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Zielgruppenspezifische Differenzierungspraxen beim sprachsensiblen (Fach-)Unterricht

2018, Berufsbildung. Zeitschrift für Theorie - Praxis - Dialog

Durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte erlebt der sprachsensible Fachunterricht immer mehr Einzug in die Klassenräume. Gleichzeitig kann aber beobachtet werden, dass Fachlehrer_innen damit oft eine Art Deutsch- bzw. DaZ-Unterricht assoziieren und somit den sprachsensiblen Fachunterricht von vornherein nicht zu ihren Aufgabenbereichen zählen. Dieser Fehlschluss ist insbesondere im Bereich der berufsbildenden Sekundarstufen nicht unproblematisch, denn sowohl Schüler_innen mit als auch ohne Migrationshintergrund sind auf die berufsspezifisch-fachsprachlichen Handlungskompetenzen in ihrem späteren Berufsalltag angewiesen.

bb-spektrum Zielgruppenspezifische Differenzierungspraxen beim sprachsensiblen (Fach-)Unterricht Abstract: Durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte erlebt der sprachsensible Fachunterricht immer mehr Einzug in die Klassenräume. Gleichzeitig kann aber beobachtet werden, dass Fachlehrer_innen damit oft eine Art Deutsch- bzw. DaZ-Unterricht assoziieren und somit den sprachsensiblen Fachunterricht von vornherein nicht zu ihren Aufgabenbereichen zählen. Dieser Fehlschluss ist insbesondere im Bereich der berufsbildenden Sekundarstufen nicht unproblematisch, denn sowohl Schüler_innen mit als auch ohne Migrationshintergrund sind auf die berufsspezifischfachsprachlichen Handlungskompetenzen in ihrem späteren Berufsalltag angewiesen. B etrachtet man die in den letzten Jahren entstandenen Materialien, Projekte und Erlasse zur Sprachdiagnostik und Sprachförderung, kommt man rasch zu zwei Gemeinsamen Nennern: erstens, sie sind nicht für die Sekundarstufe II konzipiert, und zweitens, sie richten sich hauptsächlich an Kinder mit Deutsch als Zweitsprache bzw. mit Migrationshintergrund.1 Das hat auch bis zu einer gewissen Schulphase (Elementar-, Primar- sowie Sekundarstufe I) und bis zu einem gewissen Sprachregister (Alltagssprache, Schulsprache) seine Berechtigung bzw. ist sogar dringend notwendig, fanden doch Studien heraus, dass das für den schulischen Erfolg relevante bildungssprachliche Lexikon bei bildungsnahen Familien stärker ausgeprägt zu sein scheint als bei Familien, die aus sozioökonomischen Gründen keine vergleichbare Bildungsnähe aufweisen (vgl. Gogolin & Lange 2011, S. 108). D. h., „dass sich der formale Bildungsstand der Familie möglicherweise nachhaltiger auf den Schulerfolg auswirkt als die gesprochene Familiensprache (sei es Deutsch oder eine andere Sprache).“ (Gogolin & Lange 2011; S. 109) Auch ist es kein Geheimnis, dass sozioökonomisch schwächere Familien oft einen Migrationshintergrund haben und das Deutsche für deren Kinder (je nach Zeitpunkt des Zielsprachenkontakts) entweder die zweite Erstsprache (bilingualer Spracherwerb) oder die Zweitsprache ist. Daher ist es also nicht verwunderlich, dass mit Konzepten wie der „durchgängigen Sprachbildung“, „Bildungssprache“ und dem „sprachsensiblen (Fach-)Unterricht“ oft Kinder mit Migrationshintergrund konnotiert werden. Höhere sprachliche Anforderungen in der Sekundarstufe II Mehmet Fatih Tankir 46 berufsbildung Heft 173 (2018) Jedoch muss vor Augen geführt werden, dass mit der Ausdifferenzierung der Unterrichtsfächer ab der Sekundar- stufe II die fach- und ausbildungsspezifischen sprachlichen Handlungs- und Anwendungsbereiche exponentiell steigende Herausforderungen mit sich bringen. Diese fordern die bildungs- und fachsprachlichen Kompetenzen der gesamten Schülerschaft. Natürlich ist es naheliegend, dass zielsprachlich schwächere Schüler_innen in der Sekundarstufe II dann noch mehr Hürden zu meistern haben, aber im Gegensatz zur Primarund Sekundarstufe I sind davon in einem gewissen Ausmaß auch Schüler_innen ohne Migrationshintergrund betroffen – wenn sie in den vorherigen Schulphasen nicht systematisch mit Registern wie Bildungs-, Berufs- oder Fachsprache vertraut gemacht wurden. Untersuchungen, die sowohl Schüler_innen mit Deutsch als Erstsprache als auch Deutsch als Zweitsprache testeten, kamen zum Ergebnis, dass „Leistungsnachteile im Bereich der dekontextualisierten Sprache […] sich für alle Kinder gleichermaßen“ beobachten ließen (Petersen 2012, S. 205). Und auch das „Europäische Kerncurriculum für Inklusive Förderung der Bildungssprache (European Core Curriculum for Inclusive Academic Language Teaching – ECC IALT)“ konstatiert, dass bildungssprachliche Förderung nicht nur Lerner_innen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch betrifft, sondern auch Kinder, deren Familiensprache Deutsch ist, die aber in einem bildungsfernen Milieu aufwachsen und somit kaum Zugang zur Bildungssprache finden (vgl. EUCIM-TE 2010, S. 11). Im Bereich der Berufsbildung ist das insofern ein Problem, als dass Absolvent_ innen von berufsbildenden Vollzeitschulen nach ihrem Abschluss – und im Gegensatz zu Absolvent_innen von allgemeinbildenden höheren Schulen, für die die akademische Weiterbildung meistens die einzige Möglichkeit ist, längerfristig einen erfolgversprechenden Job zu haben und zu halten – oft direkt ins Berufsleben einsteigen möchten. Sie sind bb-spektrum damit in ihrem Berufsalltag stärker auf fach- und berufssprachliche Handlungskompetenzen angewiesen als ihre Altersgenossen, die nach dem Gymnasium eine Hochschule besuchen und dort die Möglichkeit haben, sich die relevanten Sprachregister anzueignen. Viel Potenzial an den BMHS Gerade in berufsbildenden Schulformen gibt es neben einem empirisch festgestellten Defizit an sprachlichen Kompetenzen (vgl. Kimmelmann 2017, S. 59) gleichzeitig auch ein hohes Potenzial, diese Defizite zu beheben. Lernende stehen durch theoretische und praktische Unterrichtskonzepte ihrer Fachlehrkräfte fortwährend vor sprachlichen Herausforderungen, indem sie sich von der Alltagssprache zur (Berufs-) Bildungssprache bewegen (vgl. Kimmelmann 2017, S. 60). Sie können für einen sprachförderlichen Unterricht am besten motiviert werden, wenn die sprachfördernden Unterrichtsinhalte „direkt mit den fachlichen Kompetenzentwicklungsprozessen verbunden [sind], weil sie in einem engen Verhältnis zum jeweiligen berufsbildenden Kontext stehen“ (Ohm, Kuhn & Funk 2007, S. 131). Es ist also kein großes Umkrempeln des Unterrichtsstoffs nötig, denn viele sprachförderliche Unterrichtselemente werden „intuitiv bereits von Lehrkräften praktiziert. Eine Qualifizierung hat hier also oftmals eher die Rolle, Bekanntes zu reaktivieren, Lehrende zu einer systematischen Anwendung zu befähigen und vor allem ein Gespür für die sprachlichen Herausforderungen/Hemmnisse ihrer Zielgruppe zu schaffen“. (Kimmelmann 2017, S. 73) Wichtig ist es also, dass Fachlehrkräfte bestimmte sprachpädagogische Kompetenzen entwickeln und sozusagen eine Sensibilität und ein Bewusstsein für Sprache aufbauen, damit sie sprachsensibel unterrichten können. Dieses „Bewusstsein“ ist keineswegs etwas, was Sprachlehrer_innen vorbehalten ist, ganz im Gegenteil. Die Forderung vieler Erziehungswissenschaftler_innen ist es, dass auf die sprachliche Sensibilisierung abzielende Module und Lehrveranstaltungen ein Teil der pädagogischen Ausbildungsinhalte aller Lehramtsfächer werden. Zum Teil wurden diese Forderungen bereits in diverse Hochschulcurricula implementiert. Ausschlaggebend ist auch, dass die eigenen fachlichen Kompetenzen der Fachlehrkraft miteingebunden werden sollten, da nur so eine realitätsnahe und die Schülerschaft auf das Berufsleben ideal vorbereitende Ausbildung gelingen kann (vgl. Ohm, Kuhn & Funk 2007, S. 131). Daher plädieren Forscher_innen verschiedenster Disziplinen schon seit Jahren, dass der sprachsensible Unterricht „nicht auf wenige (externe) sprachwissenschaftliche Spezialisten verlagert werden [soll], sondern als wichtige Aufgabe aller dort tätigen pädagogischen Fachkräfte verstanden werden [muss].“ (Ohm, Kuhn & Funk 2007, S. 131). D. h., für eine gelungene Behebung der Bildungslücken müsste zunächst die Einsicht und das Bewusstsein über die Zuständigkeiten aller Lehrer_innen für eine fächerübergreifende Sprachkompetenzvermittlung hergestellt werden. Erst dann können Qualifizierungsprogramme, Lehrer_innenfortbildungen etc. ihre volle Wirkung entfalten. Professionalisierungsstandards für einen sprachsensiblen Fachunterricht Im Zuge dieser Forderungen wurden auf berufspädagogischer Ebene mehrere Prä- und Interventions- sowie Professionalisierungsmaßnahmen unternommen. Ein Beispiel dafür wären die Professionalisierungsstandards für Fachlehrkräfte (Kimmelmann 2017, S. 63ff.): 1. Die pädagogische Fachkraft schätzt die Bedeutung von Sprache im Rahmen der Vermittlung fachlicher Inhalte richtig ein. 2. Die pädagogische Fachkraft schätzt das Sprachvermögen der Lernenden in der deutschen (Berufs-) Bildungssprache richtig ein. 3. Die pädagogische Fachkraft schafft sprachlich vielfältige Lernsituationen, die geeignete Möglichkeiten des Kompetenzerwerbs in allen relevanten Sprachkompetenzbereichen bieten. 4. Die pädagogische Fachkraft trägt im Rahmen der Vermittlung von Fachinhalten zu einer Erweiterung des Sprachvermögens in der deutschen (Berufs-) Bildungssprache der Jugendlichen bei. 5. Die pädagogische Fachkraft geht mit Fehlern von Lernenden im deutschen Sprachgebrauch richtig um. 6. Die pädagogische Fachkraft bezieht die Mehrsprachigkeit der Lernenden sinnvoll in die Sprachförderung und Vermittlung fachlicher Inhalte mit ein. 7. Die pädagogische Fachkraft arbeitet mit Kollegen und externen Partnern im Sinne einer umfassenden Sprachbildung in der deutschen (Berufs-) Bildungssprache sinnvoll zusammen. Für die praktische Umsetzung im berufsbildenden Alltag ist es allerdings wichtig zu wissen, dass diese Standards als aufeinander aufbauende Fähigkeiten zu interpretieren sind. Das lässt sich insofern plausibilisieren, als vom berufspädagogischen Personal, fach- und gegenstandsgemäß, keine vertiefte linguistische sowie sprachförderdidaktische Vorbildung vorausgesetzt werden kann. Daher wird ein stufenweises „Herantasten“ empfohlen, damit Fachlehrkräfte ihre sprachbildenden Kompetenzen, ohne überfordert zu werden, ausbauen können (vgl. Kimmelmann 2017, S. 64) Anregungen für Betriebs- und Berufsschulleitungen Das Ziel solcher Professionalisierungskonzepte ist eine in die Berufsbildung und in den Übergang (Berufs-) Schule – Beruf integrierte, ganzheitliche und fächerübergreifende (Berufs-) Sprachförderung, denn ohne berufssprachliche Handlungskompetenzen haben die Auszubildenden wenig Chancen, beispielsweise in diversen Aufnahme- und Vorstellungsgesprächen ein kompetentes Bild zu prästieren, selbst wenn die beruflich-fachlichen Kompetenzen dem nicht im Weg stünden. Welchen Handlungsspielraum hat nun eine Betriebsleitung oder die Schulleitung einer Berufsschule, um die Konzepte und Erkenntnisse auch an ihrem Standort umzusetzen zu lassen? Bei dieser Frage sollte der letzte Teil „zu lassen“ nicht übersehen werden, denn grundsätzlich sind im berufs- und berufsbildung Heft 173 (2018) 47 bb-spektrum fachintegrierten Sprachförderprozess die Fachlehrkräfte und Ausbilder_innen die Hauptakteur_innen, denn sie verbringen die meiste Zeit mit den Auszubildenden. Nichtsdestotrotz kann die Institutionsleitung in diesem Prozess trotzdem anregend und anführend wirken, indem sie beispielsweise • dem berufspädagogischen Personal die Möglichkeit bietet, als ganzes Team an Schulungen und Workshops zum sprachsensiblen Unterricht teilzunehmen, bzw. Fortbildner_innen an den Standort holt, • bei der Einreichung der Jahresplanungen auch sprachförderdidaktische Ziele und Maßnahmen in nicht-sprachlichen Fächern sowie berufssprachliche Förderziele in sprachlichen Fächern voraussetzt und diese in beiden Fällen entsprechend honoriert, • bei oraganisatorisch-pädagogischen Konferenzen auch die integrative Sprachförderung als ein Ziel des Standortes deklariert, • sich von additiven und zumeist segregierenden sowie situativ und kontextuell vom jeweiligen Berufsfeld abweichenden Förderkursen distanziert und eine durchgängig-integrative und berufsorientierte Sprachbildung anstrebt, • die Zusammenarbeit sowie die Kommunikation zwischen Fach- und Sprachlehrkräften sowie zwischen schulischem und betrieblichem Personal in Form einer interdisziplinären Kooperation anregt und organisiert. Zusammenfassung sprachsensiblen Fachunterrichts kritisch diskutiert und ausgehend von aktuelleren Forschungsergebnissen argumentiert, diese bisher eher auf Schüler_innen mit Deutsch als Zweitsprache adressierte Unterrichtsform auf die gesamte Schülerschaft der Sekundarstufe II auszurichten. Einer der Gründe dafür konnte bei den fächerübergreifend steigenden sprachlichen Herausforderungen von höheren Vollzeitschulen lokalisiert werden. Insbesondere im Bereich der berufsbildenden Sekundarschulen sollte, unabhängig davon, ob die Schüler_innen Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache haben, mehr Augenmerk auf einen sprachsensiblen Fachunterricht gelegt werden, da (fach-/berufs-) sprachliche Handlungskompetenzen erst dann am effizientesten gefördert werden können, „wenn sie direkt mit den fachlichen Kompetenzentwicklungsprozessen verbunden [sind], weil sie in einem engen Verhältnis zum jeweiligen berufsbildenden Kontext stehen.“ (Ohm, Kuhn & Funk 2007, S. 131). D. h., ein alleiniger Fokus auf die fachlichen Inhalte ist aus berufspädagogischer Sicht nicht ausreichend, da berufliche Handlungskompetenzen mit sprachlichkommunikativen Kompetenzen korrelieren (vgl. Efing 2017, S. 247). „Wer keine Fachtexte lesen und verstehen kann, kann in unserer heutigen Gesellschaft kein Fachwissen erwerben; wer Fachwissen nicht schriftlich fixieren kann, behält es nicht; wer mündlichen Erklärungen nicht folgen kann, dem bleibt vieles unerschlossen.“ (Efing 2017, S. 248). Anmerkung: 1 Im vorliegenden Beitrag wurde die zielgruppenspezifische Orientierung des 48 berufsbildung Heft 173 (2018) Einige Beispiele wären: FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund), USB-DaZ, Niveaubeschreibungen DaZ, Sprabilon Literatur: Efing, C. (2017). Zur Funktion und Rolle von Sprache in der beruflichen Bildung. In E. Terrasi-Haufe & A. Börsel (Hrsg.), Sprache und Sprachbildung in der beruflichen Bildung (S.247–266). Münster: Waxmann. EUCIM-TE (European Core Curriculum for Mainstreamed Second Language – Teacher Education) (2010). European Core Curriculum for Inclusive Academic Language Teaching. URL: www.eucim-te. eu/data/eso27/File/Material/NRW.%20 Adaptation.pdf [13.08.2018] Gogolin, I. & Lange, I. (2011). Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In S. Fürstenau, S. & M. Gomolla, M. (Hrsg.), Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit (S.107–127). Wiesbaden: VS-Verlag. Kimmelmann, N. (2017). Soll ich jetzt auch noch Deutschlehrkraft sein? Möglichkeiten einer Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften für einen sprachsensiblen Übergang Schule-Beruf. In A. Daase; U. Ohm & M. Mertens (Hrsg.), Interkulturelle und sprachliche Bildung im mehrsprachigen Übergang Schule-Beruf (S.59–75). Münster: Waxmann. Ohm, U.; Kuhn, C. & Funk, H. (2007). Sprachtraining für Fachunterricht und Beruf. Fachtexte knacken - mit Fachsprache arbeiten. Münster: Waxmann. (FörMig Edition Bd. 2). Petersen, I. (2012). Text-, Schreib- und Sprachkompetenz in Deutsch als Erstund Zweitsprache. Untersuchungen zu einem komplexen Verhältnis. In H. Feilke; J. Köster & M. Steinmetz (Hrsg.), Textkompetenzen in der Sekundarstufe II (S.201–232). Freiburg: Fillibach. Mag. Mehmet Fatih Tankir Doktorand an der Universität Salzburg School of Education – Doktoratsprogramm PädagogInnenbildung mehmet.tankir@stud.sbg.ac.at