). Fortan obliege es dem Rassismus, eine Zäsur
innerhalb des biologischen Kontinuums vorzunehmen, mit der die Verbesserungsfähigen von den Aussätzigen, Kranken, Minderwertigen, Anormalen und damit
Gefährlichen zu unterscheiden sind, bevor sich (und hier wird die Verbindung
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 43
mit einer Theorie der Vererbung bedeutsam) diese Eigenschaften fortpfanzten
und zu einer Degeneration der Gattung führten.
Foucaults Bestimmung von Rassismus als notwendige Bedingung der Biomacht für die »Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft« (ebd.:
) bietet eine Ausgangsbasis, mit der moderne Gesellschaften und deren lebenswissenschaftliche Konzeption von Rasse in den Blick genommen werden können.
Mit der Akzeptanz des Tötens ist von Foucault nicht lediglich der direkte Mord
gemeint, sondern jener Gegensatz der Steigerung, Privilegierung und Bevorzugung, der sich ausdrückt in der Bereitscha, »jemanden der Gefahr des Todes
auszuliefern«, das Risiko, den politischen Tod, Vertreibung, Abschiebung usw. zu
erhöhen also dem ›sozialen Tod‹ auszuliefern (ebd: ). Aber statt mit diesem Ansatz immer schon zu wissen, welche Rolle und Funktion Rassemodelle einnehmen
können und müssen, soll mit ihm vielmehr nach dem Verhältnis zwischen heutigen
Rassifzierungen und biopolitischen Anforderungen gefragt sowie aktuelle Reaktivierungen und Erneuerungen von Rasse als fortwährende biologische Wahrheit
in den Blick genommen werden. Als Leitfaden für diese Perspektivierung dienen
die folgenden Fragen: Wie sind also die Wissenschaen vom Leben mit einer
Macht verbündet, die das Leben in Beschlag nimmt? Welche sozialen und politischen Folgen zeitigt ein Diskurs, der sich medizinisch, biologisch und in den letzten Jahrzehnten vor allem genetisch formiert, wenn er menschliche Differenz
entlang gesellschalicher Stratifzierungslinien reproduziert? Welche Wirkung
besitzen Aussagen zur Wahrheit über Rassen, die in den Praktiken und Interpretationen der Differenzforschung produziert werden?
Die Lebenswissenschaften nehmen derzeit, besonders mit der Wissensproduktion der Genetik, eine Rolle als Leitwissenschaft 21 ein, wodurch ihre Narrative für
viele über den Bereich der Wissenschaft hinausgehende gesellschaftliche Bereiche
organisierende und formierende Kraft erzeugen. Entsprechend dieser Vorrangstellung lebenswissenschalicher Aussagen über das Sein, über die Bedingtheiten
lebender Materie und biologische Prädispositionen des Menschen liegt es zunächst
nahe, dass sich auch Rassismen solcher Diskurse zur Ontologie des Lebens bedienen müssen, um nicht als überholt zu gelten oder gar widerlegt zu werden. Rassismus bedarf, dass muss klargestellt werden, nicht unbedingt eines biologischen
Konstrukts, um Menschen zu kategorisieren und zu hierarchisieren. Aber die biowissenschalichen, naturalisierten Konzepte von Rasse hatten historisch eine bedeutungsvolle Rolle, und biologische Modelle zeitigen auch heute weitreichende
Effekte für gesellschaliche Teilungspraxen. Kulturalisierende Konzepte bestehen
bisher gerade in einer – nicht stets expliziten – Verwicklung mit naturalisierten
21 Die Funktion der Leitwissenscha ist ausführlicher Gegenstand unter »Die Ära der Genetik« im Kapitel »Genetifzierung«.
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biologischen Ansätzen. »Rassismus ohne Rassen« (Balibar : ) ist entsprechend kein neues Phänomen, da kulturelle und soziale Merkmale seit Beginn
moderner Teilungen in die Konstruktion kategorialer Differenz eingewoben sind,
und auch heutige Ausprägungen kultureller und sozialer Gruppenzuordnungen
rekurrieren vielfach auf biologische Signifkationen wie Hautfarbe, Physiognomie,
Haare, Augen etc.
Ob biowissenschaliche Differenzforschungen deshalb rassistisch sind, ist
damit allerdings nicht abschließend zu klären. Hinderlich ist für das Verständnis
der derzeitigen Rassifzierungen zudem, dass sich viele Debatten zu Rassismus
um die Intentionalität (Ist der Rassist bewusst oder strukturell rassistisch?) und
um Werturteile (Ist schon die Einteilung von Menschen in Gruppen oder erst die
hierarchisierende Wertung einer gruppenbezogenen Differenz rassistisch?) drehen.
Die gesellschalichen Dimensionen, sozialen Hintergründe und Effekte biowissenschalicher Differenzforschung sind mit derartigen Auseinandersetzungen
kaum zu erhellen. Gerade zeitgenössische Rassifzierungen sind – wie sich im
Weiteren zeigen wird – dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr vorrangig
für den Beweis der Minderwertigkeit der ›Anderen‹ oder zur Erzeugung von Ungleichheiten verwendet werden. Entsprechend wäre die Beschreibung heutiger
biowissenschalicher Konzeptionen als »Wissenschalicher Rassismus« zwar
prononciert, in Bezug auf die Unterschiede zu wissenschaftlichen Rassekonzeptionen des . und der ersten Häle des . Jahrhunderts aber undifferenziert und
entsprechend ineffektiv in ihrer kritischen Schärfe.
Neben einigen eben angerissenen rassismustheoretischen Unzulänglichkeiten
erschwert zudem der Rassismusbegriff mit seinen differenten Bedeutungen die
Beantwortung derartiger Fragen. Zu einer Klärung von rassistischen Verhältnissen
jenseits von nazistischen Ideologien, diskriminierenden Aussagen und gewalttätigen Angriffen sind viele Rassismustheorien nur begrenzt einsetzbar. Hintergrund dieser Begrenzung ist über die schon beschriebene marginale Stellung der
Rassismustheorie im Kanon der Sozialwissenschaen hinaus, dass der Begriff
»Rassismus« lange Zeit auch in den kritischen Analysen umstritten war. Befürchtet
wurde, dass sein Gebrauch auch die Behauptung einer Existenz von Rassen verfestigen könne. Überdies schien er vielen – nicht nur im deutschsprachigen Kontext – mit dem Rassenrassismus des Nationalsozialismus semantisch verknüp
und entsprechend nicht für aktuelle Gesellschasanalysen und -kritiken verwendbar. Aus eben diesem Grund benutzte z. B. die Frankfurter Schule den Begriff
zunächst nicht, und deshalb dauerte es noch bis in die er Jahre, bis er sich im
deutschsprachigen Raum nach umfangreichen Debatten allmählich etablierte
(Demirović ; Räthzel ).
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 45
Es steckt also eine Problematik im Diskurs um Rassismus, welche die Verwendung des Begriffs für eine Untersuchung der Formen, Veränderungen und Kontinuitäten von Rasse in der Ära der Genetik kompliziert macht. Das heißt
keinesfalls, dass die Bezeichnung in Bezug auf die hier vorgenommene Untersuchung nicht sinnvoll wäre und schon gar nicht, dass dem Rassismusbegriff entsagt werden sollte – im Gegenteil. Jedoch bietet sich als analytische Perspektive
der hier schon mehrfach verwendete Begriff Rassifzierung an. Dieser ermöglicht
es, von den inhaltlichen Debatten über die Einordnung spezifscher Individuen,
Aussagen, Behauptungen, eorien und Meinungen als rassistisch oder nicht abzusehen und darüber hinaus die verschiedenen Prozesse der Rassifzierung, die
Dynamiken und Wirkungen mit in die Analyse einzubeziehen (vgl. Rattansi
: ). Als analytische Bezeichnung, der in Relation zu Rassismus steht, dient
der Begriff Rassifizierung 22 dazu, die Praxen der Unterscheidung, hier vor allem die
vielfältigen Prozesse der wissenschaftlichen Herstellung von Rassen, zu ergründen.
Das Gemachtsein von Rassen wird mit diesem Terminus am deutlichsten, aber
auch der Begriff Rassismus enthält diese konstruktivistische Bedeutung, da er eine
soziale Strukturdimension beschreibt, die als Verhältnis sowohl auf das Verhalten
einzelner Individuen wirkt, als auch institutionell spezifsche Ungleichheit und
Ungerechtigkeit erzeugt. Der Begriff Rassismus prononciert somit einen doppelten
Einspruch gegen die Konstruktion von Rasse und gegen die damit verbundenen
Hierarchisierungen und Beschädigungen. Rasse, Rassifzierung und Rassismus
sind hier also immer mit dem Fokus auf ihre Prozesshaftigkeit, auf ihr Gewordensein und bisher währendes Werden zu verstehen.
Wenn Rassismus also (und darin stimmen alle theoretischen Ansätze überein)
ein Versuch ist, gesellschaliche Teilungen zu rechtfertigen, Attribute von Menschen entlang von Gruppenzugehörigkeiten zu ordnen und die Unmöglichkeit
der Überwindung dieser Grenzen zu behaupten, dann dient die Untersuchung
von Prozessen der Rassifzierung dazu, den ›Erfolg‹ jener Versuche, die Formen
ihrer Argumentation, ihre Mittel zur Autorisierung und ihre Wirkungen sichtbar
zu machen und zu kritisieren. Für ein Verständnis von Rasse in der Relation
Wissenscha–Gesellscha ist es somit notwendig, der Wissensproduktion in den
22 Zur Untersuchung wurden in der internationalen Rassismustheorie Begriffe wie »racial formation« (Omi/Winant ), »racialisation« (Miles ), »race creation« (Goldberg ) oder
»fabrication of race« (Jacobson ) gesprochen. Am gebräuchlichsten sind die Begriffe
»raciation« und »racialization« (vgl. Miles ; Hannaford : ; Hund : ). Im deutschen Sprachraum werden entweder Begriffe wie »Rassenkonstruktion«, etwa in der Übersetzung von Miles , verwendet oder Rassialisierung bzw. Rassifzierung übernommen.
Während Rassialisierung sich an den englischen Begriff anlehnt und analog zu Ethnisierung
steht (vgl. Arndt ), grei Rassifzierung eine Konnontation des lateinischen fcare machen, tun auf.
46 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Biowissenschaen zu folgen. Hierfür bedarf es aber zunächst der Klärung des Instrumentariums zum Umgang mit Veränderung und Konstanz des Wissensfeldes
rassifzierender Differenzforschung.
Nichts ist wie es bleibt:
Zur Fassung von (Dis)Kontinuitäten
Der Gates-Fall machte deutlich, wie rassifzierende Zuweisungen in einem Konglomerat aus biologischen Deutungen physischer Marker, sozialen und politischen Bedeutungen sowie Status- und Privilegienzuweisungen erzeugt werden.
Weitere aktuelle Thematisierungen biologischer Rassekonzepte wie die von James
Watson, einem der bekanntesten Genetiker, zu angeblichen Intelligenzunterschieden von Schwarzen und Weißen (siehe Kapitel »Analytik rassifzierender
Gesellschaen«) oder jenen von ilo Sarrazin machen eine kritische Analyse
gegenwärtiger lebenswissenschalicher Differenzkonzepte kaum leichter. Zwar
besteht in Bezug auf völkische und intentional rassistische Rassekonzepte ein Repertoire an sozial- und politikwissenschalichen Analyseansätzen, die auch deren
Skandalisierung ermöglichen. Für ein Verstehen und Bewerten neuer ematisierungen von Rasse in den Lebenswissenschaen lassen sich diese Analysemittel
aber höchstens beschränkt einsetzen. Reformulierungen rassifzierender Differenzkategorien, wie sie im Human Genome Diversity Project, bei genetischen Abstammungsanalysen, oder in forensischen, medizinischen und pharmakologischen
Forschungen Anwendung fnden, (siehe Kapitel »Rasse in der Post/Genomik«)
sind omals gerade durch die Inklusion von Kritik gekennzeichnet. Die Ambivalenz und Komplexität aktueller Rassifzierungen zeigt sich an der schon ausgeführten gleichzeitig bestehenden Überzeugung von der »biologischen Bedeutungslosigkeit«, »genetischen Widerlegtheit«, mithin vom ›Ende biologischer
Rassekonzepte‹ und dem Urteil jener, die eine Zunahme und Ausweitung bzw.
ein Wiederauferstehen, eine Renaissance der Rasseforschung festzustellen meinen.
Die divergierenden Einschätzungen zur Aktualität von Rasse erzeugen natürlich Fragen nach der Richtigkeit bzw. Angemessenheit der jeweiligen Zeitdiagnosen.
Welche Analyse tri die Realität am genausten? Welche Rolle spielen Rassekonzeptionen derzeit tatsächlich in den Lebenswissenschaen? Wird in den Wissenschaen ein neues Rasseverständnis konzipiert oder sind die Entwicklungen
besser als Veränderungen zu verstehen, in denen es zur Absage an Rasse bzw. mindestens zu grundlegenden Veränderungen des Verständnisses von biologischer
Differenz kommt? Zu fragen ist auch, warum aktuell derart gegensätzliche Einschätzungen formuliert werden. Was macht biowissenschaliche Differenzfor-
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 47
schungen so speziell, dass sie offensichtlich nicht einfach in den bekannten Bildern
von Kontinuität, Brüchen oder Veränderungen beschreiben werden können?
Für die hier vorgenommenen Erörterungen wäre es möglich, sich auf eine
Seite der bestehenden Interpretationen – der Erklärung vom Ende oder der Erneuerung der Rasseforschung – zu schlagen und dann zu versuchen, die ›Richtigkeit‹
dieser jeweiligen Position nachzuweisen. Denkbar wäre auch, beide Positionen
auf ihre Vor- und Nachteile, ihre Einsichten und Blindstellen hin zu überprüfen,
um schließlich eine mittlere bzw. vermittelnde Position einzunehmen. Erörterungen
im Feld der Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichte wählen üblicherweise chronologie-fokussierte Darstellungen, in denen entweder wissenschaftlichen und politischen Institutionen gefolgt wird oder aber entlang einzelner
Akteure die Tradierung des Untersuchungsgegenstandes und der mit ihm verbundenen eorien, Ideen und technischen Möglichkeiten erörtert werden (so etwa
Kay ; Kröner ). Vor allem angesichts der Beobachtung, dass die aktuellen
Thematisierungen von Rasse mehrere Interpretationen und mit diesen verknüpfte
politische Einschätzungen ermöglichen, scheint ein Instrumentarium angebracht
zu sein, welches Dynamiken und Veränderungen als ambivalente Prozesse erfassbar macht. Statt etwa akteurszentrierte oder allzu starre strukturfunktionalistische
Modelle in Anwendung zu bringen, bieten sich mit der zusätzliche Fragerichtung
nach den Gründen vielmehr kontextualisierende interaktionistische und praxeologische Analyseansätze an.
Im Folgenden geht es somit darum, sowohl rassifzierende Differenzkonzepte
zu beschreiben, als auch den aufgeworfenen Fragen nach Kontinuitäten, Veränderungen und Brüchen zu folgen. Als Bearbeitungsmittel dient dabei ein soziologisches Verständnis, mit dem Rasse als konstitutiv wandelbares Konzept in den Blick
genommen wird. Zugegebenermaßen mutet Wandelbarkeit als Konstitutivum
von Rasse zunächst paradox an, da sich lebenswissenschaliche Forschungen zu
Rasse doch scheinbar gerade mit den stabilen, in den jeweiligen Menschengruppen
gleich geblieben biologischen und insbesondere genetischen Merkmalen beschäftigen. Die Natur biowissenschaftlicher Rassekonzepte soll ja gerade in deren Statik
bestehen, d. h. in der Annahme, dass Rasse den kulturellen Wandlungsprozessen
nicht (oder kaum) unterliege. In der historischen Perspektive wird jedoch deutlich,
dass Rassekonzepte seit ihrer Verwissenschalichung und insbesondere seit ihrer
Genetifzierung vielfältigen Veränderungen unterlagen. Entsprechend bedarf es
einer Analyse, die jene stetigen Veränderungen der als konstant konzipierten rassischen Differenz in den Blick nimmt. Zu untersuchen ist, aus welchem Grund und
in welcher Weise die lebenswissenschaftliche Ordnung der Menschen ständigen
Wandlungen unterliegt und wie die jeweiligen Konzepte mit einer statischen
Kultur kategorialer Unterscheidung zusammenhängen. Die Wandelbarkeit rassi-
48 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
fzierter Differenzkonzepte darf dabei nicht als eine Kontinuitäten negierende
Erneuerung missverstanden werden. Vielmehr besteht ein Kopplungsverhältnis
zwischen beiden, indem der Neuerungsdrang eine beständige Rekonzeptualisierung von Rasse als biowissenschaliches Objekt produziert.
Entgegen dem üblichen Verständnis von Kontinuität als etwas substanziell
Unverändertem, das entlang einer Zeitlinie gleich bleibt, ist ein naiv statisches
Verständnis in Bezug auf wissenschaliche Konzepte und im Besonderen auf
Rasse kaum sinnvoll. Konzeptualisierungen unterliegen schließlich in wissenschalichen Praktiken einer immerwährenden Reinterpretation. Konstanz und
Kontinuität von Konzepten entstehen somit erst in einer stetigen Neukonfguration unter zeitlich, örtlich und kontextuell wechselnden Bedingungen. Kontinuität
ist also immer nur in Relation zu prinzipiell nichtstatischen Bedingungen sozialer
Prozesse zu verstehen. Kurz gesagt ist Kontinuität ein Interpretationsergebnis,
dessen konstanter Gehalt erst durch variierende Bedingungen und diese Bedingungen und Gehalte vergleichende Analysen erfasst werden kann.
Leider wird in vielen bestehenden Analysen und Kritiken zu Rasse nicht von
einem analytisch differenzierenden Verständnis von Kontinuitäten ausgegangen,
sondern stattdessen eher punktuell etwa der Fortbestand von Ideologien, mit denen
eugenische, nazistische oder völkische Verständnisse in Rassenbegriffe tradiert
werden, untersucht. Derartig pragmatisch vorgenommene Bewertungen geraten
allerdings bei populations- und molekulargenetischen Rassekonzeptionen und
umso mehr unter den Bedingungen der Genomik und Postgenomik an ihre
Grenzen. Besonders mit den seit während des Zweiten Weltkriegs wirkmächtig
formulierten Infragestellungen biologischer Rassekonzeptionen und den in den
letzten Jahrzehnten auch innerhalb der Lebenswissenschaften formulierten Absagen
an rassische Einteilungen der Menschheit scheinen Weiterführungen von biologischen Rasseverständnissen nunmehr nur unter der Bedingung entschiedener konzeptioneller Veränderungen und Implementationen der Kritiken möglich zu sein. 23
Die sehr unterschiedlichen Einschätzungen zum Stand gegenwärtiger Rassifzierungen resultieren somit – so ist zu resümieren – vor allem in jeweils sehr unterschiedlichen Verständnissen von Kontinuität.
Für die Erklärung aktueller Entwicklungen rassifzierter Konzepte ist es deshalb
notwendig, statt den Disziplinen, einzelnen Akteuren oder Institutionen zu folgen,
vielmehr auf die Dynamiken – also kontingente Bedingungen, nichtdeterminierte
Wirkungen, Bewegungen, Verschiebungen – in mehreren Disziplinen, verschiedenen wissenschaftlichen Feldern und an unterschiedlichen Gegenständen zu fokussieren. Somit gilt es, die Modernisierungen von Rasse aus möglichst vielen Perspektiven in Relation zu politischen und Alltags-Thematisierungen zu betrachten.
23 Siehe hierzu auch die Ausführungen im Kapitel »Analytik rassifzierender Gesellschaen«.
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 49
Zur Debatte steht in der Rekonstruktion rassifzierender Differenzforschung deshalb auch, wie Dis/Kontinuitäten von wissenschaftlichen Konzeptualisierungen,
Forschungspraxen und deren Verwobenheit mit sozialpolitischen Kontexten erfasst
werden können. Als fehlenden Teil der hierfür notwendigen Grundlagen und Perspektiven bedarf es noch einer Klärung semantischer Aspekte.
Begriffe und Semantiken
»Rasse ist ein böses Wort«, pointiert der Sozialwissenschaler Paul Mecheril:
»es sticht, es tut weh, kein anderes Zeichen, das besser paßte«, um die Realität
rassistischer Ordnung zu benennen und deren Hierarchie und Gewalttätigkeit
nicht zu unterschlagen (: ). »Rasse« – um diesen gewaltvollen Begriff, der
in der vorliegenden Arbeit im Zentrum steht, kreisen alle hier vorgenommenen
ematisierungen, Problematisierungen, Analysen und Kritiken. An ihn heften
sich die hier verhandelten Fragen nach seiner Aktualität in den Lebenswissenschaften, nach seiner Persistenz trotz vielfältiger Einwände und nach seinen konzeptionellen Veränderungen. Unübersehbar ist, dass dieser Terminus in verschiedenen
Kontexten sehr unterschiedliche Bedeutungen hat. Aus den Erörterungen zu Rassismustheorien, der Geschichte und Modernisierung von Rassekonzepten sowie
der Soziologie von Rassifzierung und Rassismus wird deutlich, dass er in unterschiedlichen Disziplinen als beschreibender, als politischer und als skandalisierender Begriff verwendet wird. Die offensichtliche Unmöglichkeit einer beständigen
und klaren Defnition hat ihn auch historisch außerordentlich wandelbar gemacht.
Diese Unklarheit bestärkte den Gebrauch des Begriffs eher, als ihn zu beschränken,
seine Offenheit für allerlei soziale und politische Zuschreibungen hat ihn schließlich zur Kategorie einer der zentralen Teilungsdimensionen der westlichen Moderne
werden lassen und nach wie vor zirkuliert er sowohl im Alltagswissen als auch in
biowissenschalichen Disziplinen. Darüber hinaus fndet er sich aber auch in
postkolonialen Interventionen und kritischen Studien zu Weiß-Sein, in sozialwissenschalichen Analysen zur Benennung von rassifzierten und rassistischen
sowie zur Benennung und Bekämpfung von (de-)privilegierenden Strukturen bis
hin zu juristischen Einlassungen zur Gleichstellungsgesetzgebung.
Trotz seines Alters ist Rasse ein äußerst unklarer Begriff: Was bezeichnet er?
Eine Menschengruppe? Wozu? Ist der Begriff Ergebnis oder Ursache sozialer Teilungspraktiken, von Ungleichbehandlung, Unterdrückung, Ausbeutung und Exklusion? Repräsentiert Rasse die mörderische Seite der europäischen Moderne, des
Kolonialismus, Kapitalismus und der fortbestehenden Segregation sozialer Gruppen? Rasse ist umstritten, gerade weil der Begriff sticht, weil er verletzt, weil er
50 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
ein beschädigender und herrschalicher Begriff ist. Und weil er trotz seines so
umfangreichen Bedeutungsgehaltes für viele Gebrauchsweisen nicht richtig passt.
Insbesondere in den emanzipativen Debatten und Kämpfen erscheint dieser Begriff
o unzureichend und ambivalent. Anschaulich wird dies unter anderem in der
Äußerung ›Rassen gibt es nicht!‹ Diese wird vielstimmig konstatiert, ist aber nahezu kontrafaktisch mit einer Gesellschaft konfrontiert, die nach Rassen unterteilt
und damit verkoppelter Diskriminierungen, Angriffe und Missachtungen ausübt.
Mithin gibt es gute Argumente sowohl für, als auch gegen die Verabschiedung des
Rassebegriffs. Schon der Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld meinte ,
dass »wir gewiß gut daran täten, den Ausdruck ›Rasse‹ zu streichen« (: ), da
er Differenzen zwischen Menschen behaupte, die inakzeptable Wirkungen hätten.
Seitdem gab es vielfältige Versuche, den Begriff durch andere wie etwa »Ethnizität«
zu ersetzen oder aber ihn durch analytische Vokabeln und Konzepte wie »Rassismus« und »Rassifzierung« abzulösen, die der Behauptung von Rassen widersprechen und zugleich rassistische Verhältnisse kritisieren (siehe UNESCO : ).
Doch trotz aller Kritik persistiert der Begriff in alltagsweltlichen ebenso wie
in bio- und sozialwissenschalichen Debatten und Praxen. Dem Hinweis von
Mecheril – dass Rasse ein böses, aber passendes Wort sei – ist somit zuzustimmen: Kein anderer Begriff vermag bisher so deutlich auszudrücken, welche Probleme Segregation anhand von Konzepten wie Herkun, Abstammung und physischer Marker erzeugt. Rasse sticht, das Wort tut weh, aber es bezeichnet etwas,
dessen adäquate Bezeichnung für eine Analyse dieser Situation unabdingbar und
für eine Überwindung dieser Verhältnisse notwendig erscheint.
Auch in dieser Untersuchung geht es um eine solche Benennung und damit
Sichtbarmachung, nämlich jener Bereiche der Lebenswissenschaen, die aktuell
mit Rassemodellen hantieren, rassifzierende Forschungen betreiben sowie Rasse
als wissenschaliches Konzept entwickeln und modernisieren. Dem Rassebegriff
wird also in dieser Arbeit ein analytischer Wert zugesprochen, mit dem die Brisanz
lebenswissenschaftlicher Forschungen zu biologisch-hereditären Gruppenzugehörigkeiten verdeutlicht wird. Bei aller Unklarheit aufgrund seiner Bedeutungsvielfalt
besticht der Begriff dennoch aufgrund dessen, dass er eben kein rein beschreibender, analytischer oder gar abstrakter ist.
Neben der heuristischen und skandalisierenden Anwendung des Begriffs geht
es im fünen Kapitel zur »Analytik rassifzierender Gesellschaen« auch um eine
Erörterung der Auseinandersetzung um Potentiale und Gefahren des sozialwissenschalichen Gebrauchs des Rassebegriffs und seines englischen Pendants race.
Rasse (und ebenso race) nehmen somit auch in dieser Arbeit mehrere Bedeutungen
und Funktionen an, die im Kontext der weiteren Erörterungen deutlich werden.
Der hauptsächliche Zweck der Verwendung des Begriffs liegt dabei in der Heraus-
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 51
stellung seines problematischen biologistischen und kategorialen Bedeutungsgehaltes. Rasse dient in dieser Untersuchung zuallererst als Bezeichnung für jene
Unterscheidungen menschlicher Gruppen anhand biologischer Merkmale, die
mit erblicher Stabilität und geographischer Herkun verknüp wurden. Entsprechend ist er zum einen ein Diskurszitat aus lebenswissenschalichen Konzepten
mit einem biologischen Sinngehalt. Zum anderen dient er als kritische Analysekategorie, mit der die soziale Bedeutungszuweisung – in diesem Fall die biowissenschaftliche Produktion von rassifzierter Differenz – kenntlich gemacht werden
kann. Kurz gesagt: Rasse ist als durch Rassifzierung und Rassismus hervorgebrachte soziale Kategorie zu verstehen. Der Begriff benennt also die Ergebnisse
wirkmächtiger gesellschalicher Prozesse der Teilung und Zuweisung und macht
deren Realitäten beschreibbar und analysierbar.
Um das soziale Hergestelltsein in Schriform zu verdeutlichen, existieren
verschiedene Vorschläge. Die meisten kritischen und antirassistischen Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Raum setzen den Begriff Rasse in doppelte
oder einfache Anführungszeichen. Andere, vor allem sich auf postkoloniale und
Critical Race Studies beziehende Publikationen verwenden die englische Vokabel
race, da diese – gegenüber dem deutschen Begriff Rasse – einen haltbareren sozialen, kulturellen und politischen Bedeutungsgehalt habe (vgl. bspw. Arndt ;
Arndt/Hornscheidt b; Tischleder ; vgl. auch U.S. Census Bureau ).
Analog zum englischen Begriff gender, der zur Verdeutlichung der sozialen Dimensionen von Geschlecht auch in der deutschen Wissenschaftssprache etabliert wurde,
wird mitunter geho, eine solche Begriffstransformation auch für »Race« vornehmen zu können (vgl. Arndt ; Dietze et al. b). Weitere Autorˍinnen
kritisieren dagegen den Gebrauch des Begriffs race wegen seiner nach wie vor
immanenten »Naturalisierungsanfälligkeit« und der konstitutiv mit ihm verbundenen Rekurse auf körperliche und vermeintlich natürliche Evidenzen, wodurch
unproblematische Bezugnahmen auf race ebenso wie auf Rasse nicht möglich
seien (Kerner b). Der Begriff beinhalte die »Gefahr der Verharmlosung«, da
»Race als einen kritischen Terminus zu deklarieren«, die in ihm steckenden Ambivalenzen verwische und eine Neutralität suggeriere, die er niemals besessen habe
(Wollrad ).
In den deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen und Interventionen, in denen der Begriff Rasse als Analysekategorie oder deskriptiver
Terminus verwendet wird, sind weder der Gebrauch noch die Schreibung einheitlich. Zwar überwiegt die Verwendung von Anführungszeichen, aber ohne eine
allgemeine Einigkeit. So kritisiert etwa die feministische Philosophin Cornelia
Klinger neben terminologischen Ausweichmanövern wie der Verwendung der
Begriffe Ethnie/Ethnizität statt Rasse auch die Verwendung von Anführungszei-
52 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
chen, da diese »bloß kosmetischen Wert« hätten und lediglich geeignet seien, die
»zugrunde liegenden sachlichen Härten sprachlich zu mildern und zu vertuschen« 24 (: ). Manche Sozialwissenschalerˍinnen argumentieren ähnlich,
wenn sie die Strukturkategorie Rasse als »enorm wirksam« und »Tag für Tag verantwortlich für großes Leid« ausweisen und fragen: »Wieso sollten wir diesen
brutalen Begriff mit Anführungszeichen relativieren und damit banalisieren?«
(Winker/Degele : ; vgl. Degele : ). Die Soziologin Manuela Boatcă
problematisiert darüber hinausgehend die paradoxe Situation, in der sich die
Phänomene wie Rassismus und soziale Prozesse wie Rassifzierung scheinbar gegenstandslos ereignen, da ihre Grundkategorie unaussprechlich bleibe. Als Effekt
dieser scheinbaren Unausprechlichkeit sei der Begriff »Rasse« im deutschsprachigen Diskurs unterthematisiert und untertheoretisiert (Boatcă : ). Einige
Sozialwissenschalerˍinnen andere verwenden die Schreibung ohne Markierungen, begründen dies aber nicht weiter, sondern weisen den Begriff inhaltlich
als soziale Konstruktion, politische Kategorie oder als Strukturbegriff aus (Becker
; Bös ; Geulen , ).
Vorherrschend ist im Deutschen jedoch die Schreibung in Anführungsstrichen, die von Hirschfeld bereits Mitte der er Jahre vorgeschlagen wurde,
»um zu zeigen«, dass das Wort und Konzept »fragwürdig sind« (Hirschfeld :
). Von antirassistischen Arbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der
er Jahre wurde der Rassebegriff zumeist nicht als analytische Kategorie gefüllt
und entsprechend vermieden oder lediglich historisch gebraucht. 25 In Referenz auf
kritische Texte, insbesondere der Cultural Studies etablierte sich ab Anfang der
er Jahre auch im Deutschen die Schreibung in Anführungsstriche als Abgrenzung zur biologischen/biologisierenden Bedeutung. Dies erfolgte auch aufgrund
eines »Übersetzungsproblems« die bei der Übertragung etwa von Texten Stuart
Halls oder Étienne Balibars auraten. So wurden auch Texte, in denen im Original race ohne Hervorhebung Verwendung fand, im Deutschen mit doppelten
oder einfachen Anführungsstrichen versehen (Hall , ). 26 Später kamen
noch die Kursivschreibung sowie die Beibehaltung der englischen Vokabel hinzu.
24 In späteren Publikationen ändert Klinger diese Ansicht wieder. So verwendet sie in einem
Text von wieder Anführungsstriche (Klinger/Knapp ), während sie in einer Publikation von (bis auf eine Ausnahme) wieder verschwunden sind (Klinger/Knapp ;
Knapp a).
25 Ein analytischer Gebrauch von Rasse ohne Anführungsstreiche fndet sich beispielsweise in
Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrscha ().
26 Das ›Übersetzungsproblem‹ besteht nach wie vor, wie etwa eine Übersetzerin ausführt, dass
im Deutschen »im Allgemeinen in einem beinahe automatisierten Refex mit der Setzung
obligater Anführungszeichen« auf die Schwierigkeiten mit dem Begriff reagiert werde (In:
Mbembe : ).
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 53
Aktuell wird im Kontext kritischer Arbeiten mit Bezugnahmen auf postkoloniale
Ansätze der critical race- und critical whiteness-Analysen, ›Rasse‹ üblicherweise
mit einfachen Zeichen ausgewiesen (vgl. z. B. Eggers et al. ; El-Tayeb ;
Dietze et al. a; Ha ; Hutson , ). Angelehnt wird sich dabei zumeist an die Schreibweisen in vielen (linken) englischsprachigen Publikationen,
in denen eine Apostrophierung von ’race’ vorgenommen wird (z. B. Gissis ;
Gilroy ; Kilomba ; Miles ; Reardon ; Wade 27). In einigen
Texten versuchen die Autorˍinnen mit einer Unterscheidung zwischen einem in
doppelte Anführungszeichen zu setzenden Diskurszitat »Rasse« und der kritischen
Analysekategorie ›Rasse‹, die in Ermangelung eines besseren Begriffs mit einfachen
Anführungsstrichen als problematisch gekennzeichnet werde, die Schwierigkeiten
des Begriffs differenzierter zu kennzeichnen (AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaen : ), oder sie setzen Rasse in der biologistisch konstruierten
Bedeutung von der kursiv gesetzten kritischen Wissens- und Analysekategorie
Rasse ab (Solomos ; Eggers et al. : f.). Wieder andere sprechem dem Begriff grundsätzlich einen analytischen Status ab und schreiben ihn aus diesem
Grund in Anführungszeichen, da »Rasse« nicht zugleich Objekt und konzeptuelles
Werkzeug der Analyse, explanandum und explanans, sondern nur ein zu konstruierendes Objekt sein könne (Wacquant : ; vgl. auch ).
Auffällig ist, dass es vielmals dieser »diskurstechnischen Absicherungen« (Ha
: ) bedarf, um herauszustellen, dass es keine menschlichen Rassen gebe
(Arndt : ) oder um zu betonen, dass es sich um eine »soziale Konstruktion«, um das »Ergebnis gesellschaftlicher Bedeutungszuweisung« handele (Dietze
et al. b: ). Beachtenswert erscheint, dass Rasse bisher zumeist dieser zusätzlichen Zeichen bedarf, während andere Begriffe als wissenschaliche Termini
(wie etwa Geschlecht, Sexualität, Körper etc. 28) ohne derartige institutionalisierte
Disclaimer auskommen. Aber Rasse ist keinesfalls der einzige Begriff, dem spezielle
Markierungen zugewiesen werden. Vor allem im Kontext poststrukturalistischer
eorieansätze existiert eine Reihe semantisch orientierter und repräsentationskritischer Ausweisungen, mit denen etwa der politische Gehalt von Begriffen wie
Schwarz sowie die »Konstruktionshaigkeit« der Bezeichnung weiß durch Kursivsetzung oder Großschreibung dieser Adjektive hervorgehoben wird (Arndt/
Ofuatey-Alazard ; Arndt/Hornscheidt a; Eggers et al. : ; Wollrad
: ). Andere Begriffe werden mit Sternchen * oder Unterstrich ˍ versehen,
27 In seinem gleichnamigen, aber neun Jahre später erschienen Buch setzt Wade nur noch selten
Anführungsstriche (: ff.).
28 Diese Unterscheidung fndet bisweilen sogar in einem direkten Zusammenhang statt. So
schreiben etwa Dietze et al. »Analog zu unserem Verständnis von Gender begreifen wir auch
›Rasse‹ als Ergebnis gesellschalicher Bedeutungszuweisung« (: ).
54 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
um Repräsentationsräume schrisprachlich sichtbar zu machen (sˍhe ;
Hermann ; Baumgartinger ; sowie verschiedene Beiträge in NdukaAgwu/Hornscheidt ).
Neben der Problematisierung und Distanzierung, die mit den Anführungszeichen vorgenommen werden, gibt es noch eine weitere Funktion, nämlich die
noch nicht ausreichende wissenschalich-analytische Etablierung einer Bezeichnung anzuzeigen. Eine solche Markierung wird insbesondere bei wissenschalichen Begriffen vorgenommen, die sich im Übergang von einem Alltagsgebrauch
in wissenschaliche Kontexte befnden. Diese ›szientifsche Aneignung‹ wird zunächst durch das In-Anführungszeichen-Setzen vorgenommen (vgl. Bachelard
: f.) 29. Wieder weggelassen werden diese Zeichen dann, wenn die Übersetzung des umgangssprachlichen Begriffs in eine wissenschaftliche Sinngebung vollzogen wurde. Entsprechend ist »Rasse« etwa in Max Webers Ausführungen zur
»Rassenzugehörigkeit« in seinem Werk »Wirtscha und Gesellscha« () zunächst in Anführungsstrichen gesetzt und wird im Weiteren von ihm ohne diese
verwendet. Dieser »Bruch«, diese »Reform des Wissens«, die der Philosoph Gaston
Bachelard in Bezug auf die Verwissenschalichung von Begriffen beschreibt,
konnte mit dem Wort »Rasse« bisher anscheinend nicht wirklich vollzogen werden.
Rasse steht also – so lässt sich an dieser Stelle zunächst resümieren – für die
Behauptung einer »ultimativen, nicht reduzierbaren Differenz« zwischen Menschengruppen (Gates : ), als eines Produkts darauf beruhender vielfältiger
Praktiken der Kategorisierung und Zuweisung vermeintlicher Andersheit, der
Hierarchisierung und Ausbeutung aber auch der Benennung und Identifzierung
sozialer Ungleichheit reichen. Daraus folgt, dass dieses »stechende Wort« – dessen
Sinngehalt historisch mit unermesslichem Leid und Tod und aktuell mit rassistischen Verhältnissen verbunden ist – weder ein herkömmlicher, unkomplizierter
wissenschaftlicher Begriff noch ein harmloses Analyseinstrument sein kann. Diese
Problematik und gewaltige Ambivalenz des folgenreichen Begriffs und seiner aufgeladenen Verwendungen wird auch in den weiteren Erörterungen immer wieder
deutlich. Die Bedeutungsschwere des Begriffs steckt jedoch in ihm, in seiner Konzeption, der wissenschaftlichen wie institutionellen und interaktionellen Füllung.
Da sich die Studie genau diesem Inhalt in seinen verschiedenen Facetten widmet,
ist es hier angebracht, auf die stetig alarmierende Apostrophierung zu verzichten.
Statt eine vorsichtige Distanz zu versuchen, wie sie sich auch in der englischen
Formulierung scare quotes ausdrückt, geht es hier gerade darum, dem verschreckenden Gehalt des Begriffs, der verschiedenen Konzeptionen und der mit ihnen
verbundenen Argumentationen auf den Grund zu gehen. Hierfür ist den Seman29 »Der Ausdruck in Anführungszeichen erhebt die Stimme. Er nimmt, oberhalb der Umgangssprache, den wissenschalichen Ton an.« (Bachelard : )
PERSPEKTIVEN UND GRUNDLAGEN | 55
tiken sowohl durch die Geschichte als auch in den einzelnen ReKonzeptionen zu
folgen. Statt eine mögliche »falsche« Begriffsbedeutung mit Anführungsstrichen
zu kennzeichnen, sollen somit vielmehr in einer gesellschaskritischen Perspektivierung die Gebrauchsweisen von Rassekonzepten sichtbar gemacht werden.
Zur Artikulation gesellschalicher Stratifzierung und zur Sichtbarmachung von
Materialisierungen sozialer Ungleichheit muss der Rassebegriff als sozial manifester verwandt werden. Eine Apostrophierung symbolisiert dagegen die Abgrenzung von einem biologischen Gebrauch und steht damit in der Gefahr, die
Debatte in der Biologie zu belassen. Doch die gesellschalich erzeugten Ungleichheiten lassen sich ebenso wenig wie rassifzierende und rassistische Praktiken
durch Anführungsstriche entschärfen. Gerade weil Rasse eben kein objektiver
Klassifkationsbegriff, sondern »in Wirklichkeit aber eine gefährlich Trope« (Gates
: ) ist, muss sich ihr mit all ihren Problemen gestellt werden. Vor diesem
Hintergrund nimmt die Gesamtargumentation nunmehr ihren historisierenden
Faden auf, um dem Begriff Rasse in seinen veränderlichen Konzeptualisierungen,
Ausprägungen, Anpassungen und Bedeutungsgehalten durch die Zeit bis hin zu
seinen aktuellen Modernisierungen zu folgen und ihn abschließend einer substanziellen sozialwissenschalichen Kritik zu unterziehen.
Kapitel Zwei
Geschichte:
Die Vergangenheit untersuchen,
um die Gegenwart zu destabilisieren
What race was is not what race is, but understanding how it has been constructed in the past
is essential to understanding and contributing to
debate about its current construction.
Michelle Brattain :
Rasse hat Geschichte. Durch die Zeiten steht der Begriff für barbarische Konzepte,
die an wissenschaftlichen Rassismus, die Vernichtung der europäischen Jüdˍinnen
sowie die Versklavung, Ausbeutung und Ermordung der Kolonisierten denken
lassen. Zwar sind die Konnotationen des Terminus je nach geopolitischer Verortung unterschiedlich in ihrer Gewichtung: So schultert das englische »race« vor
allem die Semantik des Kolonialismus, die Verschleppung und Versklavung von
Schwarzen, die Ermordung und Vertreibung der Einwohnerˍinnen der Amerikas
sowie die rassistischen Lynchmorde Ende des . bis Mitte des . Jahrhunderts in
den USA. Darüber hinaus ist der Begriff assoziiert mit der bis bestehenden
Apartheitspolitik in Südafrika sowie rassistischen Diskriminierungen, die Ausgangspunkt zahlreicher bis zur Gegenwart andauernder Kämpfe der Befreiungsund Bürgerrechtsbewegungen von Schwarzen und People of Color waren. Demgegenüber ist »Rasse« im deutschen Kontext vordringlich mit dem Nationalsozialismus, mit Politiken der Sterilisierung, Deportierung und Ermordung von Millionen
nicht dem imaginierten Typus der »arischen Rasse« entsprechenden Menschen und
erst in zweiter Hinsicht mit kolonialistischen Konnotationen verknüpft. Gemein
haben diese unterschiedlichen Bedeutungen von Rasse jedoch, dass sie eine spezifsche historische Belastung des Begriffs kennzeichnen.
58 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Für eine Klärung der heutigen Verwendungsweise, Bedeutungen und Effekte von
Rasse in den Lebenswissenschaen ist es aufgrund dieser Last des Begriffs und
der damit zusammenhängenden wissenschalichen Konzepte notwendig, sich
mit der Entstehungsgeschichte, mit dem Gewordensein dieser Ordnungs- und
Teilungsdimension zu befassen. Entgegen der Vorstellung von Rasse als einem
neutralen und die Natur lediglich beschreibenden Begriff soll hier vielmehr das
gesellschaliche Eingebundensein solcher Kategorisierung mit dem Fokus auf wissenschaftliche Aussagesysteme in den Blick genommen werden. In dieser Perspektive ist Rasse nicht ohne eine Erörterung der Geschichte des Rassismus und
die aktuelle Realität nicht ohne ein Verständnis der Geschichte nachvollziehbar.
Kurz gesagt: Um die Aktualität von Rasse erklären zu können, ist eine Beschäigung mit der Geschichte des Rassismus unentbehrlich.
Dabei ist für die Analyse gegenwärtiger Konzepte rassifzierter Differenz zu
rekonstruieren, wie Rasse welche Wirkungsmacht innerhalb von wissenschaftlichen
Erörterungen erlangen konnte, welche Relationen zu Alltagsmythen und -praktiken bestanden und umgekehrt, welche Auswirkungen wissenschaftliche Rassismen auf Politiken sozialer Stratifzierung hatten. Die Erörterung der Historie von
Rasse von der Entstehung der europäischen Moderne bis in die Auseinandersetzungen um das Konzept nach dem Zweiten Weltkrieg dient also dem Verständnis
aktueller Rassekonzeptionen. Geklärt werden kann mit dem Blick auf die Geschichte von Rasse, welche Funktionen das Teilungskonzept übernahm und welchen Wandlungen es dafür unterzogen wurde. Für eine solche Klärung sind vor
allem folgende Fragen wesentlich: Wie entstanden rassis(tis)che Teilungen? Welche
Bedeutungen hatte die wissenschaliche Beschäigung mit diesem Taxonomiekonzept? Welche Auseinandersetzungen wurden um die jeweiligen Konzeptionen
geführt? Darüber hinaus ist mit zu klären, welche Wirkungen wissenschaliche
Rassekonzepte auf stratifkatorische Praktiken erzeugten sowie welche Relationen
zwischen gesellschaftlichen Teilungen und wissenschaftlichen Konzepten bestanden.
Die folgende Historisierung fußt dabei auf zwei scheinbar konträren Basisannahmen: erstens einer ontinuität und zweitens einer emergenten Neuordnung
von Rasse in den zeitgenössischen Ansätzen. Die erste These entspricht eher
den klassischen historischen Vorstellungen einer (in Teilen gebrochenen) Konstanz,
die zweite folgt einer in poststrukturalistischen Zugängen verbreiteten Herausarbeitung der Brüche und sich verändernder und reorganisierender Strukturen.
Während unter der Konstanzannahme vor allem bestehende Wirkungen von
Rassekonzepten untersucht werden können, reicht eine solche Perspektive aber
nicht aus, um neben der Konstanz auch die Erneuerungen zu erklären. Hierfür ist
es notwendig, die aktuellen Rassemodelle auf ihre ›historische Hypothek‹ hin zu
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 59
befragen und darüber hinaus die Eigendynamiken der jeweiligen Kämpfe um
Rasse zu analysieren.
Grundlage dieser Historisierung ist zum einen die Verortung von Rasse und
Rassismus in der europäischen Moderne, zum anderen die ese, dass es für die
Erklärung der Entwicklung und Persistenz rassifzierter Differenz gesellschastheoretischer Instrumentarien bedarf. Entsprechend ist gerade eine historische
Analyse notwendig, welche die Wandelbarkeit bei gleichzeitiger Beständigkeit
von Rassemodellen untersucht. Dafür werden nun zunächst die Geschichte des
Rassebegriffs sowie dessen Verwissenschalichung erörtert und im Anschluss
mit den verschiedenen Entwicklungen nach sowohl die Brüche, Kritiken
und Absagen als auch die Weiterführungen von Rassekonzepten nachgezeichnet.
Gesellschaftliche Funktionalitäten von Rasse
Ein wichtiger Zugangsweg zur Erklärung von Rassismus ist, dessen historische
Ausprägungen zu untersuchen. In diesem Sinne verfahren viele Ansätze, indem
sie anhand der vermeintlich transhistorischen und transkulturellen Gemeinsamkeiten von Rassismen eine allgemeine Geschichte des Rassimus (im Singular) rekonstruieren. In einer Reihe historischer Arbeiten wurden in dieser Weise
rassifzierte Teilungs- und Unterdrückungspraktiken, die Zuordnung von Menschen zu hierarchisch geordneten Gruppen sowie die damit verbundene Gewalt,
Herrscha und Ausbeutung untersucht. 1 Mit den in diesen Arbeiten aufgefundenen Übereinstimmungen verschiedener zeitlich und örtlich auftretender Rassismen
wird deutlich, dass Machtstrategien der Absonderung und Hierarchisierung von
Menschengruppen keine Erfndung neuerer Zeit sind. Vielmehr ist für alle Epochen seit der Antike gezeigt worden, dass die Verbindung von Herrscha und
Teilungs- und Hierarchisierungspraktiken sehr funktional und produktiv für die
Aufrechterhaltung der jeweiligen hegemonialen Strukturen war. Demgemäß argumentieren manche Rassismustheoretikerˍinnen dafür, die Ursprünge von Rassismus schon in den ersten schriftlichen Überlieferungen, wie etwa in der Sonderung
und Abwertung der Barbaren durch die Griechen zu verorten (Detel ; Hering Torres ; Hund ).
Zweifellos lassen sich einige Faktoren rassistischer Praktiken sowie die antijudaistische Ausgrenzung als konstitutive Merkmale insbesondere für die europäische Geschichte belegen. Ebenso lassen sich schon für die Antike und alle
1
Grundlegende Arbeiten, die über eine Historisierung gegenwärtige Rassismen zu verstehen
suchen sind z. B. Fredrickson ; Geulen ; Gilroy ; Hering Torres ; Hund
, ; Koller ; Memmi ; Priester .
60 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
nachfolgenden Zeiten philosophische bzw. in einem weiten Sinne wissenschaftliche
Rechtfertigungen von Gewalt, Herrschaft und Ausbeutung fnden. Den dabei verwendeten Argumentationsmustern ist bei allen Differenzen gemein, dass den
›Anderen‹ Triebhaftigkeit und Mangel an Vernunft zugeschrieben sowie die Herrschaftsfähigkeit abgesprochen wurde und damit die Versklavung oder der Ausschluss der so konstruierten Gruppe legitimiert werden konnte. Außerdem sollten
schon frühzeitig zahlreiche Analogien zwischen verschiedenen (teil)ausgeschlossenen Gruppen wie Frauen, Barbaren, Kindern und Tieren die zugeschriebene
Inferiorität der jeweiligen Gruppenmitglieder anhand der schon allseits anerkannten Unterlegenheit anderer verdeutlichen. So herrschen bei Aristoteles ( v. u. Z.) »von Natur aus« die Älteren über die Jüngeren, die Männer über die
Frauen und die Griechen über die »Barbaren« – über »Barbaren« u. a. weil bei jenen
»das Weibliche und das Regierte denselben Rang« einnähmen und diese somit
nicht zu einer differenzierenden Herrscha, sondern nur zu einem Dasein als
Sklaven befähigt seien (: a). Die jeweilige Form der Wissensproduktion hat
somit schon in der Frühzeit ihrer schriftlichen Überlieferung dazu gedient, abwertende Zuschreibungen zu untermauern und damit Herrschaftsansprüche zu legitimieren. Bis in die Neuzeit diente dieses Wissen etwa dazu, die bestehenden
gesellschalichen Stratifzierungen als »gottgegeben« zu rechtfertigen.
Allerdings tendieren solche historisierenden Arbeiten, die nach antiken Formen gegenwärtiger Rassismen und dem Ursprung rassischer Teilungen forschen,
oftmals dazu, (Herrschafts-)Praktiken der Antike, des Mittelalters und der Moderne unter derselben Folie zu betrachten und damit Unterschiede einzuebnen. Missdeutungen wie die einer teleologisch linearen Entwicklung von der Antike bis zur
Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden während des deutschen Nationalsozialismus werden damit möglich. Eine solche Darstellung impliziert eine logische, unabwendbare Entwicklung und vernachlässigt so die jeweiligen Kontexte,
die sozialen Kämpfe und sehr unterschiedlichen Machtstrategien, die mit rassistischen und antisemitischen Praxen verbunden sind und waren. Außerdem werden
Besonderheiten sowie die Brüche und Unvereinbarkeiten einzelner Ausprägungen
von Rassismus tendenziell unsichtbar. Die Spezifka des wissenschalichen Rassismus sowie der eugenischen und auf Vernichtung zielenden Rassismen bis hin
zum Neorassismus der zweiten Häle des . Jahrhunderts lassen sich damit
kaum ausreichend beschreiben und aktuelle Rassismen und Rassifzierungen in
ihrer Spezifk nicht adäquat erfassen.
Im Folgenden wird deshalb auf die Besonderheiten der europäischen Neuzeit
und westlichen Moderne fokussiert – und zwar aus dem Grund, dass sich mit der
Moderne eine Zäsur in den Formen und den Dimensionen der Machtstrategien
und Teilungspraktiken vollzog, die es für ein Verständnis von Rasse zu klären gilt.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 61
Die Veränderungen in der Produktionsweise, die kolonialen Eroberungen, die
Nationalstaatenbildung und die Herausbildung der sich disziplinär aufgliedernden
Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaen hatten, so die hier verfolgte ese,
derart bedeutende Auswirkungen auf die Denk- und Handlungsweise zu Rasse,
dass sie nicht von diesem Kontext losgelöst und nicht ohne diesen verstanden
werden können. Die Revolutionierung der Wissenschaften ab dem . Jahrhundert
ist für diese Studie von besonderem Interesse, denn mit der Entwicklung der
Wissenschaften zu einer der tragenden Institutionen säkularer Herrschaft wurden
auch rassistische Strukturen und Praktiken immer mehr durch (bio-)wissenschaftliche Erklärungen gerechtfertigt. Die rassistische Stratifzierung der Welt
wurde im Zuge einer Ausweitung und schließlich dem Erreichen einer Vorrangstellung wissenschaftlicher vor religiöser Welterklärung ebenfalls verwissenschaftlicht. Kurz: Rassismus wurde wissenschalich und Rasse zu einem wissenschalichen Konzept. Dass diese Neuerung zu einer substanziellen Veränderung
rassistischer Theorien und Praktiken führte, wird im Folgenden dargelegt.
Differenzen und Teilungen der Moderne
Mit den europäischen Eroberungen auf dem afrikanischen Kontinent ab Beginn
des . Jahrhunderts und der Kolonialisierung der gesamten Welt entwickelte sich
eine neue Qualität und Quantität an Auseinandersetzungen über die Unterschiede
der Menschen. Diese Gleichzeitigkeit ist nicht lediglich eine Koinzidenz, sondern
steht in unmittelbarer Verbindung mit veränderten gesellschalichen Anforderungen, in denen kolonialistische Eroberungen und damit verknüpe Praktiken
gerechtfertigt werden mussten und ständische Sozialordnungen allmählich durch
neue sozioökonomische Ordnungen und soziale Mobilitätsanforderungen verschoben wurden. Mit der kolonisierenden ›Entdeckung‹ wurden Ausbeutung,
Ermordung und Versklavung von Menschen allgegenwärtig, kollidierten jedoch
mit den bestehenden christlichen Schöpfungsvorstellungen sowie schließlich mit
den universalistischen Idealen der Aulärung und den damit verbundenen
Gleichheitspostulaten, wie sie etwa im Zuge der französischen Revolution kodifziert wurden. Waren soziale Hierarchien bis in die Frühe Neuzeit durch eine göttliche oder ständische Ordnung feudaler Systeme legitimiert, bedurfte es infolge des
Widerspruchs zwischen Kolonialismus und seinen Folgen und der Proklamierung aufklärerischer Freiheitsrechte eines neuen Rechtfertigungssystems. Während
die jüdisch-christliche Religion eine Rechtfertigung des Leidens auf Erden angesichts von Gottes Allmacht und Güte benötigte, erfordert eine Gesellscha, die
Gleichheit und Gerechtigkeit zum Credo macht, der Rechtfertigung ihrer Un-
62 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
gleichheiten und Ungerechtigkeiten. Das, was Pierre Bourdieu in Anlehnung an
Max Webers religionssoziologische Arbeiten zum Theodizeeproblem (Rechtfertigung Gottes) als »Soziodizee« benennt, macht deutlich, welche inneren Probleme
die Neuordnung der Moderne erzeugte (Bourdieu : ). »Dem Selbstanspruch nach darf die ›moderne Gesellschaft‹ nicht auf Verhältnissen basieren, die
ihrem eigenen Begriff widersprechen.« (Knapp : ) Unrecht und Ungleichheit sind in der Ordnung der Moderne entsprechend Unmöglichkeiten und nur auf
Basis meritokratisch erlangter Unterschiede legitimierbar. Die Widersprüche innerhalb dieser neuen Ordnung und zwischen traditionalen und neuen bzw. ausgeweiteten Machtformen trieben dazu an, eine neue, diesen Antagonismus
umgehende Rechtfertigungsordnung zu installieren und abzusichern.
Somit ist die immense Erweiterung und Wirkungsmachtzunahme des Rassediskurses als Teil der umfangreichen gesellschalichen Veränderungen in der
Herausbildung der europäischen Moderne zu sehen. Denn Rasseeinteilungen
und rassische Hierarchisierungen konnten einen Großteil der Unvereinbarkeiten
zwischen aulärerischen Gleichheitspostulaten und christlichen Moralkodizes
auf der einen Seite und den Praktiken in den Kolonien auf der anderen produktiv
auffangen. Wenn rassische Ordnungssysteme auch nie das Ungleichheitsproblem
der Moderne lösen konnten, so entstand doch mit der Unterteilung und Hierarchisierung der Menschheit in verschiedene Rassen ein funktionaler Umgang mit
der Problemstellung, die aus der idealistisch-formalen Gleichheit und der faktischen Unterdrückung und Ermordung der ›Anderen‹ entstand. Ob nun alle Menschen vor Gott durch ihren Glauben gleich sein sollten 2 oder die Gleichheit der
Menschen sich aus der deklarierten »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« in Bezug auf unveräußerliche Rechte und Freiheit ergebe (Art. I der Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen) – beides konnte mit dem Verweis auf
eine alles erklärende Differenz negiert werden. So zählten Frauen nicht zu den
»mündigen Bürgern« der ersten Französischen Republik, und die Bevölkerung
der Amerikas bekam vielfach den Besitz einer Seele und damit einhergehend des
Menschheitsstatus abgesprochen (vgl. Todorov ).
Als sich im Kontext von Aulärung, Säkularisierung und Kolonialismus die
modernen Naturwissenschaen herausbildeten, wurden ihre wissenschalichen
2
Die Gleichheitsbegründungen im Christentum beziehen sich auf ein Gleichsein aller Christen
vor Gott, die aufgrund ihres Glaubens am Tag des Jüngsten Gericht nicht zur Strafe zu ewigem
Feuer verurteilt, sondern als Gerechte in das ewige Leben gehen werden (Johannes , ).
Außerdem legte die christliche Kosmologie in der Genesis fest, dass alle Menschen von
Adam und Eva bzw. von Noah und Naama abstammten. Siehe zur Gleichheitsbegründung
den Brief des Paulus an die Galater , : »Hier ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht
Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus«
sowie hierzu auch Römer und Johannesevangelium .
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 63
Modelle zu einer bedeutenden Stütze rassistischer, sexistischer und ausbeuterischer
Herrscha. Vor allem der wissenschalichen Konstruktion von ›Andersheit‹ kam
dabei eine tragende Rolle zu, da die moralische Berücksichtigung und die Zusicherung von Rechten verstärkt an exklusive, ausschließende Aspekte des ›Gleichseins‹ gekoppelt wurden. Die Naturwissenschaen lieferten nun anstelle der
Religion als bisher zentraler gesellschalicher Funktionsträgerin die Erklärung
der Welt und die Rechtfertigung der weltlichen Stratifkations-Ordnung. Entsprechend dieser Verschiebung der Rolle der Religion als ordnungsstiftender Instanz
zur naturwissenschalichen Wahrheit über die Welt und den Menschen veränderten sich auch die erklärungstragenden Objekte. War bisher die gesellschaftliche
Ordnung als göttliche mittels Bibelexegese fundiert und durch das machtvolle
Wort von Kirchenoberhäuptern verkündigt worden, so geriet im Wechsel der Legitimation die Natur selbst zur neuen Wahrheitsträgerin. Die Wahrheit der Natur
konnte fortan von Wissenschalern an den Körpern und ihren Signaturen der
Differenz aufgeklärt werden.
Massive Veränderungen vollzogen sich aber nicht nur in Bezug auf die Träger
der Wahrheit und deren Verkündigungsinstanzen, sondern auch in Bezug auf die
Rechtfertigungsordnung, epistemische Rationalität und gesellschalichen Institutionen: Mit dem Bruch in der Rechtfertigungsordnung wurde die Legitimierung
gesellschalicher Schichtung über Standesordnung und Religionszugehörigkeit
abgelöst von einer im örper, im Gattungswesen, im Genus und in der Rasse verorteten sowie an die Stellung im Produktionsprozess gekoppelten Wertigkeit. Für
die epistemische Rationalität entstand eine Fülle von Differenzierungen, die nur
noch die Wissenschaften – und auch die nur durch Aufspaltung in Disziplinen und
Subdisziplinen – gewährleisten und verarbeiten konnten. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen ging damit eine enorme Ausweitung des differenzierenden Zugriffs auf Individuen, Körper, die Seele, das Verhalten einher; das Leben
von Menschen geriet umfassend in den prüfenden Blick und wurde mit der Moral
und der Hygiene viel weitgehender als bisher Teil herrschalich-regulativer
Handlungen. Divide et impera bekam die neue Bedeutung einer kategorialen Einteilung von Menschen, die in immer weitere Untergliederungen in Sexualitäten,
unzählige Formen des Wahnsinns, der Aueilung in verschiedenste Rassekonstrukten, verschiedene Körperkonstitutions- und Temperamentstypen und Syndrome der Devianz mündeten.
Mit den Verschiebungen, die den Körper zum Ort der Differenz werden lassen
und der Stellung im ökonomischen Verwertungssystem Bedeutung zuweisen,
entstehen im Zuge der Herausbildung der europäischen Moderne Geschlecht,
lasse und Rasse als die drei universalisierenden Ordnungsprinzipien. Diese drei
Teilungsdimensionen waren und blieben nicht die einzigen, die gesellschaftlich wie
64 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
individuell relevant wurden, doch können sie, wie etwa die Philosophin Cornelia
Klinger und die Soziologin Gudrun-Axeli Knapp () argumentieren, als die
drei wirkmächtigsten gesellschalichen Kategorien sozialer Hierarchisierung und
Ausbeutung gelten. Gesellschaliche Ungleichheiten entlang der bis heute wirksamen Achsen von Klasse, Rasse/Ethnizität und Geschlecht/Sexualität bilden sich
in eben jenem historischen Zeitraum als die wirkmächtigsten Ein- und Ausgrenzungsverhältnisse heraus, in welchem ein religiös hierarchisch gestues Weltbild
an Macht verliert und dessen Formen von Ungleichheit bzw. deren Legitimationen
außer Kra gesetzt werden (vgl. ebd.: ). Dementsprechend bezieht sich die in
dieser Studie unternommene Analyse von Rasse auf die Einsicht, dass die Herausbildung der westlichen Moderne nicht ohne ihre wirkmächtigen Teilungspraktiken
zu verstehen und diese Teilungspraktiken nicht ohne ihre Bedeutung und Funktion in der Entwicklung der Moderne zu erklären sind.
Entgegen der in den Sozialwissenschaen lange Zeit dominanten und noch
immer beliebten Annahme, dass diese Dimensionen mit zunehmender Modernisierung, Säkularisierung, juridischer Gleichstellung und allgemeinem Anwachsens des Wohlstandsniveaus irrelevant werden bzw. sich auflösen würden, wird
hier vielmehr angenommen, dass die Kategorien Geschlecht/Sexualität, Klasse,
Rasse/Ethnizität weiterhin die Basis aktueller Vergesellschaungsformen bilden.
Gegen eine solche ese zur spezifschen Funktionalität dieser gesellschalichen Teilungskategorien für westliche Gesellschaen gibt es zwei zunächst naheliegende Einwände: Zum einen bestanden gesellschaftliche Teilungen und Wertigkeiten anhand geschlechtlicher Unterschiede schon mindestens seit der Antike.
Rasse ist als Begriff zur Bezeichnung von Menschengruppen keine Erfndung der
Moderne, und Klassenwidersprüche lassen sich seit den Sklavenhaltergesellschaften ausmachen. Zum anderen mutet es paradox an, dass ausgerechnet mit der
Moderne, in der zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit mit einem allseitigen universellen Gleichheitsversprechen argumentiert wurde, die beschriebenen Differenzdimensionen erst entstanden sein sollen. Zeichnet sich die europäische Moderne nicht vielmehr durch eine rationale soziale Schichtung anhand
meritokratischer Ideale, durch Humanismus, Freiheit, Brüderlichkeit und eben
Gleichheit aus? Sind nicht insbesondere in den letzten Jahrhunderten auf dieser
Basis immense Entwicklungen in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter, auf
Bürgerˍinnen- und Minoritätenrechte und die Umsetzung sozialstaatlicher Ansprüche erreicht sowie durch die Anhebung des Wohlstandsniveaus in den Industrieländern Klassengegensätze entschärft worden? Und ist die Moderne in diesem
Sinne nicht mindestens auf dem Weg ihr Gleichheitsversprechen einzulösen?
Aus der Perspektive der gängigen Gesellschastheorien – von System-, Wohlfahrtsstaats- bis hin zu Modernisierungstheorien – erscheinen rassifzierte und
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 65
geschlechtliche Stratifzierungen auch als weitgehend dysfunktional und damit
anachronistisch. Klassenanalysen galten im Kanon des soziologischen Mainstreams
der zweiten Häle des . Jahrhunderts zumeist als unangemessen und erlangen
erst mit der Finanzkrise und der weltweiten Zunahme von Einkommensungleichheiten wieder analytische Wirkmacht. Statt mit Klassenmodellen werden gesellschaliche Verhältnisse aber nach wie vor dominant in Schichtmodellen und
ästhetischen Milieus unterscheidend beschrieben (Beck ; Geiger ; SinusMilieu-Studien; für einen grundlegenden Überblick siehe Burzan ).
Aber nicht nur konservative Sozialtheoretikerˍinnen oder Fortschrittsapologetˍ
innen stellen Ungleichheiten und Klassenlagen in den westlichen Gesellschaften
als zunehmend nivelliert oder hinter kulturalisierten Gruppenzugehörigkeiten
sowie Individualisierungsanforderungen zurücktretend dar. Auch kritische Analysen sehen vorausschauend eine Auflösung von rassischen und ethnischen Klassifzierungen. So strebt doch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz nach
antidiskriminatorischen Praktiken, sind Gleichstellungsprogramme erfolgreich,
etwa auf der Ebene des Zugangs von Frauen zu beruflichen Bereichen und Positionen, oder führte die feministische Kritik am Modell des male breadwinner zu
dessen (Teil)Ablösung durch das Doppelverdiener-Modell 3. Allerdings kann schon
überraschen, wie einig sich sowohl die affirmativen Beschreibungen der bürgerlichen Gesellscha als auch einige der kritischen Untersuchungen mit ihren Mutmaßungen über den zukünigen Bedeutungsverlust der Kategorien Geschlecht
und Rasse sind. Zwar glauben die einen an Fortschritt und Individualisierung,
die anderen an eine zermalmende Kra des Marktes als notwendige Entwicklung
kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Beide sozialtheoretischen Zugänge gleichen sich aber zuweilen in ihrer generalisierenden Einschätzung, dass sich mindestens Rasse/Ethnizität, zum Teil aber auch Geschlecht unter den Bedingungen
allgemeiner Arbeitskraverwertung bald auflösen würden. Einhergehend mit der
ese, dass Kategorien sozialer Ungleichheit wie Rasse/Ethnizität, Klasse und
Geschlecht/Sexualität keineswegs ihre gesellschaftsstrukturelle Bedeutung verloren
haben, wird nun – für die hier angestrebte Analyse des Gewordenseins – zunächst
eine Historisierung des Rassebegriffs und der Rassekonzeptionen notwendig.
3
Auch dieses Modell soll hier nicht Lösung der Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit missverstanden werden, da es als rassifiziertes und klassenspezifsches Emanzipationsmodell vor allem für »die weiblichen [weißen] Kader der berufstätigen Mittelschichten
mit ihrer Entschlossenheit, the glass ceiling […] zu durchbrechen« weitere Probleme erzeugt
(Fraser : ).
66 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Historie des Rassebegriffs und der Rassekonzepte
Der Begriff Rasse als Bezeichnung zur Kategorisierung von Menschengruppen
trat erstmals im . Jahrhundert im Zusammenhang mit der christlichen »Reconquista« der letzten von muslimischen Mauren regierten Gebiete der Iberischen
Halbinsel auf. Den ersten schrilichen Beleg weist der Historiker Max Herring
Torres () für das Jahr aus, wo der Terminus »rraça« im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Familie von »edlem Geschlecht«, vor allem zu königlichen und
adligen Familien, gebraucht wurde. 4 Gegen Ende des Jahrhunderts fndet er sich
neben der Verwendung zur Bezeichnung familialer Herkun zur Kennzeichnung
eines Unterschieds zwischen sogenannten »Altchristen« und jüdischen sowie maurischen (Zwangs-)Konvertiten (conversos), denen auch dann, wenn der Religionswechsel von lediglich einem der Großeltern vollzogen wurde, eine jüdische bzw.
maurische Rasse 5 zugeschrieben wurde. In diesem Sinne fndet sich der Begriff in
amtlichen Anordnungen der spanischen Königshäuser nach der Eroberung der
letzten muslimischen Hochburg des Emirats von Granada am . Januar durch
die vereinigten spanischen Truppen. Kurz darauf ordneten die Königin von Kastilien und der König von Aragón im »Alhambra-Edikt« die Vertreibung aller Jüdˍ
innen aus allen spanischen Territorien an. Sofern sich diese nicht zum Christentum
bekehren ließen, mussten sie bis zum . Juli desselben Jahres das Land verlassen.
Im Zusammenhang mit dem Zwangsbekehrungsedikt und antijüdischen Pogromen verwendete die christliche Aristokratie den Begriff »race« bzw. »raza« zur
Bezeichnung von Menschen jüdischer oder maurischer »Abstammung«. Damit
waren nicht die Jüdˍinnen und Muslimˍinnen gemeint, die Ziel der Vertreibung
und Ermordung waren, sondern jene conversos, die im Laufe des . Jahrhunderts
infolge vorheriger Zwangsbekehrungen zum Christentum übergetreten waren,
4
5
Den Begriff weist Herring Torres in einem Text des Priester Alfonso Martínez de Toledo
nach: »Man nehme zwei Söhne an, den eines Bauern und den eines Ritters: Beide wüchsen
im Gebirge unter der Erziehung eines Mannes und eines Weibes auf. Du wirst sehen, dass
der Bauer sich weiterhin über die Dinge eines Dorfes, so wie ackern, graben und Holz mit
dem Vieh einsammeln, erfreuen wird; und der Sohn des Ritters wird sich nur dann erfreuen,
wenn er reitend Waffen zu horten vermag und Messerstiche erteilen darf. Dies beabsichtigt
die Natur, so wirst Du dieses in jenen Orten, in denen Du leben wirst, Tag für Tag beobachten
können, so dass der Gute einer guten Rasse [rraça] von seiner Herkun angezogen wird
und der Benachteiligte, einer gemeinen Rasse [rraça] und Herkun angehörig, unabhängig
wer er ist und wie reich er sein mag, sich niemals von einer anderen Herkun angezogen
fühlen wird, als woher er ursprünglich stammt.« (zit. nach Hering Torres : , vgl.
auch Hannaford ).
Die Etymologie des Begriffs ist umstritten. Vermutet werden einerseits Ableitungen vom lateinischen radix Wurzel oder ratio im Sinne von Wesen eines Dings sowie vom arabischen
rás für Kopf, Ursprung (vgl. Conze/Sommer u. Hannaford : ).
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 67
denen die Aristokratie aber ein heimliches Festhalten am Judentum unterstellte.
Bereits wurden deshalb die ersten »Estatutos de limpieza de sangre«, Statute
über die Reinheit des Blutes, eingeführt, um die sogenannten »Kryptojuden« und
»-moslems« (marranos und moriscos 6) von den aristokratischen Ämtern fernzuhalten. Neuchristen konnten hiernach keine öffentlichen Funktionen mehr bekleiden und waren nicht mehr für Zeugenaussagen vor Gericht zugelassen. Bei
Abstammung von jüdischen oder maurischen Ahnen bis in die Großelterngeneration führte dies zum Ausschluss aus dem Staatsdienst. Dies zunächst auf dem
Gebiet der spanischen Königshäuser, mit der Eroberung der »Neuen Welt« konnten aber auch dort nur Altchristen Regierungsposten übernehmen. Hinzu kam,
dass ab mit einer von Rom weitgehend unabhängigen spanischen Inquisition
überall im Land Verfolgungen mit dem Ziel der Ausrottung des »Kryptojudentums« stattfanden. So wurden in den ersten Jahren bis ca. conversos
wegen vermeintlichen »Judaisierens« verurteilt, von denen etwa auf dem
Scheiterhaufen endeten.
Ergebnis dieser Vertreibung und Ermordung war, dass es in den Spanischen Königreichen keine offen praktizierenden Jüdˍinnen mehr gab, und alle
Konvertierten dem Zugriff der Inquisition schutzlos ausgeliefert waren (Bossong
: u. ) 7. Mit diesen Ausgrenzungspraktiken erreichten die antijudaistischen Zuschreibungen eine neue Bedeutung, indem nicht mehr die Religion als
Ausschlussgrund herhalten musste, sondern von nun an die Herkun zu einer
unveränderlichen, Generationen überdauernden und vor allem für die Christenheit
»schädlichen« Eigenschaft wurde. Nicht mehr die richtige (mit der Taufe zu erlangende) Religion galt als Eintrittskarte in die Gemeinscha, sondern die »Reinheit
des Blutes« (limpieza de sangre) wurde zur notwendigen Voraussetzung, womit
ein vorher mittels Konvertierung veränderbarer Zustand zu einem fxierten (später
biologisch genannten) Merkmal mutierte. 8 Mit den Statuten zur Blutreinheit wurde
aus dem Religionsproblem eine Rassenfrage, die die Bevölkerung Spaniens schließlich in »alte« und »neue« Christen aufteilte und eine Wertigkeit einführte, nach der
nur derjenige ein richtiger Christ sein konnte, der reines altchristliches Blut in den
6
7
8
Der Begriff marrano hat im Spanischen die Doppelbedeutung »Abtrünniger« sowie »Schwein«
(Herring Torres : ; Bossong ). Letztere Begriffszuweisung für Jüdˍinnen blieb in
vielen europäischen Staaten, wie auch in Deutschland, bei antisemitischen Diffamierungen in
dem Schimpfwort »Judensau« erhalten. Die Kryptomoslems wurden nach der Reconquista
morisco (spanisch: »maurisch«) genannt.
Bossong (: ) gibt folgende Gesamtzahl von vertriebenen Juden an: bis
Jüdinnen und Juden, die aus Kastilien fohen (von ca. vier Millionen Einwohnerˍinnen insgesamt) und bis , die aus dem Königreich Aragón vertrieben wurden.
Zur weiteren Genese des Rassebegriffs siehe die Ausführungen in Bossong ; Conze/
Sommer ; Fredrickson ; Hering Torres ; Terkessidis .
68 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Adern hatte. (vgl. ebd.: ). Derartige Nachweise über das ›richtige Blut‹ blieben
als Ahnennachweise auf der Grundlage der Limpieza-Statute bis in die Mitte des
. Jahrhunderts im spanischen Königreich Voraussetzung für den Zugang zu
Staatsämtern, zu Universitäten, Ritterorden, religiösen Orden etc. (Hering Torres
; vgl. Priester ).
Der Umgang mit den spanischen Muslimˍinnen unterschied sich in den ersten
Jahren der Reconquista noch von der Behandlung der Jüdˍinnen. Bei der Eroberung der letzten maurischen Bastion Granada sicherten die Christen den Mauren
bei Kapitulation das Recht auf die weitere Religionsausübung und Beibehaltung
ihrer Traditionen zu. Diese Zusicherungen wurden jedoch nicht eingehalten, und
nach einem Aufstand der moriscos um dienten die Statuten zur »Reinheit des
Blutes« und Vertreibung der Jüdˍinnen schließlich als Vorlage für die Enteignung
muslimischer Institutionen und führten zum Verbot der maurischen muslimischen
Religion, der arabischen Namen und des Tragens maurischer Gewänder. Auf die
entsprechende Zwangsbekehrung folgte ab Anfang des . Jahrhunderts ebenfalls
die Vertreibung der noch auf der Iberischen Halbinsel verbliebenen conversos muslimischer Abstammung. Analog zur Verweisung der Jüdˍinnen zwangen bis die
katholischen Könige ca. moriscos Spanien zu verlassen (vgl. Harvey ).
Der Rassebegriff fand neben der Funktion zur Aueilung von Alt- und
Neuchristen in Spanien auch im Wandel der Adelsvorherrscha in Frankreich
Verwendung. Seit Mitte des . Jahrhunderts hatte dort der alte Geburtsadel (frz.
noblesse de race) versucht, durch die Berufung auf seine Abstammung, die mit dem
Begriff race belegt wurde, den Aufstieg des Amtsadels (noblesse de robe) und damit
des Bürgertums zu verhindern (Conze/Sommer : ). Von diesem Ursprung
breitete sich der Begriff in den europäischen Sprachen mit einer Breite an Bedeutungen aus, die sich in Bezeichnungen wie »christliche Rasse«, »Adelsrasse« oder
»menschliche Rasse« belegen lassen (Geulen : f.). Diese weiterreichende
Bedeutung erlangte der Rassebegriff, indem er in der Aulärung zu einer Brücke
wurde, die zwei gesellschaftlich wichtige Bereiche – die Legitimation hierarchischer
sozialer Teilungen und daran gekoppelte ungleicher Privilegien- und Ressourcenverteilung sowie die wissenschaftliche Ordnungssuche – zur rationalen Aueilung
der Menschheit vereinen konnte. Zum Verständnis dieser Bindefunktion ist dem
Rassebegriff nun in seiner Verwissenschaftlichung weiter zu folgen.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 69
Wie Rassismus wissenschaftlich wurde
Medizinische, naturforscherische und philosophische Akteure und darunter insbesondere die Aulärer griffen ab Ende des . Jahrhunderts bereitwillig den
Rassebegriff zur ordnenden Beschreibung und Hierarchisierung der Menschheit
auf. Sie begegneten damit zum einen den Legitimationsproblemen, die im Zusammenhang mit den Eroberungen und damit einhergehenden theologischen und
philosophischen Debatten um den Status der eroberten und versklavten Menschen entstanden, und unternahmen zum anderen den Versuch, die Ordnung der
Natur in ihren Formen und Spezies aufzudecken. Die Suche nach einer rationalen
Ordnung der Natur darf hierbei nicht als Selbstzweck missverstanden werden.
Denn die Bedeutung der Aulärung liegt vor allem in einer Emanzipationsbewegung, die eine erweiterte Naturbeherrschung zum Ziel hat. Die rationale Erfassung der Komplexität natürlicher Erscheinungen in einer der Natur selbst inne
liegenden Ordnung ließ eine Kontrollierbarkeit der Natur erhoffen. Was die beiden
Sozialkritiker Theodor W. Adorno und Max Horkheimer () mit der mimetischen Annäherung an die Natur als ersten Versuch des gleichzeitigen Verstehens
und Beeinfussens natürlicher Vorgänge beschreiben, wandelt sich in der Aulärung zur Zielsetzung eines Wissens über die Natur als zentrales Mittel ihrer Beherrschung. Das Ringen mit der Natur fndet fortan wesentlich durch den Versuch
statt, sie kategorial ordnend zu ›besiegen‹. Das Ordnen der Natur wurde damit
zur Grundlage wissenschalichen Agierens schlechthin. Fachdisziplinen wie die
Anthropologie, Statistik, Soziologie entstanden im Sinne dieser Ordnungssuche
und Problemlösungsstrategie. Aber nicht nur die Natur als äußere Umgebung
und inneres Wesen des Menschen sollte mit der Suche nach Ordnung kontrolliert
werden, auch modernen Regierungsformen sollte die Zuordnung des Menschen
in Kategorien dienen. Die Ordnung im Sinne von »identifziere, teile und herrsche« wurde zum Prinzip souveräner Herrscha und damit Grundlage moderner
Menschenführung.
Verbunden mit den Ordnungsversuchen war stets eine Hierarchisierung der
Lebewesen, die in wirkmächtige Konstrukte zur Behauptung der Unterentwicklung der ›Anderen‹ und der europäischen Überlegenheit umgesetzt wurde. Als
zweckdienlich für diese Verschränkung von vertikalem Ordnen und horizontalem
Hierarchisieren erwiesen sich die naturphilosophischen Fortschritts- und Entwicklungstheorien. Mit der Vorstellung einer göttlichen oder natürlichen Ordnung im
Sinne einer Stufenleiter der Lebewesen ließen sich ebenfalls Entwicklungsstufen
der »Völker« vom »primitiven Naturzustand« über verschiedene Zwischenstufen
bis zur kulturellen Höhe der europäischen »Zivilisationen« imaginieren. Die Einteilung von Menschen in Rassen lag entsprechend nahe, da mit dem in verschiedenen
70 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
europäischen Sprachen vorhandenen Begriff trotz aller Unterschiedlichkeit der
Bedeutungsvarianten eine grundlegende und nicht überwindbare kategoriale
Trennbarkeit menschlicher Gruppen begründbar wurde.
Die wahrscheinlich erste Verwendung von Rasse als wissenschaftlichem Klassifkationsbegriff fndet sich in dem von dem französischen Arzt François Bernier
anonym publizierten Aufsatz »Neue Einteilung der Erde anhand der verschiedenen Arten oder Rassen der Menschen, die sie bewohnen«. 9 Dieser Text
Berniers wird von Rassismushistorikern am »›Beginn‹ einer langen und komplexen intellektuellen Bewegung modernen rassischen Denkens« gesehen (Stuurman : ). Bernier berichtet darin von seinen Reisen, den Unterschieden der
Menschen in den verschiedenen Teilen der Erde und nimmt eine »Einteilung der
Menschen in vier oder fünf Spezies oder Rassen« vor, »deren Differenzen so
auffallend sind, dass sie zur Begründung einer neuen Einteilung der Erde geeignet
wären« (: f.). Beschreibungen und Zuordnungen ›anderer Völker‹ waren zu
dieser Zeit keinesfalls unüblich. Vor allem in Form von Reisebeschreibungen fnden sich im . und . Jahrhundert vielerlei Darstellungen der Einwohnerˍinnen
ferner Länder hinsichtlich deren Religion, Sitten und Gebräuchen, Sprache und
Staatsformen, jedoch selten zu körperlichen Merkmalen. Bernier, im Besitz eines
Doktortitels in Medizin, nahm seine Einteilung hingegen anhand physischer
Merkmale vor, wie der Form der Lippen, der Nase, der Stärke der Bartbehaarung
sowie der Färbung von Haaren, Zähnen und Zunge. Die beiden zentralen Merkmale waren für ihn die Hautfarbe, deren Ausprägung er mit Vererbungsvorstellungen koppelte, sowie die »Schönheit der Frauen«, die er in sexualisierender
Weise beschrieb. Mittels dieser Merkmale unterschied er vier »races«: Zur »ersten
Spezies«, zählte er alle Länder Europas sowie Teile von Nordafrika, Kleinasien,
Indien und einige Länder in Südostasien; zur zweiten zählte er alle Länder in Afrika
mit Ausnahme Nordafrikas; die dritte umfasste die Länder Ost- und Nordasiens
und zur vierten Spezies erklärte er die Lappen 10. In seinen weiteren Ausführungen
ordnete er auch die Einwohnerˍinnen der Amerikas der ersten Rasse zu, von denen
die meisten zwar »olivfarben« 11 und ihre Gesichter zu »unseren« unterschiedlich
9
Originaltitel: »Nouvelle Division de la Terre, par les differentes Especes ou Races d'hommes
qui l'habitent, envoyée par un fameux Voyageur à M. l'Abbé de la *****, à peu prés en ces
termes«.
10 Bernier berichtet, in Danzig zwei Lappen gesehen und darüber hinaus Berichte von Reisenden
aus Lappland gehört zu haben, die die Einwohner als »abscheuliche Tiere« beschrieben hätten
(Bernier : ).
11 Die Beschreibung »olivfarben« (bei Bernier olivastres) war im . und . Jahrhundert üblich.
Erst im . Jahrhundert verbreitete sich die Farbzuweisung »rot« für die Haut von Amerikanerˍinnen.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 71
seien, die aber »nicht ausreichend different zu uns sind, um sie zu einer eigenen
Spezies zu machen« (ebd.: ).
Bernier konstituierte aber nicht nur eine neue Taxonomie anhand jener
physischen Unterscheidungsmerkmale, sondern wich auch von den sonstigen
Erklärungen ab, welche etwa menschliche Unterschiedlichkeiten anhand der biblischen Genesis, der Abstammung von den Söhnen Noahs oder der »Verlorenen
Stämme Israels« zu belegen suchten (vgl. Stuurman : ). Neu war aber vor
allem, dass er mit den üblichen Darstellungsformen der früheren Naturforscher
brach. Diese hatten sich auf die Variabilität und Monstrosität der Natur konzentriert und waren damit nicht in der Lage gewesen, eine allgemeine Ordnung
der natürlichen Vielfalt zu entdecken (vgl. Daston/Galison : ). Bernier
ermöglichte demgegenüber mit seinem Klassifkationsentwurf jene Probleme zu
lösen, die mit der kolonialen Expansion und der damit einhergehenden explodierenden Vielfalt an in Europa bekannten Gesteinsformationen, Pflanzen, Tieren und
Menschen entstanden waren. Die Erkundungen der ›Neuen Welt‹, Afrikas und
Asiens brachten eine Fülle an Materialien und Untersuchungsgegenstände nach
Europa, die von den Wissenschaftlern nicht mehr sinnvoll mit den alten Beschreibungs- und Ordnungsprinzipien zu bearbeiten waren. Allein die Beschreibung
der diversen Wunder und Varietäten führte die Naturforscher an eine Grenze des
noch Bearbeitbaren und Darstellungsfähigen (Lestringant ). Für diese Fülle
und ebenso für die Debatten um den Status von Sklaven bot Bernier eine Ordnungsform an, mit der zum einen die vorfndliche Vielfalt gebändigt und zum
anderen grundlegende, kategoriale Unterschiedlichkeit zwischen Menschen konstatiert werden konnte. Seine »neue Einteilung« erschien zu einer Zeit, als der
französische Sklavenhandel massiv zunahm. , ein Jahr nach dem Erscheinen
von Berniers Text, verabschiedete der französischen König ein umfangreiches
Gesetz zum Sklavenhandel und zur Ordnung in den Kolonien. In diesem Dekret,
dem »Code Noir«, einer »Sammlung der Erlasse, Anweisungen und Urteile über
die Negersklaven von Amerika«, wurden ähnliche Vorgaben wie in den spanischen Statuten über die Reinheit des Blutes festgelegt. So duren etwa Jüdˍinnen
sich nicht in den Kolonien aualten und allen Menschen, inklusive der Sklaven,
war nur die römisch-katholische Religion erlaubt. Bernier bot mit seiner neuen
Systematik ein Ordnungssystem an, das physische Unterschiede als Zeichen einer
weitreichenden Differenz einsetzte und erzeugte schließlich einen Wechsel im
Diskurs um menschliche Unterschiedlichkeit. Er begründete damit jene bis heute
gültige Suche nach einer einfachen Aueilung und Klassifzierung der Menschheit in Rassen.
Einer der Rezipienten Berniers war der deutsche Anatom und Wegbereiter
der Anthropologie Johann Friedrich Blumenbach, der mit seinen Erweiterungen
72 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
der Rassen-Konzeptionen als eine zentrale Figur für die Entwicklung des wissenschaftlichen Rassismus bezeichnet werden kann. Einen nachhaltigen Einfluss
erreichten vor allem Blumenbachs umfangreiche schädelkundliche Untersuchungen, seine Typologie physischer Differenzen und die eingereichte Dissertation »Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte«. Sein
Klassifkationsschema, mit dem er die Menschheit in »fünf festgesetzte Hauptvarietäten« bzw. »Rassen« 12, und zwar die »kaukasische, mongolische, äthiopische,
amerikanische, malayische« (Blumenbach : ) unterteilte, wurde zum
Grundmodell vieler nachfolgender Rasse-Kategorisierungen. Zudem fndet der
von ihm geprägte Begriff »caucasische Rasse« als Bezeichnung für die »Europäer
mit Ausnahme der Lappen« (: ) noch immer Verwendung als Umschreibung
für europäische Abstammung, etwa im US-amerikanischen Zensus sowie in der
Medizin und der Psychologie. Blumenbachs Systematik und die sich daran orientierenden schädelkundlichen Untersuchungen begründeten schließlich die Entstehung einer eigenen Disziplin, der Craniometrie bzw. Craniologie, die über mehr
als ein Jahrhundert das wichtigste Untersuchungsfeld rassenkundlicher Forschung
blieb, und seine Arbeiten waren für die vergleichenden Anthropologen des .
Jahrhundert immer wieder ein wichtiger Referenzpunkt.
Große Bedeutung für die weitere Verwendung und den Ausbau der Rassekonzepte hatten darüber hinaus die Schrien Carl von Linnés, einige Texte
Immanuel Kants sowie die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Schon vor
Blumenbach teilte der schwedische Naturforscher Linné in seiner biologischen
Taxonomie »Systema Naturæ« von die Menschheit in vier Varietäten (homo
variat) ein, denen er in späteren Auflagen des Werkes spezifsche körperliche,
charakterliche und sittliche Merkmale, bezogen auf Hautfarbe, Haare, Charakter,
Temperament, Geist sowie Kleidung zuordnete. Linnés Innovation war es, die
gesamte Natur anhand von wenigen gemeinsamen physischen Charakteristika
hierarchisch in Gruppen anzuordnen. Auch die Menschen fasste er wie die Pfanzen und Tiere anhand von Merkmalsbeschreibungen in Variationen zusammen.
Unter Zuhilfenahme der vorherrschenden medizinischen Viersäftelehre wies er
dem Homo europæus positive Bewertungen als »weiß, heiter-lebha, muskulös,
durch Gesetz regiert und zu Erfndungen geschickt« zu und versah die nichteuropäischen Varietäten mit deutlich abschätzigen Wertungen, indem er diese als
»gallig, cholerisch, melancholisch, steif, bosha, faul, lässig, phlegmatisch und
schlaff« beschrieb 13 (Linné : f.).
12 In den verschiedenen »durchgehend verbesserte[n]« Auflagen seines »Handbuchs der Naturgeschichte« findet ein Wechsel von der Bezeichnung »Varietät« über »Raçe« zu »Rasse« statt.
13 Siehe Abbildung . Schon in der ersten Auflage der »Systeme naturae sive tria naturae systematice proposita per classes, ordines, genera et species« von nimmt er eine viergliedrige
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 73
Für den deutschsprachigen Diskurs um die Rassen des Menschen sind die Arbeiten
des Aulärers Kant von besonderer Relevanz. Er verwendete den Begriff »Race«
in mehreren seiner Vorlesungen und Aufsätze 14 und erzeugte eine nachhaltige
Wirkung, weil er über die Klassifkation und Wertung der Menschengruppen hinaus auch Spekulationen über die »unausbleibliche erbliche Eigenthümlichkeit«
(Kant : ) anstellte und die Hautpigmentierung zur Unterteilung der von
ihm konstatierten vier »Abartungen« bzw. »Racen« verwendete. Er konstatierte
die Überlegenheit der Menschen des »gemäßigten Erdstrichs«, welche er »in ihrer
größten Vollkommenheit in der Race der Weißen« sah (Kant : ) und spekulierte über die Auswirkungen der »Rassenmischung«, die »Halbschlächtige« oder
»Blendlinge« erzeuge (: ff.; vgl. auch Eisler : ). Als Aulärer ging
es ihm um die Bestimmung des Menschen (Was ist der Mensch?) und um die
Begründung einer Ethik (Was soll ich tun?). Sein Menschenbild formierte sich um
den Besitz der Vernunft, die nur den Menschen kennzeichne und die sich in seiner
zentralen Defnition der Aulärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit« ausdrückt. Während er als allgemeinen Wahlspruch
der Aufklärung ausrief: »Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes
zu bedienen!« (Kant : ) sprach er »Schwarzen« den Besitz eben jenes Verstandes ab und folgerte, dass diese »keine Menschen« seien. 15
Kants Rassebegriff, inklusive der damit verknüpften Bedeutungskonstruktionen, fand in der zweiten Häle des . Jahrhunderts im europäischen Raum weite
Verbreitung. Darwin griff die bestehenden Rassevorstellungen auf und verband
den Begriff in seinem publizierten Werk »Die Abstammung des Menschen«
mit Spekulationen über dessen Entstehung in Afrika. Von einer linearen evolutionären Fortentwicklung ausgehend formulierte er, dass in »einer künigen Zeit […]
die zivilisierten Rassen der Menschheit wohl sicher die wilden Rassen auf der ganzen Erde ausgerottet und ersetzt haben« werden. Dann werde der Abstand zwischen dem zivilisierten »kaukasischen« Menschen und dem Affen vergrößert sein
und nicht mehr, »wie jetzt zwischen einem negro oder australian und dem Gorilla« liegen (Darwin : f., Hervorh. und Übers. aus dem engl. Original TP).
Einteilung vor, benennt diese jedoch erst in der Auflage von (S. ) als homo variat und
fügt in der zehnten Auflage somatische Kriterien und geistig kulturelle Eigenschaften
hinzu. In der veröffentlichten Aufstellung »Fauna Suecica« nimmt er außerdem eine Einteilung der Schweden in »Gothen, Finnen, Lappen und Mannigfaltige« (Gothi, Fennones,
Lappones, Varii & Mixti) vor, die er ebenfalls anhand physischer Merkmale des Körpers, der
Haare und der Augen unterscheidet (Linné : ).
14 »Physische Geographie« (Kant ); »Von den verschiedenen Racen der Menschen« (Kant
) und »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace« (Kant ).
15 Zitiert nach Monika Firla (: ), die hierfür auf Johann Gottfried Herders Mitschrien
von Kants Vorlesungen über »Physische Geographie« im Wintersemester / verweist.
74 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Abbildung : Vier Varietäten der Menschen (mit einer fünen Sonderform)
Seitenausschnitt aus Carl von Linnés »Systema Naturæ«, . Aufaae von .
Die in den Beschreibunaen enthaltenen Wertunaen werden an der auf der Temperamentelehre
basierenden Zuordnuna der Hautfarben »rufus, albus, fuscus (später luridus), niaer [rot,
weiß, braun (fahl), schwarz]« zu »cholerisch, sanauinisch, melancholisch, phleamatisch«
deutlich: »Europæus: albus, sanauineus, torosus [weiß, leichtblütia, muskulös] … Regitur
Ritibus [wird regiert durch Reaeln, Bräuche].« Linné beschrieb noch eine fünfte Variante, die
er Montrosus nannte und in der er eine Sammluna mythischer Erzählunaen zusammenfasst.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 75
Die anaeführten frühen wissenschaftlichen Kateaorisierunaen aller möalichen Erscheinunaen der Natur und mit ihr der menschlichen Vielfalt erzeuaten eine
nachhaltiae Wirkuna auf die Ordnuna des Menschen in der Moderne. In Nachfolae dieser ersten Ordner und Systematisierer der Auläruna werden bis heute
menschliche Gruppen konstatiert, die anhand äußerer Merkmale und aeoaraphischer Herkun zugeordnet werden. Diese Merkmale werden zudem mit Vererbungskonzepten zu einer biologisch-körperlichen Statik (»unausbleibliche erbliche
Eigenthümlichkeit«) verbunden und mit hierarchisierenden Wertungen versehen.
Die Kategorisierung der Aufklärung war nicht nur bedeutungs- und effektvoll,
insofern mit ihr die beobachtbare Vielfalt entlang einer rationalen Logik sortiert
werden konnte, sondern zudem Ansatzpunkt für neue Legitimationspraxen und
Ausgang immer wieder neuer wissenschalicher Erkundungen.
Akademisierung und Naturalisierung:
Boom der Rassen-Anthropologie
Ausgehend von den ab Ende des . Jahrhunderts entwickelten Grundkonzepten
zur Systematik menschlicher Vielfalt und den ersten typologischen Forschungen
entwickelte sich im . Jahrhundert eine umfangreiche Rassen-Anthropologie,
die mit verschiedensten Klassifkationsmodellen, diversen Messmethoden und
einer Fülle von Differenzmarkern eine schier gigantische Menge von Studien und
Daten erzeugte. Mit diesen Daten sollte die kategoriale Unterschiedlichkeit der
Rassen und die Minderwertigkeit der ›Anderen‹ – insbesondere von Schwarzen,
aber auch von Frauen, Juden/Jüdinnen etc. – bewiesen werden. Für die Konstruktion ›natürlicher Differenz‹ und den daran gekoppelten wissenschalichen
Nachweis einer Hierarchie zwischen den konstituierten Gruppen erwiesen sich
Rassentheorien als besonders ergiebig, sowohl in Bezug auf politische Funktionalität als auch als Mittel wissenschaftlicher Forschung. Mit dem Rassebegriff konnten
sich immer wieder unterschiedliche Ansätze der Differenzforschung zum Menschen formieren, die einerseits wissenschaftlich anerkannte Ergebnisse erzeugten,
andererseits allerdings immer auch neue Fragen und weitere Forschung inspirierten. Rasse avancierte damit nicht nur zu einem Leitbegriff der Rechtfertigung von
Ausbeutung und Beherrschung, sondern darüber hinaus zu einem wirkungsreichen wissenschalichen Konzept, um das sich immer wieder entscheidende Fragen des Menschlichen, von Zugehörigkeit und Ausschluss, Privilegien oder
Diskriminierung, Leben und Tod drehten. Die Zugehörigkeit zu der einen oder
anderen Rasse bestimmte in den Kolonien wie in den europäischen Nationalstaaten über den Besitz oder den Entzug grundlegender Rechte. Die Selbstkonstruk-
76 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
tion der europäischen Moderne auf Grundlaae eines rationalen Weltverständnisses, politischer Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit erfolate in Abarenzuna und
Geaenüberstelluna zu dem Konstrukt der ›Anderen‹, denen die Fähiakeit zu Rationalität, Selbstreaieruna und Zivilisation abaesprochen wurde. Neben ihrer politischen Dimension als exklusiver Beariff der Zuaehöriakeit oder des Ausschlusses
wurde Rasse in wissenschalichen Erörterungen zu einem Forschungsmotor, mit
dem immer wieder neue Ordnungen erzeugt wurden. Über diese Ordnungsfunktion hinaus hatten die Forschungen aber nicht nur Variationen des Menschen, sondern grundlegende Differenzen zu belegen. Die aufwendigen Vermessungen
tausender und abertausender Schädel, die Berechnung des Gehirngewichts mit unterschiedlichen Verfahren, die Intelligenzquotient-Tests dienten jeweils der Bestätigung der implizit oder explizit vorausgesetzten und mit den Untersuchungen
wissenschalich zu bestätigenden Inferiorität der Anderen (Gould ).
Mit der Bestätigungsforschung zum wissenschaftlichen Nachweis kategorialer
Unterschiede und einer Hierarchisierbarkeit menschlicher Gruppen entstand ein
hochproduktives Wissensfeld, das immer wieder in andere Bereiche hineinwirkte,
auch von außerwissenschalichen Annahmen angetrieben wurde und wieder auf
außerhalb liegende Domänen ausstrahlte. Am Kulminationspunkt imperialistischer Eroberungen im . und zu Beginn des . Jahrhunderts erreichten auch die
wissenschaftlichen Ausarbeitungen zu Rasse ihren Zenit (vgl. El-Haj ). Verwendungsweisen und Funktionen des Begriffs in Wissenschaft, Politik und Alltagsmythen wurden derart eng verknüpft, dass sie sich seit dieser Zeit kaum mehr
sinnvoll voneinander trennen lassen. Alltagsweltliche Rassismen sowie staatliche
Ausbeutungs- und Exklusionspraktiken wurden mit einem biologischen Rassebegriff fest verknüpft und umgekehrt Rasse zu der Chiffre wissenschaftlicher Verbesonderung, deren Differenzproduktion weitere Ungleichbehandlung sicherte.
Über diese Verwicklungen von Rasse hinaus konsolidierten die aus ihr entwickelten
Argumentationsmuster eine Legitimationsordnung, in der auch verschiedene
weitere Diskriminierungsformen wie Sexismus, Antisemitismus, Imperialismus
und Nationalismus wirkten und sich diskursiv gegenseitig stützten. Es ist dieses
Konglomerat aus der Erzeugung natürlicher, objektiver Faktizitäten, der Erschaffung und Fortschreibung von Normen anhand statistisch ermittelter Standards
und einer wissenschaftlichen, gesellschaftlichen autorisierten Wirkmacht, das naturwissenschaftliche rassifzierte Differenzproduktion zu einer der zentralen Voraussetzungen des eliminatorischen Rassismus machte.
Innerhalb der Disziplinen, die sich mit Menschenrassen beschäftigten, bewirkte
diese Verknüpfung von politischer und allgemeingesellschaftlicher Relevanz sowie
wissenschalichem Drang, menschliche Variabilität zu ordnen, einen immensen
Professionalisierungsschub und eine Ausweitung der Forschungspraktiken und
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 77
eorien. Seit Beainn des . Jahrhunderts beschäigte sich eine Unmenge von
Forschern mit Rassen und brachte dabei eine Unzahl verschiedener Klassifkationen zustande. Teilten Bernier, Linné und Kant die Menschheit in vier Rassen ein
(wenn auch mit sehr unterschiedlichen Zuordnungen), so hielt schon Blumenbach fünf für richtig. Georges-Louis de Buffon entdeckte sechs, Oscar Peschel
fand sieben, Louis Agassiz ermittelte acht, Charles Pickering schließlich elf.
Samuel G. Morton sah schon , Jean Baptiste Bory , John Crawfurd zählte
, George Gliddon kam auf und Joseph Deniker allein in Europa auf in
Gruppen (vgl. Grimm ).
Zur Klassifzierung erfanden die Forscher eine Reihe von Messinstrumenten
wie spezielle »Tast- und Gleitzirkel«, Farbkarten und Skalen, nutzen elaborierte
statistische Methoden und erstellten Unmengen an Datenkolonnen, Tabellen und
Diagrammen. Für diese Messungen wurden verschiedene Indizes zu Längen- und
Größenrelationen, dem Längen- und Breitenverhältnis des Gesichts, der Gesichtswinkel etc. ersonnen. Doch auch mit den neuen Bestimmungsmitteln und den aus
den erzeugten Daten ermittelten Gruppen stellten die Systematiker stetige Vervielfältigungen ihrer Rasseneinteilungen her. In der Anthropologie wurde dieses Problem gesehen, und darauf zumeist mit einer Ausweitung der Untersuchungen, mit
neuen Messmethoden und neuen Indizes reagiert. Diese Ausweitung und Vervielfältigung der anthropologischen Studien erzeugte schließlich gegen Ende des .
Jahrhundert eine wahre »Erhebungswut« (Hanke ), in der Unterschiede der
Menschen – neben rassischen auch geschlechtliche, sexuelle, charakterliche und
mentale – mit einer nie dagewesenen Akribie angesammelt wurden. Als markanter
Ausdruck dieser Entwicklung können die Untersuchungen des Anthropologen
Aurel von Török gelten, der allein für den Schädel Einzelmaße vornahm
(vgl. ebd.: u. Massin : ).
Auf dem Höhepunkt der Schädelvermessung und Erstellung von Indizes
konnte also keine einheitliche Einteilung der Rassen in klar abgegrenzte Gruppen
erzeugt werden. Für die Untersuchungsmöglichkeiten bedeutete das jedoch keine
Einschränkung. Stattdessen schien vielmehr alles, was sich messtechnisch erfassen
oder auszählen ließ, wert, registriert zu werden. Über die Messungen am Schädel
und anderen Knochen hinaus waren das fortan vor allem Farbbestimmungen von
Haut, Haaren und Augen, aber auch weniger naheliegende Merkmale wie die Gestalt der Handfalten (sog. Fingerbeerenmuster), die Form der weiblichen Brust, die
Konsistenz des Ohrenschmalzes oder die Defäkationsdauer, von denen schließlich
viele bis zu ihrer Ablösung durch populationsgentische Untersuchungen an Proteinen und den molekularbiologischen Methoden Bestand haben sollten. 16 Unzäh16 Knußmann führt in seinem Lehrbuch der Anthropologie (: , ) zur Übersicht über
die »Merkmalsbilder der rassischen Hauptgruppen« noch über Merkmale von Mess-
78 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
liae Messpunkte auf den Körpern dienten zur Erfassuna, und aus ihnen ließen
sich weitere Verhältniswerte und Mittelmaße errechnen. Mit den Hilfsmitteln der
»mechanischen Objektivität« (Daston ) erzeugten die Anthropologen eine
weitreichende Instrumentalisierung und Quantifzierung ihrer Disziplin. Wissenschaliche Wahrheit über menschliche Differenz sollte fortan durch Messung
und Berechnung und mittels mathematischer Verfahren erzeugt werden (El-Haj
; Rheinberger/Müller-Wille ). Für den damit einhergehenden Prozess
der Professionalisierung der Wissenschaen vom Menschen wurde der Rassebegriff und die um ihn entwickelten Konzepte ab dem . aber vor allem im . Jahrhundert zu einem der wichtigsten Antriebe des Forschens und Theoretisierens.
Seine wissenschaftlich produktive und darüber hinaus politisch und gesellschalich integrierende Kra ist nicht zuletzt einer der gewichtigen Gründe, weshalb
Rasse bisher nicht einfach aus den Wissenschaen verabschiedet wurde. Jedoch
bewirkten wissenschaliche Taxonomien anhand rassischer Modelle nicht nur
die Produktion ordnungsstiender Kategorien, sondern erzeugten schon bald
auch Gegenbewegungen, die im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen zu
Antirassismus stehen.
Antirassismus: Von der Kritik an Rasse zur Zurückweisung
des wissenschaftlichen Rassismus
Die wissenschaliche Aueilung der Menschheit in Rassen konnte von Anfang
an keine rein ›objektiv wissenschaliche‹ bzw. unpolitische Ordnungssuche sein,
da alle Bemühungen schon in die Debatten über den Status des Menschseins der
›Anderen‹ in den Kolonien, die Abstammung der Menschen und die göttliche
Schöpfungsgeschichte verstrickt waren. Während der Schriftsteller und Philosoph
Johann Gottfried Herder als Schüler von Kant in dessen Vorlesungen /
noch jene Einteilungen und Hierarchisierungen der »Racen« und sein Negieren
des Menschseins von Afrikanerˍinnen mitschrieb, äußerte er sich zwei Jahrzehnte
später in seinen eigenen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«
aber klar gegen eine Rasseneinteilung: »[W]eder vier oder fünf Racen, noch ausschließende Varietäten giebt es auf der Erde« (: ) Als Humanist ist er fortan
von einer fundamentalen Einheit des »Menschengeschlechts« überzeugt, stellt die
Vernunft als Charakteristikum menschlicher Natur heraus und weist die Bedeutung
punkten an Rumpf und Gliedern, Hinterkopf und Gesicht, Haar, Hautleisten, Blutmerkmalen,
PTC-Schmeckfähigkeit, Ohrenschmalzkonsistenz und Hautgeruch aus. Siehe zu verschiedenen Differenzmerkmalen auch Schwidetzky sowie die Ausführungen im Kapitel
»Genetifzierung«.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 79
von Hautfarben für die Einteiluna von Menschen zurück, da diese ledialich oberfächliche Erscheinunaen seien (ebd. u. ; vgl. Löchte ).
Entgegen der verbreiteten Historisierung, in der die frühen Rassentheoretiker
als im Zeitgeist verfangen dargestellt werden, ist hervorzuheben, dass auch in der
Frühzeit der Rassenkunde von verschiedener Seite umfangreiche Kritiken formuliert wurden, begründet etwa mit der christlichen Schöpfungslehre, mit einer
humanistisch inspirierten Einheit sowie mit aufklärerischen Gleichheitsvorstellungen. Entsprechend können die Rassentheoretiker nicht pauschal entschuldigt
werden. »Kant entschloss sich ganz bewußt zu seinen rassistischen Thesen«,
schlussfolgert in diesem Sinne die Geisteswissenschalerin Monika Firla (:
), und es ließe sich hinzufügen: wie die anderen Rasseapologeten auch. Da Rasse
von Anbeginn an eine umstrittene Kategorie, ein umkämpes Wissensfeld zur
Ordnung menschlicher Natur war, war es immer auch eine politische Entscheidung, ein bestimmtes Rassekonzept als wissenschaliches zu propagieren. Zur
politischen Aufladung kam noch hinzu, dass die Kriterien zur Defnition von
Rassen umstrittener waren (und nach wie vor sind) als etwa der (auch immer
wieder strittige, aber letztlich konsensuellere) Artbegriff. Nichtsdestotrotz gelang
es den Aulärern, Naturphilosophen und Anthropologen, den Rassebegriff als
wissenschalich zu etablieren. Insbesondere für die Konstituierung und Außenwirkung des Fachs Anthropologie spielten die Forschungen zu den Rassen der
Menschheit eine zentrale Rolle. Mit der politischen Funktionalität des Wissens
über die Differenz zwischen den Rassen und besonders des Wissens über die Inferiorität der ›Anderen‹ konnten zudem Regierungshandlungen ausgeweitet werden, die auf die Bevölkerung, ihre Vermehrung sowie die Verbesserung ihrer
Gesundheit und Produktivität zielten. Im Rahmen dieser Funktionalität konnten
Rassevorstellungen weitgehend sowohl als populäres Allgemeingut als auch in
Form wissenschaftlicher Konzepte stabilisiert werden. So gingen wissenschaftliche
Rassekonzepte zum Ende des . Jahrhunderts in vielfältige politische Vorgaben
und legislative Ordnungen zur Regulierung der Menschen in den Kolonien wie
in den Kolonialländern ein. Ab verankerten die Südstaaten der USA die
»Rassentrennung« gesetzlich für öffentliche Bereiche, Schulen, Restaurants etc. In
zahlreichen Kolonien nahmen die Kolonialregierungen rassische Unterteilungen
der Bevölkerung vor. Ausgrenzungspolitiken unter Verweis auf Rassentheorien
gingen mit Antisemitismus und im beginnenden . Jahrhundert schließlich mit
Eugenik eine immer engere Verbindung ein. An dieser Ausweitung und Einbindung von Rasse auf vielfältigen Ebenen sowie an ihrem Eingang ins Allgemeinwissen waren aber nicht nur die Biowissenschaften, sondern auch die Geistes- und
die im Entstehen begriffenen Sozialwissenschaften maßgeblich beteiligt.
80 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Im Zuae der immer stärkeren Verwickluna von Rassekonzepten mit antisemitischen und euaenischen Ideoloaien sowie mit politisch-leaislativen Ordnunasund Ausschlusspraktiken kam es aeaen Ende des . Jahrhunderts auch zur
Ausweitung jener Kritikformen, die nicht lediglich auf eine »Verbesserung« der
Untersuchungen oder auf die »richtigen« zu messenden Merkmale zielten. In
Auseinandersetzung mit den vielfältigen politischen Implikationen entwickelte
sich in jener Zeit eine grundlegende Kritik, die zunächst aus einer fachexternen
Position – insbesondere aus den Sozialwissenschaen – formuliert wurde. Mit
dieser wurden die biowissenschalichen Einteilungen der Menschheit in Rassen
und deren Defnition über psychische, moralische, charakterliche und ähnliche
Eigenschaen massiv infrage gestellt. Zwar lässt sich ein Anfangspunkt für das
Einsetzen derartiger Kritiken nicht klar festlegen, da der Rassebegriff und die
Einteilungen der Menschheit zum einen von Beginn an in kontroverse Auseinandersetzungen um die Implikationen der Aueilungen und um die ›richtige‹
Behandlung der ›Anderen‹ eingebunden war. Zum anderen sind viele der frühen
Einwände aus heutiger Sicht als äußerst ambivalent zu werten, da sie o selber
rassistisch argumentierten. 17
Ein Großteil der kritischen Argumentationen agierte zunächst nur gegen einige
Aspekte der vorherrschenden Rassentheorien und verblieb in anderen Gesichtspunkten im rassistischen Diskurs, indem etwa Theorien der »Reinerbigkeit«, der
»Degeneration durch Rassenmischung« oder der »Minderwertigkeit« der ›Anderen‹ bekämpft, dennoch aber unterschiedliche Rasseneigenschaften z. B. im »Temperament«, »Charakter« oder in »geistigen Eigenschaften« angenommen wurden.
So übte etwa der Pfarrer und Publizist Carl Jensch mit seinem Essayband »Sozialauslese: Kritische Glossen« von eine verhaltene Kritik an den biologischanthropologischen Ideologien der »Rassenverbesserungen«, »Auslese« und rassischen Klassifkation der »Lang- und Rundköpfgkeit«, rückte aber dennoch ein
Verständnis von Rassen als kulturell und von der Umwelt determiniert in den
Vordergrund. In vergleichbarer Weise übte auch der Anthropologe Léonce
Manouvrier Kritik an Einteilungen von Rassen anhand des »Schädelindex«
17 Eine historische Bearbeitung und systematische sozialwissenschaliche Aufarbeitung der
Geschichte, Inhalte und Ausdrucksformen des Antirassismus existiert bisher nicht. Statt die
konkreten Beiträge zur Entwicklung des Wissens über Rasse, die Prozesse der Rassifzierung
zu untersuchen, wird in vielen existierenden historischen Arbeiten Rasseapologeten ein Persilschein ausgestellt oder sie gelegentlich sogar zu Antirassisten uminterpretiert, weil bei ihnen
etwa partialen Kritiken an Ansätzen ihrer Kollegen zu fnden sind. Für die hier vorgenommene Untersuchung nehmen die um die Wende zum . Jahrhundert entstehenden Kritiken
eine wichtige Rolle bei der weiteren Entwicklung biowissenschalicher Rassekonzepte ein.
Siehe hierzu die Ausführungen im Kapitel »Genetifizierung« sowie »Analytik rassifzierender
Gesellschaen«.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 81
und sprach sich aeaen bioloaisch determinierte Vorstellunaen und für eine Sozialphilosophie aus, die Persönlichkeit und Charakter als durch die Umwelt beeinfusst bearei. Als einer der ersten sozialwissenschalichen Kritiker griff der
Soziologe William Isaac Thomas 18 in dem Artikel »e Scope and Method
of Folk-Psychology« die Praktiken rassischer Klassifkationen an, vor allem jene,
die Hirnvolumen mit Intelligenz in Verbindung brachten (vgl. Bös : ). Dieser Perspektive der kritischen Einlassungen ist nun weiter zu folgen, indem sie
zunächst inhaltlich und analytisch skizziert wird, um darauf folgend auf eine wesentliche Intervention – die UNESCO-Statements zur Rassenfrage – zu sprechen
zu kommen.
Kritiken: Gegen Bio-Essentialismus, Determinismus
und Hierarchisierung der Rassen
Auf Basis der genannten Ansätze entwickelten sich um die Jahrhundertwende
neue umfassendere Kritikperspektiven, die über Einzelaspekte sowie religiös oder
humanistisch inspirierte Argumente hinausgingen. Diese stellten die bestehenden
»Rassentheorien« mit wissenschalichen Mitteln bezüglich ihres biologischen
Determinismus und daran geknüpe Ableitungen zur Weltgeschichte, zur Entwicklungsfähigkeit von Nationen sowie zu Wertsetzungen und Hierarchisierungen
in Frage. Jene Kritiken entwickelten sich in drei zwar unterschiedlichen, aber an
einigen Punkten miteinander verbundenen Kontexten: Erstens im Zusammenhang
mit einer ausgreifenden Debatte um Antisemitismus in Frankreich und Deutschland, zweitens im Rahmen einer Auseinandersetzung um die Anwendbarkeit biologischen Wissens auf gesellschaftliche und politische Fragen, letztlich in Bezug auf
Determination, Degeneration, Ungleichheit, Moral und Solidarität und drittens in
Verbindung mit Kontroversen um die »race question« in den USA.
Vor dem Hintergrund sowohl der Auseinandersetzungen um Antisemitismus, insbesondere in Folge des von Heinrich von Treitschke entfachten »Berliner Antisemitismusstreit« von -, als auch im Kontext der wissenschaftlichen
Erörterungen zur Anthropologie der »jüdischen Rasse«, entstand um eine
umfängliche Kritik an Antisemitismus, an hierarchischen Zuordnungen und
vermeintlich wissenschalich belegten Unterschieden zwischen Jüdinnen/Juden
und der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung (Deutschen, Französˍinnen etc.). So
klagte beispielsweise der Jurist Ludwig Fuld in der erschienen Streitschri
»Antisemitismus in der Wissenschaft« eine Reihe von Wissenschaftler an, die ihm
18 Jener omas, der gemeinsam mit Dorothy omas das ›Grundgesetz der Soziologie‹,
das omas-eorem formulierte.
82 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
zufolae ihre Arbeit in den »Dienst von Parteiunaen« stellten und mit der von
ihnen voraenommenen »Rassen- und Reliaionsverhetzuna nicht die Objektivität«
der Wissenschaft wahrten (: ff.; vgl. Lipphardt b). Der Diplomat Heinrich von Coudenhove-Kalergi veröffentlichte die Abhandlung »Das Wesen
des Antisemitismus«, in welcher er verschiedene Argumente gegen einen »Rassenantisemitismus«, gegen die Vorstellung einer sich von »Ariern« unterscheidenden
»semitischen Rasse« sowie gegen die verbreitete Lehrmeinung, dass »Rassenmischung« schädlich sei, anführt (Coudenhove-Kalergi ).
Eine dezidierte Auseinandersetzung mit einem Großteil der zu seiner Zeit
vorherrschenden Rassekonzepte veröffentlichte der österreichische Soziologe
und Nationalökonom Friedrich Otto Hertz in den beiden Bänden »Moderne
Rassentheorien. Kritische Essays« sowie »Antisemitismus und Wissenscha«, in
welchen er gegen die ese vom »Rassenkampf« als Hauptfaktor der Geschichte,
gegen die angebliche »Affenähnlichkeit Schwarzer« und gegen die Degeneration
durch »Rassenmischung« vorgeht und den »Rassentheorien« die Wissenschalichkeit abspricht: »Der Rassentheoretiker hat ein Leitprinzip mit dem sich eigentlich alles beweisen und erklären lässt. Er lehnt die Einfüsse der Aussenwelt ab
und erklärt alles aus ›Rassenzügen‹« (Hertz a: ). Gegen die verbreiteten
Methoden der Anthropologie, die Vermessung der Schädel, Gehirngewichte und
Untersuchungen zur Pigmentierung der Haut und Haare, wendet er ein, dass
»[s]owohl die Grösse, als die Konstanz der Rassenmomente unglaublich übertrieben« würden. Stattdessen plädierte er für ein »soziales Schauen« und formulierte eine Kritik an Differenz-Essentialisierungen, da die »zwischen den entferntesten Gliedern einer Sprachfamilie oder Rasse bestehenden Kulturunterschiede
grösser sind als die zwischen zwei beliebigen Rassen als Ganzes« (ebd.: II, u.
f.; siehe auch Hertz b).
Der zweite Strang dieser neuen Kritikform entwickelte sich in den Auseinandersetzungen um die Relevanz biowissenschaftlichen Wissens für gesellschaftliche
und politische, moralische bzw. ethische Fragen und Probleme. So veröffentlichte
der Soziologe Jean Finot den Band »Le préjugé des races«, in welchem er
gegen die Existenz vererbbarer biologischer Charaktereigenschaen und intellektueller Fähigkeiten argumentierte. Statt auf Rasse begründete er die »organische
Ungleichheit unter den Menschen« auf der individuellen Ebene und hielt den
Begriff »Rasse« für »ungeeignet, den spezifschen Charakter der in ewigem Fluß
befndlichen Verschiedenheiten zwischen den Gliedern der menschlichen Einheit
zu umgrenzen« (Finot : ; ). Die Bezeichnung Rasse sei »ein Erzeugnis
unserer Geistesgymnastik, der Tätigkeit unseres Intellekts außerhalb der Wirklichkeit«, sie bestünde lediglich als »eine Fiktion unseres Gehirns« (ebd). In ähnlicher Weise argumentierte der Anthropologe Franz Boas in verschiedenen Studien
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 83
( u. ) zur Vererbung der Kopfform, in denen er physische Merkmale der
Kinder von Immigrantˍinnen vermaß und nachwies, dass die als »Rassenmerkmale« verwendeten Kopf- und Körpermaße nicht über die Generationen stabil
waren und dass es keinerlei physische Differenzen zwischen sogenannten »Primitiven« und »Zivilisierten« gebe. Boas stellte mit seinen Forschungen nicht nur
die Vermessungen der Rassenanthropologen in Frage, sondern ebenso jenen
Nachweis der Minderwertigkeit der ›Anderen‹, der in der vergleichenden Schädelvermessung eingeschrieben war, da der Sitz des Gehirns schon als Ort der Vernun galt und ein vermeintlich kleinerer Schädel der nichteuropäischen Rassen
(wie auch von Frauen) im Rahmen der vorherrschenden Basisannahmen rassistische Mythen bestätigten. 19
Zu den ersten Arbeiten der Kritik aus dem Kontext der Debatte um die »Race
Question« zählen die Texte des US-amerikanischen Bürgerrechtlers und Soziologen
W. E. B. Du Bois. Im Jahr argumentierte Du Bois in dem Artikel »Heredity
and the Public Schools«, dass »keine Abweichung vom europäischen Typus« hinreichend sei, um auch nur irgendeine »Theorie grundlegender menschlicher Differenzen darauf zu stützen«. Seine Arbeiten begründeten eine antiessentialistische
und kritische Race eory, mit der schließlich ein Wechsel von den Biowissenschaen zur Politik, von der biologischen Taxonomie zur ematisierung von
Ausbeutung und Unterdrückung vollzogen werden konnte (Du Bois : ,
siehe auch Du Bois u. vgl. Bös ).
In den folgenden Jahren erschienen weitere Kritiken einer Reihe von Akteurˍ
innen, die sich gegen die Unwissenschalichkeit und Unangemessenheit der Rassentheorien wandten. Ab den er Jahren kamen außerdem Kritiken aus der
im Entstehen befndlichen Populationsgenetik und der Kulturanthropologie hinzu, die vehement Vorstellungen wie die von vermeintlich angeborenen Charaktereigenschaen oder vom »Rassenkampf« ablehnten (Huxley/Haddon ;
Haldane ; Dahlberg ; Dunn/Dobzhansky ; Benedict ). In diese
Zeit fallen auch Interventionen, die mit den neuerschaffenen Begriffen »rassistisch« und »Rassismus« agieren sowie Vorschläge, den Begriff »Rasse« aufgrund
seiner wissenschalichen Unzulänglichkeiten durch »Ethnie« oder »ethnische
Gruppe« zu ersetzen. Als Buchtitel erschien der Begriff Rassismus Weltweit erstmals in dem in den er Jahren vom Berliner Sexualwissenschaftler Magnus
Hirschfeld geschriebenen (und posthum veröffentlichten) Buch »Racism«,
19 Bezeichnend ist jedoch, dass die Grundannahme – die generationale Stabilität der Schädelgröße (und damit zusammenhängend der Hirnmasse) vor Boas offensichtlich keiner Untersuchung wert war. Die Materialität der Knochen schien den Forschern offensichtlich so
mächtig, dass eine Änderung innerhalb einer Generation nicht denkbar sein konnte.
84 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
in welchem er aeaen die in Deutschland vorherrschende Nazidoktrin des »Rassenkampfes« anschreibt.
Wie die Wissenschaftshistorikerin Veronika Lipphardt (a, b) zeigt, waren
mit den Kritiken an den vorherrschenden Rassekonzepten im Wesentlichen Absagen an biologisch deterministische Vorstellungen und an die Werturteile, mit denen
Rassen in höher und niedriger stehende eingeteilt wurden, verbunden, während
gleichzeitig, zumindest in den biowissenschaftlichen Kritiken, in aller Regel dennoch
von der Existenz biologischer Rassen ausgegangen wurde. Mit der Politisierung
und Sozialisierung des Rassebegriffs durch die Kritik an biowissenschalichen
Festschreibungen rassischer Charakteristiken und den damit verbundenen Wertungen entstanden jedoch zunehmend wirkmächtige Absagen an Rasse. Diese
mündeten zum einen in eine sozialwissenschaliche Kritik an rassistischen Verhältnissen und zum anderen in die biowissenschalichen Infragestellungen der
Taxonomiekategorie selbst. In den bisherigen Darstellungen zur Geschichte sozialwissenschalicher Kritiken an Rasse bleibt deren Bedeutung in der weiteren
Entwicklung meist unterbelichtet, weshalb es notwendig wird, die Kritiken nach
dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere die Statements der UNESCO näher zu
beleuchten.
UNESCO-Statements zur »Rassenfrage«
At mid-century, social scientists believed that they
had won the battle with hereditarians over who
could better explain the great human concerns of
our era.
Troy Duster : VII
Eine neue Qualität der Kritik erreichten zwei Statements zur »Race Question«
sowie zur »Nature of Race and Racial Differences« (UNESCO a, UNESCO
b), die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Dach der United Nations
Educational, Scientifc and Cultural Organization (UNESCO) mit dem Ziel ausgearbeitet wurden, das »Rassenvorurteil« zu beseitigen.
Für das Verständnis der heutigen Relationen von Kritik an Rassekonzepten
und biowissenschaftlicher Rasseforschung nehmen die Statements eine besondere
Rolle ein, denn mit ihnen wurden die Kritiken auf eine sozialwissenschalich und
zugleich politisch wirkmächtige Bühne gehoben. Besondere Bedeutung erlangte
das erste Statement aufgrund der sofort einsetzenden internationalen Debatte.
Beide Erklärungen erhielten darüber hinaus in den er Jahren einen zusätzlichen
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 85
Bedeutunaszuwachs, indem sie häufa als Marksteine einer Zäsur in der wissenschalichen Beschäigung mit Rasse dargestellt und o auch als schlussendlich
verfasster Beweis der wissenschalichen Widerlegtheit von Rasseunterteilungen
aufgeführt werden. Bemerkenswert sind die beiden UNESCO-Statements daher
nicht nur, weil damit erstmals eine einfussreiche politische Institution eingesetzt
wurde, um »wissenschaliche Fakten zu verbreiten«, die »rassische Vorurteile«
(UNESCO : ) demontieren könnten, sondern weil diese von vielen Kommentatorˍinnen mit einer hohen Wirkmacht und wissenschalichen Aussagekra
versehen werden. Nicht selten wird dabei der tatsächliche antirassistische Gehalt
der Texte überbewertet, wenn etwa die Erklärungen so resümiert werden, als hätten
diese »festgestellt, dass es keine wissenschaliche Basis für die Einteilung der
Menschheit in Rassen gebe« (Räthzel : ). 20
Aus der Bedeutung, die die Statements aktuell haben und aus der Besonderheit
ihres Entstehungszusammenhangs ergeben sich zwei Gründe für die dezidiertere
Betrachtung: Zum einen ist es notwendig, die Rolle sozialwissenschaftlicher Kritik
und deren Wirkung auf die weitere biowissenschaliche Beschäigung mit Rasse
in den Blick zu nehmen, um die Dynamik von Rasseforschung seit den er
Jahren zu verstehen. Zum anderen zeigen die UNESCO-Statements bei einer näheren Betrachtung auch auf, welche Interventionen mit der gewählten Form der
Kritik möglich wurden und die weitere Geschichte von Rasse bis in die Gegenwart beeinfussten.
Zwar sind in den letzten Jahren auch einige detaillierte Fallstudien 21 durchgeführt worden, aber in den bisherigen Darstellungen zu den UNESCO-Statements
wird meist nur auf die Rolle einzelner Akteure oder die Auseinandersetzungen in
den Biowissenschaen, aber nicht ausreichend auf die Rolle sozialwissenschalicher und politischer Intervention und deren Inhalte eingegangen. Das Besondere
der UNESCO-Erklärungen ist jedoch nicht deren Kritik an vorherrschenden Rassekonzepten, sondern ihre Intervention in politische, wissenschaliche und rechtliche Bereiche zu Fragen um rassifzierende Teilungen. Anlass dieser expliziten
20 Tatsächlich findet sich in keinem der beiden UNESCO-Statements aus den er Jahren eine
solche oder ähnliche Feststellung, und die dort vorgenommen Ausführungen lassen sich auch
nicht derart zusammenfassen. Jedoch laden die Dokumente offenbar dazu ein, antirassistische
Positionen als wissenschalich belegt zu sehen. Jedenfalls wäre so zu erklären, wie etwa
omas Becker behaupten kann, »nach dem Schock des Holocaust« sei »im Auftrag der
UNESCO bewiesen« worden, »dass über des Genmaterials zwischen den unterschiedlichen Rassen identisch ist« (: f.) oder Nina Degele, die die Einschätzung von Räthzel
aufgrei und dabei ähnlich wie Becker eines der Ergebnisse des Humangenomprojekts
(Venter ) Jahre vorverlegt: »denn , der DNA aller Menschen ist identisch«
(: ).
21 Siehe etwa Provine , ; Weingart/Kroll/Bayertz ; Shipman ; Müller-Wille
; Reardon ; Brattain .
86 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Politikanbinduna waren allerdinas kaum neue wissenschaliche Erkenntnisse,
sondern Veränderungen in der Rolle und Funktion gesellschalich-politischer
Problematisierungen. Wissenscha konnte in Folge ihrer Verwicklung in die
Vernichtungspolitiken des Nationalsozialismus nicht mehr als völlig eigenständige
und nur neutralem Wissen verpflichtete Institution gesehen werden. Das eingedenkend wurde ihr nun dementgegen die Fähigkeit zugeschrieben, insbesondere mit
sozialwissenschalichen Kritiken und mit »wissenschalichen Fakten« zu verdeutlichen, dass – wie im ersten Statement formuliert – Rasse »weniger ein biologisches Phänomen als vielmehr ein sozialer Mythos ist« (UNESCO : ).
Hintergrund des ersten UNESCO-Statements von ist die historische Situation des am . Juni erfolgten Angriffs des Deutschen Reichs auf die UdSSR.
Kurz darauf fanden am . August Verhandlungen zwischen den Regierungschefs der USA und Großbritanniens statt, bei denen neben Waffenlieferungen
der USA an Großbritannien und die UdSSR auch ein Nachkriegsprogramm, die
sogenannte »Atlantik-Charta«, vereinbart wurde. In dieser schrieben die beiden
Großmächte unter anderem den »Verzicht auf territoriale Expansion« sowie die
Friedenssicherung und den Verzicht auf Gewaltanwendung und Abrüstung fest
(Offce for Emergency Management et al. ). Die Atlantik-Charta wurde Grundlage der verabschiedeten »Deklaration vereinter Nationen« der Staaten
der Anti-Hitler-Koalition. Auf deren Basis wurde schließlich im Februar die
UNO, sowie im selben Jahr die UNESCO als Sonderorganisation der UNO gegründet, um die »Zusammenarbeit der Völker der Welt auf den Gebieten der Erziehung, der Wissenschaft und der Kultur« sowie »internationalen Frieden und
gemeinsame Wohlfahrt der Menschheit zu verwirklichen« (United Nations ).
In der Verfassung der UNESCO wird erklärt, »dass der grosse und schreckliche
Krieg […] nur dadurch möglich wurde, dass das demokratische Ideal der Würde,
der Gleichheit und der gegenseitigen Achtung des Menschen verleugnet wurde,
um an seine Stelle, unter Ausbeutung von Unwissenheit und Vorurteilen, die
Lehre von der Ungleichheit der Rassen und der Menschen zu setzen« (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung ). Zur Umsetzung der Ziele gegen
eine Lehre von der Ungleichheit der Rassen und für demokratische Ideale, der
Würde, Gleichheit und gegenseitigen Achtung verstand sich die UNESCO selbst als
die international am besten gerüstete Institution, insbesondere zur Leitung einer
»Kampagne gegen Rassenvorurteile« und zur »Beseitigung dieser gefährlichsten
Doktrin« (Métraux : ). Gegen den »Rassenhass«, der vor allem durch
»wissenschalich falsche Ideen gedeiht und durch Ignoranz genährt wird«, sah
die UNESCO »die Mittel und Methoden der Bildung, Wissenschaft und Kultur« als
geeignet an (ebd.). Entsprechend galten schon auf den ersten Treffen der Organisation drei Bereiche – Bildung, Wissenschaft und Kultur – als befähigt, einen Beitrag
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 87
zur Sicheruna des Friedens und zur Förderuna des Gemeinwohls der Menschheit
zu leisten, aber auch als Interventionsebenen aeaen jedwede »philosophy of racialism« und »Vorstellunaen von Überleaenheit einer Nation oder einer ethnischen
Gruppe« (UNESCO : ).
Auf Vorschlag des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen
(ECOSOC) sollte die UNESCO ein effektives Bildungsprogramm erarbeiten sowie
eine Sammlung von Material und wissenschaftlichen Fakten vornehmen, die geeignet wären, »rassische Vorurteile abzubauen«. Außerdem empfahl der Rat, ein
Komitee von internationalen Persönlichkeiten zu bilden, in welchem »grundlegende Prinzipien von demokratischer und allseitiger Bildung zur Abwehr jeglicher Form von Intoleranz und Feindscha zwischen Nationen und Gruppen«
erstellt werden sollten (UN Economic and Social Council : ). Diesem Aufruf folgend berief die UNESCO unter ihrem Dach schließlich jenes Komitee von
Wissenschaflerˍinnen ein, »deren Aufgabenstellung es war, das Konzept der Rasse
zu defnieren und dafür eine Darstellung in ›klaren und leicht verständlichen‹
Begriffen, […] bezüglich des hoch kontroversen Problems rassischer Differenzen,
zu formulieren« (UNESCO b: ). Die dafür gewählte Strategie war, mit »wissenschalichen Fakten« gegen das »gefährlichste Dogma« der »Rassenvorurteile«
sowie gegen »rassische Propaganda« vorzugehen (UNESCO b: ).
Für das Expertentreffen am . bis . Dezember lud Arthur Ramos als
Vorsitzender des Fachbereichs Sozialwissenschaen der UNESCO Personen ein,
die international relevante ethnologische Arbeiten, Analysen zu »Rassenbeziehungen« sowie kritische Texte zu rassistischem Vorurteilsdenken oder ähnlichem
veröffentlicht hatten. Offenbar erschien es der UNESCO im Sinne ihrer Ziele völlig
legitim, die Organisation in die Hände eines Sozialwissenschaftlers zu geben (und
nicht den Fachbereich Naturwissenschaften zu beauftragen), so wie es auch Ramos
angebracht schien, für das Komitee nur einen physischen Anthropologen und ansonsten ausschließlich Sozialwissenschaftler zu berufen. 22 Wie der Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille darstellt, ging es der UNESCO offenbar darum,
»sich mit einer klaren Position aktiv einzumischen«, wofür sie »zunächst Experten auf diesem Gebiet ein[lud], die sich, wenig überraschend, überwiegend aus den
Sozialwissenschaften rekrutierten« (Müller-Wille : ). Allerdings ist es sowohl
aus heutiger Sicht als auch im Kontext der damaligen Auseinandersetzungen sehr
wohl überraschend, dass Sozialwissenschaftler für sich die wissenschaftliche Auto22 Die Teilnehmer waren die Soziologen Prof. Edward Franklin Frazier (USA) und Prof. Morris Ginsberg (Großbritanien), der Psychologe und Ethnologe Prof. Ernest Beaglehole (Neuseeland), der physische Anthropologe Prof. Juan Comas (Mexico), der Bildungspolitiker
und Philosoph Dr. Humayun Kabir (Indien), die Sozialanthropologen Prof. Claude LeviStrauss, (Frankreich) und Prof. Luiz de Aguiar Costa Pinto (Brasilien) sowie der Kulturanthropologe Prof. Ashley Montagu (USA).
88 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
rität in Anspruch nahmen, Erklärunaen zu Rassefraaen abzuaeben, die auch für
die Biowissenschaen und darüber hinaus international Gültigkeit besitzen sollten. Überraschend, weil angesichts der zu dieser Zeit schon bestehenden innerbiologischen Kritiken aus strategischem Kalkül eine aus verschiedenen Disziplinen
besetzte Kommission nahegelegen hätte. Sinnvoll konnte ein solcherart zusammengesetztes Expertentreffen nur unter der Bedingung sein, dass wenigstens die
Planer die race question als eine politische Frage sahen, die nicht von den Biowissenschaften bzw. nicht von diesen allein zu klären sei. Der bis dahin vor allem biologisch gefüllte Begriff Rasse wurde damit als politischer Begriff sozialisiert. Die
Biowissenschaen bedure es dann nur noch als Unterstützung der politischen Interventionen. Um dies Unterstützung zu erlangen wurde das von der Kommission
erstellte Statement schließlich auf Betreiben Montagus an namhae Wissenschaler, vor allem Professoren der Genetik und der Biologie, zur Unterzeichnung gesandt. 23 In dieser Fassung erschien es im Juli als UNESCO-Dokument, das weltweit an Presseorgane gesandt wurde, die es in vielen Ländern im
Volltext oder in Zusammenfassung veröffentlichten. Die London Times druckte
eine Kurzfassung ab, auf die mit zahlreichen Briefen reagiert wurde, und in der
Zeitschri Man des »Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland«
entbrannte eine Jahre anhaltende Debatte. Wie einer der Herausgeber der Zeitschri kommentierte, waren »gewisse Textteile« des Statements »weit davon entfernt, allgemeine Übereinstimmung zu erzeugen« (zit. nach Shipman : ).
Dem entsprechend erreichten die UNESCO sofort nach der Veröffentlichung eine
Fülle von disparaten Kommentaren, Kritiken, Ergänzungen und Abänderungen
von verschiedenen Seiten. Neben Beschwerden von Anthropologen, nicht in die
Erstellung des Textes involviert worden zu sein, wurde angemerkt, dass die genetischen Ursachen für spezifsche Charakteristiken noch nicht geklärt seien und
somit mehr zu Rassen geforscht werden müsse. Andere stellten heraus, dass
menschliche Gruppen –entgegen den Darstellungen des Statements – sehr wohl
in den ihnen angeborenen Möglichkeiten zur intellektuellem und emotionalen
Entwicklung differieren würden oder sahen eine Nähe der Erklärung zur Verfälschung wissenschalicher Daten, wie es »die Russen« oder Hitler täten. 24 Die
deutschen Kommentatoren hoen auf weiteres biologisches Wissen, welches die
23 Dies waren der Zoologe Edwin Grant Conklin, die Genetiker Gunnar Dahlberg, Hermann J.
Muller, Curt Stern und Leslie C. Dunn, die Biologen eodosius Dobzhansky und Julian S.
Huxley, der Wirtschaswissenschaler Gunnar Myrdal, der Anthropologe Donald Hager,
der Soziologe Wilbert Moore, der Biochemiker Joseph Needham und sowie die Sozialpsychologen Hadley Cantril und Otto Klineberg.
24 Carleton S. Coon antwortete z. B. »…I do not approve of slanting scientifc data to support a
social theory, since that is just what the Russians are doing, and what Hitler did.« (zit. in
UNESCO b: ; Hervorhebung i. O.).
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 89
von ihnen als falsch anaesehenen Konzepte der Gleichheit zerstören werde, und
kritisierten die Missachtuna der von ihnen anaenommenen enormen anaeborenen
Differenzen und der Wissenschaft der Euaenik, da es bei einer fehlenden Selektion zu einem Zivilisationsverfall kommen werde (UNESCO b: ff.).
Offenbar trafen diese Reaktionen die UNESCO massiv, sodass von dieser
schon wenige Monate nach der Veröffentlichung ein neues Meeting einberufen
wurde, diesmal unter der Federführung von zwölf Humangenetikern und physischen Anthropologen. Für die Erstellung einer besser abgesicherten Fassung ging
das erste Statement zur Kommentierung an über prominente physische
Anthropologen und Genetiker (darunter auch bekannte Rasseforscher 25). Ergebnis
der Auseinandersetzungen und Überarbeitungen war eine im Juni erstellte
zweite Fassung, welche die UNESCO im Sommer publizierte. In dieser versuchte die UNESCO die »dürige Beteiligung« von Vertretern der Biowissenschaen eher als ungewollt, mit dem plötzlichen Tode des Organisators Ramos
am . Oktober sowie mehreren kurzfristigen Absagen zusammenhängend,
zu rechtfertigen, statt als intendiert darzustellen (UNESCO b: ). 26
Im zweiten Statement wurden schließlich bedeutungsvolle Umformulierungen
vorgenommen. So löschte das neue Gremium die in der ersten Fassung enthaltenen sozialwissenschalich und politisch inspirierten Passagen, in denen Rasse als
»weniger ein biologisches Phänomen« denn vielmehr als »sozialer Mythos«
(UNESCO : ) defniert und die Ersetzung des Rassebegriffs durch »ethnische Gruppen« angeregt wurde (ebd.: ). 27 Außerdem wurden Umdeutungen
vorgenommen, wie etwa in der Einleitung zum neuen Statement, in der der Ethnologe Alfred Métraux die erste Fassung so darstellt, als seien sich die beteiligten
25 Neben den Rassetypologen wie Ernest A. Hooton oder Coon auch die deutschen Rassenkundler und Eugeniker Eugen Fischer, Fritz Lenz, Karl Saller, Hans Weinert und Egon von
Eickstedt, die alle auch Antwortbriefe verfasst hatten.
26 Unerwähnt blieb, wer als Vertreter der Biowissenschaen noch zum Gremium geladen
worden war. Weder aus den recherchierbaren Dokumenten noch aus den mir zugänglichen
historischen Arbeiten zur UNESCO wird dies ersichtlich. Bemerkenswert ist an der Darstellung allerdings, dass der Eindruck vermittelt wird, Ramos habe als Repräsentant der Biowissenschaen zählen können. Tatsächlich hatte dieser als ehemals klinischer Psychiater
eine medizinische Ausbildung erlangt, und in den ern und ern mehrere psychiatrische
und psychoanalytische Arbeiten verfasst. Ab Mitte der er Jahre arbeitete er jedoch nur
noch im Bereich der Sozialpsychologie und Anthropologie. Er war Vorsitzender der Sozialpsychologie der Universität Rio de Janeiro, Gründer und erster Präsident der Brasilianischen
Anthropologischen und Ethnologischen Gesellscha und verfasste mehrere ethnologische
Bücher wie etwa »O Negro Brasileiro: etnografia religiosa e psicanálise« (UNESCO ).
27 Gelöscht wurden außerdem Passagen, denen zufolge individuelle Differenzen und jene, die
durch Umwelteinfüsse hervorgerufen werden, bedeutender seien als Gruppendifferenzen
sowie die Aussage, dass Persönlichkeit und Charakter als »rassenlos« zu betrachten seien
(UNESCO : ).
90 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Sozioloaen darin einia aewesen, »dass Rasse bioloaisch defniert werden muss«
(UNESCO b: f.).
Aber auch wenn in der zweiten Fassung des Statements die politischsozialwissenschaftliche Grundlegung zur ›Natur der Rasse und rassischer Differenzen‹ weitgehend umgearbeitet wurde, hatte der Text dennoch nachhaltige Wirkung. Mit den Statements trat die Kritik an Rassekonzepten aus einem bis dahin
vor allem innerbiowissenschaftlich wirkenden Rahmen heraus und erreichte politische und zugleich internationale Aufmerksamkeit. Kritik an biowissenschaftlichen
Konzepten konnte mit den Erklärungen zum ersten Mal nicht mehr pauschal als
unwissenschalich oder als Angriff auf die Wissenschasfreiheit abgewehrt werden. Das UNESCO-Treffen stellt hierin eine bedeutungsvolle Verschiebung im
Komplex Wissenschaft/Politik/Gesellschaft dar, da sozialwissenschaftlich ausgebildete Akteure erstmals sowohl in wissenschaliche Konzeptualisierungen als auch
in politische Bereiche einwirkten, und das zudem auf transnationaler Ebene.
Die Strategie, mit »wissenschalichen Fakten« gegen »Rassenvorurteile« und
»rassische Propaganda« vorzugehen (UNESCO b: ) wandelte sich im zweiten Statement weitgehend zu einer Auffassung von Rasse im Sinne eines biologischen Verständnisses statt sozialer Strukturen und Praxen. Mit Bestimmungen
wie »race had to be defned biologically« verblieb die Debatte im Rahmen einer
naturalistischen Bestimmung, in der »›Rasse‹ für Menschengruppen reserviert
bleiben sollte, welche offensichtliche und primär vererbte physische Differenzen
zu anderen Gruppen aufweisen« (UNESCO b: u. ). Mit einer solchen Defnition verharrte die Argumentation aber innerhalb der Biowissenschaen, denen
damit zudem die wichtigste Position einer erklärenden und zur Bekämpfung von
Rassismus und »Rassenvorurteil« geeigneten Instanz zukam. Anscheinend unbemerkt blieb dabei das Problem, dass ein soziales Bewertungssystem und gesellschaliche Praxen der Unterteilung und Hierarchisierung nicht biologisch
widerlegt werden können. Stattdessen wurde die Hoffnung gehegt, dass mit biowissenschalicher Expertise die Bedeutungsweite von Rassekonstrukten eingeschränkt werden könne. Damit agierten sowohl die Apologetˍinnen als auch die
Kritikerˍinnen der Rassekonzepte mit denselben Mitteln biologischer Begründungen, um ihre jeweilige Position zu stützen. Die Debatte um Rasse verblieb
somit weitestgehend auf der Ebene der Biowissenschaen, obwohl die Fragen um
Rassekonzepte für den gesellschaspolitischen Bereich zu klären waren.
Trotz des weitgehenden Verbleibens der beiden UNESCO-Statements im biowissenschaftlichen Diskurs stellen diese eine Besonderheit dar, da sie als Marksteine
einer Veränderung im Verständnis von Wissenscha gesehen werden können.
Wissenscha wurde als ein Mittel erachtet, das intervenierend zur Erlangung bzw.
Förderung des internationalen Friedens und für das »demokratische Ideal der
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 91
Würde, der Gleichheit und der aeaenseitiaen Achtuna des Menschen« aeaen eine
»Lehre von der Unaleichheit der Rassen und der Menschen« einaesetzt werden
könne (Oraanisation der Vereinten Nationen für Erziehuna ). Insbesondere
aufgrund dieser Zuweisung von Wirkmacht an die Wissenscha stehen die
UNESCO-Statements für viele Kommentatorˍinnen als Umschlagpunkt, in dessen
Folge es zu einer Absage an rassifzierte Differenzkonzepte gekommen sei. Und
tatsächlich befügelten die beiden Erklärungen in rascher Folge weitere ähnliche
Publikationen mit dem Ziel, in den Alltags- und Wissenschaftsdiskurs einzugreifen.
Ab gab die UNESCO die Publikationsreihe »e Race Question in Modern
Science« heraus, in der in den folgenden Jahren zehn kurze Bände zu »Race and
Culture«, »Race and Psychology«, »Race and Biology«, »Racial Myths«, »e Roots
of Prejudice«, »Race and History«, »Race and Society« u. a. von prominenten Autoren wie Otto Klineberg (), Leslie Dunn () oder Claude Lévi-Strauss
() erschienen. publizierte sie das Buch »What is Race? Evidence from
Scientists«. Kurz darauf entstand eine Reihe mit dem Titel »e Race Question
and Modern ought«, in der Texte wie »e Catholic Church and the Race
Question« (Congar ), »Buddhism and the Race Question« (Malalasekera/
Jayatilleke ) u. a. herausgegeben wurden. In späteren Jahren veröffentlichte die
UNESCO außerdem eine Reihe von weiteren Texten, Büchern und Sammelbänden, in denen es immer wieder um die Legitimität von Rasseneinteilungen und
damit verbundenen Wertungen, um die Vermittlung der ›neuesten‹ wissenschalichen Erkenntnisse vor allem der Populationsgenetik und um die Zurückweisung
von typologischen Rassekonzepten sowie der Annahme psychischer bzw. Intelligenz-Unterschiede oder von Problemen bei »Rassenmischung« ging. 28
Neben der Popularisierung von wissenschalichem Wissen über Differenz in
Verbindung mit humanistischen Werten wurden außerdem immer wieder weitere
Treffen auf Initiative der der UNESCO anberaumt, bei denen der Status von Rasse
verhandelt und Interventionen gegen Rassismus, Vorurteile, Diskriminierung
besprochen wurden. Auch aus diesen Meetings gingen kontinuierlich Statements
wie z. B. »Proposals on the Biological Aspects of Race« (UNESCO ), »Statement on Race and Racial Prejudice« (UNESCO ), »e Declaration on Race
and Racial Prejudice« (UNESCO ), »Declaration Against Racism, Violence,
and Discrimination« (UNESCO a) und »Report of the World Conference
28 »Race, Prejudice, and Education« (Bibby ), »Race and Science: e Race Question in
Modern Science« (UNESCO ), »Race, Science and Society« (UNESCO ), »Sociological
eories. Race and Colonialism« (UNESCO ), »Racism, science and pseudo-science«
(UNESCO ) sowie »e Roots of Racism« (UNESCO b). Die einzelnen Texte und
die Beiträge in den Reihen wurden zumeist in mehrere, auch Nicht-Weltsprachen übersetzt.
92 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
aaainst Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance«
(UNESCO ) hervor.
Tatsächlich erzeugten die Erklärungen eine immense Wirkung, riefen eine
umfangreiche Debatte innerhalb der mit Rasse beschäigten Disziplinen hervor
und wurden wie erwähnt in vielen internationalen Medien aufgegriffen. Dennoch
zeitigte die mit dem zweiten Statement verstärkte biologische Verortung derartige
Effekte, dass sich aus den Statements sehr unterschiedliche, mithin konträre
Schlussfolgerungen ziehen ließen und nach wie vor lassen. Aufgrund der biologischen Bestimmung von Rasse waren weiterhin naturalistische Bestimmungen
möglich, die eine weitere Klärung rassischer Differenzen als notwendig erachten
ließen. Gleichzeitig wurden mit biologischen Forschungsergebnissen Vorstellungen
von »reinen Rassen« sowie angeblichen negativen Effekte der »Rassenmischung«
bekämpft. Entsprechend konnten die Statements den Einen als Beleg der »wissenschalichen Widerlegtheit« von Rasse gelten, während sie für Andere Anlass weiterer, aber nunmehr ›besserer‹ Rasseforschung sein sollten. Die verschiedenen
Interpretationsvarianten der UNESCO-Statements spiegeln damit aber letztlich
etwas, was als geradezu paradigmatisch für den Rassediskurs in Reaktion auf Kritik
gelten kann: Die Debatten um rassifzierte Differenzen gestalten sich bisher als
extrem interpretationsoffen, sodass Infragestellungen sowohl zur Absage an als
auch zur Modernisierung von Rassekonzepten nutzbar sind und beides gleichzeitig
dynamisieren können. Anhand dieser Ambivalenz sind die weiteren Entwicklungen von Rasse nach dem Zweiten Weltkrieg keinesfalls nur als allgemeine Durchsetzung der Kritiken zu lesen, sondern ebenfalls als Modernisierungsbewegungen
und Persistenz biowissenschalicher Rasse-Konstruktionen zu interpretieren.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 93
Kontinuitäten und Brüche seit 1945:
Zur Gegenwart der Vergangenheit
Wir leben in einem feinfühliaeren Jahrhundert,
doch die arundleaenden Araumentationen scheinen sich nie zu wandeln. Die Plumpheiten des
Schädelindex haben der Komplexität des Intelliaenztests Platz aemacht.
Stephen Jay Gould :
Kann die Fülle der seit Ende des Zweiten Weltkriegs erschienenen Statements als
Erfolg der UNESCO gewertet werden? Zunächst sicher ja, insofern sie auf breite
Resonanz in Populärmedien stießen, in Lehr- und Bildungsmitteln thematisiert
und in Policy-Vorgaben implementiert wurden. Wie in den ersten Statements
ging es in den meisten weiteren Texten zunächst um die Zurückweisung nazistischer und eugenischer Vorstellungen, jedoch nicht um eine allgemeine Absage an
Rassekonzepte. Stattdessen wurde Rasse, wie z. B. im »Proposal on the Biological
Aspects of Race« () populationsgenetisch als Ergebnis von »hereditary physical traits« beschrieben, und konstatiert, dass »[n]early all classifcations recognize
at least three major stocks« (S. ). Dennoch zeichnete sich eine Entwicklung
innerhalb der Texte ab, indem die in den er und er Jahren vorherrschende
Verwendung und Rechtfertigung populationsgenetischer Rassekonzeptionen ab
den er Jahren einer zunehmenden Beschäigung mit Rassismus, Vorurteilen
und Diskriminierung weicht. Die letzte Stellungnahme, die sich mit dem biologischen Rassebegriff beschäigte, ist im Kontext der UNESCO-Konferenz
»Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung« verabschiedet worden. In dieser
formulieren Biologen, Anthropologen und Genetiker 29 entgegen den populationsgenetischen Verständnissen zu Rasse in den vorhergehenden Statements nun
deutlich, dass Rasse ein völlig obsoletes Konzept sei und es »keinen wissenschalichen Grund [gibt], den Begriff ›Rasse‹ weiterhin zu verwenden« (UNESCO a:
). Auf der von der UNESCO ausgerichteten »World Conference against
Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance« ging es
nicht mehr um den biologischen Rassebegriff, sondern ausschließlich um soziale
und politische Strategien gegen Rassismus.
Über die Zeit der wiederholten Veröffentlichung von Statements zur Race
Question ist also eine Zuspitzung der Kritik zu verzeichnen, von einer Absage an
29 Auf dem Treffen war unter den Beteiligten keine Frau. Irenäus Eibl-Eibesfeld nahm an
der Debatte teil, unterzeichnete aber das Statement nicht (Quelle: Interview mit Ulrich
Kattmann).
94 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
typoloaische und völkische Rassekonzepte und damit verbundenen hierarchisierende Wertunaen hin zu einer allaemeinen Absaae an Rasse als eines ›völlia obsoleten Konzepts‹. Gleichzeitia wird aber auch deutlich, dass mit den ersten Statements keinesfalls eine ausreichende Absaae erreicht war (zumindest nicht aus
Sicht der UNESCO), es vielmehr reaelmäßia weiterer Erklärunaen bedure und
biologische Rasseverständnisse damit weiterhin als Interventionsfeld angesehen
wurden. Rasse war aus dieser Perspektive mit den ersten Erklärungen nach dem
Zweiten Weltkrieg somit keinesfalls erledigt. Vielmehr sind die Statements als
Ausgangspunkt der seit dieser Zeit anhaltenden Verhandlungen um den wissenschaftlichen Status von Rasseforschungen und der naturwissenschaftlich ›richtigen‹
Bedeutung von Rasse auszumachen. Aus dieser Beobachtung heraus stellt sich die
Frage, wie die Kritiken innerhalb der Biowissenschaften auf die weitere Produktion
von Differenzwissen wirkten sowie welche Aspekte konkret weitergetragen und
mit welchen Formen rassischer Differenz gebrochen wurde.
Schon aus den bisherigen Erörterungen zur Breite, Unschärfe und Wandelbarkeit von Rasse wird deutlich, dass Kontinuitäten in Bezug auf Rassekonzeptionen
nicht im Sinne eines ›es bleibt wie es ist‹ verstanden werden können, sondern dass
die Frage analytisch, mit einem Blick auf das ›Was bleibt?‹ und ›Was verändert
sich wie?‹ angegangen werden muss. Kontinuitäten sind somit in Bezug auf biowissenschaliche Rasseverständnisse nach dem Zweiten Weltkrieg als partielle
Persistenzen, als Konzepte, die konstitutiv Veränderung unterworfen sind, zu
verstehen, in deren Gehalt es aber ebenso um die Beständigkeit von Differenz
geht. Die Teilungskategorie Rasse ist somit als ein Gegenstand zu fassen, in welchem eine konzeptionelle Wandelbarkeit mit als überdauernd angenommenen
Differenzen verbunden ist. 30
Diese Gleichzeitigkeit von Wandel und Konstanz biologischer Rasseverständnisse wird in bisherigen Untersuchungs- und Darstellungsformen zur Kontinuität
von Rasse und rassistischer Wissenschaft wenig beachtet. Das liegt m. E. vor allem
daran, dass Kontinuitäten meist schematisch ermittelt werden, in aller Regel hinsichtlich der Fortdauer von rassistischen Bedeutungen, die mit Konzepten des
Nationalsozialismus sowie mit dem Faschismus und mit eugenischen Ideen verknüpft sind. Historische Kontinuitätsbeschreibungen bedienen sich dabei zumeist
dreier Mittel: Erstens wird Kontinuität anhand einzelner Personen, die schon in
der Zeit des NS arbeiteten, oder anhand einer ›Schule‹, also der Weitergabe von rassistischen Vorgehensweisen von einzelnen Akteurˍinnen an die ›Schülerˍ innen‹
aufgezeigt. Zweitens wird nazistisches oder extrem rechtes Gedankengut in wissenschaftlichen Forschungen, Aussagen und Konzepten ›aufgedeckt‹, und drittens
30 Die konstitutive Wandelbarkeit von Rasse wird in den beiden folgenden Kapiteln »Genetifzierung« und »Rasse der Post/Genomik« wieder aufgegriffen.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 95
werden Analoaien zwischen einerseits neueren Forschunaen und Konzepten und
andererseits klassischen Modellen der Rassenanthropoloaie und Vorstellunaen
der Euaenik voraenommen. Diese enge Form der kritischen Untersuchunas- und
Darstellunasform ist für den Geaenstand Rasse sowie der Fraae nach Kontinuitäten
rassistischer bzw. rassifzierender Wissensproduktion sehr wichtia und lieat zudem
nahe, da schon der Beariff Rasse primär mit Nationalsozialismus und Kolonialismus verknüp ist. Doch so unerlässlich solcherart Kontinuitätsuntersuchungen
sind, so begrenzt ist ihre Analysekra, da der Fokus dieser Untersuchungen üblicherweise auf intentional rassistischen Rassekonzepten liegt, also auf Forschungen
und Aussagen, bei denen von einem bewussten Bezug auf typologische, wertende
und hierarchisierende Modelle auszugehen ist.
Um die Fortschreibungen klassischer Rasseforschung, typologischer und hierarchisierender Konzeptionen aufzuzeigen, wird im Folgenden das Verständnis
von Kontinuität erweitert und über intentional rassifzierende Arbeiten hinaus
auch die aktuelle Produktion von Differenzwissen und damit zusammenhängende
bzw. koproduzierte Kategorien, deren Ambivalenzen, Effekte und Wirkungen in
den Blick genommen. So wie Wissenschaften gerade durch Weiterentwicklungen,
Veränderungen und Neukonzeptionen gekennzeichnet sind, können Kontinuitäten
rassifzierter Modelle prinzipiell nicht als einfache Fortschreibung immer gleicher
Ansätze erfasst werden. Allzu oft sind Kontinuitäten auf derartige Formeln reduziert worden. Effekt dieses engen Verständnisses ist, dass aktuelle Forschungen,
wenn sie nicht auf klassische typologische Modelle rekurrieren, als wertneutrale,
nicht- bzw. gar antirassistische Unternehmungen dargestellt werden können.
Statt ausschließlich auf die Weiterführung der NS-Ideologie zu fokussieren,
ist von einem prozessfokussierenden Verständnis von Kontinuierungen als partieller ReProduktion auszugehen, in denen Persistenzen und Veränderungen verwoben sind. Im Weiteren geht es somit um eine analytische Klärung der ReProduktion rassifzierter Differenzkonzepte in unterschiedlichen Forschungsbereichen
sowie um sich verändernde Objekte der Differenzbestimmung.
Weiterführung typologischer Rassekonzepte nach 1945
Schon aus den Ausführungen zu den UNESCO-Statements wurde deutlich, dass
es nach dem zweiten Weltkrieg keinesfalls zu einem Ende biowissenschalicher
Rasseforschung kam. Zwar wandten sich die an den Erklärungen beteiligten Biowissenschaftler gegen klassische typologische Rassekonzeptionen und damit einhergehende Vorstellungen von unterschiedlichen geistigen Entwicklungsmöglichkeiten der Rassen sowie gegen Wertungen und Hierarchisierungen und
96 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
vermeintlich neaative Auswirkunaen von »Rassenmischuna«. Rassische Einteilunaen von Menschen lehnten sie aber zunächst nicht prinzipiell ab. Freilich hatten
einiae sozialwissenschalich und politisch argumentierende Kritikerˍinnen den
Rassebegriff und die rassische Unterteilung der Menschheit grundlegend infrage
gestellt, die meisten biowissenschaftlichen Kritiker hielten aber trotz ihrer Ablehnung einiger Aspekte der überkommenen Rassemodelle weiterhin sowohl am
Begriff als auch an kategorialen Aufteilungen der Menschheit in Rassen fest. Viele
der Kritiker forschten auch unter dem Paradigma populationsgenetischer Ansätze
weiterhin zu rassischen Differenzen. Statt einer Beendigung der Rasseforschung
bewirkte die Kritik an den alten Modellen in Verbindung mit dem neuen populationsgenetischen Forschungsansatz und neuen technischen Mitteln vielmehr eine
Dynamisierung neuer Forschungen zu den vermeintlich dem Körper innenliegenden Wahrheiten über physische Differenzen zwischen menschlichen Gruppen. 31
Kontinuierungen fnden aber nicht nur auf der Ebene der Weiterführung des
Rassebegriffs statt, sondern lassen sich darüber hinaus auf verschiedenen Ebenen –
im personellen, institutionellen, konzeptuellen Bereich sowie in den Forschungstätigkeiten und dem Einfluss auf die Scientific Community – nachweisen. Die personellen Kontinuitäten werden schon anhand der Wiederanstellungen der Rasseforscherˍinnen im Gebiet der späteren Bundesrepublik 32 deutlich. Allerdings
existiert bisher keine umfassende historische Aufarbeitung der personellen und
institutionellen Kontinuitäten der NS-Rasseforschung. Ein Blick auf die Biographien der bekanntesten Rasseforscherˍinnen im »Dritten Reich« macht deutlich, dass trotz der mit dem Ende des Nationalsozialismus möglich gewordenen
Entlassung von NS-Täterˍinnen aus den deutschen Universitäten nahezu alle in den
er und er Jahren als Professoren oder wissenschaftliche Assistentˍinnen tätigen Rasseforscherˍinnen – wenn sie nicht vor Kriegsende starben (Alfred Ploetz)
oder emeritierten (Eugen Fischer 33, Otto Reche) – nach wieder eine wissenschaftliche Anstellung erhielten. Selbst die berühmtesten Rasseforscher blieben
entweder in ihren Anstellungen oder wurden nach kurzer Zeit neu berufen. So
erhielt etwa Fritz Lenz, Mitverfasser des Standardwerks »Menschliche Erblich31 Ausführlicher werden die hier angesprochenen Entwicklungen im Kapitel »Genetifzierung« erörtert.
32 Zum Verbleib von bzw. zum Umgang mit Rasseforscherˍinnen und Eugenikerˍinnen in der
sowjetischen Besatzungszone und der DDR besteht eine erhebliche Forschungslücke. Die
bisher weitestreichende Untersuchung von Uwe Hoßfeld stellt lediglich exemplarische Weiterbeschäigungen vor und belässt es ansonsten bei dem Allgemeinplatz, »daß die Mehrheit
der in der nationalsozialistischen Zeit tätigen und belasteten Anthropologen in der BRD
lebte« und »wieder eine akademische Position […] bekam« (: ).
33 Der Rassenhygieniker Fischer kam auch in der Bundesrepublik zu Würden, indem er z. B.
zum Ehrenmitglied der »Deutschen Gesellscha für Anthropologie« und zum Ehrenmitglied der »Deutschen Gesellscha für Anatomie« ernannt wurde.
GESCHICHTE RASSIFIZIERENDER VERHÄLTNISSE | 97
keitslehre und Rassenhyaiene«, Inhaber des ersten Lehrstuhls für Rassenhyaiene
und Beteiliater an der Erstelluna der Euthanasieaesetze im Nationalsozialismus,
ein Extraordinariat für Menschliche Erblehre in Göttingen. Otmar Freiherr
von Verschuer, vor Direktor des »Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« sowie Gutachter für rassenhygienische
Zwangssterilisationen und Profteur der Versuche seines Assistenten Josef Mengele
in Auschwitz, wurde erster Lehrstuhlinhaber für Humangenetik an der Universität Münster. Hans Weinert, Apologet der Rassenhygiene und Leiter des »Instituts
für menschliche Erblehre und Eugenik« in Kiel, blieb nach Lehrstuhlinhaber
am umbenannten »Anthropologischen Institut«. Die Vertreterˍinnen der »Breslauer Schule«, die Ost-Rasseforscherˍinnen Egon Freiherr von Eickstedt und Ilse
Schwidetzky, verloren mit dem Heranrücken der Roten Armee zwar ihre Arbeitsplätze, gingen jedoch beide nach einer kurzen Anstellung in Leipzig an
das Anthropologische Institut in Mainz.
Die einzigen, die nicht zeitnah weiterbeschäftigt wurden, blieben Josef Mengele,
der Rassenanthropologe und -Psychologe Friedrich Keiter und der Rasseforscher
Hans F. K. Günther. Mengele, KZ-Arzt und Assistent von Verschuer, wurde
nicht wie üblich durch einen sogenannten Persilschein (vgl. Sachse ) seiner
Kollegˍinnen »entnazifziert«, sondern foh über die »Rattenlinie« nach Südamerika. 34 »Rassen-Günther«, von den Nazis auf eine Professur für Rassenkunde, Völkerbiologie und Ländliche Soziologie an der Universität Berlin berufen,
wurde zwar nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem »Entnazifzierungsverfahren«
als »Mitläufer« eingestu, von der Universität Freiburg aber schließlich in
den vorzeitigen Ruhestand versetzt, den er als Autor weiterer Bände zu »Vererbung
und Umwelt« sowie zum »Begabungsschwund in Europa« beging. Keiter, Mitarbeiter des Rassenbiologischen Instituts in Hamburg, hatte Ende der er Jahre
aufgrund seiner Abstammung von einem jüdischen Großvater Probleme mit den
Nazis bekommen. Diese behob er mit einer Erklärung der Großmutter, in der sie
versicherte, dass statt des jüdischen Großvaters ein »Deutschblütiger« Vater ihres
Kindes gewesen sei, und mittels eines erbbiologischen Gutachtens des »KWI für
Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik«. Nicht sofort fand Keiter
nach eine Anstellung an einer Universität und arbeitete deshalb zunächst als
anthropologischer Gutachter in Vaterschasgutachten und für Gerichte. Erst
verlieh ihm die Universität Würzburg den Titel »außerplanmäßiger Professor«, in
der Folge hielt er dort und später in Hamburg anthropologische Vorlesungen und
publizierte weiter zu rassenanthropologischen emen (Klee : ).
34 Mengele lebte weitgehend unbehelligt in Südamerika und verstarb in Brasilien. Seine
Knochen werden in den er Jahren Gegenstand molekulargenetischer Untersuchungen
zur Identifzierung der Person. Siehe hierzu im Kapitel »Rasse in der Post/Genomik«.
98 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Die Weiterbeschäigung der deutschen Akteurˍinnen der Rassenanthropologie
und Eugenik macht deutlich, dass es nach keinesfalls zu einem deutlichen
Bruch kam. Entsprechend kam es auch nicht zu einer klaren Distanzierung von
Rassekonzepten. In den Debatten der deutschen Wissenschalerˍinnen in den
er bis er Jahren fnden sich kaum Auseinandersetzungen mit der eigenen
Täterschaft im Nationalsozialismus, mit den erb- und rassenbiologische Gutachten,
der Mitarbeit bei Zwangsterilisationen oder allgemein mit der Verwicklung von
NS-Politik und anthropologischen Forschungen. Stattdessen werden in den Publikationen fast ausschließlich Abwehrstrategien in Form der Missbrauchsthese,
der angeblichen Unterdrückung der Genetik durch die Nazi-Politik und einer Täter-Opfer-Verkehrung bemüht. In Selbstdarstellungen und historischen Erörterungen der damaligen Anthropologie, Genetik und Humanbiologie fnden sich
in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus die immer gleichen Mythen. 35 Entsprechend erfolgte im Nachkriegsdeutschland zunächst statt einer Auseinandersetzung eher eine Verhärtung der Positionen und damit eine weitgehende
Beibehaltung der bisherigen Modelle. Zwar kam es international zu einer Isolierung der deutscher Rasseforschung, im deutschsprachigen Raum wurden aber bis
in die er Jahre eine Fülle von Texten und Bücher zu »Menschenrassen« veröffentlicht sowie weitere Forschungen angestrengt.
Vor dem Hintergrund der Sichtung von Persistenzen, Kontinuitäten und Brüchen werden diese Publikationen und Forschungsaktivitäten nun im Folgenden
mit Blick auf internationale Entwicklungen, Prozesse und Modernisierungslinien
analysiert und hierfür zunächst die Entwicklung der Genetifzierung von Rasseforschung in den Blick genommen.
35 Die gängigen Mythen sind: . die Missbrauchsthese: Die eigene Disziplin sei von den Nationalsozialisten instrumentalisiert worden, mithin war man mit der eigenen Arbeit selbst Opfer
des NS. . Unterdrückungsthese: Während des NS sei es zu keiner Weiterentwicklung der
eigenen Disziplin gekommen, die Forschungsergebnisse waren lediglich pseudowissenschalich. . Schwarze-Schafe-ese: Nur einige aus der Disziplin hätten mit den Nazis kollaboriert und konnten nach aus der Wissenscha entfernt oder für die »richtige«
Wissenscha wiedergewonnen werden. . Widerstandsthese: In den nachträglichen Erzählungen werden diverse Nationalsozialisten und Rasseapologeten in einer Art »Selbstmutation«
(Kühl : ) zu Widerständlern gegen den NS.
Es Fehlen Kapitel 3 (Genetifizierung) und 4 (Rasse in der PostGenomik)
Kapitel Fünf
Analytik rassifizierender
Gesellschaften
Veralichen mit der Revolution in der Physik birat
die neue Genetik vermutlich das arößere Potential zur Umformuna von Gesellscha und Leben,
da sie auf der Mikroebene vermittels einer Reihe
biopolitischer Praktiken und Diskurse in das gesamte soziale Gefüge eingebunden sein wird.
Paul Rabinow , S.
Mit der Frage nach dem Wie und Warum der Aktualität von Rasse in den modernen Lebenswissenschaen konnten in den bisherigen Analysen vielfältige Kontinuitäten, Reformulierungen sowie Veränderungen rassifzierender Konzepte in
der Ära der Genetik aufgezeigt werden. Deutlich wurde dabei, dass seit Beginn
der Molekulargenetik zwar massive Absagen an biologische Rassekonzepte formuliert wurden, diese aber parallel zu einer Ausweitung und Erneuerung rassifzierender Forschungen in den Lebenswissenschaen vonstattengingen. Ausgangspunkt der Untersuchung war eine gesellschastheoretische Grundlegung von
Rassifzierungen in den Lebenswissenschaen, um mit dem Blick auf wissenschaliche Wissensproduktion zu menschlicher Differenz über die Eigenlogiken
der Lebenswissenschaen hinauszukommen. Mit einer solchen Grundlegung ist
es möglich mehr als die Forschungserzählungen, vielmehr auch die Funktionalitäten rassifzierender Ordnungsmodelle in einer stratifzierten Gesellschaft herauszuarbeiten. In Weiterführung der in den vorherigen Kapiteln analysierten
Befunde wird nun erneut auf gesellschaliche Verhältnisse fokussiert, nun aber
um die Analyseergebnisse vor diesem Hintergrund zu bilanzieren. Diente zur
238 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Untersuchuna der Aktualität lebenswissenschalicher Rassekonzepte vor allem
die Frage, was diese über die sozialen Verhältnisse aussagen, wird es für die folgende Bilanz notwendig, die Perspektive auf die Sozial- und Gesellschastheorie
und die Interventionspotentiale der Sozialwissenschaen zurück zu wenden. Zu
fragen ist damit auch nach einer Wissenschaft, die Ungleichheitsverhältnisse erfassen kann, sich aber auch als gestaltender Akteur in diesen Verhältnissen begrei.
Kontinuierungen kategorialer Differenz
Im Oktober führte der Molekularbiologe James Watson in einem Interview
mit dem Sunday Times Magazin zu Intelligenzunterschieden zwischen Schwarzen
und Weißen aus, dass es »keinen guten Grund gebe anzunehmen, dass sich die
intellektuellen Fähigkeiten von geografsch getrennten Völkern gleich entwickelt
hätten« (Hunt-Grubbe ). Solche Äußerungen sind keinesfalls neu. Sie erlangten jedoch weite Aufmerksamkeit, weil sie von einem der weltweit bekanntesten
Genetikerˍinnen, eben jenem Watson, vorgebracht wurden, der zusammen
mit dem Biochemiker Francis Crick das Doppelhelix-Strukturmodell der Desoxyribonukleinsäure vorstellte, das heute populär als Beginn der modernen Molekulargenetik angesehen wird. Der damals jährige Watson blieb auch in den
folgenden Jahrzehnten Shootingstar der Molekularbiologie: Er erhielt für seine
Arbeiten zur DNA (zusammen mit zwei Kollegen) den Nobelpreis für Medizin,
wurde Professor in Harvard und Direktor einer der wichtigsten US-amerikanischen lebenswissenschaftlichen Forschungsinstitutionen, dem Cold Spring Harbor
Laboratory. Schließlich beteiligte er sich an der Gründung des Humangenomprojekts und wurde erster Direktor der Dachorganisation des Projekts. Für
seine wissenschaliche Arbeit erhielt er viele Ehrungen (darunter die »Freiheitsmedaille«, die höchste Auszeichnung der Vereinigten Staaten, sowie die Ehrenritterscha von Großbritannien).
Die Äußerungen des Molekularbiologen erschienen zu einer Zeit, als sich im
Wechsel vom . zum . Jahrhundert die Kritik an biowissenschalichen Rassekonzepten auch innerhalb der Genetik auf ihrem Höhepunkt befand. Entsprechend ist zu fragen, wie einer der bekanntesten Genetiker angesichts der
umfangreichen innerbiologischen Kritiken an rassifzierenden Einteilungen zu
derartigen Aussagen gelangen konnte. Eine zunächst naheliegende Interpretation
wäre, dass er einer jener Ewiggestrigen oder rechten Populisten sein könnte, die
von der Realität grundlegender Differenzen zwischen menschlichen Gruppen
überzeugt sind. Tatsächlich lassen sich dafür auch Hinweise fnden, da seine Behauptungen keinesfalls ein Fehltritt einer sonst integren Persönlichkeit sind.
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 239
Schon vorher fel Watson des Öeren mit diskriminierenden Äußerungen auf,
so etwa mit Spekulationen zur Verknüpfung von dunkler Hautfarbe mit einer
stärkeren Libido, mit Ausführungen zum Abtreibungsrecht bei mutmaßlich homosexuellen Embryos und zu eugenischen Argumentationen bezüglich Menschen mit
geistiger Behinderung oder Demenz. Einzureihen wäre Watson auch zu anderen
Rechtsaußen-Populist_innen wie die beiden Harvard-Professoren, der Psychologe
Richard J. Herrnstein und der Politikwissenschaler Charles A. Murray, die
den Band »The Bell Curve« veröffentlichten, in welchem sie davon ausgehen,
dass vererbte Intelligenzunterschiede zwischen den Rassen bestünden. Ähnliches
führen auch die Psychologen Arthur R. Jensen und J. Philippe Rushton in
mehreren Publikationen aus, in denen sie Unterschiede in »Intelligenz, Gehirngewicht, Penisgröße, Geschlechtsreife, Häufgkeit des Geschlechtsverkehrs, Aggressivität, Geselligkeit und Gesetzestreue, AIDS-Raten« etc. entlang rassischen Zuordnungen untersuchen und die Ergebnisse mit einem Vererbungsansatz erklären
(Rushton ; Jensen/Rushton ). Auch in Deutschland fnden sich ähnliche
Akteure, wie etwa der Genetiker und Historiker Volkmar Weiss, der in seinen
Büchern »Die IQ-Falle« () sowie » Die Intelligenz und ihre Feinde« ()
über vererbte »Intelligenzunterschiede zwischen den Völkern« schreibt, oder der
Bildungsforscher und Psychologe Heiner Rindermann, der von genetisch
bedingter unterschiedlicher Intelligenz von Rassen sprach. 1 Doch was wäre mit
der Einordnung von Watson in diese Reihe von wissenschaftlichen Rassifizierungen
und Eigenschaszuordnungen von Rassen geklärt? Eher weniger – vor allem kann
dadurch nicht erklärt werden, wie er zu solchen Aussagen kommt, wie er aktuelle
genetische Forschungen mit rassistischen Behauptungen verbindet und warum er
glaubt, sich damit im Bereich des ›Wahren‹ zu argumentieren.
Ebensolche Fragen nach den Hintergründen der veröffentlichten Aussagen
nachgehend, bat Henry Louis Gates Jr. – jener am Anfang dieser Studie erwähnte
Professor für Englische Literatur – Watson um ein Interview. Der Antirassist
Gates befragte diesen zu seinen Ansichten über Libido und Hautfarbe, über »jüdische Intelligenz«, Gene und Basketball sowie zu dem von ihm durchgeführten
1
Die Publikationen, die Intelligenzunterschiede zwischen Rassen behaupten, sind in den USA
sehr schnell umfassend kritisiert worden (siehe etwa Fraser ; Marks ), und auch
Watsons Aussagen führten letztlich zu seiner Suspendierung von dem Amt am Cold Spring
Harbor Laboratory. Im deutschsprachigen Raum werden klassisch rassifzierende Texte wie
die von Weiss in der wissenschalichen Community nur wenig, dafür aber umfangreich im
Spektrum der Neuen Rechten und des Populismus aufgegriffen (siehe etwa Sarrazin ).
Die Äußerungen Rindermanns zu Rasse und Intelligenz waren zwar auch kurzzeitig Gegenstand der Kritik, allerdings stellten Fachkollegen und die Deutsche Gesellscha für Psychologie seine Bezüge zu Arbeiten von Weiss, Rushton, Jensen sowie Murray/Herrnsteins als
wissenschalich einwandfrei dar – eine Positionierung, die von US-amerikanischen Fachgesellschaen kaum in ähnlicher Form denkbar wäre.
240 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
aenetischen Herkunstest (Gates b). Deutlich wird in dem Interview, dass
sich Watson zwar von Rechtsradikalen, die seine Äußerungen begeistert aufgriffen, abzugrenzen versucht, gleichzeitig aber Intelligenzunterschiede oder
Differenzen in sportlichen Erfolgen aufgrund genetischer Unterschiede zwischen
rassischen Gruppen für möglich erachtet. Gates resümiert in einem Bericht zu
dem Gespräch: »Ich denke nicht, dass James Watson ein Rassist ist, aber ich
denke, dass er ein Rassifzierer [racialist] ist« (Gates a).
Hier soll die Frage, ob Watson ein Rassist ist oder nicht, nicht weiter verfolgt
werden. Stattdessen dient Watson hier als Ausgangspunkt für die erneute Frage
nach dem Warum von Rasse in der Ära der Genetik. Über den Nachweis hinaus,
dass Watson typische Behauptungen des Alltagsrassismus und der Race Psychology
wiederholt, wird es in dieser Perspektive wichtiger, seine Äußerungen mit aktueller
Differenzforschung und die Bedeutung gesellschaftlicher Gruppenzuordnungen in
Beziehungen zu setzen. Keinesfalls werden seine Aussagen dadurch weniger problematisch. Jedoch lassen sie sich durch die Verbindung zur aktuellen Genetik und
damit zu der wohl modernsten und innovativsten Wissenschaftsdisziplin kaum
mehr als anachronistisch, als einem überholten Verständnis folgend, bezeichnen.
Watson kennt mindestens Teile der aktuellen Differenzforschungen. So greift
er etwa populationsgenetische Aussagen auf, mit denen menschliche Gruppen auf
der Ebene von DNA-Markern statistisch unterschieden werden, und verbindet
diese mit zwei weiteren Ebenen von Ungleichheit: erstens mit Ergebnissen der
Epidemiologie und differenziellen Psychologie und zweitens mit Stereotypen aus
dem Fundus rassistischer Vorstellungen über die ›Natur der Unterschiede‹. Eine
solche Verbindung scheint einem der bekanntesten Genetikerˍinnen offenbar
einleuchtend, obwohl nach mehr als hundert Jahren Forschung zu psychischen
Differenzen der Rassen keine Ergebnisse vorliegen, die Unterschiede in Intelligenz,
Libido etc. entlang rassifzierender Teilungen aufzeigen könnten.
Watson greift mit seinen Behauptungen auf ein seit den Anfängen der Rasseforschung bestehendes Narrativ von Unterschieden in der Vernunbegabung
menschlicher Gruppen zurück und wähnt sich wohl durch diesen Traditionsbezug
in einem Wissenschasdiskurs. Denn mit der Aulärung geriet die Ratio als das
höchste menschliche Gut zum wichtigsten Merkmal kategorialer Unterscheidungen. An die Vernunft wurden die Zugehörigkeit zum Menschen und der Besitz von
Rechten geknüpft. Der Wahnsinn sowie Aspekte von Sexualität, Weiblichkeit wurden demgegenüber in jener Zeit als Abgrenzungseigenschaen, als Antipoden
zur Vernunft etabliert. Solche Entgegensetzungen dienten seit der Verwissenschaftlichung rassistischer Teilungen einer Vielzahl von Forscherˍinnen zunächst der
physischen Anthropologie, später der Psychiatrie, Intelligenzforschung und
schließlich der Genetik zur Begründung eindeutiger Differenz. Neben der Intelli-
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 241
aenz rückte eine Fülle weiterer Marker vermeintlich entscheidender Unterschiede
in den Untersuchunasfokus der Lebenswissenschaen. Trotz des stetigen Scheiterns der Suche nach einer schlussendlichen biologischen Differenzsignatur, wurde
sie jedoch auch mit der post/genomischen Differenzforschung nicht verabschiedet.
Stattdessen hoffen die Forscherˍinnen die bedeutungsvollen Unterschiede der
Ordnungsdimension Rasse in den kleinsten Einheiten im Körper, in den Molekülen
der DNA, aufzufnden. Das Scheitern der vielfältigen Bemühungen zur Bestimmung biologischer Differenz bewirkt somit kein Scheitern des Konzepts einer kategorialen Ordnung der Menschheit. Da den Forschungen der Genetik bzw.
Genomik ein hoher Faktizitätsstatus zugesprochen wird, erzeugen die Versuche,
diese in den genetischen Einheiten aufzufnden für rassifzierende Differenzmodelle sogar einen Aurieb. Dabei wirken die Differenzuntersuchungen der Post/
Genomik nicht nur kontinuierend auf die Konzeption rassifzierender Differenz,
sondern gehen mit einer Verschiebung der Bedeutung von Differenz einher. Galten
die Untersuchungsmerkmale der physischen Anthropologie noch als Marker einer
eindeutigen Differenz in der Vernun, erhalten die Differenzen in der Ära der
Genetik immer mehr einen eigenen Stellenwert als Anzeiger des Unterschieds.
Zwar verschwinden die Negativ-Attribuierungen von Unterschieden keinesfalls,
wie u. a. Watsons Äußerungen zeigen, doch die molekularen Unterschiede erhalten
auch eine Reihe positivierbarer Zuweisungen als Zeichen spezifscher Herkunft,
Verwandtschaft und Geschichte. Differenz bedeutet in Zeiten einer weitreichenden
Aufwertung und In-Wert-Setzung in Form von Diversity Management und
»Mainstream der Minderheiten« (Holert/Terkessidis ) weniger eine negative
Attribuierung, sondern kann als ambivalente Ressource auch die Grundlage für
inklusive und affirmative Politiken bilden. Selbst Einzelnukleotid-Polymorphismen in nichtcodierenden DNA-Bereichen wird dabei die Fähigkeit zugesprochen,
Zeichen der Unterschiedlichkeit von Menschen entlang kategorialer Zuordnungen zu sein. In den Vordergrund tritt damit die Rolle lebenswissenschalicher
Differenzierungen in Relation zu gesellschaftlichen Teilungsdimensionen.
Watsons Äußerungen sind aus dieser Perspektive weniger als Auslassungen
eines am Rande des Diskurses stehenden Ewiggestrigen zu verstehen. Vielmehr
lassen sie sich als Sinnbild für zweierlei deuten: Erstens dafür, welche Relevanz
soziale Teilungen auch in den Bereichen der Lebenswissenschaen, in den Forschungen zu den kleinsten Einheiten des Lebens, in Nukleinbasen, Mikro- und
Minisatelliten-DNA erzeugen können. Zweitens zeigen die Aussagen Watsons
auch auf, welche beschränkte Wirkmacht lebenswissenschaliche Ergebnisse, wie
die von der genetischen Ähnlichkeit aller Menschen oder der Bedeutung von Variabilität innerhalb aller Gruppen innerhalb der Biodisziplinen, zu erreichen vermögen. Aussagen aus den Forschungen der aktuellen Leitwissenscha können
242 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
somit noch immer leicht mit rassistischen Vorstellunaen verknüp werden und
die Lebenswissenschaen werden gern als Instanz herangezogen um natürliche
Differenzen zwischen den Rassen zu belegen. Für Watson wird es dadurch möglich, an den in der Genetik weiterbestehenden Fragen nach der Essenz rassischer
Unterschiede anzusetzen und diese mit jener Tradition rassistischer Narrative zu
verbinden, die von Differenzen in grundlegenden Eigenschaen des Menschen
ausgehen. Als berühmter Genetiker und Repräsentant einer der weltweit führenden lebenswissenschaftlichen Forschungsinstitutionen scheint zumindest ihm
kein Problem in der Verknüpfung dieser Diskursstränge zu bestehen.
Moderne gesellschaftliche Teilungen und moderne Genetik
Die Untersuchung von Rasse in den Lebenswissenschaen erfolgte hier vor allem
anhand von Fragen, mit denen die Aktualität rassifzierter Differenzforschung,
der Inhalt und die Gründe zeitgenössischer biologischer Rassekonzeptionen erkundet wurden. Mit zwei historisierenden Perspektiven – zum einen auf die Geschichte
von Rasse und deren Verwissenschalichung und zum anderen auf die Genetifzierung von Rasse im Verlauf des . Jahrhunderts – konnte sowohl ein ständiges
Scheitern biologischer Modelle zur Einteilung von Menschen als auch eine unablässige, bis in die heutige Zeit andauernde Erneuerung rassifzierender und rassifzierter Konzepte herausgearbeitet werden. Deutlich geworden ist, dass wissenschaftliche Rassekonzepte im Laufe von mehr als zwei Jahrhunderten einem
immensen Bedeutungswandel unterlagen und dass mit neuen technischen Apparaturen, wechselnden Forschungsparadigmen und unterschiedlichen Differenzsignaturen jeweils ebenso neue, angepasste Modelle entstanden. Zur Erfassung
der Wirkverhältnisse und Bedingtheiten biowissenschalicher Differenzkonzeptionen in einem weiteren Blick auf die zugrundeliegenden gesellschalichen Dynamiken ist in den vorhergehenden Kapiteln Rasse in einem Gefüge von Wissenscha und Gesellscha als ineinander wirkender Sphären verortet worden.
Lebenswissenschaliche Forschung ist mithin als gesellschalich eingebundene
soziale Handlung zu verstehen, die mit vielerlei strukturellen Vorgaben, Umgrenzungen und Anrufungen verwoben ist. In diesen Verwobenheiten entstehen aus
den modernen Teilungspraktiken heraus immer wieder auch Anforderungen an
die Biowissenschaften. Originär soziale, kulturelle bzw. politischen Fragestellungen
wirken so stetig auf lebenswissenschaliche Untersuchungen ein, werden dort in
Forschungsprojekte und entsprechend in biologischen Antworten übersetzt. Jedoch
darf dieses Gefüge nicht als Ableitungsverhältnis gesellschalicher Fragen missverstanden werden. Stand hier zumeist die Bedeutung lebenswissenschalicher
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 243
Forschuna in ihrer Funktion zur Leaitimieruna von Unaleichheitsverhältnissen
im Vorderarund, sind biowissenschaftliche Arbeiten allerdinas keinesfalls als sozial
determiniert zu beareifen.
In der Rekonstruktion der Verwissenschalichung von Rassevorstellungen
wurde ersichtlich, wie die Entstehung und der Bedeutungszuwachs der Teilungsdimension Rasse mit der Entstehung der europäischen Moderne und ihren Gleichheits- und Freiheitsversprechen zusammen hängen und dass trotz der Gleichheitsgebote sowie spezifscher individueller und ökonomischer Liberalität heutige
Gesellschaen von Stratifzierungen entlang einiger omnipräsenter Kategorisierungen geprägt sind. Sichtbar wurde auch, dass in der bestehenden Rechtfertigungsordnung lebenswissenschaliche Aussagen eine zentrale Rolle bei der
Erklärung der sozialen Unterschiede entlang dieser Kategorien einnehmen. So
werden sowohl für die Trias der strukturell gewichtigsten sozialen Ungleichheitsdimensionen lasse, Geschlecht, Rasse als auch für weitere Bereiche, etwa Sexualität
oder Behinderung, fortwährend essentialisierende Aussagen produziert, die jenen
Kategorien einerseits eine Natürlichkeit der Unterschiede zusprechen, andererseits aber den negativen Auswirkungen eine Vermischung von Schicksalshaftigkeit
und Eigenverantwortlichkeit zuschieben. Die soziale Gemachtheit und zuweisenden bzw. strukturierenden Aspekte dieser Ungleichheitsdimensionen werden in
beiden Aussagevarianten verdeckt, wodurch Interventionen in die Verhältnisse
gesellschalicher Teilung entweder als kaum möglich oder als lediglich auf individueller Ebene sinnvoll erachtet werden.
Essentialisierende, auf die Biologie rekurrierende Aussagen wurden von zwei
Einwicklungen unterstützt: Zum einen breitete sich ab den er Jahren mit der
Soziobiologie in einer Reihe von Publikationen die biologische Erklärbarkeit aller
möglichen kulturellen und sozialen Phänomene durch genetische und neuronale
(Prä)Dispositionen aus. Lebenswissenschaliche Ansätze griffen damit weit auf
das Gebiet sozialwissenschaftlicher Deutungsansprüche über.2 Zum anderen kamen
mit der Molekulargenetik in den späten er Jahren und den zunächst vorherrschenden gendeterministischen Ansätzen eine Fülle von Narrativen über die
Steuerung aller möglicher menschlicher Eigenheiten auf. Mit Untersuchungen an
Tieren, Beobachtungen an Primaten und mittels Methoden der Zwillingsforschung schien sich fast jedes Verhalten als wesentlich oder ausschließlich biologisch
geprägt belegen zu lassen. Zwar haben sich die Visionen der Soziobiologie und
des Gendeterminismus der Molekulargenetik letztlich nicht erfüllt, aber Versuche,
soziale Verhältnisse aus biologischen Einheiten herauslesen zu können, gehören
2
Siehe etwa Wilson ; Dawkins .
244 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
dennoch weiterhin in vielfältiaen Variationen zum Grundrepertoire etwa aenetischer oder neurobioloaischer Erzählunaen. 3
Die letzten Jahrzehnte aenetischer Forschuna sind jedoch durch enorme
Transformationen aekennzeichnet. In diesen mussten lebenswissenschaliche
Narrative Einbußen in Hinblick auf die Reichweite ihrer Erklärungsansätze hinnehmen, und das ›Biologische‹ wurde selber Gegenstand einer weitreichenden
Kulturalisierung. Statt einer einseitigen Ausdehnung biologischer Erklärungsansätze sind vielmehr diverse, auch gegensätzliche Verschiebungen zu verzeichnen.
Neben einem »biotechnologischen Angriff auf den Gesellschasbegriff« (Bude
: ), der den »Lebensbegriff« als Ersatz für den des Gesellschaftlichen einzufügen vermochte, ist das Verständnis von Natur ebenfalls bedeutend in Richtung
eines von Menschen gestalteten und in artifziellen Kontexten wie Laboren untersuchten Hybridobjekts verschoben worden. Der Begriff des Lebens changiert
nunmehr zumeist nicht mehr zwischen Natur und Kultur, sondern zwischen zwei
Ansätzen, auf deren einer Seite klassische Kausalitätsmodelle stehen, in denen
der Natur die Grund- und Lenkungsfunktion zugesprochen wird, und auf deren
anderer Seite neue Rationalitäten entstehen, die sich als post-dualistische Naturkonzepte zusammenfassen lassen, mit denen eine Überwindung soziozentrischer und biodeterministischer Vorstellungen versucht wird (vgl. Lemke ).
Unter den neuen Bedingungen der »Biosozialität« wird das Leben nicht mehr
wie von der Soziobiologie oder den deterministischen Genmodellen als Ableitung aus der Natur konzipiert, sondern die Natur selbst als wesentlich kulturell
bestimmt. Das Leben wird zu etwas, das mit Hilfe von Technik erkannt und
neu hergestellt wird und schließlich in dieser Konzeption selbst als biosozial
verstanden wird (Rabinow : ).
Für die lebenswissenschaliche Disziplin der Genetik zeitigten all diese Entwicklungen dynamisierende Effekte. Im Laufe der letzten etwas mehr als Jahre
erlangte die Vererbung eine enorme Bedeutungserweiterung, mit der sich die
Genetik von der Eigenbezeichnung einer zunächst exotischen Disziplin schnell
zu einem schließlich in aller Munde befndlichen Terminus entwickelte. In der
Ausbreitung genetischer Erklärungsansätze im Rahmen einer allgemeinen Genetifzierung des Lebens entstand dabei eine Fülle von Ansätzen zur Bestimmung
des Lebens. Parallel zum Aufstieg der Genetik zur Querschnittsdisziplin der Biowissenschaften wurden auch Rassemodelle einer Genetifzierung unterzogen.
Rassekonzeptionen waren für diese Verbindung in gewisser Weise vorbestimmt, da
die Rassekunde von jeher von einer generational fortbestehenden kategorialen
Differenz ausging. Von Anbeginn an und lange bevor es überhaupt eine biowis3
Siehe die Sammlung von »Gen für…« des Gen-ethischen Netzwerks: www.gen-ethischesnetzwerk.de/gen-fuer, Stand ...
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 245
senschaftliche Vererbunasforschuna aab, war Rasse mit der Weiteraabe von Eiaenschaen, mit der »Unreinheit des Blutes« (limpieza de sangre), mit einer »unausbleiblichen erblichen Eigenthümlichkeit« (Kant : ) verbunden. Die Entstehung der Genetik, die technischen Fortschritte zur Abbildung der DNA und
die Zunahme der diskursiven Wirkmacht der Gene dynamisierte auch die biowissenschaliche Rasseforschung. Doch trotz weitgehender Modifkationen in
den lebenswissenschalichen Konzepten, wie den Erweiterungen um systembiologische und dynamische Modelle, blieben Forschungen an sozial fundierten
Phänomene, die mit genetischen Markern korreliert werden, nach wie vor bestehen. Insbesondere soziale Ungleichheitsdimensionen bieten immer wieder Anlass
für lebenswissenschaliche Untersuchungen, sodass biologische Darstellungen
weiterhin eine besondere Rolle in der bestehenden Aussageordnung einnehmen
und über den wissenschalichen Rahmen hinausgehende Wirkungen erzeugen.
Für einige klassische Differenzierungen wie etwa Religion, Alter und Sprache fnden
sich zwar nur gelegentlich genetische Ansätze, Verknüpfungen mit Vererbungsmodellen bestehen dennoch, wenn Sprachgrenzen mit reproduktiven Grenzen
gleichgesetzt werden oder über Gene für Religiosität spekuliert wird. 4 Auch zu
genetischen Differenzen zwischen Klassen gibt es aktuell eher selten Aussagen
und Forschungen. Diese fnden jedoch zusammenhängend mit anderen Attributen (wie IQ, Aggressivität, Fettleibigkeit oder Promiskuität) als Zuschreibungen
statt, die mit Klasse, Einkommen oder sozialer Schicht konnotiert sind. 5 Auch für
die Ungleichheitsdimension Rasse/Ethnizität bestehen nach wie vor zahlreiche sozialtheoretische, sozialmedizinische, soziologische und kulturelle Erklärungen,
doch mit dem »schal gewordenen Gesellschaftsbegriff« (Bude : ) lässt sich
in der Ära der Genomik immer weniger wirkmächtig agieren. Die Genetifzierung
4
5
Siehe etwa »Das Gottes-Gen« von Dean Hamer (). Die Konzeption von Sprachgrenzen
als rassische bzw. genetische Gruppengrenzen findet sich schon in den typologischen Vorstellungen der physischen Anthropologie im . Jahrhundert, in den Blutgruppenuntersuchungen
der er bis er Jahre, ist darüber hinaus Grundlage der populationsgenetischen Analysen von Cavalli-Sforza et al. (siehe z. B. Cavalli-Sforza/Bodmer ) und spielt aktuell in
forensischen Datenbanken eine Rolle.
Der Glaube an die Vererbung der Klassen- bzw. Schichtposition war im . und zu Beginn des
. Jahrhunderts weit verbreitet (vgl. Gould ). Insbesondere in der Eugenik-Bewegung
wurden Armut und geringer gesellschaftlicher Status als »genetische Belastung«, als »Degeneration« und »schlechte Erbmerkmale« gewertet. Heute fnden sich gelegentlich Äußerungen
wie die des Psychologen Heiner Rindermann, in einem Interview im Deutschlandradio Kultur:
»Menschen mit bestimmter genetischer Ausstattung suchen sich eine andere Umwelt aus und
beeinflussen auch ihre Umwelt in einer bestimmten Form, wie es ihren Genen eher entspricht
und wie sie sich auch dann besser entwickeln können. Also, zum Beispiel Intelligentere gehen
eher länger in die Schule, auf Universitäten, und die weniger Intelligenten, die meiden eher
solche Umwelten.« (www.ifeas.uni-mainz.de/Presse/Interview+Rindermannˍ DRadioKultur
Dez.pdf, Stand ..)
246 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
von Rasse führte daaeaen unablässia zu neuen Bearbeitunaen der Fraae nach der
Differenz zwischen den menschlichen Gruppen. Jedoch entstanden in Folae der
Genetifzieruna nicht nur Erneuerunaen, sondern ebenso auch die Möalichkeit
umfanareicher innerbioloaischer Kritiken. Eraebnisse der Populations- und Molekularaenetik sowie des Humanaenomprojekts wurden etwa im Sinne einer viel
bedeutenderen aenetischen Gleichheit aller Menschen aelesen.
Erfolge der Kritik…
Im Laufe dieser Studie ist in verschiedenen Bereichen die Rolle der Kritik an bioloaischen Rassekonzeptionen hervoraehoben worden. Zunächst war diese bis zur
Wende zum . Jahrhundert vor allem im geistes- und sozialwissenschalichen
sowie politischen Kontext formuliert worden. Soziologen wie Friedrich Otto
Hertz (a u. b) oder Jean Finot () sowie der Anthropologe Franz Boas
(, ) sprachen den Rassetheorien ihrer Zeit die Wissenschalichkeit ab
und argumentierten vehement gegen die mit diesen eorien einhergehenden
Wertungen. 6 Mit der Entstehung der Populationsgenetik hinterfragten ab Mitte
des . Jahrhunderts auch immer mehr biowissenschaliche Akteurˍinnen die
Rassemodelle. Innerfachliche Kritiken waren bis dahin lediglich als methodische
Auseinandersetzungen geführt worden, etwa weil morphologische Merkmale
Probleme erzeugten, wenn sie von individuellen Einschätzungen abhingen und
damit den Objektivierungsmaßstäben wissenschalicher Forschung entgegenstanden. Die Farbe von Augen, Haaren und Haut, aber auch die Längen- und
Größenbestimmungen allerlei körperlicher Merkmale schienen methodisch einem
gewissen subjektiven Empfinden zu unterliegen und mithin nicht wissenschaftlich
eindeutig kategorisierbar zu sein. Von Beginn des . Jahrhunderts an kam hinzu,
dass die als so konstant erhoen Merkmale wie Knochen und Schädel als Untersuchungsgegenstände in Frage gestellt wurden, da diese in unterschiedlichen
Umwelten massiven Veränderungen unterlagen und somit kaum mehr als typische Rassemerkmale gelten konnten (Boas ). 7
6
7
Siehe hierzu die Ausführungen zu »Antirassismus« im Kapitel »Geschichte«.
Bevor die Gene als Vererbungseinheiten hegemonial wurden, galten den Rassenanthropologen
Knochen als manifeste Entitäten der Differenz, deren Charakteristika zudem intergenerational
weitergegeben würden. Im Vergleich mit anderen körperlichen Merkmalen schienen sie den
Forschern viel unabhängiger von kulturellen, Ernährungs- und anderen Umwelteinfüssen.
Hinzu kam, dass Knochen im Gegensatz zu vielen anderen Merkmalen gesammelt werden
konnten und sich auch durch Präparierungstechniken nicht entscheidend veränderten. Zudem
lag es auch nahe, Differenzen mit vergleichenden Schädelvermessungen zu beweisen, da das
Gehirn schon als Ort der Vernunft galt und der Nachweis eines vermeintlich kleineren Schädels
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 247
Da auch die aufwendia erhobenen Daten und die mit neuesten mathematischen
Methoden erstellten Matrizen und Indizes nicht die erhoen klaren Differenzen
zum Vorschein brachten, konnten sich zusammen mit den methodischen Problematisierunaen schließlich auch innerhalb der Biowissenschaen grundsätzliche
Kritiken entwickeln. Entsprechend kann das Verhältnis zwischen Rassekonzepten
und Kritiken nicht als unidirektional verstanden werden. So wie Kritiken nicht
lediglich von außen kommende Interventionen in die wissenschaliche Differenzforschung sind, stützten die rassifzierenden Forschungen nicht lediglich die
bestehenden Rassekonzepte, sondern erzeugten selbst ambivalente Effekte: So
produzierten Differenzforschungen nicht immer nur neue Klassifkationen, sondern riefen ebenso Infragestellungen kategorialer Aueilungen der Menschheit in
Rassen hervor. Beispielsweise boten sich Blutgruppen seit der ersten Reihenuntersuchung – von den Hirschfelds (Hirschfeld/Hirschfeld ) während des
Ersten Weltkriegs durchgeführt – aufgrund ihrer exakten eindeutigen Gruppierbarkeit (A, B oder ) an, um Unterschiede zwischen den Rassen zu konstatieren.
Schnell wurde jedoch auch schon in den er Jahren offensichtlich, dass sich
anhand der Blutgruppen keine eindeutigen Unterscheidungen realisieren ließen
(siehe im Kapitel »Genetifzierung« »Vom Phän zum Gen«). In diesem Sinne
nutzte etwa die Kulturanthropologin Ruth Benedict die individuelle, aber nicht
populations- oder rassespezifsche Verteilung von Blutgruppen als Mittel der Kritik
an rassistischen Einteilungsmodellen (Benedict , Benedict/Weltfsh ).
Zwar blieben die Blutgruppen und allgemein die Untersuchung von allerlei Blutproteinen ein Transportmittel, mithin Transfusionsmittel für die populationsgenetische Rasseforschung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Forschungen
der Molekularbiologie des Human Genome Diversity Projects. Doch die inhärente
Instabilität aller noch so ausgeklügelten Rasseklassifkationen, blieb ebenso fortan
Ansatzpunkt weiterer Infragestellungen. Die neuen Untersuchungsmethoden
und -technologien der klassischen Genetik, der Populationsgenetik, Serologie,
Molekulargenetik und Genomik boten also allesamt neue Mittel, um die Rasseforschung weiterzuführen, aber kein einziges Modell konnte als wissenschalich
allgemein anerkanntes Rassekonzept stabilisiert werden und präsentierte damit
auch Ansatzpunkte der Kritik.
Mit den populationsgenetischen Ansätzen entstanden weitere, über die bisherigen Kritiken hinausgehende Infragestellungen, die, ausgestattet mit der Autorität
lebenswissenschalicher Wissensproduktion, bis in die heutige Zeit eine hohe
Relevanz besitzen. Bedeutende Teile der klassischen Rassemodelle, wie die Vorstellung von Reinerbigkeit sowie rassistische Wertungen und Hierarchisierungen,
der nichteuropäischen Rassen (wie auch von Frauen) im Rahmen der vorherrschenden Basisannahmen sinnvoll erschien.
248 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
wurden durch diese Kritiken seit den er Jahren und mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein vollzogenen Paradigmenwechsel von der typologischen
Anthropologie zur Populationsgenetik innerwissenschalich von vielen Wissenschalerˍinnen verabschiedet. Wie schon an der Wende zum . Jahrhundert mit
den Kritiken gegen den grassierenden Antisemitismus entstanden seit den er
Jahren in Auseinandersetzung mit den Rassengesetzgebungen im nationalsozialistischen Deutschland schließlich immer mehr politische und sozialwissenschaftliche Kritiken an biologischen Einteilungen der Menschheit. Politische Debatten
um die Sinnhaigkeit biologischer Einteilungen und veränderte politisch-soziale
Anforderungen erzeugten auch eine Anpassung lebenswissenschaftlicher Antworten auf Fragen nach der Differenz zwischen den Menschen. Die seit den er
Jahren international entstehenden Antidiskriminierungs- und Bürgerrechtsbewegungen brachten entschiedene Einwände vor, die letztlich auch in Gesetzgebungsinitiativen zur Gleichstellung und zur Implementierung von Minderheitenrechten mündeten. Diese Kämpfe bewirkten, dass Rassismus zunehmend als
allgemeines gesellschaliches und interventionsnotwendiges Problem wahrgenommenen und schließlich wirkmächtige allgemeine Absagen an biologische
Einteilungen von Menschen in Rassen formuliert wurden. Die Bewegung hin zu
immer weiteren Infragestellungen verstärkte sich nach dem Zweiten Weltkrieg,
insbesondere von den er Jahren an innerhalb der fachinternen Debatte. Untersuchungen zur kontinuierlichen Variation bei verschiedenen Spezies (Marder,
Schmetterlinge, Sperlingsvögel) wurden schließlich so interpretiert, dass mit diesen
auch rassische Einteilungen beim Menschen infrage gestellt werden konnten. Gestützt auf solche populationsgenetischen Untersuchungen formuliert schließlich
der biologische Anthropologe Frank B. Livingstone, »[e]s gibt keine Rassen, sondern nur Cline 8« (: ). Mit dieser deutlichen Aussage verband er
die Hoffnung, dass »unser neues genetisches Wissen und die Bestimmung von
Genfrequenzen die Studien zur Natur bzw. Essenz von Rassen ablösen wird«
(ebd.: ). Biologische Forschungen dienten schließlich immer mehr auch der
Absage an kategorialen Einteilungen der Menschheit.
In ihrer Gesamtheit überschritten die Kritiken von den er Jahren an allmählich die Wirksamkeitsschwelle. Dadurch verschob sich die Hegemonie des
auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin bestehenden biologischen Verständnisses von Rasse zu Gunsten allgemeiner Absagen an rassische Einteilungen inner8
Der Begriff »Cline« wurde in den er Jahren eingeführt, um kontinuierliche Veränderungen innerhalb einer Spezies zu beschreiben. Im genetischen Sinne dient der Begriff zur
Kennzeichnung einer graduellen Änderung in der Auftretens-Wahrscheinlichkeit von Genen
(Allelfrequenz innerhalb einer Art). Indem graduelle Unterschiede herausgehoben werden,
wird genetische Differenz grundlegend anders verstanden, als in Rassekonzepten, in denen
kategoriale Teilungen statt Übergänge im Zentrum stehen.
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 249
halb der Lebenswissenschaen sowie einer sozialkulturellen Bestimmung rassifzierter Teilungen. Beispielha zeigt sich dies an der nachhaltig wirkenden Studie
des Populationsgenetikers Richard Lewontin zur Bedeutung der Innergruppenvarianz, die mit dem Resümee endet, dass »menschliche Rassenklassifkationen«
weder »sozialen Wert« noch eine »genetische oder taxonomische Bedeutung besitzen« und es deshalb keine Rechtfertigung gebe, sie weiterhin zu verwenden (:
). Livingstone und Lewontin sind damit zu jener Kritikform zu rechnen,
bei der Ergebnisse lebenswissenschalicher Differenzforschung nicht nur als Anlass für weitere, intensivere Forschungen gelesen, sondern als Argumente gegen
rassifzierende Einteilungen eingesetzt wurden. Neben den bereits genannten
Einwänden (wie dem Argument der größeren genetischen Diversität innerhalb
der Gruppen als der zwischen ihnen und dem der Unmöglichkeit einer klaren
Trennung zwischen den Gruppen aufgrund von Merkmalsüberlappungen und
graduellen Übergängen) zeitigten vor allem die Ergebnisse zur ›Diskordanz der
Merkmalsverteilungen‹ und die im Vergleich mit anderen Tierarten größere ›genetische Ähnlichkeit aller Menschen‹ weitere kritische Effekte. 9
In den er und er Jahren setzen sich entsprechende Aussagen zur Zurückweisung biologischer Verständnisse von Rasse in zahlreichen Fachpublikationen durch. Diese Entwicklung zeigt sich ebenfalls in den verschiedenen breit
diskutierten Statements der UNESCO, in denen in der ersten Fassung von
noch von dem »biologischen Fakt der Rasse« (UNESCO ) 10 ausgegangen wurde. Auch Jahre später wird entsprechend die Weiterführung von Rassekonzepten
unter populationsgenetischen Vorzeichen propagiert und noch immer festgestellt:
»das Konzept der Rasse ist rein biologisch« (UNESCO : ). 11 In der Ära der
9
Als diskordant wird die von rassischen Grenzziehungen unabhängige Merkmalsverteilung
bezeichnet. Wie in Abbildung auf S. dargestellt ist, verlaufen Merkmalsgradienten
(dort der Blutgruppen A und B) in der Regel nicht übereinstimmend mit anderen Verteilungen von Merkmalshäufgkeiten (z. B. Haut-, Haar- oder Augenfarbverteilung) sowie mit
rassischen Unterteilungen. Die vergleichsweise geringen Differenzen zwischen allen Menschen
wurden im Vergleich mit Differenzuntersuchungen an anderen Tierarten, wie z. B. Schimpansen, deutlich und über einen »evolutionären Flaschenhals« erklärt. Siehe für einen weiteren Überblick über die Kritiken an Rassekonzepten Brückmann/Maetzky/Plümecke .
10 Das erste Statement ist jedoch nicht eindeutig in der Begriffsbestimmung. So wird an anderer
Stelle formuliert, dass Rasse »weniger ein biologisches Phänomen als vielmehr ein sozialer
Mythos ist« (UNESCO : ). In der zweiten Erklärung, die Biologen, Genetikern
und Anthropologen verfassten, ist letztere Passage allerdings gelöscht worden. Dagegen
wurde gefordert: »Rasse muss biologisch definiert werden« (UNESCO a: ). Siehe hierzu
die Ausführungen im Kapitel »Geschichte«.
11 Eine ähnliche Re/Biologisierung einzelner Passagen offizieller Statements wiederholt sich
nochmals bei der »Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung aller Formen der
Rassendiskriminierung«, die von der UN auf ihrer durchgeführten Generalversammlung
angenommen wurde. In der Erklärung wurde formuliert, »dass jede auf Rassenunterschiede
250 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Post/Genomik seit den er Jahren kamen jedoch neue Kritiken hinzu. Vor allem
Akteurˍinnen der Humangenetik führten weitere Problematisierungen biologischer Rasseeinteilungen ins Feld und erzeugen damit eine neue Qualität innerbiologischer Infragestellungen. Im Einklang mit deutlichen Absagen an biologische
Rassekonzepte etwa von antirassistischen Akteurˍinnen verabschiedet eine
internationale Arbeitsgruppe von Genetikern, Anthropologen und Biologen in
einer erneuerten »Stellungnahme zur Rassenfrage« im Kontext einer UNESCOKonferenz »Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung« eine unmissverständliche Absage an Rasse. Die Wissenschaftler erklären darin, dass das »Konzept der
›Rasse‹ [...] völlig obsolet geworden« sei und es »keinen wissenschalichen Grund
[gebe], den Begriff ›Rasse‹ weiterhin zu verwenden« (UNESCO a: f.). 12
Auch die Forschungsergebnisse der Molekulargenetik wurden vielfach in
ähnlicher Weise interpretiert und dargestellt. Besonders die Aussagen im Rahmen
des Humangenomprojekts, wie die von Craig Venter, Gründer des privaten und
an der Sequenzierung beteiligten Forschungsunternehmens Celera Genomics,
erlangten weitreichende Beachtung und wurden als ›Beweis‹ der wissenschaftlichen
Widerlegtheit von Rassen aufgegriffen. Venter hatte als ein Ergebnis des Sequenzierungsprojekts verkündet, dass »zwei beliebige Individuen zu mehr als , in
ihren DNA-Sequenzen identisch« seien (Venter et al. : ) und die untersuchten Genome deutlich machten, dass »Rassekonzepte keine genetische oder
wissenschaliche Basis besitzen« (Venter : D). 13
oder rassische Überlegenheit gegründete Lehre wissenschalich falsch, moralisch verwerflich, sozial ungerecht und gefährlich ist und dass es für Rassendiskriminierung keine Rechtfertigung gibt, weder in der eorie noch in der Praxis« (UN , Präambel). Diese relativ
weitreichende Einwendung gegen biologische Rassekonzepte, nach der jede auf Rassenunterschiede gegründete Lehre als wissenschalich falsch sei, wird im rechtsverbindlichen Gebrauch des verabschiedeten »Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder
Form von Rassendiskriminierung« entschär, indem dieser Satz verändert wird zu: »dass
jede Lehre von einer auf Rassenunterschiede gegründeten Überlegenheit wissenschalich
falsch, moralisch verwerflich … ist«, womit die Ablehnung wissenschalicher Einteilungen
(und der daran gekoppelter Wertungen) zu einer Ablehnung der Wertungen auf Basis von
Rassenunterschieden wird (UN , Präambel).
12 Siehe auch die Ausführung zu »Kontinuitäten und Brüche seit « im Kapitel »Geschichte«.
13 Im Humangenomprojekt wurde in einer Sequenz das Genom von fünf Spenderˍinnen unterschiedlicher Herkun sequenziert. Siehe hierzu im Kapitel »Genetifzierung«, Fußnote .
wiederholte Venter die Aussage folgendermaßen: »Zu den besten Ergebnissen dieser
Arbeit gehört die Erkenntnis, daß wir einander in fundamentaler Hinsicht gleichen. Wir
Menschen teilen , unseres genetischen Codes miteinander« und »Wir können die ethnische Zugehörigkeit eines Menschen nicht auf der Grundlage des genetischen Codes bestimmen, weil Rasse und ethnische Zugehörigkeit nicht auf wissenschalichen, sondern auf
sozialen Konzepten basieren« (Venter : ). Anfang korrigierte er allerdings seine
Feststellungen aus dem Jahr in einem Interview wie folgt: »Wenn man mein Genom mit
Ihrem vergleicht, liegen die Unterschiede bei einem bis zwei Prozent. Früher hätten viele auf ,
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 251
In den letzten beiden Jahrzehnten folaten schließlich weitere Resolutionen zahlreicher wissenschalicher Fachverbände und Fachmagazine (allerdings vor allem
in den USA) mit in die gleiche Richtung weisenden Wortlaut. In diesen wird die
Wissenschalichkeit von Rasseeinteilungen in Frage gestellt, deren ›biologische
Bedeutungslosigkeit‹ betont sowie für ein Verzicht auf Rassekategorien in der
Forschung plädiert. 14 Neben den allgemeinen Erklärungen der Fachgesellschaften
argumentierte auch eine Vielzahl einzelner Wissenschaftlerˍinnen vehement für die
Abschaffung des biologischen Rassebegriffs und stellte die Unwissenschalichkeit
der Weiterverwendung rassifzierender Konzepte heraus. 15 Entsprechend diesen
Aussagen sind in den Lebenswissenschaen beträchtliche Überarbeitungen in
den Fachbüchern und -lexika der verschiedenen Disziplinen zu verzeichnen. Einträge zu »Rasse« und »Menschenrasse« wurden in vielen der neuerschienenen
(oder in erneuerter Auflage herausgegebenen) Lehr- und Fachpublikationen gestrichen oder im Sinne der Infragestellungen umformuliert. 16 Im Jahrzehnt des Humangenomprojekts und der ›Entschlüsselung‹ des menschlichen Genoms gilt
Rasse somit zahlreichen Lebenswissenschalerˍinnen als überkommene Vorstellung. Dieser Einschätzung folgend diagnostizierte auch eine Vielzahl sozialwissenschalicher Autorˍinnen, dass die ›genetische Widerlegung‹ zu einem ›Ende
Prozent getippt, aber ich fand die Zahl immer zu klein, um damit die große Variationsbreite
der Menschheit zu erklären.« (Venter : ).
14 Siehe folgende Erklärungen: American Anthropological Association: Statement on »Race«
and Intelligence () und Statement on »Race« (); American Association of Physical
Anthropologists: Statement on Biological Aspects of Race (); Nature Genetics ();
New England Journal of Medicine () American Sociological Association () sowie die
im Jahr erfolgte Erklärung der von der UN geladenen »Weltkonferenz gegen Rassismus,
Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz«.
15 Siehe zu vor allem biowissenschalichen Akteurˍinnen etwa Marks ; Kattmann ,
; Owens/King ; Schwartz ; Wilson et al. ; Seidler ; Lewontin .
16 Beispielsweise verzeichnet das umfangreichste deutschsprachige »Lexikon der Biologie« im
Lemma »Menschenrassen«: »Unterschiede zwischen den Populationen des Menschen können zwar statistisch erfasst werden, sie sind aber entweder zu gering oder zu unbedeutend,
um nach den Maßstäben der zoologischen Systematik Unterarten (›Rassen‹) unterscheiden
zu können.« (Kattmann : ) Auch das erschienene deutschsprachige Lehrbuch
»Anthropologie« weist aus, dass die »Frage nach der Existenz von Menschenrassen […] bis
in die Gegenwart heig und kontrovers debattiert [wird], wobei die Antwort aus biologischer Sicht rasch und sicher mit ›nein‹ gegeben werden kann« (Grupe et al. : ). Als
Standardlehrbuch der physischen Anthropologie ersetzt es das letztmalig erschienene
»Lehrbuch der Anthropologie und Humangenetik« von Reiner Knußmann, in dem Rasse
noch als biologische Taxonomie ausgewiesen wurde. Im englischen Sprachraum setzte diese
Umschreiben und Ersetzen bereits in den er Jahren ein (vgl. Littlefeld/Lieberman/
Reynolds u. Morning ).
252 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
von Rasse‹ aeführt habe. Rassekonzepte in ihren bioloaischen Varianten seien
somit nur noch ›Fiktion‹ und ›sozialer Mythos‹. 17
…und Erfolge der neuen Rassifizierungen
Im Widerspruch zum verkündeten Ende bioloaischer Rassekonzepte sind diese
keinesfalls mit den UNESCO-Statements oder mit den Kritiken der Genomik in
die Geschichte verabschiedet worden. Vielmehr ist eine Kontinuität rassifzierender
Forschuna zu verzeichnen und seit Anfana der er Jahre entstehen in verschiedenen Feldern neue Forschungen und Beiträge, welche die Notwendigkeit von
Rassekategorisierungen mit vielfältigen Argumenten zu stützen versuchen und
Neuentwürfe von Rassekonzeptionen mit den neuesten Mitteln genetischer Forschung vornehmen. Wie die Ergebnisse der Populationsgenetik (z. B. zur Bedeutung der Innergruppenvarianz sowie zu kontinuierlichen Unterschieden) nicht
nur zu Kritiken an Rassevorstellungen, sondern zugleich zur Weiterentwicklung
von Rassekonzeptionen führten, ließ sich ebenso die im Rahmen des Humangenomprojekts verkündete genetische Gleichheit aller Menschen (Venter )
auch im Sinne einer Spezifzierung rassischer Einteilbarkeit der Menschheit verwenden. Schon kurz nach Beendigung des Humangenomprojekts sprach sich in
diesem Sinne der Genetiker und Vorsitzende des Ethikkomitees der die Sequenzierung koordinierenden »Human Genome Organisation« (HUGO), Abdallah
Daar, dafür aus, das »Konzept der Rasse wieder in Wissenscha und Medizin«
einzuführen und bei den »fünf wichtigsten Rassengruppen« nach Variationen für
eine maßgeschneiderte Medizin zu suchen (zit. nach Blech : ; Daar/Singer
: ). Ebenso kamen zum Jahrtausendwechsel neben molekulargenetischen
Methoden in der Forensik zur Feststellung der »ethnischen Herkun« anhand
von DNA-Markern (Evett/Pinchin/Buffery ) auch mehrere neue genetische
Ansätze auf, die bei medizinisch relevanten »Polymorphismen« nach »Frequenzunterschieden zwischen ethnischen und rassischen Gruppen« suchen (Evans/
Relling : ).
Mit der Molekularisierung der Genetik, wie allgemein eines Großteils lebenswissenschalicher Methoden und Forschungsprojekte, wird in den er Jahren
ebenso das biowissenschaliche Verständnis von Rasse einer Molekularisierung
unterzogen. Die Marker der genetischen Differenzanalysen (Mini- und Mikrosatelliten, SNPs und Alu-Insertionen) können dabei als Signatur rassischer Differenz
17 Siehe entsprechend Äußerungen bei Stepan ; Gates/Appiah ; Guillaumin , ;
Barkan ; Witzig ; Gilroy ; Arndt ; ; Räthzel ; Eggers et al. ; Smedley/
Smedley ; Dietze et al. a; Geulen ; Degele .
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 253
voraestellt werden. Auch wenn einiae Genetikerˍinnen in ihren Studien die Darstelluna in Rassen zu vermeiden versuchen (wie z. B. Cavalli-Sforza/Bodmer
), werden die Ergebnisse dennoch häufg von anderen dahingehend interpretiert. So meinen etwa Neil Ris ch et al. (), dass mit verschiedenen genetischen Markern jeweils Zuordnungen in fünf kontinentale Gruppen (Africans,
Caucasians, Pacifc Islanders, East Asians und Native Americans) möglich seien
und verweisen darauf, dass in Studien von Stephens et al. () sowie Wilson
et al. () mit fast SNPs sowie mit mehreren Mikrosatelliten »genetische
Strukturen in menschlichen Populationen« aufgezeigt und in »distinkte und
nichtüberlappende Cluster, die sie mit Caucasian, African American und Asian«
benennen, aufgeteilt werden könnten (: f.). Aus ihrem Überblick über verschiedene zeitgenössische Differenzuntersuchungen ziehen sie den resümierenden
Schluss, dass »zahlreiche populationsgenetische Studien am Menschen zum identischen Ergebnis« gekommen seien, nämlich »dass die genetische Differenzierung
am größten ist, wenn diese anhand kontinentaler Zuordnungen erfolgt«, woraus
sie wiederum ableiten, dass »zwei Caucasians sich genetisch ähnlicher als ein
Caucasian und ein Asian« seien (ebd.: u. ).
Die neuen genetischen Differenzierungsmöglichkeiten führten auch zu neuen
Rassifzierungen, etwa in der pharmazeutischen Forschung mit dem Herzmedikament BiDil oder mit genetischen Herkunstests, die auf ethnische Zuordnung
von DNA-Markern oder eine »Mischungsanalyse« des Genoms zielen. Vor allem
in klinischen Studien lässt sich geradezu ein Boom an Unterscheidungen nach
»rassischen« Gruppen (neben Geschlecht und Alter) feststellen, in denen genetische Unterschiede zur Erklärung von Medikamenten(un)verträglichkeiten, von
Unterschieden bei Krankheitshäufgkeiten oder der durchschnittlichen Lebenserwartung vermutet werden. Entsprechend stellen in den letzten Jahren Forscher
ˍinnen die Bedeutung »genetischer Differenzierungen […] zwischen kontinental
separierten Gruppen« (Burchard et al. : ) für medizinische Forschung und
klinische Praxis heraus. So sollen »rassische Kategorien bedeutungsvolle biologische Differenzen widerspiegeln« (El-Haj : ) oder es wird davon ausgegangen, dass in »den nächsten Dekaden viele genetische rassische Differenzen
entdeckt werden« (Rowe : ). 18 In weiteren Studien sind Rasse und Ethnizität
als »nützlicher biologischer Anzeiger für die zugrunde liegenden genetischen Variationen« im Gebrauch (Tate/Goldstein : ). Andere ziehen für die alltägliche
Verschreibungspraxis die »Rasse« der Patientˍinnen mit in Betracht, wie die Psychiaterin Sally Satel in ihrem Artikel »I Am a Racially Profling Doctor« ()
18 Siehe hierzu auch die Ausführungen im vorhergehenden Kapitel zu »Rasse in der Post/Genomik«. Ähnliche Aussagen finden sich bei Evans/Relling ; Wood ; Bonham/WarshauerBaker/Collins ; Tang et al. ; Risch .
254 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
beschreibt, da »Krankheiten und Behandlunaserfolae sich entlana von Ethnizität
clustern« und somit »die Realität von Differenzen« nicht zu leuanen sei (ebd.).
Auch Projekte zur Untersuchuna der Korrelation von aenetischen Polymorphismen mit Zivilisationskrankheiten, wie die »Genome-Wide Association Studies«,
das »International HapMap Project« oder das » Genomes Project«, basieren
vielfach auf rassifzierenden Zuordnungen (vgl. Fujimura/ Rajagopalan ).
In weiteren Bereichen neben dem medizinisch-pharmakologischen nutzen
Forscherˍinnen genetische Marker wie Einzelnukleotid-Polymorphismen oder
Mikrosatelliten, um die »biogeographische Herkun« (Shriver/Kittles : )
zu bestimmen. Andere nehmen Einteilungen der Menschheit anhand von vier
»Hauptclustern« vor, die »nahezu perfekt der Selbstidentifzierung der getesteten
Personen zu einer Rasse/Ethnizitäts-Kategorie« entsprächen (Tang et al. :
) oder ermitteln »sechs genetische Hauptcluster«, die mit »geographischen
Hauptregionen« korrespondieren sollen (Rosenberg et al. : ). In ähnlicher
Weise bieten seit den ersten Jahren dieses Jahrhunderts mehrere Unternehmen
genetische Herkunstests an, mit denen anhand von genetischen Markern die
kontinentale oder ethnische Abstammung der Testpersonen sowie die rassische
Mischung ihrer DNA-Bestandteile ermittelt werden. So fnden in den gängigen
genetischen Abstammungstests des AncestrybyDNA-Verfahrens Marker Anwendung, um Genombestandteile den vier Kategorien »European, Indigeneous
American, Sub-Saharan African und East Asian« zuzuordnen (siehe Abbildung ,
Seite ). Diese kontinentale Klassifizierung entspricht dabei weitgehend den Rassevorstellungen, die auch im US-amerikanischen Zensus, in sozialwissenschalichen Studien und in der Politik verwendet werden. Im Testergebnis der Firma
»DNAPrint Genomics« wird die Zuordnung jedoch als biologisch-genetisches
Konzept, als »biogeographische Abstammung« naturalisiert (vgl. Fullwiley a).
Sämtliche populär vermarkteten Ancestry-Tests stehen – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise – in Relation zu rassifzierenden Einteilungen. Einige der Unternehmen versuchen dabei Rassezuordnungen explizit zu vermeiden, dennoch
nehmen sie alle Zuordnungen zu »tribes, Nation, Volk, Urvolk, Population« vor
oder machen Angaben über Anteile der individuellen DNA, etwa anhand der vier
»Populations-Gruppen« Native American, European, East Asian und African. 19 Für
die dargebotenen Ursprungserzählungen böten sich prinzipiell viele mögliche Varianten von Verwandtschafts- und Herkunftsdarstellungen an. Naheliegend und
vermarktbar erscheinen jedoch lediglich Narrative, die genetische Daten im Sinne
eindeutiger Zuordnungen und deutlicher Trennungen zwischen den Gruppen
präsentieren.
19 Siehe die weiteren Ausführungen zu »Genetischen Herkunstests« im Kapitel »Rasse in der
Post/Genomik«.
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 255
In Reaktion auf die Fülle an zeitaenössischen Rassifzierunaen warnen entsprechend verschiedene Kritikerˍinnen vor einer neuen Rasseforschuna. Als Geaenstück zu Darstellunaen, in denen ein Ende bioloaischer Rassekonzepte behauptet
wird, stellen diese Analystˍinnen heraus, dass vielmehr von einer »Wiederaeburt
des Rassebeariffs« (Duster ), einer »neuen Wissenschaft der Rasse« (Abraham
; Bliss ) oder einer »Neuerfndung«, einer »neuen Wissenscha und
Technologie der Rassengenetik« (Roberts : X f.) gesprochen werden müsse.
Andere Zeitdiagnosen legen dar, dass in bestimmten Bereichen »rassifzierte biologische Vorstellungen ein Comeback erleben« (Goodman ). So sei zu sehen,
dass die »rassenbasierte Medizin fortdauert« (Wade ) oder dass in den letzten
Jahren die »biomedizinische Literatur zu Rasse explodiert« sei (Fausto-Sterling
: ). Statt der soeben noch verkündeten Absagen an Rassekonzepte lässt sich
also für die aktuelle genetische Differenzforschung ebenso eine Renaissance biologischer Rassekonzepte feststellen.
Resistenzen biologischer Rassekonzepte
Die Kritiken, Infragestellungen und Absagen an biowissenschaliche Rassekonzepte haben maßgeblich dazu beigetragen, den mit der Moderne, der Kolonialisierung und säkularen Herrscha entstandenen Naturalisierungen sozialer
Ungleichheit entgegen zu wirken. Mit den Kritiken ließen sich naturalisierte
Differenzkonzepte als sozial erzeugte Unterscheidungen verstehen und damit von
vormals als kausal vorgestellten biologischen Unterschieden entkoppeln. Allerdings beließ der dominante Bezug der Kritik auf biowissenschaliche Belege die
Frage nach der Realität von Rasse in der Biologie. Die Vielzahl der während des
. Jahrhunderts formulierten Argumentationen gegen biologische Rassekonzepte hat auch aus diesem Grund nicht zu einer Verabschiedung, sondern oft sogar
zu weiteren Reformulierungen von Rasse beigetragen. Die Kritik wurde damit zu
einem Faktor in der Fortführung der Rasseforschung, indem sie auch revitalisierend auf die Erneuerung und konzeptionelle Weiterentwicklung biowissenschaftlicher Differenzkategorisierungen wirkte. Allerdings führten die Infragestellungen
spätestens seit den UNESCO-Statements von / dazu, dass sich Differenzforschungen immer, auch mit den Kritiken, mindestens in impliziter Form befassen müssen. Entsprechend können heutige lebenswissenschaliche Rassemodelle,
um nicht als rassistisch, überholt und widerlegt zu gelten, nur bestehen, wenn sie
mit den Kritiken an typologischen Konzepten, an Hierarchisierungen und Wertungen umzugehen wissen.
256 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Die Kritiken erzeuaten also kein Ende, sondern wurden in die Transformation hin
zu moderneren Konzepten rassischer Differenz eiaewoben. Rassekonzepte erwiesen sich somit als sehr fexibel, um einerseits das empirische Problem handhaben
zu können, dass unter den jeweiliaen Forschunasparadiamen und den modernsten
Methoden keine abschließende Ordnuna der menschlichen Differenzen aufzufnden war. Andererseits war es bisher immer auch möalich, neue Rassemodelle
zu konstituieren, die eben auch mit den verschiedenen sowohl politischsozialwissenschalichen als auch innerdisziplinären Kritiken an rassischen Einteilungen umzugehen wussten. So machten sich Differenzkonzepte die kritische
Argumentation zu eigen und richteten diese an ihre Vorgängermodelle typologischer und völkischer Rasseverständnisse. Entgegen den mindestens implizit hierarchisierenden klassischen Konzepten sind Rassekonzepte nun selbst mit
integrierenden Momenten ausgestattet, indem mit der Inklusion von Minoritäten
(etwa in medizinische Behandlungen) oder dem Nutzen der Differenzierung für
alle argumentiert wird. Diese Fähigkeit zur produktiven Integration von Kritik an
biologischen Rassekonzepten ist dabei keine gänzlich neue Erscheinung, sondern
schon in deren frühe Entwicklungsdynamik eingeschrieben. So übten die auf die
Mendelsche Genetik zugreifenden Forschungen Kritik an vorhergehenden Rassevorstellungen (vgl. Sankar ). Mit der Populationsgenetik argumentierten
Differenzforscherˍinnen, dass ihre Modelle die Evolution des Menschen im Vergleich zu den klassischen typologischen besser abbilden könnten. Die Molekularbiologˍinnen begründeten ihre Forschungen als näher an den Genen und damit
viel weniger von Umwelteinfüssen abhängig als eine Analyse phänotypischer
Merkmale oder die Untersuchung von Blutproteinen (»closer to the genes, closer
to reality«-Argument, Reardon ).
Heutige Ansätze greifen Kritikaspekte darüber hinaus auf, um sich damit rhetorisch von Rassemodellen abzusetzen, aber dennoch rassifzierende kategoriale
Einteilungen vorzunehmen (vgl. die Ausführung zu den genetischen Herkunstests und zur Medikalisierung). Oder aber die Kritik wird eingesetzt, um populationsgenetische Ansätze als überholt auszuweisen, da mit genetischen Markern
wie SNPs, STRs etc. viel besser als mit den proteinbasierten Studien der Populationsgenetik Differenzierungen vorzunehmen seien (siehe etwa Burchard et al.
; Edwards ; Jorde/Wooding ; Risch et al. ).
Die massiven innerbiologischen Kritiken werden in einigen aktuellen Forschungen umgangen, indem diese – wie z. B. die bedeutende Intragruppenvarianz –
benannt, dann aber dennoch die Intergruppendifferenz beforscht wird (siehe etwa
Jorde/Wooding ; Risch et al. ), oder sie können gewendet werden, indem beispielsweise die im Rahmen des Humangenomprojekts entstandenen Verlautbarungen zur , igen genetischen Gleichheit der Menschen zum Anlass
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 257
aenommen wird, nun die , Varianz auf rassische Differenzen hin zu untersuchen (Rowe ).
Doch trotz aller Veränderungen, trotz vieler Versuche, über neue Rassekonzeptionen der Wahrheit der Differenz näher zu kommen, konnte kein Rassekonzept
über längere Zeit stabilisiert werden. Zu einem Ergebnis führte die Suche nach
einer statischen natürlichen Ordnung des Menschen immer nur punktuell, lediglich bei einzelnen Forscherˍinnen oder für begrenzte Zeit unter dem jeweiligen
Forschungs- und Methodenparadigma. Im Zeitverlauf waren die Modelle entsprechend massiven Wandlungen, intensiven wissenschalichen Be- und Umarbeitungen unterworfen, sodass Rasse von einer Vielzahl an Konzeptionen
gekennzeichnet ist. Schon Friedrich Otto Hertz bemerkte diese Eigentümlichkeit
von Rasse und resümierte, dass es »mehr Rassentheorien als Rassentheoretiker«
gebe (Hertz a: ). Dies hat sich auch mit der Genetifzierung rassischer
Einteilungen im Laufe des . Jahrhundert und unter den Bedingungen der
Post/Genomik nicht geändert, sodass der Biologe Ulrich Kattmann am Beginn
des . Jahrhunderts zur inhaltlich gleichen Schlussfolgerung gelangt: »Beim
Menschen wurden beinahe so viele Rassensystematiken aufgestellt, wie es Wissenschaler gibt, die sich mit dem Problem befasst haben« (: f.).
Rasse ist somit ein in gewisser Weise prekäres wissenschaftliches Konzept, da
von eindeutig belegbaren Unterschieden, die zudem im geschichtlichen Rahmen
konstant sein sollen, ausgegangen wird, diese aber in den Forschungen immer
wieder in Frage gestellt werden. Anstelle der natürlichen Ordnung des Menschen
zeigt sich vielmehr eine geringe Halbwertzeit der einzelnen Konzepte und schließlich eine diachrone Vielfalt an Teilungsmodellen. Bei allen Weiterentwicklungen
biowissenschaftlicher Differenzkonzepte, von den klassisch typologischen Modellen der Rassenanthropologie über die Paradigmen der Populations- und der Molekularbiologie bis zu post/genomischen Ansätzen, entstanden trotz der Kontinuität
rassifzierender Teilungen bedeutende Verschiebungen im Inhalt der Differenz.
In den Kapiteln zur Genetifzierung und zu neuen Rassifzierungen in der
Post/Genomik wurde analysiert, dass einerseits kategoriale Ordnungsmodelle
weiterbestehen, andererseits aber entlang der neuen Forschungs- und Methodenparadigmen jeweils neue Ansätze zur Fassung von Differenz entwickelt wurden.
Als wesentliche Verschiebung konnte herausgearbeitet werden, dass aktuelle
lebenswissenschaliche Differenzkonzepte neue Funktionalitäten übernehmen.
Die Bestätigung einer hierarchischen Ordnung der Menschheit tritt in den Hintergrund zu Gunsten weiterer biopolitischer Bedeutungen von Differenz. 20 Mit
20 Dennoch sind weiterhin viele Forschungsergebnisse, die als kategoriale Differenzen dargestellt werden, mit wertenden und hierarchisierenden Konnotationen verknüpar. So kann
die Darstellung von Ungleichheiten in Krankheitsvariablen als mutmaßlich genetische Diffe-
258 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
der Verkleineruna und Verinnerlichuna der Differenzsianaturen im Verlauf des
. Jahrhunderts, mit der Einsetzung von Mini- und Mikrosatelliten sowie Einzelnukleotid-Polymorphismen als Marker der Differenz wurde Rasse jenseits der
Gene nun hauptsächlich in nicht-codierenden Bereichen des Genoms, in den
kleinsten Bestandteilen der DNA, den Punktmutationen und Basensequenzwiederholungen verortet. Der Wechsel vom Nachweis von Unterschieden als Zeichen
der Inferiorität der ›Anderen‹ zum Abbilden von Differenz in den kleinsten Einheiten im »Buch des Lebens« zeigt eine Veränderung im Sinngehalt der Unterscheidungen an. Die Differenzmarker selbst wurden dabei immer mehr von
Anzeigern eines Wesensunterschieds, die die jeweiligen Gruppen hierarchisch
anzuordnen ermöglichen, zu einer Differenz, die als wissenschaftliches Abbild
allerlei allgemein bekannter und nicht beweisnotwendiger Unterschiede gilt. In
diesem Sinne befnden sich die Marker der meisten aktuellen genetischen Differenzuntersuchungen auf Punktmutationen und Basensequenzwiederholungen,
die in Bereichen der DNA außerhalb der eigentlichen Gene liegen und damit im
vorherrschenden Verständnis in der Regel keine phänotypische Wirkung haben.
Die beiden Haupttechniken für kommerzielle und für forensische Herkunstests
gründen zudem auf dem Y-Chromosom oder den Mitochondrien, auf denen nur
je ein paar Dutzend Gene liegen. Obwohl die mit den zeitgenössischen Mitteln
aufgespürten Differenzen in den gängigen Modellen der Lebenswissenschaen
keine Relevanz für physische oder sozial-kulturelle Unterschiede besitzen, vermögen sie diese dennoch biowissenschalich zu bestätigen und damit als naturgegeben zu fundieren. In der Praxis lebenswissenschalicher Differenzforschung
erscheinen die mit der sozialen Ungleichheitsordnung verknüpen körperlichen
Attribute entsprechend als genetische Differenz. In diesem Sinne stehen die heutigen genetischen Marker zwar nicht wie bei den Vermessungen der Rasseanthropologie des . Jahrhunderts als Signatur eines Wissens über die Unterlegenheit
der anderen Rassen, doch sie stellen als Unterschiede in der DNA eine eigene
Differenzbedeutung dar. Die realen Unterschiede der Teilungs- und Ordnungsdimension Rasse fnden damit ihr Gegenüber in den irrealen Differenzen nichtcodierender bzw. sogenannter Junk-DNA.
renz auch stigmatisierende Bedeutungen erzeugen. Wenn eine rassifzierte Gruppe als genetisch häufger krank bezeichnet wird, kann diese Aussage nicht wertfrei sein, zumindest
nicht in einer Gesellscha, für die Krankheit und Gesundheit mehr als nur individuelle Zustände bezeichnen. Aber auch scheinbar nichtnormative Wahrscheinlichkeitszuordnungen von
Mini- und Mikrosatelliten und Einzelnukleotid-Polymorphismen zu geographischen Räumen
und Ethnien und Rassen sind im Kontext segregierender Gesellschaen leicht Gegenstand
weiterer Bedeutungsaufladung.
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 259
Kontinuitäten rassifizierender Biopolitik
Rassifzierende Klassifkationen sind stetiaen Veränderunaen unterworfen. Differenzen im Knochenbau und anderen physischen Merkmalen, die von Linné bis
zur Rassenpsycholoaie üblich waren, die vielfältiaen Unterschiede, welche die typoloaische Rassenanthropoloaie vermessen hatte, stehen in den aktuellen biowissenschalichen Repräsentationen rassischer Differenz nicht mehr im Zentrum,
sondern sind höchstens mittelbar, etwa als Auswirkungen der genetischen Ausstattung, relevant. Dennoch erfuhr Rasse in den Lebenswissenschaen entgegen
einer in alltagsrassistischen Unterscheidungsideologemen und -praxen zu beobachtenden Kulturalisierung von Differenz – basierend vor allem auf Religion, Sprache,
Staatsangehörigkeit 21 – keinesfalls eine solche Denaturalisierung, sondern ist
durch die Genetifzierung und Anbindung an je aktuellste Forschungsmethoden
immer wieder als biologisches Konzept im Sinne der Abbildung einer in der Natur vorfndlichen Ordnung reformuliert worden.
Die Sozialwissenschalerˍinnen Manuela Bojadžijev und Alex Demirović
stellen über »Konjunkturen des Rassismus« fest, dass »Rassismus […] nicht
stabil« sei, sondern sich – wie andere Wahrheits- und Wissensproduktionen –
verändere, andere Formen annehme, sich mit unvermuteten Praktiken verbinde
(: f.). Solche Konjunkturen lassen sich offensichtlich auch für die Entwicklung lebenswissenschalicher Rassekonzepte konstatieren. Diese scheitern kontinuierlich an den eigenen Kriterien lebenswissenschalicher Differenzuntersuchungen und sind dennoch immer wieder Ansatzpunkt neuer Konzeptionen und
entsprechender Forschungen. Da die Kontinuierungen aber nicht aus den lebenswissenschalichen Ergebnissen selbst zu erklären sind, liegt die Frage nach den
gesellschalichen Hintergründen für den unablässigen Fortbestand kategorialer
Differenzkonzepte auf der Hand. Wissenschasgeschichtlich lassen sich zwar
auch andere Konzepte aufzeigen, an denen trotz massiver Infragestellungen kontinuierlich mit einer Fülle von Modellen festgehalten wurde, aber die Konstanz
an Reformulierungen und Infragestellungen macht Rasse zu einem besonderen
Konzept. Diese Besonderheit lässt sich etwa an einem Vergleich mit den Forschungen des Wissenschastheoretikers omas Kuhn aufzeigen, der in einer
Studie zu »wissenschalichen Revolutionen« () radikale Brüche in wissenschalichen eoriemodellen untersucht hat. Anhand mehrerer historischer
21 Die Kulturalisierung von Rasse sollte aber nicht als ausschließliche Form aktueller Rassifizierungen missverstanden werden. Spezifsche physische Merkmale blieben bisher trotz allgemeiner Kulturalisierungstendenzen auch im Alltagsverständnis mit rassifzierten Differenzkonnotationen verbunden. Vor allem Haut-, Haar und Augenfarbe sowie Formvarianten der
Nase, Augen etc. sind in der sozialen Stratifikationsordnung und in Alltagsinteraktionen als
rassifzierte Signifkanten relevant.
260 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Phänomene der Auffächeruna und Vervielfältiauna von eorien deutet er diese
als typisch für eine Krise des eorieaebäudes, die letztlich zu einem völlia neuen
Paradiama und einer Überwinduna der alten wissenschaftlichen Vorstelluna führe.
Wie etwa zu Ende des . Jahrhunderts unzählige Versionen der Phlogistontheorie
zur Erklärung von Phänomenen mit Bezug auf Gase entstanden, so ließe sich die
Fülle an Modellen und Markern der Differenz, mit denen rassische Einteilungen
vorgenommen wurden und werden, ebenso als eine Krise der kategorialen Differenzforschung interpretieren. Die Phlogistontheorien wurden schließlich von der
Oxidationstheorie (mit dem Gas Sauerstoff), genauso wie die komplexen eoriemodelle des geozentrischen durch das heliozentrischen Weltbild, abgelöst.
Zwar lässt sich für die wissenschaliche Rasseforschung seit ihrem Beginn eine
ähnliche wie die von Kuhn bezeichnete Krise konstatieren. Im Gegensatz zur Phlogistontheorie oder dem geozentrischen Weltbild sind Rassetheorien in der Erforschung menschlicher (biologischer) Differenz jedoch bisher keinesfalls verabschiedet worden. Die Auseinandersetzungen haben lediglich zu reichlichen
Veränderungen, aber nicht zu einer Ablösung der eorie einer rassischen
Aueilung durch ein neues Verständnis biologischer Diversität geführt. Statt aufgrund der vorliegenden eorien- und Konzeptfülle also kurz vor ihrer Ablösung
zu stehen, erneuerten sich Rassemodelle bisher immer unter Anwendung der jeweils aktuellen Ansätze biowissenschalicher Forschung. Das ›Scheitern‹ der
Rassemodelle wirkte eher als ein produktives Moment und als eoriemotor, auf
das mit noch mehr und detaillierteren Forschungen zu antworten war (vgl. Hanke
; Kerner a).
Zur Untersuchung der Produktivität biowissenschalicher Konzepte bietet
Kuhns klassische Studie keine Erklärung, sondern unterstützt vielmehr die Frage
nach der Besonderheit von Rassekonzepten. Für die Beantwortung der Frage bietet
sich aber Foucaults Analyse, jene hier schon am Beginn der Studie eingeführte
Perspektive auf moderne Regierungshandlungen unter dem Begriff der »BioPolitik«, an. Mit dem Blick auf die »Vereinnahmung des Lebens durch die
Macht« untersuchte Foucault zunächst jene Regierungstechniken, die sich im
doppelten Sinne auf den Körper – als individueller und als Gattungs-Körper –
richte (Foucault : u. ). In einer Genealogie jener Techniken, identifziert er eine Zäsur in der Regierungskunst innerhalb der Moderne, die er kontrastiv mit den Begriffen »Leben« und »Tod« fasst. Während sich die ›alte‹ Macht
des Souveräns aus der Verfügung über den Tod herleitete, entwickelte sich seit
dem klassischen Zeitalter eine Macht, die sich auf das Leben zu stützen versucht.
Die Macht, »sterben zu machen und leben zu lassen«, sei abgelöst worden von einer
Macht, die vor allem beinhalte, »leben zu machen und sterben zu lassen« (Foucault
: Hervh. i. Orig., siehe auch /: ). Was Foucault hier kontrastiv
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 261
auf den Beariff brinaen will, ist jener Wechsel in den Reaierunashandlunaen, in
dem das Leben in den Fokus der bewussten Kalküle rückt. In seinen Analysen
untersucht er somit Machttechniken, die den individuellen Körper unter Maßaaben
der Formuna, Steiaeruna und Nützlichkeit umareifen. Statt wie Kuhn damit auf
die Transformationen wissenschaftlicher Konzepte zu schauen, fokussiert Foucault
auf Veränderunaen von Reaierunasrationalitäten und kann in dieser Perspektive
die Erfnduna der Bevölkeruna, die Wirkuna disziplinierender und reaulierender
Machttechniken und die Dezentralisieruna der Macht in Form aouvernementaler
Praktiken untersuchen. Für die hier aestellte Fraae nach den Gründen der Kontinuieruna rassischer Klassifkationen, bietet sich mit den foucaultschen Untersuchunaen zur Biopolitik ein Ansatz sowohl um die weiter bestehende Funktionalität kateaorialer Einteilunaen des Menschen als auch die Veränderunaen
rassifzierender Konzepte zu verstehen. Für die hier untersuchte Fraae nach dem
Wie und Warum rassifzierender Konzepte dienten Foucaults Ansatz dabei als
Grundieruna. Deutlich aemacht werden konnte, dass über die Praktiken in den
Wissenschaen hinaus auch die Frage nach gesellschalichen Stratifzierungen
und der Bedeutung von Differenz mitgestellt werden muss.
Doch auch aktuelle Biopolitiken unterliegen Veränderungen. Die Konzeption
des Lebens, das es zu steigern und zu optimieren gilt, das Verständnis rationaler
Regierungsweisen oder die Form des Zugriffs auf die Individuen dürfen nicht als
statische Formationen missverstanden werden. Wie das Leben als fexibles und
als in gewissen Grenzen zu regulierendes verstanden wird, müssen auch aktuelle
Regierungspraktiken und das Verhältnis von wissenschalichen Konzepten und
gesellschalichen Teilungsdimension als vielfältigen Wandlungen unterliegende
untersucht werden. Gerade für die Rekonstruktion biologischer Rassekonzeptionen
wird es deshalb notwendig die Funktionalitäten rassischer Teilungen als ebenso
veränderbare zu verstehen.
In vielen der bestehenden Weiterführungen von Analysen unter dem Begriff
der ›Biopolitik‹ und ›Biomacht‹ werden allerdings omals die disziplinierenden,
ausschließenden und mittels Zwang erfolgenden Aspekte moderner Gesellschaften
herausgehoben. So greift etwa der Philosoph Giorgio Agamben in seinen Untersuchungen zur Biopolitik die Arbeiten Foucaults und Hannah Arendts auf,
betont aber seinerseits vor allem die Grenzfguren des Lebens. Diese identifziert
er im homo sacer als »nacktes Leben« und als Grundform sowohl der Unterwerfung unter die souveräne Macht als auch der individuellen Freiheit (: ). In
diesem Sinne und in Anlehnung an Agamben fokussiert der Politikwissenschaler und Historiker Achille Mbembe die Politiken des Todes und erweitert
Foucaults Begriff der »Biomacht« um die Begriffe »Nekropolitik« und »Nekromacht«, um »heutige Formen der Unterwerfung des Lebens unter die Macht des
262 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Todes zu verstehen« (: ). Dem gegenüber stehen Arbeiten wie etwa das
»Empire« des Literaturwissenschalers Michael Hardt und des Philosophen Antonio Negri, mit dem die Autoren den Begriff der Biopolitik auf den Übergang
vom Fordismus zum Postfordismus beziehen und auf die produktiven Dimensionen liberaler Machttechniken beschränken. In ihrem Gebrauch des Begriffs Biomacht begrenzen sie Foucaults Entwurf auf die Kapitalisierung von Natur bzw.
die reelle Subsumtion selbiger sowie der Gesellschaft unter das Kapital (Hardt/
Negri , S. ). Dabei vollziehen sie eine Zuspitzung der produktiven Dynamiken und versuchen, die der ›lebendigen Arbeit‹ innewohnenden Kräe als
emanzipatives Vermögen, um in gesellschaliche Verhältnisse transformativ einzugreifen, fruchtbar zu machen. Beide analytische Perspektiven auf die Nutzbarmachung des Lebens in gesellschalichen Prozessen beinhalten Begrenzungen, die
eine adäquate Analyse gegenwärtiger lebenswissenschalicher Rassifzierungen
erschweren. Während mit dem Fokus auf die Disziplinierung der Körper, die
Ausschlüsse und Nekropolitiken zwar viele Effekte intentionaler und struktureller
Rassismen in den Blick genommen werden können, sind viele der Ausweitungen
rassifzierender Forschung in den Lebenswissenschaen damit kaum angemessen
zu fassen. Auf der anderen Seite lassen sich mit einer »produktivistischen Zentralperspektive« (Schultz : ) etwa lebenswissenschaliche Rassekonzepte
als Hoffnungsträger, als »Chance das akute Problem von Rasse zu bearbeiten«
bzw. die Fehler des »vergangenen wissenschalichen Rassismus zu korrigieren«
(Bliss : ) sichtbar machen. Die reifzierenden Effekte von (Selbst)Identifzierungen, medizinischen Differenzierungen und allgemein von rassischen
Klassifzierungen sind jedoch aus einer affirmativen Fassung von Biopolitik kaum
zu überblicken. Die gesellschaftliche Segregationen entlang rassischer Einteilungen
und die lebenswissenschaftlichen Konzeptionen kategorialer Differenz entweder
als Ausdruck disziplinierender Nekropolitik oder als affrmative Handlungen eines
aktiven »biological citizenship« (Rose : ) zu beschreiben, würde nur jeweils
eine Seite der ambivalenten Prozesse um Rasse umfassen.
Für die Analyse von Rassekonzepten in den Lebenswissenschaen bedarf es
somit eines Blicks auf die ineinander verschränkten Wirkungen rassifzierender
Praktiken. Rasse in der Ära der Genetik ist eingebunden in gesellschaliche Verhältnisse und in Machtpraktiken der Kontrolle, für die die Unterteilung der
menschlichen Gattung von Nutzen ist. Gleichzeitig ist Rasse Ort sozialer und politischer Markierungen, in dem Selbst-Defnitionen der Identität und Kämpfe der
Anerkennung und Umverteilung ausgefochten werden. Wie bei anderen Identitätsformen etwa entlang der Ungleichheitsdimensionen Geschlecht, Sexualität
oder Behinderung können auch rassische Zuordnungen empowernde und emanzipative Potentiale aufweisen. Aus dieser Potentialität aber den Schluss zu ziehen,
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 263
dass heute die Repräsentationsfunktion rassischer Verortuna im Zentrum von
Differenzkonzepten stünde, würde das unlösbare Dilemma verkennen, dass auch
bei die Aneianuna sozial verorteter Differenzierunaen Mechanismen disziplinierender und unterwerfender Macht wiederholt werden (val. Hark ; Fraser
). Zweifelsfrei haben die Entwicklungen der Molekulargenetik neue emanzipatorische Ansätze ermöglicht – erinnert sei an die identitätspolitische Funktion
von genetischen Herkunstests beispielsweise für Afroamerikaner ˍinnen, denen
mit den Tests eine Herkunserzählung geboten wird, die über die Versklavung
oder die Erzählungen weniger Generationen hinausweisen. Ebenso ist die Intention der Association of Black Cardiologists, die die Marktzulassung des »rassenspezifschen Medikaments« BiDil unterstützten, als Versuch zu verstehen, die
ungleichen Zugänge zu angemessener Gesundheitsversorgung anzugleichen. Eine
ausschließliche Untersuchung der Intentionalität der Akteurˍinnen rassifzierender
Forschungsprojekte würde jedoch ebenso, wie eine einseitige Interpretation disziplinierender oder vitalisierender Wirkungen aktueller Rassifzierungen viel zu
kurz greifen. Ansätze zur Analyse biopolitischer Regulierungen stellen dagegen
für eine symmetrische Untersuchung rassifzierender Praktiken weitreichende
Mittel zur Verfügung. Rassifzierungen lassen sich damit als ein komplexes Gefüge
von Macht-Wissenstechniken rekonstruieren. Als Assemblage von Regulierungen,
die sowohl disziplinieren, normieren, normalisieren, als auch integrieren, optimieren und dezentralisieren. 22 Bedeutungsproduktion und Materialisierung kategorialer Einteilungen können somit analytisch in ihren Facetten zwischen
Ausschluss, Zwang, Kontrolle und Selbstführung aufgegliedert, gleichzeitig aber
als ineinander verschränkt verstanden werden. Rassemodelle erweisen sich aus
einer solchen symmetrischen biopolitischen Perspektive als nach wie vor modern.
So wie mit der Verwissenschalichung von Rasse im Zeitalter der Aulärung die
Spannung zwischen Gleichheitsversprechen und gesellschalicher Ungleichheitsproduktion in ein rationales Verhältnis gebracht werden konnte, vermögen
biologische Differenzkonzepte auch in der heutigen Ära der Genetik verschiedene
Funktionen auszufüllen. Boten biowissenschaftliche Rassifzierungen Erklärungsansätze für die Fragen der Moderne nach menschlicher Ungleichheit und der Legitimität von Ausbeutung und Unterdrückung der ›Anderen‹, indem sie die Natur
durch Kategorienbildung ordnen und beherrschen halfen, ermöglichen sie auch
in der vorherrschenden Rechtfertigungsordnung soziale Ungleichheit zu legitimieren und sie sind als Ressource für Politiken nutzbar, die auf die Steigerung,
Optimierung, Nützlichkeit und Ausnutzung eigener Kräfte abzielen. Rasse ist damit
22 Vgl. Klöppel für eine solche symmetrische analytische Perspektive sowohl auf disziplinierende als auch vitalisierende Aspekte biopolitischen Agierens in geschlechtertheoretischer Sicht.
264 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
noch immer in der Laae vermeintliche Lösunaen vielfältiaer, unter Umständen aar
aeaensätzlicher Problemstellunaen zu präsentieren.
Doch die neuen aenetischen Marker der Differenz sind nicht nur darauf festaeleat Sianaturen einer Ordnuna des Menschen zu repräsentieren. Zwar lieat es
für vielen Forscherˍinnen offenbar nahe die Basensequenzmuster als typoloaische
Zeichen kateaoriale Differenz zu interpretieren. Ebenso können die Zeichen aber
auch für Selbstidentifzierunaen anaeeianet oder zur Umsetzuna von antidiskriminatorischen Politiken benutzt werden. Lebenswissenschaftliche Forschunaen determinieren somit keinesfalls den Gebrauch ihrer Eraebnisse in sozialen Deutunaskontexten. War es das Ziel dieser Studie, den Kontinuierunaen bioloaischer
Rassekonzepte in der Ära der Genetik zu folaen und die Gründe für jene Konstanz bioloaischer Rassifzierunaen herauszuarbeiten, stellt sich vor dem Hinterarund aesellschalicher Erklärungen jener Konstanz die Frage nochmals auf
einer weiteren Ebene, nämlich als Frage nach der Überwindung rassifzierender
Verhältnisse. Auf Grundlage der zumindest potentiellen Offenheit genetischer
Daten bleibt zu fragen, wie diese auch für Verschiebungen in der Funktion lebenswissenschalicher Differenzkonzepte genutzt werden können. Wenn die neuen
Wahrheiten in der DNA nicht lediglich die bekannte Anordnung des Verhältnisses
von Sichtbarem und Sagbarem, von sozialen Ordnungs-, Denk- und Handlungsmustern moderner Rechtfertigungsordnung wiederholen sollen, richtet sich
die Frage auch an die Potentiale sozialwissenschalicher Analyse und Kritik.
Radikalisierung sozialwissenschaftlicher Analyse und Kritik
Was sagen die aktuellen genetischen Rassifzierungen über die bestehenden gesellschalichen Verhältnisse aus? Auf welche Problemstellungen versuchen heutige
Konzepte lebenswissenschalicher Einteilungen der Menschheit eine Antwort zu
geben? Mit diesen Fragen nach dem Gesellschalichen in der biowissenschalichen Beschäigung mit der Unterschiedlichkeit der Menschen wurde die Entwicklung rassifzierender Ansätze, die Genese von Rasse in der Ära der Genetik
und die Aktualität rassifzierender Differenzforschung rekonstruiert. Herausgearbeitet werden konnten die beständigen Auseinandersetzungen um RasseTaxonomien, deren konstitutive Wandelbarkeit und Modernisierungsfähigkeit
sowie jene folgenreiche Ambivalenz der Kritik im Sinne der Gleichzeitigkeit von
wirkmächtigen Absagen und Erneuerungsimpulsen, von antirassistischen und
rassifzierenden Potentialen. Mit der gesellschaftstheoretischen Perspektive konnte
zum Vorschein gebracht werden, was in den lebenswissenschalichen Differenzkonzepten gerade nicht offen zu Tage trat. Sichtbar wurde, wie die stetigen Ver-
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 265
änderunaen in den Differenzmodellen jenes Beharrunasvermöaen rassischer Teilunasvorstelluna in den Biowissenschaen bedingen.
Als besonders bedeutsam zeigten sich zudem die sozialwissenschalichen
und politischen Kritiken, mit denen seit dem Wechsel zum . Jahrhundert zunächst Teilaspekte rassischer Zuordnungen infrage gestellt und seit Mitte des letzten Jahrhunderts grundlegende Absagen an Rassekonzepte formuliert wurden.
Derartige Kritiken sind aber während der zunehmenden Genetifzierung der
Wissenschaen vom Leben allgemein und damit auch der Rassemodelle kaum
mehr weiterentwickelt worden. Nicht nur in der Praxis der Kritik, sondern auch
in der üblichen Historisierung gelten nunmehr die lebenswissenschalichen, insbesondere die genetischen Kritiken als die wirkmächtigen. Politische und sozialwissenschaliche Interventionen treten entsprechend hinter den älteren populations- und neueren molekulargenetischen Kritiken zurück. Auf der Seite der
sozialwissenschalichen Arbeiten liegen heute zwar Untersuchungen zu Kontinuierungen klassischer wissenschalicher Rassismen vor. Mit diesen kann etwa
relativ schnell auf den Band »e Bell Curve« oder auf ilo Sarrazins rassifzierende Aussagen reagiert werden. Aktuelle, mit den Mitteln zeitgenössischer
Genetik/Genomik erzeugte rassifzierende Konzepte fnden dagegen wenig kritische Beachtung. Heutige rassifzierende Verwicklungen von lebenswissenschalicher Wissensproduktion mit vorherrschenden Teilungspraktiken sind bisher
völlig unzureichend untersucht.
Doch wäre es verkürzt, die geringe Bedeutung sozialwissenschalicher Kritik
nur der Wirkmacht der Genetik im Sinne einer allgemeinen Genetifzierung anzulasten. Die Argumentationen eines Großteils sozialwissenschalicher und insbesondere soziologischer Analyse und Kritik fndet in einer Art Selbstbeschränkung statt, indem auf biowissenschaliche Aussagen rekurriert, mit denen etwa
die ›biologische Widerlegtheit‹ von Rasse ausgewiesen wird. Aus dem Blick gerät
damit, dass soziale Ordnungsmuster und Teilungspraxen biologisch gar nicht in
ihrer Bedeutung erfasst werden können. Gegenüber der sozialen Realität von
Rasse greifen Verweise auf innerbiologische Kritiken an dem Konzept deshalb zu
kurz, da damit noch keinesfalls die Entstehung und ReProduktion rassifizierender
Praktiken geklärt ist. Statt weiter auf die biologische Widerlegungen zu hoffen,
bedarf es vielmehr einer intensiveren Beschäigung mit den sozialen Hintergründen und den Praxen jenes Willens zum Wissen über die Differenz. Erst mit
einer Klärung der bisher unablässigen Herstellung rassifzierender Teilungen
werden wirksame Interventionen in diese Realität möglich gemacht.
Für eine zeitgemäße sozialwissenschaliche Analyse sind somit Rasse, Rassifzierungen und Rassismen als wesentliche Bestandteile gesellschalicher Fragen
zu bearbeiten. Leider wird ein Verständnis dieser Prozesse im Mainstream der
266 | RASSE IN DER ÄRA DER GENETIK
Sozialwissenschaen bisher keinesfalls als Grundbedingung eines Verständnisses
von Gesellscha angesehen. Stattdessen wird Analysen zu Rassismus, Rassifzierungen sowie rassischer bzw. ethnischer Stratifzierung lediglich der Status einer
Nische zugestanden. Hinzu kommt, dass auch innerhalb der Analysen zu Rassismus wenig Arbeiten vorliegen, mit denen Prozesse der Rassifzierung aus einer
gesellschaftstheoretischen und -kritischen Perspektive untersucht werden. So liegt
zwar »am Ende des . Jahrhunderts […] ein bedeutender Umfang an Wissen
über race relations, Stratifzierung, Diskriminierung und Identität vor, aber über
»racial conceptualisation« (Morning : ) ist wenig bekann. Was die Soziologin
Ann Morning für die amerikanische Soziologie konstatiert, gilt für die Sozialwissenschaen außerhalb des angelsächsischen Raums umso mehr. Während zu
psychischen Phänomenen, Vorurteilsmustern, nazistischen, eugenischen oder
sozialdarwinistischen Rassismen zahlreiche Arbeiten vorliegen und eine Reihe
von allgemeinen Erklärungen unter Heranziehung verschiedener Rassismustheorien versucht wurden (siehe auch das Kapitel »Perspektiven und Grundlagen«),
existieren verhältnismäßig wenige Studien, die aktuelle Funktionalität kategorialer
Differenzmodelle und lebenswissenschaftlicher Konzepte untersuchen. In gewisser
Weise wurde sich auf den Erfolgen der frühen sozialwissenschalichen Kritik an
biologischen Rassekonzepten ausgeruht. Diese hatten schließlich beträchtliche
Transformationswirkungen erzeugten, indem sie Aspekte rassischer Kategorisierung erschwerten oder unmöglich machten. So sind Vorstellungen, die Rasse als
reinerbige Gruppe konzipieren, eorien zur »Degeneration« und der Schädlichkeit der »Rassenmischung« oder die Feststellung der Inferiorität der ›Anderen‹
nicht mehr Bestandteil aktueller lebenswissenschalicher Konzepte. Entsprechend sind die meisten aktuellen lebenswissenschalichen Arbeiten, in denen
mit rassifzierenden Konzepten hantiert wird, nicht mit einer Kritik zu fassen, die
nach Wertungen und Kontinuitäten klassisch typologischer Modelle sucht. Ebenso
wenig sind aktuelle Rassifzierungen (wie etwa die zu Beginn des Kapitels angeführten Äußerungen Watsons) mit einer Beurteilung zu fassen, die lediglich auf
intentional rassistische Denkweisen oder die Fortführung nazistischer Vorstellungen schaut. Da die Konstanz der kategorialen Ordnungsvorstellungen gerade
auf deren Wandlungsfähigkeit der Konzepte beruht, bedarf es – diesem Befund
stetiger Modernisierungen lebenswissenschaftlicher Rassekonzepte entsprechend –
auch einer an die Veränderungen der Modelle angepasste Kritik. Spielten sozialwissenschaliche und politische Kritiken zu Beginn des . Jahrhunderts und für
das UNESCO-Statement zur »Rassefrage« von eine zentrale Rolle im Diskurs um Rasse, sind sie heute gegenüber den innerbiologischen Infragestellungen
eher marginal. Zur Stärkung sozialwissenschalicher Perspektiven auf Differenzkonzepten braucht es deshalb zuallererst der Einsicht, dass soziale Ordnungssys-
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 267
teme und aesellschaliche Praxen der Stratifzierung gar nicht biologisch widerlegt werden können. So wenig, wie sich Stereotypisierungen, Differenzkonstruktionen und damit verkoppelte Privilegienzuteilung bzw. Deprivilegierungen in
körperlichen (physischen, molekularbiologischen oder genetischen) Signaturen
aulären lassen, so wenig lassen sie sich mit diesen entkräen. In diesem Sinne
bedarf es einer Resoziologisierung der ritik, um dem Rekurs auf genetische Marker
zur Darstellung von Rasse ein Verständnis sozialer Teilungs- und Ordnungsdimensionen entgegensetzen zu können. Auf die bisher unablässige Modernisierung
rassifzierender Modelle muss also ebenso eine Modernisierung des sozialwissenschalichen Analyse- und Interventionsinstrumentariums folgen.
Ausgangspunkt eines aktualisierten sozialwissenschaftlichen Instrumentariums
muss das Verständnis jener mit der europäischen Moderne installierten Normsetzungen, die identitätsstiend und ungleichheitsgenerierend wirken. In der hier
vorgenommenen Analyse zeitgenössischer biologischer Differenzkonzepte wurde
deshalb von einem noch immer ungelösten Gleichheits- und Differenzproblem
ausgegangen. In Folge jener ›Norm der Gleichheit‹ steht die Frage nach den
Gründen bestehender menschlicher Ungleichheit in vielfältiger Weise an vorderer
Stelle. Da ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dem Selbstbild bürgerlicher Gesellschaen vordergründig entgegensteht, wird Ungleichheit als zu erklärendes,
rational zu fassendes und zu legitimierendes Problem. Diese Notwendigkeit zur
Legitimation stellt sich vielfältig in alltäglichen Interaktionen und fndet sich in
politischen Problematisierungen sozialer Ungleichheit. Funktional für solche Legitimationsnotwendigkeiten waren bisher vor allem Argumentationen, die auf eine
wesenhae Differenz rekurrieren. Mit einer Differenzierungsmaschinerie wird
somit nach Merkmalen gesucht, die jene sozial wahrnehmbaren Unterschiede
den Personen selbst zuweisen und zugleich eindeutige Identifzierungen zulassen
sollen. Seit Beginn der Moderne hat sich dafür vor allem der Rekurs auf die Natur
als Urgrund allerlei Differenz bewährt. In der Ankopplung rassifzierender Teilungen an physische Merkmale wie Haut- und Haarfarbe liegt die Biologie
scheinbar schon als Differenzmarker nahe. Hinzu kommt, dass im Wertesystem
wissenschaftlicher Aussagen Bestimmungen substantieller, biologisch begründeter
Differenz allgemein hoch bewertet werden. Seit Beginn der Verwissenschaftlichung von Rasse versuchen deshalb Forscherˍinnen deshalb unablässig, eine materiale Signatur zum Vorschein zu bringen, die der sozialen Teilung entspricht und
diese zumindest implizit auch erklären kann. Die Hoffnung auf eine Aulärung
der Unterschiede dynamisierte so eine bis heute bestehende Suche nach biologischer Differenz zwischen menschlichen Gruppen. Mit vielfältigen Messungen
sollte damit naturwissenschalich belegt werden, was im Alltag wie in politischen Vorstellungen vorherrschende Überzeugung war, nämlich die Andersheit
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der anderen Rassen sowie die von Frauen und Anaehöriaen unterer Klassen im
Veraleich zum jeweiliaen Idealbild der Zivilisation und Kultur. Seit Erfnduna des
Rassebeariffs in der Frühen Neuzeit stand dieser für die Behauptuna eines wesenhaen, über Generationen stabilen Unterschieds, der nicht durch soziale
Praktiken, sei es der Konversion, der Migration oder der ›Vermischung‹ zum
Verschwinden gebracht werden konnte. Zu der Zeit, als mit dem entstehenden
Bürgertum und einer allmählichen Säkularisierung soziale Standesunterschiede
immer mehr zur Disposition standen, boten kategoriale Differenzen somit eine
produktive Möglichkeit, bestehende Statuspositionen zu festigen. Differenz ist aus
diesem Grund in ihrer Doppelfunktion als Systematisierungsschema einer natürlichen Ordnung des Menschen und der Legitimierung von Ungleichheit unter
dem Ideal bürgerlicher Gleichheit tief in die Verfasstheit gegenwärtiger Verhältnisse eingeschrieben und zudem mit Prozessen der Subjektivierung und Identifzierung überdeterminiert.
Für sozialwissenschaftliche Analysen erzeugt die Überlagerung mehrerer Bedeutungsebenen von Differenz besondere Herausforderungen. Diese werden
jedoch darüber hinaus noch erschwert in Folge der nachwirkenden Trennung in
eine Ungleichheitsforschung, die aus sozialpolitischen Auseinandersetzungen um
die Soziale Frage im . und . Jahrhundert entstand und seither selten Rassifzierungen in den Fokus nahm, sowie Rassismustheorien, die wenig über den Antidiskriminierungsdiskurs hinausreichend in den Kanon der Gesellschaftstheorien
aufgenommen wurden. Als Ergebnis der Trennung können Analysen rassifzierender Verhältnisse bisher nicht an die Wirkmacht politischer und sozialwissenschalicher Kritik der ersten Häle des . Jahrhunderts anschließen.
Heutzutage fnden sich allerdings für eine selbstbewusste soziologische Perspektive
einige Anschlussmöglichkeiten an lebenswissenschaliche Forschungen. So lässt
sich das wiederholte Misslingen eindeutiger Zuordnungen als ein verbindendes
Merkmal aller bisherigen biologischen Sammelleidenschaft und Ordnungsversuche
deuten. Dass Rasse für die ›exakten Wissenschaen vom Leben‹ zu keiner Zeit in
eine allgemein anerkannte Bedeutung zu fassen war, kann entsprechend für eine
Stärkung sozialtheoretischer Analysen genutzt werden. Schließlich blieb die prinzipielle Unterbestimmtheit der Rassemodelle trotz der mehrere Jahrhunderte andauernden Suche und der Menge an physischen, psychischen, molekularbiologischen und genetischen Datensammlungen bestehen. Die dabei immer wieder
erzeugte Unzulänglichkeiten versuchten die Forscherˍinnen mit mehreren Strategien zu begegnen: Etwa mit dem Verweis auf vermeintlich verfälschende Einflüsse
durch die Umwelt oder mit der Hoffnung, dass weiterer Datenerhebungen und
neue Differenzmarker klarere Ergebnisse zum Vorschein bringen würden. Letztlich
versuchten Generationen von Forschenden den Problemen mit einer Vielzahl
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 269
neuer Modelle zu beaeanen. Doch immer wieder erzeuaten die neuen Messunaen,
die Sequenzierunaen und umfanareichen statistischen Bearbeitunaen fießende
Überaänae, Ausreißer und verschwimmende Ränder. Im Verlaufe des . Jahrhunderts glaubten die Forscherˍinnen, die Probleme mit einer immer tiefer reichenden Suche im Innern der Körper, mit der Untersuchung der Proteine und
den Genen tilgen zu können. Mit dieser Verinnerlichungs- und Verkleinerungsbewegung gerieten deshalb neue Objekte des Lebens in den Fokus der Differenzierungsmaschinerie. Aber auch mit Erreichen der kleinen Differenzmarker und mit
der Darstellbarkeit der DNA ließ sich die Kontingenz sozialer Einteilung noch
immer nicht in ein an biologischen Merkmalen abgesichertes Ordnungskonzept
verstetigen. Neben dieser Möglichkeit, an dem Misslingen biologischer Ordnungsbestrebungen anzusetzen, bieten sich zudem weitere Anschlüsse an aktuelle lebenswissenschaftliche Ansätze an. Insbesondere Untersuchungen zum embodiment, zu
epigenetischen Phänomenen, zur Materialisierung sozialer Praktiken, aber auch
Studien zur Materialität körperlicher Prozesse, denen es nicht um eine Vorgängigkeit der Biologie geht, bieten reichlich Potential für eine modernisierte sozialwissenschaliche Perspektive. Da sich einige lebenswissenschaliche Ansätze
immer mehr von deterministischen Konzepten abwenden und interdependente,
die Umwelt und das Soziale eingedenkende Modelle entwerfen, bieten sich vielfältige sozialtheoretische Überschneidungen. Eine radikalisierte sozialwissenschaliche Kritik kann mit Bezug auf diese Forschungen auch über die Einsicht –
dass soziale Ungleichheitskategorien nicht biologisch widerlegt werden können –
hinausgehen und mit einer selbstbewusste Position vertreten, dass menschliche
Ungleichheit prinzipiell biologische Erkenntnismittel übersteigt. Das heißt nicht,
dass zwischen beiden keine Bezüge möglich sind. Im Gegenteil, soziale Ungleichheiten können sehr wohl auch mit biologischen Differenzen korreliert und soziale
Teilungen können auch in körperliche Effekten dargestellt werden. Aber Praxen
der rassifzierenden Kategorieneinteilung und Zuordnung und lassen sich eben
niemals adäquat als körperliche Differenz verstehen. Die biologische Unbestimmbarkeit menschlicher Differenzen meint somit die Unmöglichkeit, menschliche
Vielfalt mit den Mitteln und in den Ordnungsprinzipien lebenswissenschalicher
Unterscheidungen zu verstehen zu können. Da Rassifzierungen in je spezifschen
gesellschaftlichen Kontexten stattfnden, sind diese auch nur als je spezifsche
soziale Praxis, als Praktiken der Kategorisierung zu analysieren. durch die Menschen in Gruppen geordnet werden. Was in alltäglichen Interaktionen zählt, sind
eben nicht die ›kleinen Unterschiede‹ in genetischen Markern, sondern Unterscheidungen, in denen soziale Bedeutsamkeit mittels Einteilungen und daran
gekoppelte gesellschaftliche Positionierungen eingeschrieben wird. Um die Selbstbeschränkung sozialwissenschaftlichen Agierens aufzuheben, bedarf es somit
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eines dynamischen Verständnisses aesellschalicher Kontingenz, inklusive einer
Analyse der Wirkungen biowissenschalichen Wissens und deren gegenseitiger
Verwicklungen.
Für eine postrassifizierende Wissenschaft vom Menschen
Produktion von Wissen stellt keinesfalls nur eine neutrale Widerspieglung der
Welt her, sondern mit wissenschalichem Wissen werden immer auch Interventionen in diese Welt erzeugt. Diente Wissenscha in der Vormoderne und der
Aulärung vor allem der Beherrschung der Natur, sollte die Problematisierung
dieser Sichtweise ihr Ideal nicht in der bloßen Wiederholung der Welt suchen,
sondern Wissenschaft als eine Ermöglicherin verstehen, die gestaltend in Verhältnisse eingreift und gesellschaftliche Bedingungen somit mit formt. In diesem Sinne
ist Wissenschaft als eine Praxis zu verstehen, die ergründet, was die Welt im Innersten zusammen hält, um die Veränderbarkeit dieser Welt, die Erzeugung von Neuem
zu ermöglichen. Und deshalb obliegt der Produktion von Wissen und Wahrheit
eine Verpfichtung die bestehenden Verhältnisse zu refektieren, diese kritisch zu
machen sowie alternative Gestaltungen von Gesellscha zu befähigen.
Eine Refexion der Funktion und Wirkung von Wissenscha als Teil von Gesellscha hat insbesondere Auswirkungen auf die Verwendung von Kategorien
als Erkenntnis- und Darstellungsmittel. In Kategorien kann benannt werden, was
als Ordnungsstruktur gerade nicht offenbar ist. Gleichzeitig vollzieht sich mit
dieser Artikulationsfunktion immer auch die Gefahr, gesellschaliche Stratifzierung zu festigen und voranzutreiben. Diese Doppelwirkung der Sichtbarmachung und Reifzierung ist kategorialen Zuordnungen eingeschrieben. Statt aber
weiterhin nach den richtigen biologischen oder kulturessentialistischen Signaturen
einer Ordnung des Menschen zu suchen, ist die Unschärfe des Rassebegriffs, die
empirische Unterbestimmtheit und Fluidität der Modelle als das Wesen menschlicher Beschäigung mit Unterschiedlichkeit zu verstehen. Als Terminus soziokultureller Gruppenzuordnungen ist Rasse deshalb auch wesentlich durch
kontingente, relationale, ambige und kontextspezifsche Zuordnungen geprägt
und muss dies auch sein, um sich potentiell wechselnden und sich entwickelnden
gesellschalichen Prozessen anpassen zu können. Die sozialwissenschalichen
Konzepte zur Fassung von Ungleichheit (neben Rasse und Ethnie etwa Geschlecht,
Sexualität, Behinderung) benötigen in aller Regel jene spezifsche Anpassungsfähigkeit, um sowohl für eine adäquate Beschreibung der sozialen Welt als auch für
Interventionsstrategien geeignet zu sein. Rasse und Ethnizität müssen demgemäß
als analytische Begriffe variabel sein, wenn sie kulturell, historisch und kontextuell
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 271
variierende aesellschaliche Praktiken beschreib- und verstehbar machen sollen.
Die Qualität der sozialwissenschaftlichen Analysekategorie beruht also gerade auf
ihrer fexiblen Anwendbarkeit in sich wandelnden Situationen und auf der Prämisse, dass politische Interventionen Veränderungen in den Praktiken, Repräsentationen und Materialisierungen bewirken können. So bezeichnen die Begriffe
Rasse, Ethnizität, Rassifzierung und Rassismus analytische Kategorien zur Beschreibung und Problematisierung von Herrscha, sozialer Schließung, Segregationspraktiken, sozialstruktureller Ungleichheit sowie zur Fassung von Identitätspolitiken unter sich verändernden gesellschalichen Bedingungen.
Der konstitutiven Anpassungsfähigkeit sozialer Heuristik zur Bestimmung
sozialer Ungleichheit entlang rassischer und ethnischer Kategorien stehen die
Versuche biologischer Bestimmung entgegen. Mit diesen sollen stattdessen möglichst statische Unterschiede gefunden werden. Doch der Rassebegriff vereinte auch
in den diversen biowissenschalichen Ausformungen schon immer biologische
Merkmale mit sozialkulturellen Zuweisungen. Dadurch war es möglich, dass Rasse
als »boundary concept« (Löwy ) immer wieder Anschlüsse sehr unterschiedlicher Zugriffe zur Beschreibung von Unterschieden in sich vereinen konnte. Während jedoch lebenswissenschaliche Kategorien lediglich die Möglichkeit bieten,
Differenzsignaturen mit technischen und mathematischen Mitteln sichtbar zu
machen, können sozialwissenschaliche Analysen darüber hinaus die Decodierung der Entstehung und Reproduktion von Rasse sowie der diversen rassifzierten
Wissensbestände leisten. In diesem Sinne ist Rasse eben nicht als überzeitliches
Phänomen, sondern als umkämpes und immer wieder durch Umarbeitung und
Veränderung gekennzeichnetes Wissensfeld zu analysieren.
Doch in der Anforderung an einen sozialkulturellen Begriff von Rasse besteht
ein Problem mit der herkömmlichen und in das Wort eingeschriebenen Bedeutung. Neben der Konnotation mit Kolonialismus und Rassenhygiene und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus sind dem Rassebegriff statische Bedeutungen
quasi eingeprägt, die auf starre Vorstellungen von Herkun, Abstammung etc.
rekurrieren. Aus diesem Grund kann der Begriff bisher die Anforderungen eines
sozialwissenschalichen Gebrauchs an Fluidität, Kontingenz und Wandelbarkeit
höchst unzureichend erfüllen, weshalb für eine zeitgemäße sozialwissenschaftliche
Bestimmung von Rassifzierungen anpassungsfähige Analysekonzepte entwickelt
werden müssen. Hierfür bedarf es vor allem eines sich stetig modernisierenden
analytischen Verständnisses von Rassismus und Rassifzierungen. Rassismus kann
entsprechend nicht mit der Mastererzählung einer allumfassenden Rassismustheorie erfasst werden. Theorien zu Rassismus und Rassifzierung sind vielmehr als
ein (zumindest zurzeit absehbar) unabgeschlossenes Feld zu entwerfen. Voraussetzung dafür ist eine Wissenschaft, die Ungleichheit als kontingenten Effekt sozialer
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Teilunaen fassen kann, dessen Erscheinunaen aus umkämpen, vorgefundenen,
aber auch geschaffenen und gestalteten Bedingungen hervorgehen. Der Analyse
und Kritik von Gesellscha kommt in einem solchen Verständnis die Aufgabe zu,
den Widerspruch zwischen Gleichheits- und Freiheitsversprechen und die
(Re)Produktion gesellschalicher Teilungsdimensionen zu analysieren und Möglichkeiten zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit beizutragen. Um die »Realität
unannehmbar zu machen« (Boltanski : ) braucht es jedoch eine Abkehr von
kategorial statischen Modellen menschlicher Ungleichheit. Für die Untersuchung
rassischer Teilungen bedarf es entsprechend einer postrassifzierenden Wissenscha. Ein solcher Ansatz umfasst die Einsicht, dass Rasse im herkömmlichen
Verständnis kein Konzept sein kann, mit dem menschliche Diversität – sowohl
im biologischen als auch im sozialstrukturellen Sinne – ausreichend erfassbar ist.
Rasse ist viel zu krude, da unter diesem Konzept bisher Vielfältigkeiten homogenisiert und entlang vermeintlich essentieller Merkmale in sich gegenseitig ausschließende Gruppen geordnet werden. Aus diesem Grund lag es für mittlerweile
mehrere Generationen von Kritikerˍinnen nahe den Rassebegriff zu verabschieden und anderen Benennung von Kategorisierungen, nach Herkun, Hautfarbe,
Nationalität, Kultur etc. zu versuchen. Diese Versuche sind jedoch bisher minder
erfolgreich verlaufen, sodass in sozialwissenschalichen Kontexten omals nur
die Kritiken an Rassekonzepten vorliegen ohne eine adäquate Artikulation sozialer
Teilungsdimensionen vornehmen zu können. Statt aber lediglich Kategorien zu
bekämpfen, ist – wie es die Rechtstheoretikerin Kimberle Crenshaw formuliert – für eine Wissenschaft zu plädieren, welche die Art und Weise herausarbeitet,
in der »Macht um einzelne Kategorien gruppiert ist und gegen andere eingesetzt
wird« (: f.). Die Verabschiedung rassifzierender Kategorien darf somit
nicht zu einer Beschneidung sozialwissenschalicher Analyse- und Kritikfähigkeit führen. Statt einer bloßen Vermeidung der Kategorie Rasse wird somit ein
darüber hinaus gehender Ansatz nötig.
Für die Konzeption eines solchen macht- und herrschaskritischen Ansatzes
lässt sich eine von der Soziologin Leslie McCall vorgenommene Systematisierung
intersektionaler Analysen aufgreifen und weiterentwickeln. McCall fasst verschiedene Forschungs- und Theorieansätze multiperspektivischer Untersuchungen
anhand ihrer Gemeinsamkeiten in der Konzeption von Differenz zusammen.
Anhand dessen, wie die Untersuchungen »analytische Kategorien verstehen und
nutzen, um die Komplexität der Intersektionalität im Sozialen zu ergründen«,
(: ) unterteilt sie die Ansätze in drei Gruppen: Dekonstruktivistische
Zugänge beschreibt sie als antikategorialen Komplexitätsansatz. Differenztheoretische und makrosoziologische Ansätze fasst sie unter dem Begriff interkategorial,
und standpunkttheoretische sowie identitätspolitische Ansätze z. B. Schwarzer
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 273
Feministinnen als intrakateaorialen Ansatz zusammen. Anaelehnt an diese Gliederuna lassen sich ebenso sozialwissenschaftliche Differenzkonzepte anhand ihrer
jeweiliaen Schwerpunktsetzunaen zusammenstellen. In Anschluss an McCalls
Systematisierunasvorschlaa versuchen beispielsweise rechtstheoretische Entwürfe
zur internationalen Antidiskriminierunasaesetzaebuna einen Ansatz der Postkategorialität zu entwickeln (Baer ; Liebscher et al. sowie Naguib ). Ob
im Rahmen von Benachteiligungsverboten und Gleichstellungsgesetzen oder zur
Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse stehen kategoriale Unterscheidungen
immer in Relation zu Reifzierungen der Differenz. So wie kategoriale Differenzmodelle problematische Effekte bei der Beschreibung menschlicher Ungleichheit
erzeugen, steht der Bezug auf Gruppenrechte in der Gefahr, Essentialisierungen
zu wiederholen. »Wer Unterschiede sät, kann Diskriminierungen ernten« problematisiert etwa die Juristin Susanne Baer Wirkungen des Antidiskriminierungsrechts und konkretisiert, dass die Einteilung von Menschen in Gruppen diese
unzulässig auf ein Merkmal oder eine Eigenscha reduziere (: u. , vgl.
auch in soziologischer Perspektive Bienfait , Knapp ). Ähnlich argumentiert auch der Jurist Tarek Naguib, dass »essentialistische Fehlschlüsse« die
»Diskriminierungs-Opfer-Kategorien« zu einer schlechten Lösung werden ließen,
da die geltende Antidiskriminierungspraxis die Essentialismen reproduziere, die
sie zu beseitigen sucht (: ). Sowohl in der Rechtspraxis aber auch in affrmative bzw. ausgleichende Maßnahmen werde von Betroffenen zumeist die Verortung
in jeweilig anerkannte Kategorien verlangt. Postkategorial meint dagegen eine solche Reproduktion von Zuordnungskategorien zu vermeiden und stattdessen die
Markierung von Prozessen, die Differenz konstruieren vorzunehmen (ebd. ).
In Abkehr von kategorialen Konzepten, die nach Signaturen des Unterschieds
suchen, stellen solche Ansätze zur Fassung von Diversität und Intersektionalität
Binnendiversitäten innerhalb von Kategorien heraus. Damit wird versucht, die
Komplexität sozialer Strukturen und jene innerhalb aller Identitätsklassifzierungen
enthaltenen »vielfältigen Identitäten« (Yuval-Davis : ) zum Vorschein zu
bringen sowie zugleich Zuordnungen mindestens zu »verUneindeutigen« (Engel
). Angeschlossen wird hierfür an poststrukturalistische, insbesondere feministische, queere sowie Analysen von People of Color, in denen die gesellschaliche
Konzeption von Differenz sowie die enthistorisierenden, essentialisierenden, naturalisierenden und homogenisierenden Praktiken als Problem in den Blick genommen werden (Hill Collins ; Crenshaw ; Fraser ; Young ; Klinger/
Knapp , ). Neben interaktionistischen und mikrologischen Analysen
bedarf es zur Erfassung der verschiedenen Ebenen von Rassifzierungen ebenso
makrosoziologischer Ansätze, die auf gesellschaliche Strukturen, Institutionen
und (Herrschas-)Verhältnisse fokussieren und damit den Blick auf die mit kate-
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aorialen Unterscheidunaen verbundenen Normsetzunaen, Wertunaen, Hierarchisierunaen und Ausschlussproduktionen ermöalichen. Für die Vielfalt menschlicher Unterschiede bedeutet dies, über die Differenzdimension Rasse/Ethnie
hinauszuaehen und für die Analyse sozial-kultureller Verhältnisse offene und variable Bezeichnunaen vorzunehmen. Oder aber den Bedeutunasaehalt der Beariffe
soweit zu sozialisieren, dass mit ihnen die Artikulation sozialer Verhältnisse aelinat, ohne Personenkateaorien im Sinne einer starren und naturalisierten Zuordnuna zu aenerieren. Postkateaorialität in Bezua auf die Repräsentation von
Differenz folat somit der Einsicht, dass ein Verständnis aesellschalicher Verhältnisse auch die Artikulation sozialer Ungleichheiten zwischen im sozialen, kulturellen und historischen Kontext relativ stabilen Gruppen notwendig macht. Aber
Postkategorialität bedeutet zudem, die Refexion darüber, dass die Benennung
von Ungleichheit immer mit der Gefahr einher geht, Unterschiede zu reifzieren.
Dieses als »Dilemma der Differenz« (Minow ) bekannte Problem umfasst
einerseits die Notwendigkeit analytischer Kategorisierungen zur Artikulation sozialer Differenzierungen und andererseits die Tendenz, eben jene Kategorien zu ontologisieren. Das Ziel ist es, mit postkategorialen Differenzierungen dann die
Verabschiedung von rigiden Ordnungsprinzipien und die Entwicklung eines postrassifzierenden Zugangs als eines wandlungsfähigen und beweglichen Modells
von Ungleichheit zu ermöglichen. Ein solches Modell, kann analytisch gesellschaliche Strukturen und Teilungsdimensionen in ihrer Relation zu körperlichen und biologischen Merkmalen erfassen, ohne diese als vorgängig zu sozialen
Praktiken darzustellen.
Ausgangspunkt einer reflektierten Benennung von Ungleichheit kann deshalb
nur ein Verständnis der Vielfalt an kulturellen Praktiken, des Eigensinns der
Akteurˍinnen und der Diversität an Materialisierungen sein. Möglich wird aus
einer solchen Perspektive »die soziale und historische Verfasstheit und die Relationalitätsformen spezifscher Kategorien von Personen« (Knapp b) genauer
zu begreifen. Hierfür müssen Identifkationen, Ungleichheitslagen, Ungleichheitsund Diskriminierungserfahrungen und gesellschaliche Herrschasverhältnisse
in den Blick genommen, aber ebenso die mit ihnen einhergehenden Homogenitäts-Unterstellungen, Strategien der Naturalisierung und Ent-Historisierung
sichtbar gemacht werden (vgl. ebd.). In der Analyse und Kritik von Rassismus
und Rassifzierung geht es deshalb nicht um Zugehörigkeiten, sondern um Prozesse der Zuordnung, nicht um Merkmale, sondern um die Verteilung begrenzter
Güter und die Vorenthaltung gleicher Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten.
Für die Überwindung rassifzierender Verhältnisse muss Wissenscha über die
Artikulation gesellschaftlicher Ungleichheit hinaus agieren und die Verhältnisse als
von Menschen gemachte auch als von Menschen gerecht zu gestaltende entwerfen.
ANALYTIK RASSIFIZIERENDER GESELLSCHAFTEN | 275
Der Startpunkt für eine postrassifzierende Wissenschaft ist somit ein Verständnis
jener mit der Moderne erzeuaten und seitdem stetia, aber veränderlich reproduzierten Unaleichheiten. Richtunasweisend bedarf es dafür eines Selbstverständnisses einer unaleichheitssensiblen, aber postkateaorialen Wissenscha vom
Menschen – sowohl als analytisch produktiver als auch als intervenierender
Kraft. Für dieses Ziel sollten die modernen Gesellschaften aufhören, immer wieder
die gleiche Frage nach der Essenz von Rasse zu stellen.
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Epidemioloaie ,
ETC Group ↑ RAFI
Euaenik , , , , f., , ff.,
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European , , ,
Fausto-Sterlina, Anne , , ,
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Feministische Wissenschastheorie &
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Fischer, Eugen , , , ,
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Foucault, Michel , , ff., ,
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Frequenzunterschiede / Gen-, Allelfrequenzunterschiede ,
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Gelelektrophorese ↑ Elektrophorese
Gender/Geschlecht , , , , ,
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Genographics ,
genome-wide association study ,
HapMap, International Haplotype
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Herder, Johann Gottfried
Herkunftstests f., f., ff., ,
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Hertz, Friedrich Otto , , ,
Human Genome Diversity Project ,
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Humangenomprojekt , , ,
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Identität , , , ,
iGENEA ,
Innergruppenvarianz , ,
Intelligenz, Intelligenzquotient (IQ)
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Jensch, Carl
Jensen, Arthur ,
Johannsen, Wilhelm , ,
Juden/Jüdinnen , , ff., , ,
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Knußmann, Rainer ,
Kolonialismus , , f., , ,
Kraniologie, Schädelkunde ,
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Lewontin, Richard , , , ,
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Linné, Carl von , f., , ,
Livinastone, Frank , f.
Louisiana Serial Killer
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Mendel, Greaor Johann, mendelsche
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Medikalisieruna , , , ,
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Medizin , , , , ff., ,
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Menaele, Josef , , , f.,
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Mikrosatelliten , , ff., ,
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Minisatelliten ff., ,
Mitochondrien, mitochondriale DNA
(mtDNA) , , , ff.,
Molekularbioloaie ↑ Bioloaie
Native American , , , ,
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Nitromed , ,
Nukleinbase, Nukleotid , ,
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Obama, Barack ff.
Ohrenschmalz f.
People of the First Nation ,
Polymorphismus f.,
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Psycholoaie , , , , ,
; Rassenpsycholoaie , ;
Race Psycholoaie , ,
Rabinow, Paul , , , , ,
Race Psycholoay ↑ Psycholoaie
RAFI, Rural Advancement Foundation International
Rassenhyaiene ↑ Euaenik
Rassenmischuna , , , f., ,
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Rassismustheorien , , f., ,
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Rehobother Bastards , f., ,
Restriktions-Fraament-LänaenPolymorphismen (RFLP) ff.,
Rushton, Phillippe
Sarrazin, ilo ,
Schädelkunde ↑ Kranioloaie
Schwidetzky, Ilse , , ,
Seroanthropoloaie ↑ Blutaruppen
Seroloaie ↑ Blutaruppen
SNP, sinale nucleotid polymorphism
↑ EinzelnukleotidPolymorphismus
Stammbaum , ,
Stanford-Binet-Test
↑ Intelliaenzquotient
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Sub-Saharan African , , ,
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Tuskeaee Syphilis Experiment ff.,
UNESCO , , , ff., , ,
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Vaterschastest ,
Venter, Craig , ,
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Wissenschalicher Rassismus
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Y-Chromosom , , , ff.,