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Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt Adrian Baschung Einleitung Ein Henkersschwert ist per se ein Objekt, welches auf vielen Ebenen zu beeindrucken und zu interessieren vermag. Zum einen ist da die Faszination des Makabren, welche die Tätigkeit des Scharfrichters und seines «Arbeitsinstruments» umgibt. Zum andern ist ein Schwert selbst auch stets eine Projektionsfläche für verklärte Vorstellungen des Mittelalters mit Rittern, Burgen und holden Jungfrauen, welche noch heute stark durch die Romantik des 19. Jh. geprägt ist und mit der historischen Wirklichkeit mitunter wenig zu tun hat. Auch die handwerkliche Arbeit, wie die des Waffenschmieds oder des Schwertfegers, welche diese Waffen gefertigt haben, ist eine spannende Thematik. Letztendlich ist auch die fechterische Handhabung dieser Waffe ein Aspekt, welcher gerade heute viele Historiker und Fechtenthusiasten begeistert. Dem Thuner Richtschwert ist es vergönnt, alle diese Blickwinkel zu bedienen. Es stellt ein Schwert dar, welches «ritterlichen» Ursprungs zu sein scheint und in einer Zweitverwendung zum Richtschwert umfunktioniert wurde. Die Verarbeitung und die Verzierungen auf der Klinge geben Aufschluss zu Herstellung, Herkunft und Datierung der ursprünglichen Waffe. Und die Handhabe dieser Griffwaffe wird ebenfalls gewisse Diskussionspunkte in der wissenschaftlichen Bearbeitung liefern. In diesem kurzen Artikel sollen nun die bisherigen Erkenntnisse und Untersuchungen zum Richtschwert aus Thun präsentiert werden, welche anlässlich der neuen Ausstellung des Schlossmuseums Thun 2018 gemacht wurden. Dabei soll der Hypothese nachgegangen werden, wonach die Klinge des Richtschwertes ein Produkt aus der Zeitenwende vom 13. ins 14. Jh. darstellt. Ausgangslage Mit der expositorischen Neuausrichtung des Schlossmuseums Thun sollte auch das sogenannte «Thuner Richtschwert» (Inv. Nr. 4501) einen prominenten Platz in der neuen Ausstellungskonzeption erhalten. Um mehr über diese Waffe in Erfahrung zu bringen und allenfalls eine Rekonstruktion eines zeitgenössischen Schwertgefässes zu erstellen, stellte die damalige Museumsleiterin, Frau Lilian Raselli, eine Anfrage 26 Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt für eine Expertise an das Schweizerische Nationalmuseum Zürich (SNM). Der Autor stellte sich ab dem November 2017 für eine erste Begutachtung zur Verfügung und begleitete anschliessend das Projekt «Richtschwert» als Historiker und Interessent für die historische Waffenkunde. Die Waffe Um den nachfolgenden Erläuterungen folgen zu können, soll der geneigten Leserschaft zunächst die Waffe beschrieben werden. Eine Schwertbeschreibung erfolgt anhand der einfachen Regel, indem das Schwert, wenn auch supponiert, beim Griff (waffenhistorisch auch Heft genannt) gefasst und vor dem Begutachter hochgehoben wird. Somit befindet sich der Knauf «unten» und die Spitze «oben».1 Allgemein kann man bei einer Griffwaffe wie einem Schwert drei wesentliche Teile beschreiben: Das Gefäss, die Klinge und die Schwertscheide. Da beim Thuner Richtschwert keine Schwertscheide überliefert wurde, fällt dieser Teil weg. Das Gefäss eines Schwerts besteht aus drei Teilen, nämlich dem Parierelement/Parierstange oder Handschutz, dem Griff/Heft und einem Abschluss, welcher durch einen Knauf oder eine Kappe, sowie der Vernietung der Klinge gekennzeichnet ist. Abbildung 1: Das Thuner Richtschwert, Schlossmuseum Thun. Das hier behandelte Schwert weist eine für europäische Griffwaffen ungewöhnliche Form des Gefässes auf. Das Parierelement ist eine aus Eisen oder Stahl gefertigte Scheibe, welche eine s-förmige Grundfläche besitzt. Der Griff ist ein unten abgerundetes, zylinderförmiges Stück Wurzelholz, welches oben bei der Parierscheibe mittels einer Eisenzwinge an seinem Platz gehalten zu sein scheint. Die Schwertklinge ist am Ende des Holzgriffs flächig vernietet. Beinahe erinnert es an eine 1 DREGER 1926, S. 98. 27 Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt Gefässmontur eines japanischen Schwertes. Bei diesem Gefäss dürfte es sich um eine lokale Fertigung des 19. Jahrhunderts handeln, welche scheinbar darauf ausgerichtet war, nicht eine authentische Rekonstruktion eines Schwertgefässes darzustellen, sondern den eher makaber-exotischen Charakter eines Scharfrichterschwertes zu erfassen (Abb. 1). Die Klinge ist an der Wurzel breit und verjüngt sich nur wenig zum Ort (Spitze einer Griffwaffe) hin. Beidseitig befindet sich je eine Hohlkehle von der Schwertwurzel bis ins letzte Viertel der Klinge. Der Ort scheint zu einem rundlichen Abschluss abgeschliffen worden zu sein. Dies ist wohl der gängigen Richtschwertform ab der zweiten Hälfte des 16. Jh. geschuldet, bei welcher die Klingen nicht spitz ausgearbeitet sind, sondern rundlich bis flach enden. Dies unterstreicht die Funktion eines Schwertes als Hinrichtungsinstrument, da der Scharfrichter eine solche Waffe für einen kräftig geschwungenen Hieb zu verwenden hatte und nicht, um damit zuzustossen. Da sich die ursprüngliche Form des Gefässes nicht mehr erhalten hat, ist es schwierig, die Terz- bzw. Quartseite der Klinge festzustellen. Aus diesem Grund wird in der Folge von der Klingenfläche A und B gesprochen. Die Flächen A und B sind mit Symbolen, Zeichen und Buchstaben verziert. A zeigt unten bei der Klingenwurzel ein Punktkreuz, gefolgt von einer stilisierten Blume, welche in einem Doppelkreis einbeschrieben ist. Weiter oben ist ein vermeintliches Lamm Gottes (lat. Agnus Dei) dargestellt, welches eine Siegesfahne trägt. Eine Buchstabenreihe, bestehend aus 30 Lettern, und eine Abschlussverzierung beenden die Verzierung oben. Fläche B beginnt wiederum unten mit einem Herz, dem eine Armbrust folgt. Über der Fernwaffe ist ein heraldischer Spitzschild mit Rahmen und drei lindenblattförmigen Elementen eingearbeitet. Darauf folgt eine Reihe von 31 Buchstaben und eine abstrahierte Verzierung. Sämtliche Symbole wurden mit einem Meissel in die Klinge eingearbeitet und mit einem Messingdraht versehen. Diese Verzierungstechnik wird als Tauschierung bezeichnet.2 Da der Draht lediglich 2 28 Die Tauschierung ist nicht mit einer Gravierung zu verwechseln. Bei der Tauschierung werden die Zeichen mit dem Meissel zuerst eingeschlagen und nachfolgend mit Bunt- oder Edelmetall eingelegt zu werden. Bei der Gravierung wird Metall mit einem Stichel herausgehoben, um eine Vertiefung zu erreichen. Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt in die Meisselspuren eingehämmert wurde, besteht die Gefahr, dass durch Gebrauch, Schleifen und Polieren der Waffe Teile herausbrechen können. So auch bei manchen Verzierungen auf dem Thuner Richtschwert. Der Weg vom Zeughaus ins Schlossmuseum Wie kam das Richtschwert in die Sammlung des Schlosses Thun? Diesem Aspekt ist Peter Küffer dankenderweise bereits nachgegangen.3 Das Richtschwert, also das Arbeitsgerät des Thuner Scharfrichters, wurde im alten Thuner Zeughaus zusammen mit Waffen, Fahnen und Sammlungsstücken, wie z.B. die Zeltstücke Karls des Kühnen, aufbewahrt. Das Zeughaus befand sich im zweiten und dritten Stock des Rathausturmes. Leider sind im Burgerarchiv Thun nur Inventare des Zeughausbestandes im Rathaus ab dem Jahr 1711 bis 1831 vorhanden.4 Jedoch wird ab Dato 1711 stets «1 RichtSchwert» aufgeführt, welches ab 1804 «das alte Stadt-Richt-Schwerdt» genannt wurde. Die Abrechnungen des Thuner «Seckelamts», also der städtischen Finanzabteilung, vermerken zweiAbbildung 2: Das Thuner Richtschwert um mal bezahlte Arbeiten, welche am «alten Richt- 1900, Schlossmuseum Thun. schwert» vollzogen wurden. In den Rechnungen von 1688 wird ein Degenschmiedmeister Johannes Krebser erwähnt, welcher das Schwert «[…] ausgeputzt und ein newe Scheiden daran gemacht […]» hatte.5 Im frühen 18. Jh. schien das Schwert in einem schlechten Zustand gewesen zu sein. Die Rechnungen von 1724–28 verzeichnen einen Leutnant Häuselmann und einen Meister Peter Meyer, welche das Schwert entrosteten, polierten und mit einem neuen Gefäss versahen.6 3 4 5 6 KÜFFER 1987, S. 26. KÜFFER, Liste vom 21. März 2011. Im Besitz des Schlossmuseums Thun und des Autoren. Seckelamtsrechnungen 1683 – 1699, BAT 1245, Stadtarchiv Thun (Siehe Küffer, Liste vom 21. März 2011). Seckelamtsrechnungen 1724 – 28, BAT 1254, Stadtarchiv Thun (Siehe Küffer, Liste vom 21. März 2011). 29 Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt Ob es sich um das Gefäss handelt, welches heute die Waffe ziert, lässt sich leider anhand dieses Eintrags nicht erkennen. Mit der Gründung des Schlossmuseums Thun und dessen Eröffnung 1888 wurde das Schwert, zusammen mit der übrigen Sammlung aus dem alten Zeughaus, in die Ausstellung im Rittersaal integriert7 (Abb. 2). Die Zeichen auf der Klinge Die Datierung und die Hinweise auf den Produktionsort der Klinge des Thuner Richtschwertes hängt mit den tauschierten Marken und Zeichen zusammen. Daher ist es angebracht, sich näher mit den Verzierungen zu beschäftigen (Abb. 3). Abbildung 3: Seite A und B des Thuner Richtschwerts, Umzeichnung durch den Autor. Die Herstellermarken Abbildung 4: Herz und Punktkreuz des Thuner Richtschwerts, Umzeichnung durch den Autor. Typischerweise werden Herstellermarken auf Schwertklingen ab dem 13. Jh. auf der Klingenwurzel, nahe der Parierstange angebracht. Dieser Platzierung wurde nicht zufällig gewählt. Da Schwerter häufig nachgeschliffen und poliert werden mussten, war der Materialverlust nahe der Klingenwurzel weniger gross, als beispielsweise im vorderen Bereich. Daher bleiben Zeichen nahe der Parierstange länger vor einer Überschleifung geschützt und der Werkstattnachweis blieb erhalten.8 Die beiden Zeichen Herz und Punktkreuz beim Thuner Richtschwert bil7 8 30 KÜFFER 1987, S. 41. Zur Positionierung von Marken siehe DREGER 1926, S. 98. Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt den demzufolge die Marken des Herstellers ab (Abb. 4). Die Kombination aus Kreuz und Herz als Werkstattzeichen lassen sich auf verschiedenen Schwertklingen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert nachweisen. In der Folge sollen drei frühe Beispiele aufgezählt werden. Das vermeintliche Einhandschwert des Landgrafen Konrad von Thüringen Hessen, welches als eines der ältesten Beispiele der Passauer bezeichnet und heute im Deutschen Historischen Museum in Berlin aufbewahrt wird (Inv. Nr. W 1838).9 Das Schwert ist aufgrund der möglichen Verbindung mit Landgraf Konrad um 1240 zu datieren. Die Klinge des sogenannten Zeremonienschwerts von Ottokar II. von Böhmen, welches sich in der Hofjagd- und Rüstkammer in Wien befindet (Inv. Nr. A 34). Die Datierung hängt bei dieser Schwertklinge von der Zuschreibung zu Ottokar II., welcher seit 1252 Herzog von Österreich und Steier war, beziehungsweise zu dessen Vater Wenzel I. König von Böhmen (1238–1278) ab. Letzterer wurde 1278 durch Rudolf I. von Habsburg entmachtet. Somit wird diese Schwertklinge zwischen 1252 und 1278 datiert.10 Ein Gewässerfund aus dem Fluss Save bei Jasenovac, Zentralkroatien zeigt ebenfalls die Kreuz- und Herz-Marke. Das in seinen Metallbestandteilen komplett erhaltene Einhandschwert wird heute im Koroatischen Museum für Geschichte in Zagreb mit der Inventarnummer HPM/PHM1870 aufbewahrt.11 Die Datierung 1350–1400 wurde hier anhand der Schwerttypologie nach Ewart Oakeshott für die Klinge, den Knauf und das Parierelement ermittelt. Die Autoren gegen jedoch zu bedenken, dass ein Schwert aus dem Gemeindemuseum Koprivinca mit 1240–1350 datiert wurde, welches viele Merkmale mit dem vorhergehenden Objekt teilt.12 Diese Markenkombination aus Kreuz und Herz lässt sich auch auf später datierten Klingen wiederfinden, welche durch ihre zusätzlich angebrachte Beschaumarke, dem sogenannten «Passauer Wolf», als Erzeugnisse der Klingenindustrie der bayerischen Stadt Passau deuten lassen. So z.B. die Schwerter LM-70573 (1. Viertel 15. Jh.; Abb. 5: Kreuz 9 10 11 12 MÜLLER/KÖLLING 1981, S. 159 u. 362. Die Klinge trägt neben dem Kreuz und dem Herz zwei tauschierte Raubtiere, womöglich Wölfe, was auf die Produktionsstätte Passau hindeutet. Hofjagd- und Rüstkammer, Wien https://www.khm.at/objektdb/detail/372736/?offset=88&lv=list [Stand 2. März 2018]. BOSKOVIC 2009, S. 99ff. Ebd. S. 100f. 31 Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt und Herz LM-70573) und IN-6988 (1450–1500) aus der Sammlung des SNM, welche neben dem Zeichen des Passauer Wolfes und einem steigenden Einhorn auch ein lateinisches Kreuz und ein Herz als Werkstattzeichen tragen.13 Ipso facto dürfte hieraus der Schluss gezogen werden, dass die weiter oben beschriebenen Schwertklingen, inklusive des Thuner Richtschwerts, anhand der Herstellermarken als frühe Produkte einer bis dato nicht näher bekannten Passauer Schwertschmiedewerkstatt angesehen werden dürfen. Abbildung 5: Marken auf Schwert LM-70573, Schweizerisches Nationalmuseum. Armbrust und Blume/Rosette Abbildung 6: Armbrust und Rosette am Thuner Richtschwert, Umzeichnung durch den Autor. Tauschierte Armbruste sind auf Schwertklingen des Hoch- bis Spätmittelalters zu finden (Abb. 6). Die Abbildung einer Armbrust lässt ich z.B. auf dem sogenannten «Stiftsschwert» nachweisen, welches sich heute im Alten Zeughaus Solothurn (Inv. Nr. MAZ 290) befindet und deren Klinge von Dr. Stefan Mäder in die 1. Hälfte des 14. Jh. datiert wird.14 Ein europäisches Schwert, welches aus dem ehemaligen Mameluken-Zeughaus in Alexandria stammt und sich heute in Istanbul befindet, wird durch David Alexander beschrieben.15 Die Klinge zeigt beidseitig eine 13 14 15 32 Angaben zum Schwert LM-70573 liegen dem Autor vor. Zu IN-6988 siehe SCHNEIDER 1980, S. 46, Nr. 60. Zur Beschaumarke des Passauer Wolfs sei hier die Monographie von Heinz Huther empfohlen HUTHER 2007. MÄDER 2013, S. 70. ALEXANDER 1985, S. 92 u. 106. Schwert Nr. 24. Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt Anordnung von je zwei Armbrusten und lässt sich anhand der arabischen Zeughausinschrift auf eine Entstehungszeit vor 1386/89 einordnen. Pflanzliche Ornamente oder Symbole sind seit dem Frühmittelalter beliebte Motive auf Schwertklingen. Auch die in einem Kreis einbeschriebene Blume/Rosette lässt sich in verschiedenen Variationen beobachten. Ein interessantes Beispiel wäre hier die Passauer Klinge mit Wolfsmarke des Anderthalbhänders mit der Inventarnummer W911 im Deutschen Historischen Museum Berlin, welche eine sehr ähnliche, jedoch dreifach umrandete Rosette zeigt.16 Die Klinge ist älter als das Gefäss aus dem 16. Jh. und dürfte ebenfalls ins 14. Jh. datiert werden. Das «Agnus Dei» Abbildung 7: «Agnus Dei» mit Fahne auf dem Thuner Richtschwert, Umzeichnung durch den Autor. Diese Darstellung des Agnus Dei, also des Lamm Gottes, mit Kreuzbzw. Siegesfahne auf dem Richtschwert au Thun ist äusserst interessant (Abb. 7). Ikonographisch unterscheidet es sich von zeitgenössischen Abbildungen eines Lamm Gottes und gleicht eher einem struppigen Hund oder einem Wolf als einem Lamm/Schaf. Der Körperbau und die eher eckige Schnauze der Tierdarstellung, sowie die Form der Ohren haben grosse Ähnlichkeiten mit den Raubtieren auf dem Schwert des Landgrafen Konrad von Thüringen Hessen und Abbildung 8: Heraldischer Löwe auf dem Zeremonialschwert Ottokars II, Umzeichnung durch den Autor. 16 MÜLLER/KÖLLING 1981, S. 373, Schwert Nr. 107. 33 Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt dem heraldischen Löwen, welcher auf der Zeremonialschwertklinge Ottokars II. von Böhmen abgebildet ist (s. oben und Abb. 8). Auffällig ist auch, dass das vermeintliche Raubtier auf dem Thuner Schwert ursprünglich eine Art Stachelhalsband trug, deren Spuren heute stark verschliffen, jedoch bei näherer Betrachtung noch ersichtlich sind. Zudem zeigt dieses «Agnus Dei» ganz untypisch einen erigierten Penis, was zusätzlich ein heraldisches Attribut von Wildtieren darstellt. Es ist daher anzunehmen, dass es sich bei Darstellung auf dem Richtschwert um eine frühe Adaption des Passauer Wolfes handeln könnte, noch bevor die offizielle Beurkundung und damit der Schutz der Wolfsmarke durch Herzog Albrecht von Abbildung 9: Passauer Wolf auf dem Österreich (1255–1308) und Bischof von Passau Schwert LM-70573, Schweizerisches Albert III. von Winkel (gest. 1380) 1340 bzw. 1368 Nationalmuseum. vollzogen wurde.17 Vergleicht man die Köpfe der jünger datierten Passauerwölfe auf den beiden obengenannten Schwertern des SNM, so lassen sich hier ebenfalls Rückschlüsse auf die Darstellung von Raubtierköpfen in der Passauer Klingenproduktion und dem «Agnus Dei» aus Thun ziehen (Abb. 9). Der heraldische Spitzschild Abbildung 10: Spitzschild auf dem Thuner Richtschwert, Umzeichnung durch den Autor. Spitzschilde sind typische Merkmale der Hochgotik und sind auch z.B. im «Codex Manesse» (um 1300) in dieser Form zu finden. Auch die «Zürcher Wappenrolle» (AG-2760) aus dem SNM, welche auf 1330–1345 datiert wird, zeigt sehr ähnliche Wappenschilde.18 In der Umgebung des Thuner17 18 34 SCHMID 1905, S. 319. Zürcher Wappenrolle https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/snm/AG002760 [Stand 13. Dezember 2018]. Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt sees lässt sich eine schöne Darstellung eines Spitzschildes im Ritter-Graffiti aus der Zeit Heinrichs III. von Strättlingen in der Feuerstelle des Wohngemachs im Burgturm Schloss Spiez bewundern, welches um 1250–70 datiert wird.19 Ein weiteres Beispiel eines hochgotischen Schildes liefert das Grabdenkmal von Hans von Düdingen/von Velga (ca. 1285– 1325), welches sich ursprünglich im Augustinerkonvent in Freiburg bei der Grablege befand und heute im Museum für Kunst und Geschichte Freiburg aufbewahrt wird (Inv. Nr. MAHF 7554). Es zeigt den Herrn von Düdingen als Ritter in voller Panzerung und Bewaffnung. Rechts liegt sein Wappenschild, welcher ebenfalls als Spitzschild erkennbar ist.20 Der Spitzschild mit Rahmen und den drei lindenblattförmigen Gebilden auf dem Thuner Richtschwert verweist also in die Zeit um 1300 (Abb. 10). Mit dieser Datierung fällt auch jene der Buchstabenreihen zusammen, welche in der Folge betrachtet werden sollen. Die Buchstabenfolgen Die Buchstaben auf der Schwertseite A und B wurden mehrheitlich in gotischen Majuskeln eingearbeitet und scheinen eine zufällige Anordnung darzustellen. Der Spezialist für Inschriften der Forschungsstelle für Deutsche Inschriften an der Universität Hiedelberg, Dr. Harald Drös, bestätigt dem Autor, dass eine Datierung «um 1300» anhand paläographischer Merkmale der Buchstaben stark anzunehmen ist.21 Dr. Drös liest die Buchstaben folgendermassen: Seite A: A L V G D N V G H K R L T D G L V E C R D N L V G E D E C L Seite B: D F N V G H M R E V L T D L T N R V G L T E N E N E V Es handelt sich hier höchstwahrscheinlich um eine Textpassage, welche nur durch die Anfangsbuchstaben der Worte abgebildet wird, also um eine Art von Akronym. Eine Entschlüsselung des Textes ist bislang nicht möglich. Es ist jedoch interessant anzumerken, dass aufgrund des Fehlens des Buchstaben «Q» und der deutlich geringen Anzahl der Konso19 20 21 HEUBACH 1984, S. 47f. Museum für Kunst und Geschichte Freiburg, https://emp-web-73.zetcom.ch/eMP/eMuseumPlus?service=direct/1/ResultLightboxView/result.t1.collection_lightbox.$TspTitleITspTitle. link&sp=10&sp=Scollection&sp=SfieldValue&sp=0&sp=0&sp=2&sp=Slightbox_3x4&sp=0&sp=Sdetail&sp=0&sp=F&sp=T&sp=0 [Stand 13. Dezember 2018]. Elektronischer Schriftverkehr mit Dr. Harald Drös im Besitz des Autors. 35 Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt nanten «C» davon ausgegangen werde kann, dass es sich nicht um lateinische Texte handeln kann. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass es sich um mittelhochdeutsche Passagen handeln muss. Interessanterweise besitzt das Historische Museum Basel (HMB) ebenfalls ein Richtschwert (Inv. Nr. 1870.529), deren Klinge zwischen 1286–1386 datiert wird.22 Auf dieser Klinge befinden sich ebenfalls beidseitig Buchstabenfolgen, deren Schriftbild mit demjenigen des Thuner Richtschwertes verblüffend identisch ist. Das Basler Richtschwert weist zudem zwei Spitzschilde, womöglich mit den Insignien des Deutschen Reichs (Adler) und des Hauses Habsburg (steigender Löwe), auf. Ein genauer Vergleich der beiden Richtschwerter aus Thun und Basel, insbesondere der Inschrift und der Markierungen steht noch aus. Untersuchungen der Tauschierungen am SNM Da bei etlichen Zeichen auf dem Thuner Richtschwert kaum oder gar keine Metalltauschierungen von Auge aus gefunden werden konnten, wurde in Absprache mit Frau Raselli der Entschluss gefasst, eine klärende Untersuchung in der Konservierungsforschung im Sammlungszentrum des SNM in Affoltern am Albis durchzuführen. Es ging dabei auch um die Frage, ob sämtliche Verzierungen auf der Schwertklinge ursprünglich tauschiert, also mit einem Buntmetalldraht versehen waren. Durch Dr. Vera Hubert und Dr. Marie Wörle wurden in einer Auswahl an Zeichen mittels eines Röntgenfluoreszenzspektrometers die Marken nach Spuren einer Tauschierung am 12. März 2018 geprüft.23 Die Messstellen wurden für folgende Marken festgelegt: Punktkreuz und Herz (Herstellermarken), Kreuzende der Siegesfahne des «Agnus Dei» und div. Stellen an der Armbrust. Die Untersuchung ergab, dass sich in allen Zeichen, auch in jenen, wo von blossem Auge nichts zu erkennen ist, eine Messingtauschierung befunden hatte (Kupfer-Zink-Legierung). Durch Gebrauch, Schleifen und Polieren der Klinge mussten sich die Buntmetalldrähte gelöst haben und waren abgefallen. 22 23 36 Angaben zum Basler Richtschwert durch die Kuratorin Dr. Gudrun Piller (HMB) an den Autor übermittelt. Elektronischer Schriftverkehr im Besitz des Autors. HUBERT/ WÖRLE: Analysebericht Nr. 18.00021 vom 12. März 2018. Im Besitz des Autors, des SNM und des Schlossmuseums Thun. Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt Da im Herstellungsprozess einer tauschierten Schwertklinge die Zeichen auf das polierte Metall noch vor der Härtung mit einem Meissel freihändig aufgebracht und mit Bundmetalldraht eingelegt wurden, kann man davon ausgehen, dass die «um 1300» datierte Inschrift und die restlichen Zeichen gleichzeitig auf die Klinge übertragen wurden.24 Somit erhärtet sich die Hypothese, dass es sich beim Thuner Richtschwert um eine Klinge aus dem Übergang des 13. zum 14. Jh. handelt. Weiter wurden in den Vertiefungen weissliche Reste festgestellt, wovon eine Probe entnommen wurde. Die Untersuchung ergab, dass es sich um eine proteinhaltige (evtl. Wollfasern) und eine anorganische Substanz (evtl. Poliermittel) handelt. Zudem wurde eindeutig Bienenwachs nachgewiesen. Es dürfte sich hier um die Überreste von mehreren Poliervorgängen handeln, wobei möglicherweise mit wollhaltigen Putzlumpen ein mit Bienenwachs vermengtes Poliermittel aufgetragen wurde. Dabei könnte es sich um Reste der letzten Entrostungs- und Polierarbeiten handeln, welche im ersten Viertel des 18. Jh. vorgenommen wurden (siehe oben). Diese Analysearbeiten in der Konservierungsforschung des SNM wurden filmisch durch ein Kamerateam des Schweizer Fernsehens begleitet und anlässlich der Vernissage der neuen Dauerausstellung und Verabschiedung von Frau Lilian Raselli als Museumsleiterin des Schlossmuseums Thun am 25. Mai 2018 in einem Live-Beitrag der Sendung «Schweiz Aktuell» ausgestrahlt. Untersuchungen am Paul Scherrer Institut (PSI) Da in der einschlägigen Literatur der Waffenkunde auch die Beschaffenheit der Griffangel eines Schwertes mögliche Anhaltspunkte zur weiteren Zuordnung und Datierung liefern können, ist es daher interessant, unter den Holzgriff des Thuner Richtschwertes blicken zu können. Gewisse Schwertangeln tragen ebenfalls Schlagmarken, wie es zum Beispiel bei drei Griffwaffen aus dem SNM zu sehen ist.25 Den heutigen musealen und konservatorischen Grundsätzen folgend, soll ein historisches Objekt in seinen Bestandteilen unangetastet bleiben und mög24 25 Zum Vorgang der Tauschierung auf Schwertklingen siehe HUTHER 2007, S. 41. SCHNEIDER 1980, S. 29, Schwert Nr. 28 (LM-16462), S. 34, Klinge Nr. 39 (LM-4943), S. 42, Schwert Nr. 53 (IN-6997.i). 37 Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt lichst zerstörungsfrei untersucht werden. Das Paul Scherrer Institut (PSI) in Villigen AG bietet in diesem Bereich mit der Neutronenradiographie eine geeignete Untersuchungsmethode, welche auch von anderen Institutionen mit antiken und historischen Objekten genutzt wird (z.B. Archäologischer Dienst Kanton Bern, Museum Rietberg). Dabei handelt es sich um eine Art Röntgenaufnahme auf der Basis von Neutronenstrahlung, welche vor allem zur Materialanalyse von Werkstoffen wie Metall angewandt wird. Frau Raselli organisierte einen Untersuchungs-Slot beim PSI für 2018, welcher das Institut für wissenschaftliche Untersuchungen unter gewissen Vorgaben unentgeltlich zur Verfügung stellt. Dank der freundlichen Freigabe des Schwertes durch die Burgergemeinde Thun konnte dieses Projekt unternommen werden. An dieser Stelle sei dem Stiftungsratspräsidenten, Herrn Hans Kelterborn, für seine wohlwollende Unterstützung dieser Unternehmung und die Möglichkeit für diesen Artikel gedankt. Zusammen mit dem Betriebstechniker des Schlosses Thun, Herrn Florian Arm, überbrachte der Autor das Richtschwert aus Thun ins PSI bei Villingen AG und übergab diese Herrn Dr. David Mannes, welcher die neutronenradiographische Untersuchung am 23. November 2018 vornahm. Das Ziel war es, das Schwert beim Holzgriff und im ersten Drittel der Klinge zu durchleuchten. Dabei wurden durch die Radiographie mehrschichtige Aufnahmen der Waffe gemacht, deren Interpretation durch Dr. Mannes und den Autor dieses Artikels noch diskutiert werden muss. Daher sind die Resultate dieser Untersuchung noch ausstehend, werden jedoch selbstverständlich noch nachgeliefert und dem Schlossmuseum Thun übergeben. Fazit Aufgrund der bisherigen Untersuchungen lässt sich das Thuner Richtschwert als ein äusserst interessantes Objekt einstufen. Die Klinge stammt mit grösster Wahrscheinlichkeit aus dem ausgehenden 13. oder dem frühen 14. Jh. Dafür sprechen die Form der Klinge, vor allem aber die tauschierten Zeichen auf den beiden Klingenseiten. Zum einen verweisen die Herstellermarken Herz und Kreuz auf den Herstellungsort Passau. Zum anderen legen der Spitzschild und die Buchstaben die Datierung auf «um 1300» nahe. Die analytischen Untersuchungen der 38 Das Thuner Richtschwert – Waffe, Werkzeug und Wertobjekt Konservierungsforschung des SNM haben nachgewiesen, dass sämtliche Verzierungen auf der Klinge mit Messing tauschiert waren. Somit ist anzunehmen, dass diese Zeichen gleichzeitig, also um die Jahrhundertwende vom 13. ins 14. Jh. erfolgten. Die Tatsache, dass aus dieser Zeit nur wenige «Passauer-Schwerter» in Museen und Sammlungen vorhanden sind, hebt die Thuner Klinge in der Geschichtswissenschaft und der historischen Waffenkunde hervor. Die noch zu interpretierenden Analyseergebnisse aus dem Paul Scherrer Institut werden in der Folge diese Resultate noch abrunden. Quellenverzeichnis Dokumente – HUBERT/ WÖRLE: Analysebericht Nr. 18.00021 vom 12. März 2018. Im Besitz des Autors, des SNM und des Schlossmuseums Thun. – Eine durch Herrn Peter Küffer am 23. März 2011 erstellte Liste der Erwähnungen des «alten Richtschwerts» von Thun in den Zeughausinventaren und Seckelamtsrechnungen. Im Besitz des Schlossmuseums Thun. Archive – BAT: Burgerarchiv Thun, BAT 1245 / BAT 1254 Internet – Sammlung Online des Museums für Kunst und Geschichte Freiburg/Fribourg: Grabmal des Hans von Düdingen/von Velga. – e-codices: Zürcher Wappenrolle. – Sammlung Online des Kunsthistorischen Museums Wien: Objekte der Hofjagd- und Rüstkammer Wien: Zeremonialschwert-Klinge Ottokars II. Bibliographie – ALEXANDER 1985: Alexander, D.G.: European Swords in the Collections of Istanbul. Part I. Swords from the Arsenal of Alexandria, in: Zeitschrift für historische Waffen- und Kostümkunde, Bd. 28, Dresden 1985. – BOSKOVIC 2009: Boskovic, Dora: Swords oft he High and Late Middle Ages from Arms Collections oft he Croatian History Museum in Zagreb, Zagreb 2009. – DREGER 1926: Dreger, Max: Waffensammlung Dreger: mit einer Einführung in die Systematik der Waffen, Bd. 1, Berlin 1926. – HEUBACH 1984: Heubach, Alfred: Schloss Spiez, Spiez 1984. – HUTHER 2007: Huther, Heinz: Die Passauer Wolfsklingen – Legende und Wirklichkeit, Passau 2007. – KÜFFER 1987: Küffer, Peter: Historisches Museum Schloss Thun 1888–1988, in: Jahresbericht Museum Schloss Thun 1987, Thun 1987. – MÄDER 2013: Mäder, Stefan: Beseelte Klingen: ein kulturhistorischer Blick auf die Griffwaffen im Museum Altes Zeughaus Solothurn, Solothurn 2013. – MÜLLER/KÖLLING 1981: Müller, Heinrich/Kölling, Hartmut: Europäische Hieb-und Stichwaffen: aus der Sammlung des Museums für Deutsche Geschichte, Berlin 1986. – SCHMID 1905: Schmid, Wolfgang Maria: Passauer Waffenwesen, in: Zeitschrift für historische Waffenkunde, Bd. 3 (1902–1905), Dresden 1905. – SCHNEIDER 1980: Schneider, Hugo: Waffen im Schweizerischen Landesmuseum: Griffwaffen, Zürich 1980. 39