bb-spektrum
Zielgruppenspezifische Differenzierungspraxen
beim sprachsensiblen (Fach-)Unterricht
Abstract:
Durch die Forschungsergebnisse der
letzten Jahrzehnte erlebt der sprachsensible Fachunterricht immer mehr
Einzug in die Klassenräume. Gleichzeitig kann aber beobachtet werden,
dass Fachlehrer_innen damit oft eine
Art Deutsch- bzw. DaZ-Unterricht assoziieren und somit den sprachsensiblen Fachunterricht von vornherein
nicht zu ihren Aufgabenbereichen
zählen. Dieser Fehlschluss ist insbesondere im Bereich der berufsbildenden Sekundarstufen nicht unproblematisch, denn sowohl Schüler_innen
mit als auch ohne Migrationshintergrund sind auf die berufsspezifischfachsprachlichen Handlungskompetenzen in ihrem späteren Berufsalltag
angewiesen.
B
etrachtet man die in den letzten Jahren entstandenen Materialien, Projekte und Erlasse zur Sprachdiagnostik und
Sprachförderung, kommt man rasch zu
zwei Gemeinsamen Nennern: erstens,
sie sind nicht für die Sekundarstufe II
konzipiert, und zweitens, sie richten sich
hauptsächlich an Kinder mit Deutsch als
Zweitsprache bzw. mit Migrationshintergrund.1 Das hat auch bis zu einer gewissen Schulphase (Elementar-, Primar- sowie
Sekundarstufe I) und bis zu einem gewissen Sprachregister (Alltagssprache, Schulsprache) seine Berechtigung bzw. ist sogar
dringend notwendig, fanden doch Studien heraus, dass das für den schulischen
Erfolg relevante bildungssprachliche Lexikon bei bildungsnahen Familien stärker
ausgeprägt zu sein scheint als bei Familien, die aus sozioökonomischen Gründen
keine vergleichbare Bildungsnähe aufweisen (vgl. Gogolin & Lange 2011, S. 108). D. h.,
„dass sich der formale Bildungsstand der
Familie möglicherweise nachhaltiger auf
den Schulerfolg auswirkt als die gesprochene Familiensprache (sei es Deutsch
oder eine andere Sprache).“ (Gogolin & Lange 2011; S. 109)
Auch ist es kein Geheimnis, dass sozioökonomisch schwächere Familien oft
einen Migrationshintergrund haben und
das Deutsche für deren Kinder (je nach
Zeitpunkt des Zielsprachenkontakts) entweder die zweite Erstsprache (bilingualer
Spracherwerb) oder die Zweitsprache ist.
Daher ist es also nicht verwunderlich, dass
mit Konzepten wie der „durchgängigen
Sprachbildung“, „Bildungssprache“ und
dem „sprachsensiblen (Fach-)Unterricht“
oft Kinder mit Migrationshintergrund konnotiert werden.
Höhere sprachliche Anforderungen in der Sekundarstufe II
Mehmet Fatih Tankir
46 berufsbildung Heft 173 (2018)
Jedoch muss vor Augen geführt werden, dass mit der Ausdifferenzierung
der Unterrichtsfächer ab der Sekundar-
stufe II die fach- und ausbildungsspezifischen sprachlichen Handlungs- und Anwendungsbereiche exponentiell steigende Herausforderungen mit sich bringen.
Diese fordern die bildungs- und fachsprachlichen Kompetenzen der gesamten Schülerschaft. Natürlich ist es naheliegend, dass zielsprachlich schwächere Schüler_innen in der Sekundarstufe
II dann noch mehr Hürden zu meistern
haben, aber im Gegensatz zur Primarund Sekundarstufe I sind davon in einem
gewissen Ausmaß auch Schüler_innen
ohne Migrationshintergrund betroffen
– wenn sie in den vorherigen Schulphasen nicht systematisch mit Registern wie
Bildungs-, Berufs- oder Fachsprache vertraut gemacht wurden.
Untersuchungen, die sowohl Schüler_innen mit Deutsch als Erstsprache als
auch Deutsch als Zweitsprache testeten,
kamen zum Ergebnis, dass „Leistungsnachteile im Bereich der dekontextualisierten Sprache […] sich für alle Kinder
gleichermaßen“ beobachten ließen (Petersen 2012, S. 205). Und auch das „Europäische Kerncurriculum für Inklusive Förderung der Bildungssprache (European
Core Curriculum for Inclusive Academic
Language Teaching – ECC IALT)“ konstatiert, dass bildungssprachliche Förderung nicht nur Lerner_innen mit einer
anderen Erstsprache als Deutsch betrifft,
sondern auch Kinder, deren Familiensprache Deutsch ist, die aber in einem
bildungsfernen Milieu aufwachsen und
somit kaum Zugang zur Bildungssprache
finden (vgl. EUCIM-TE 2010, S. 11).
Im Bereich der Berufsbildung ist das
insofern ein Problem, als dass Absolvent_
innen von berufsbildenden Vollzeitschulen nach ihrem Abschluss – und im Gegensatz zu Absolvent_innen von allgemeinbildenden höheren Schulen, für die
die akademische Weiterbildung meistens
die einzige Möglichkeit ist, längerfristig
einen erfolgversprechenden Job zu haben und zu halten – oft direkt ins Berufsleben einsteigen möchten. Sie sind
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damit in ihrem Berufsalltag stärker auf
fach- und berufssprachliche Handlungskompetenzen angewiesen als ihre Altersgenossen, die nach dem Gymnasium
eine Hochschule besuchen und dort die
Möglichkeit haben, sich die relevanten
Sprachregister anzueignen.
Viel Potenzial an den BMHS
Gerade in berufsbildenden Schulformen
gibt es neben einem empirisch festgestellten Defizit an sprachlichen Kompetenzen (vgl. Kimmelmann 2017, S. 59) gleichzeitig auch ein hohes Potenzial, diese
Defizite zu beheben. Lernende stehen
durch theoretische und praktische Unterrichtskonzepte ihrer Fachlehrkräfte
fortwährend vor sprachlichen Herausforderungen, indem sie sich von der Alltagssprache zur (Berufs-) Bildungssprache bewegen (vgl. Kimmelmann 2017, S. 60).
Sie können für einen sprachförderlichen
Unterricht am besten motiviert werden,
wenn die sprachfördernden Unterrichtsinhalte „direkt mit den fachlichen
Kompetenzentwicklungsprozessen verbunden [sind], weil sie in einem engen
Verhältnis zum jeweiligen berufsbildenden Kontext stehen“ (Ohm, Kuhn & Funk
2007, S. 131).
Es ist also kein großes Umkrempeln
des Unterrichtsstoffs nötig, denn viele
sprachförderliche Unterrichtselemente
werden „intuitiv bereits von Lehrkräften
praktiziert. Eine Qualifizierung hat hier
also oftmals eher die Rolle, Bekanntes
zu reaktivieren, Lehrende zu einer systematischen Anwendung zu befähigen
und vor allem ein Gespür für die sprachlichen Herausforderungen/Hemmnisse
ihrer Zielgruppe zu schaffen“. (Kimmelmann 2017, S. 73)
Wichtig ist es also, dass Fachlehrkräfte bestimmte sprachpädagogische
Kompetenzen entwickeln und sozusagen eine Sensibilität und ein Bewusstsein für Sprache aufbauen, damit sie
sprachsensibel unterrichten können.
Dieses „Bewusstsein“ ist keineswegs
etwas, was Sprachlehrer_innen vorbehalten ist, ganz im Gegenteil. Die Forderung vieler Erziehungswissenschaftler_innen ist es, dass auf die sprachliche Sensibilisierung abzielende Module und Lehrveranstaltungen ein Teil der
pädagogischen Ausbildungsinhalte aller
Lehramtsfächer werden. Zum Teil wurden diese Forderungen bereits in diverse Hochschulcurricula implementiert.
Ausschlaggebend ist auch, dass die
eigenen fachlichen Kompetenzen der
Fachlehrkraft miteingebunden werden
sollten, da nur so eine realitätsnahe
und die Schülerschaft auf das Berufsleben ideal vorbereitende Ausbildung
gelingen kann (vgl. Ohm, Kuhn & Funk 2007,
S. 131). Daher plädieren Forscher_innen verschiedenster Disziplinen schon
seit Jahren, dass der sprachsensible
Unterricht „nicht auf wenige (externe) sprachwissenschaftliche Spezialisten verlagert werden [soll], sondern
als wichtige Aufgabe aller dort tätigen
pädagogischen Fachkräfte verstanden
werden [muss].“ (Ohm, Kuhn & Funk 2007, S.
131). D. h., für eine gelungene Behebung
der Bildungslücken müsste zunächst die
Einsicht und das Bewusstsein über die
Zuständigkeiten aller Lehrer_innen für
eine fächerübergreifende Sprachkompetenzvermittlung hergestellt werden.
Erst dann können Qualifizierungsprogramme, Lehrer_innenfortbildungen
etc. ihre volle Wirkung entfalten.
Professionalisierungsstandards
für einen sprachsensiblen
Fachunterricht
Im Zuge dieser Forderungen wurden
auf berufspädagogischer Ebene mehrere Prä- und Interventions- sowie Professionalisierungsmaßnahmen unternommen. Ein Beispiel dafür wären die
Professionalisierungsstandards für Fachlehrkräfte (Kimmelmann 2017, S. 63ff.):
1. Die pädagogische Fachkraft schätzt
die Bedeutung von Sprache im Rahmen der Vermittlung fachlicher Inhalte richtig ein.
2. Die pädagogische Fachkraft schätzt
das Sprachvermögen der Lernenden
in der deutschen (Berufs-) Bildungssprache richtig ein.
3. Die pädagogische Fachkraft schafft
sprachlich vielfältige Lernsituationen, die geeignete Möglichkeiten
des Kompetenzerwerbs in allen relevanten Sprachkompetenzbereichen
bieten.
4. Die pädagogische Fachkraft trägt
im Rahmen der Vermittlung von
Fachinhalten zu einer Erweiterung
des Sprachvermögens in der deutschen (Berufs-) Bildungssprache der
Jugendlichen bei.
5. Die pädagogische Fachkraft geht mit
Fehlern von Lernenden im deutschen
Sprachgebrauch richtig um.
6. Die pädagogische Fachkraft bezieht
die Mehrsprachigkeit der Lernenden
sinnvoll in die Sprachförderung und
Vermittlung fachlicher Inhalte mit
ein.
7. Die pädagogische Fachkraft arbeitet
mit Kollegen und externen Partnern
im Sinne einer umfassenden Sprachbildung in der deutschen (Berufs-)
Bildungssprache sinnvoll zusammen.
Für die praktische Umsetzung im berufsbildenden Alltag ist es allerdings
wichtig zu wissen, dass diese Standards
als aufeinander aufbauende Fähigkeiten
zu interpretieren sind. Das lässt sich insofern plausibilisieren, als vom berufspädagogischen Personal, fach- und gegenstandsgemäß, keine vertiefte linguistische sowie sprachförderdidaktische
Vorbildung vorausgesetzt werden kann.
Daher wird ein stufenweises „Herantasten“ empfohlen, damit Fachlehrkräfte ihre sprachbildenden Kompetenzen, ohne
überfordert zu werden, ausbauen können (vgl. Kimmelmann 2017, S. 64)
Anregungen für Betriebs- und
Berufsschulleitungen
Das Ziel solcher Professionalisierungskonzepte ist eine in die Berufsbildung und in
den Übergang (Berufs-) Schule – Beruf integrierte, ganzheitliche und fächerübergreifende (Berufs-) Sprachförderung,
denn ohne berufssprachliche Handlungskompetenzen haben die Auszubildenden
wenig Chancen, beispielsweise in diversen Aufnahme- und Vorstellungsgesprächen ein kompetentes Bild zu prästieren, selbst wenn die beruflich-fachlichen
Kompetenzen dem nicht im Weg stünden.
Welchen Handlungsspielraum hat
nun eine Betriebsleitung oder die Schulleitung einer Berufsschule, um die Konzepte und Erkenntnisse auch an ihrem
Standort umzusetzen zu lassen?
Bei dieser Frage sollte der letzte Teil
„zu lassen“ nicht übersehen werden,
denn grundsätzlich sind im berufs- und
berufsbildung Heft 173 (2018)
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fachintegrierten Sprachförderprozess die
Fachlehrkräfte und Ausbilder_innen die
Hauptakteur_innen, denn sie verbringen
die meiste Zeit mit den Auszubildenden.
Nichtsdestotrotz kann die Institutionsleitung in diesem Prozess trotzdem anregend und anführend wirken, indem sie
beispielsweise
• dem berufspädagogischen Personal die Möglichkeit bietet, als ganzes
Team an Schulungen und Workshops
zum sprachsensiblen Unterricht teilzunehmen, bzw. Fortbildner_innen an
den Standort holt,
• bei der Einreichung der Jahresplanungen auch sprachförderdidaktische Ziele und Maßnahmen in nicht-sprachlichen Fächern sowie berufssprachliche
Förderziele in sprachlichen Fächern
voraussetzt und diese in beiden Fällen
entsprechend honoriert,
• bei oraganisatorisch-pädagogischen
Konferenzen auch die integrative Sprachförderung als ein Ziel des
Standortes deklariert,
• sich von additiven und zumeist segregierenden sowie situativ und kontextuell vom jeweiligen Berufsfeld abweichenden Förderkursen distanziert
und eine durchgängig-integrative und
berufsorientierte Sprachbildung anstrebt,
• die Zusammenarbeit sowie die Kommunikation zwischen Fach- und
Sprachlehrkräften sowie zwischen
schulischem und betrieblichem Personal in Form einer interdisziplinären
Kooperation anregt und organisiert.
Zusammenfassung
sprachsensiblen Fachunterrichts kritisch
diskutiert und ausgehend von aktuelleren Forschungsergebnissen argumentiert, diese bisher eher auf Schüler_innen mit Deutsch als Zweitsprache adressierte Unterrichtsform auf die gesamte Schülerschaft der Sekundarstufe
II auszurichten. Einer der Gründe dafür
konnte bei den fächerübergreifend steigenden sprachlichen Herausforderungen von höheren Vollzeitschulen lokalisiert werden. Insbesondere im Bereich
der berufsbildenden Sekundarschulen
sollte, unabhängig davon, ob die Schüler_innen Deutsch als Erst-, Zweit- oder
Fremdsprache haben, mehr Augenmerk
auf einen sprachsensiblen Fachunterricht gelegt werden, da (fach-/berufs-)
sprachliche Handlungskompetenzen
erst dann am effizientesten gefördert
werden können, „wenn sie direkt mit
den fachlichen Kompetenzentwicklungsprozessen verbunden [sind], weil
sie in einem engen Verhältnis zum jeweiligen berufsbildenden Kontext stehen.“ (Ohm, Kuhn & Funk 2007, S. 131). D. h.,
ein alleiniger Fokus auf die fachlichen
Inhalte ist aus berufspädagogischer
Sicht nicht ausreichend, da berufliche
Handlungskompetenzen mit sprachlichkommunikativen Kompetenzen korrelieren (vgl. Efing 2017, S. 247). „Wer keine
Fachtexte lesen und verstehen kann,
kann in unserer heutigen Gesellschaft
kein Fachwissen erwerben; wer Fachwissen nicht schriftlich fixieren kann,
behält es nicht; wer mündlichen Erklärungen nicht folgen kann, dem bleibt
vieles unerschlossen.“ (Efing 2017, S. 248).
Anmerkung:
1
Im vorliegenden Beitrag wurde die zielgruppenspezifische Orientierung des
48 berufsbildung Heft 173 (2018)
Einige Beispiele wären: FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen
mit Migrationshintergrund), USB-DaZ,
Niveaubeschreibungen DaZ, Sprabilon
Literatur:
Efing, C. (2017). Zur Funktion und
Rolle von Sprache in der beruflichen
Bildung. In E. Terrasi-Haufe & A. Börsel
(Hrsg.), Sprache und Sprachbildung in
der beruflichen Bildung (S.247–266).
Münster: Waxmann.
EUCIM-TE (European Core Curriculum for
Mainstreamed Second Language – Teacher Education) (2010). European Core
Curriculum for Inclusive Academic Language Teaching. URL: www.eucim-te.
eu/data/eso27/File/Material/NRW.%20
Adaptation.pdf [13.08.2018]
Gogolin, I. & Lange, I. (2011). Bildungssprache und Durchgängige
Sprachbildung. In S. Fürstenau, S. &
M. Gomolla, M. (Hrsg.), Migration und
schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit
(S.107–127). Wiesbaden: VS-Verlag.
Kimmelmann, N. (2017). Soll ich jetzt
auch noch Deutschlehrkraft sein?
Möglichkeiten einer Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften
für einen sprachsensiblen Übergang
Schule-Beruf. In A. Daase; U. Ohm &
M. Mertens (Hrsg.), Interkulturelle und
sprachliche Bildung im mehrsprachigen
Übergang Schule-Beruf (S.59–75).
Münster: Waxmann.
Ohm, U.; Kuhn, C. & Funk, H. (2007).
Sprachtraining für Fachunterricht und
Beruf. Fachtexte knacken - mit Fachsprache arbeiten. Münster: Waxmann.
(FörMig Edition Bd. 2).
Petersen, I. (2012). Text-, Schreib- und
Sprachkompetenz in Deutsch als Erstund Zweitsprache. Untersuchungen zu
einem komplexen Verhältnis. In H. Feilke; J. Köster & M. Steinmetz (Hrsg.),
Textkompetenzen in der Sekundarstufe
II (S.201–232). Freiburg: Fillibach.
Mag. Mehmet Fatih Tankir
Doktorand an der Universität Salzburg
School of Education – Doktoratsprogramm PädagogInnenbildung
mehmet.tankir@stud.sbg.ac.at