Oxford German Studies
ISSN: 0078-7191 (Print) 1745-9214 (Online) Journal homepage: https://www.tandfonline.com/loi/yogs20
Die Grausamen Jahre? Das Fremd- und
Frauwerden in der Schweiz bei Irena Brežná, Katja
Fusek Und Ilma Rakusa
Jana Dušek Pražáková
To cite this article: Jana Dušek Pražáková (2019) Die Grausamen Jahre? Das Fremd- und
Frauwerden in der Schweiz bei Irena Brežná, Katja Fusek Und Ilma Rakusa, Oxford German
Studies, 48:2, 285-302, DOI: 10.1080/00787191.2019.1611965
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Oxford German Studies, 48. 2, 285–302, June 2019
DIE GRAUSAMEN JAHRE? DAS FREMD- UND
FRAUWERDEN IN DER SCHWEIZ BEI IRENA
BREŽ NÁ, KATJA FUSEK UND ILMA RAKUSA
JANA DUŠEK PRAŽ ÁKOVÁ
Karls-Universität
Die in diesem Beitrag vorgestellte Analyse schließt sich dem literaturwissenschaftlichen Eastern Turn und der transdisziplinären Adoleszenzforschung an. Die Romane
Die undankbare Fremde (2012) von Irena Brežná, Novemberfäden (2002) von
Katja Fusek und Mehr Meer. Erinnerungspassagen (2009) von Ilma Rakusa erzählen von jungen weiblichen Hauptfiguren aus der Tschechoslowakei, die sich mit der
Migration in die Schweiz auseinandersetzen. Mithilfe der Theorien der Fremderfahrung und der Verschränkung (Bernhard Waldenfels), der Übersetzung (Joachim
Renn, Andreas Langenohl/Manred Weinberg/Ralph J. Poole), des Postmonolingualismus (Yasemin Yildiz) u.a. werden die Romane in Bezug auf die Übersetzung der
Fremderfahrung innerhalb der Migration und Adoleszenz zu neuen Erfahrungen
untersucht. Diese Übersetzung wird dabei auf die Anwendung des Äquivalenzund Adäquanzprinzips überprüft.
KEYWORDS: Fremdheit, Adoleszenz, Schweiz, Irena Brežná, Katja Fusek, Ilma Rakusa
DAS
ERINNERTE JUNGSEIN IN DER
SCHWEIZ
‘Das Jungsein kann mir gestohlen bleiben. It was truly cruel’, behauptet eine der
von der Hauptfigur vergegenwärtigten Stimmen, ein A., im autobiographisch
geprägten Roman Mehr Meer1 von Ilma Rakusa in der Erinnerung an die
Jugend. Die Zweisprachigkeit dieses Zitats weist eine Episode voraus, wo die
Hauptfigur als begabte junge Pianistin an einem Musikkurs mit der britischen
Cellistin Jacqueline du Pré im englischen Dartington teilnimmt. Sie wird sich
hier auf einmal bestimmter ‘gaps’ bewusst, des ‘Auseinanderklaffens von
Wunsch und Wirklichkeit’:
Und plötzlich entdeckte ich überall gaps: zwischen meinen Füßen, die über
den Rasen liefen, und meinen Gedanken, die zu Brahms schweiften;
zwischen toast und tea; zwischen Unentschlossenheit und Verdrossenheit;
1
Ilma Rakusa, Mehr Meer. Erinnerungspassagen (Graz: Droschl, 2009), S. 111. In diesem
Aufsatz verweise ich auf die im Berliner Verlag Bloomsbery erschienene zweite Ausgabe des
Romans von 2011.
© 2019 Informa UK Limited, trading as Taylor & Francis Group
DOI 10.1080/00787191.2019.1611965
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zwischen Entscheiden und Vermeiden; zwischen “Eben jetzt” und “Gerade
noch”.2
Dieses bewusstmachende Ereignis geschieht dank einer Distanz zur Schweiz, wo die
Erzählerin gelebt hat. Diese durch Dissoziationen geförderte Reifung wird als
schmerzvoll geschildert, doch führt die junge Frau am Ende näher zu ihr selbst.
Die Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und — übersetzerin Ilma Rakusa
hat ihre Jugend in der Schweiz verbracht, wobei ihre Wurzeln anderswo liegen:
Sie wurde 1946 in Rimavská Sobota an der slowakisch-ungarischen Grenze als
Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter geboren. Bald
danach ist die Familie nach Budapest, Ljubljana und Triest umgezogen, bevor sie
sich 1951 in Zürich niederließen. Rakusas Werk umfasst v.a. Gedichte (z.B. Impressum: Langsames Licht, 2016; Les mots/morts, 1992), Erzählungen (z.B. Einsamkeit
mit rollendem ‘r’, 2014; Steppe, 1990; Miramar, 1986, Die Insel, 1982) und Vorlesungen zur Poetik (z.B. Listen, Litaneien, Loops — zwischen poetischer Anrufung
und Inventur, 2016; Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman.
Stefan-Zweig-Poetikvorlesung, 2014; Farbband und Randfigur, 1994). 2003
wurde ihr der Adelbert-von-Chamisso-Preis verliehen und für ihren Roman Mehr
Meer erhielt sie 2009 den Schweizer Buchpreis. Das Buch besteht aus lyrischen Erinnerungen an ihre Reisen durch ganz Europa und an formende Begegnungen mit für
sie inspirativen Menschen. Die Passagen werden meistens mittels Töne, Klänge,
Farben und Stimmungen assoziativ aneinandergereiht. Die Autorin führt den
Leser nach Rimavská Sobota, Budapest, Ljubljana, Triest, Zürich, England, Prag,
Moskau und St. Petersburg.
Der Roman wird von der Sehnsucht nach dem außerhalb des Eisernen Vorhangs
liegenden Raum geprägt, dem sog. Osten Europas, als Projektion der jungen Hauptfigur in der für sie erstmal fremd anmutenden Schweiz. Der Osten trägt in Mehr
Meer vorwiegend eine kulturelle Bedeutung, die sich auf die Liebe zur russischen Literatur, auf die mit Familienwurzeln verbundene Kenntnis von ungarischen Märchen
und Kinderreimen oder auf die erfahrene Geborgenheit in Prag stützt. Es bietet sich
die Frage, welche Rolle genau die Wahrnehmung der Schweiz und die Imaginationen
des Raumes in Richtung Osten für das Frauwerden der Hauptfigur von Mehr Meer
spielen. Die andere Frage lautet, in welchem Verhältnis Ilma Rakusas Text zu zwei
anderen Romanen aus der Schweiz steht: Denn neben ihr gibt es auch zwei andere
Schriftstellerinnen, die sich in ihren Texten mit dem Fremdsein in der Schweiz auseinandersetzen und zum Raum ihrer Herkunft hinter dem Eisernen Vorhang, der
Tschechoslowakei, beziehen: Irena Brežná und Katja Fusek.
Irena Brežná ist Schriftstellerin, Psychologin und Menschenrechtskämpferin. Sie
ist 1950 in der slowakischen Stadt Trenčín geboren und ist dort aufgewachsen. Im
Jahre 1968 ist sie nach der Niederschlagung des Prager Frühlings mit ihren Eltern
in die Schweiz emigriert. Sie hat dort Slawistik, Philosophie und Psychologie studiert
und später u.a. als Dolmetscherin gearbeitet. Sie ist Autorin von den Romanen Die
Schuppenhaut (1989), Die beste aller Welten (2008) und Die undankbare Fremde
(2012), für den sie den Schweizer Literaturpreis erhielt. Außerdem erschienen ihre
zahlreichen Reportagen und Essays in den Bänden Karibischer Ball (1991),
2
Rakusa, Mehr Meer, S. 171.
DIE GRAUSAMEN JAHRE?
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Falsche Mythen. Reportagen aus Mittel- und Osteuropa nach der Wende (1996),
Die Wölfinnen von Sernowodsk. Reportagen aus Tschetschenien (1997), Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa (2003) und Wie ich auf die Welt kam.
In der Sprache zu Hause (2018).
Die zweite Autorin, Katja Fusek, wurde 1968 in Prag geboren und emigrierte zehn
Jahre später mit ihrer Mutter und zwei Schwestern nach Basel. Sie hat dort und in
Paris Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte studiert. Sie hat bisher vier
Romane — Novemberfäden (2002), Die stumme Erzählerin (2006), Mare blu.
Eine Liebesgeschichte mit Homer (2011) und Aus dem Schatten (2017) — und
ein Buch mit Erzählungen mit dem Titel Der Drachenbaum (2005) veröffentlicht
und schreibt auch für das Theater. Die Hauptmotive ihrer Werke sind oft der
Verlust der Heimat und der Muttersprache, das Fremdsein und die Einsamkeit.
Diese Studie erläutert anhand von je einem Roman dieser Autorinnen, wie die
weibliche Adoleszenz durch die Konstruktion der Fremderfahrung repräsentiert
wird. Es geht um die Romane Die undankbare Fremde3 von Irena Brežná, Novemberfäden4 von Katja Fusek und Mehr Meer. Erinnerungspassagen von Ilma Rakusa.
In allen steht eine weibliche Hauptfigur im Vordergrund, die durch die Entscheidung
ihrer Eltern zur Migrantin wird und die sich mit der Forderung der Assimilierung in
der Schweiz auseinandersetzen muss. Die ausgewählten Autorinnen sind selbst unter
zwar nicht identischen, aber ähnlichen Umständen wie ihre Protagonistinnen
während ihrer Adoleszenz, Pubertät oder Kindheit in die Schweiz emigriert —
Rakusa bereits als Fünfjährige im Jahre 1951 nach relativ kurzen Aufenthalten in
Rimavská Sobota, Budapest, Ljubljana und Triest, Brežná mit achtzehn Jahren im
Jahre 1968 aus dem slowakischen Trenčín, Fusek als Zehnjährige 1978 aus Prag.
Die Erfahrung mit der mühsamen Sozialisierung in der Schweiz wird in der Erzählinstanz projiziert, die die Entwicklung der jeweiligen Hauptfigur durch Rückblenden
reflektiert. Zuerst sollen noch die Handlungen der Romane von Brežná und Fusek
zusammengefasst werden.
Brežná benennt im Roman Die undankbare Fremde mit beißender Kritik die Missverständnisse, denen eine Migrantin aus dem vermeintlichen ‘Osten’ in der Schweiz
ausgesetzt ist. Im Unterschied von Rakusas Text hat der Osten hier vielmehr die
Bedeutung der Vorwegnahme der Wahrnehmung vonseiten der Schweizer, die der
Hauptfigur zu spüren geben, dass sie aufgrund ihrer Herkunft in den gesellschaftlichen Regeln erst erzogen werden muss. Der Roman besteht aus dem Geflecht von
zwei alternierenden Erzählsträngen. Im ersten Erzählstrang werden von der
Ich-Erzählerin die Flucht ihrer Familie in die Schweiz nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im August 1968 in die Tschechoslowakei und die aufgezwungenen Assimilierungsstrategien des Gastlandes thematisiert. Das Gefühl eines nicht
anpassungsbereiten Eindringlings dominiert diese Erzählebene des Romans. Die
Hauptfigur protestiert gegen alle Regeln, Normen, Planungsgeist, Tarnung der
Gefühle oder Abstand und vermeintliche emotionale Kälte der Schweizer untereinander und zu ihr als beinahe Feindlichkeit. Sie beschreibt ihre Gefühlslage als
3
Irena Brežná, Die undankbare Fremde (Berlin: Galiani, 2012). In diesem Aufsatz verweise ich
auf die im Berliner Verlag Kiepenhauer & Witsch erschienene dritte Ausgabe des Romans von
2016.
4
Katja Fusek, Novemberfäden (Basel: Janus Verlag, 2002).
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‘Zwangsehe’, sie sei ein ‘Gast vom Mond’.5 Eine Entspannung findet sie nur in den
Momenten, die sie zusammen mit ihrer Freundin und Landesgenossin Mara verbringt. Die erste auf die Jugend bezogene Ebene wird durch Passagen über Erlebnisse
der mittlerweile älteren und viel erfahreneren Ich-Erzählerin unterbrochen, die bei
Verhandlungen und Gesprächen mit den Migranten aus slawischen Ländern beim
Gericht, im Gefängnis, im Krankenhaus oder in einer psychiatrischen Heilanstalt
als Dolmetscherin assistiert. Die Erzählerin erzeugt eine Polyphonie der Stimmen
derjenigen, die nicht für sich sprechen würden, weil sie in ihrer aktuellen Position
als Subalterne keinen Zugang zum Dialog haben, in dem die Macht verteilt wird.
Fuseks Roman Novemberfäden (2002) thematisiert die Zwiespältigkeitsgefühle
der Hauptfigur Zita, einer Lehrerin, zwischen zwei Ländern, zwei Kulturen, zwei
Männern und zwei Sprachen. Der Text setzt sich, ähnlich wie bei Brežná, mittels
der Beschreibung einer Reihe von Episoden mit den Schwierigkeiten auseinander,
sich nach der Ankunft an das neue Land zu gewöhnen, dort empfangen zu
werden, Vorurteilen standzuhalten und dem Verlust ihrer Kindheit entgegensehen
zu müssen. Zita ist mit dreizehn Jahren mit ihren Eltern und zwei jüngeren Schwestern in die Schweiz gekommen. Ihre Erinnerungen an die mühsamen Anfänge im
neuen Land und Reflexionen über ihre Beziehung zu ihrem schweizerischen
Partner Stefan, mit dem sie in einer Krise steckt und den sie im inneren Monolog
anspricht, wechseln mit ihren melancholischen Eindrücken von Prag in der Gegenwart, wo sie eine Novemberwoche bei ihrer Freundin Eva verbringt. Dieser Besuch
bildet den narrativen Rahmen des Romans. Außer der ihr vertrauten Prager Umgebung verließ Zita vor dreizehn Jahren mit schwerem Herz auch ihren drei Jahre
älteren Freund Marek. Ihre Familien bewohnten eine große Villa am linken Ufer
der Moldau, sodass Zita mit ihm von klein auf aufwuchs und später Lesereindrücke
von einander geliehenen Büchern teilte. Nach dem Umzug pflegt sie mit ihm weiterhin einen intensiven Briefwechsel und verbringt mit ihm viel Zeit bei ihren regelmäßigen Besuchen Prags in ihrer Adoleszenz, bis sie ein Paar werden. Eines Tages
gibt er zu ihrer tiefen Erschütterung aber Patricia Vorzug, seiner neuen Freundin,
die er mit etwa neunzehn Jahren überstürzt heiratet. Von Eva erfährt Zita nun,
d.h. ein paar Jahre später, Patricia und Marek würden sich trennen. Von ihrem
Mann Stefan erfährt sie zugleich durch einen Telefonanruf, sie habe zu Hause
einen Brief von einem Unbekannten aus Prag liegen — und ahnt, dass er von
Marek ist. Sie muss ihre ganze Existenz, den Wert ihrer Beziehungen zu Prag und
Marek und zur Schweiz und Stefan überdenken.
Diese Studie schließt sich einerseits dem Eastern Turn in der germanistischen Literaturwissenschaft an,6 andererseits stützt sie sich auf das Gebot einer transdisziplinären Adoleszenzforschung, die mit der Eröffnung der Reihe Adoleszenzforschung
— Zur Theorie und Empirie der Jugend aus transdisziplinärer Perspektive von
5
Brežná, Die undankbare Fremde, S. 35.
Vgl. Renata Cornejo, Sławomir Piontek, Izabela Sellmer, and Sandra Vlasta (Hg.), Wie viele
Sprachen spricht die Literatur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa
(Wien: Praesens, 2014); Brigid Haines, ‘The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature’, Debate: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe, 16:2 (2008), 135–
49. Online: <http://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/09651560802316899> (Stand:
29.8.2018); Brigid Haines, ‘Introduction: The Eastern European Turn in German Literature’,
German Life and Letters, 68:2 (2015), 145–53. Online: <http://onlinelibrary.wiley.com.ezproxy.is.
ed.ac.uk/doi/10.1111/glal.12073/full> (Stand: 29.8.2018); Irmgard Ackermann, ‘Die
6
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Vera King und Hans-Christoph Koller angeregt worden ist.7 Das Thema der Adoleszenz in der Migrationsliteratur wurde bisher überhaupt nur ungenügend berücksichtigt. Die literarische Darstellung spezifischer Probleme, die die jugendlichen
MigrantInnen gerade in der Schweiz bewältigen mussten, ist einer näheren Untersuchung besonders wert.
FREMDERFAHRUNG
IN DER
ADOLESZENZ UND MIGRATION
Es wird in Geisteswissenschaften seit langem akzeptiert, dass die Adoleszenz ein
konstitutiver und ganz und gar reichhaltiger Bestandteil des Menschenlebens ist.8
So wie Leslie A. Adelson gegen die nichtssagende Figur einer Brücke in der Interkulturalitätsdebatte plädiert,9 darf nicht angenommen werden, dass die Adoleszenz ein
Dazwischen ist. Der Anfang ist nach neu erweckter Revolte, Traurigkeit, schnell
erregter Emotionen, permanenter Polemik mit Älteren oder Suche der Stelle in der
Welt einfacher zu vermerken als das Ende der Phase; das Erwachsenwerden identifiziert man verschieden. Die Migration stimmt in diesem offenen Ausgang mit der
Adoleszenz überein: Wann jemand zum Migranten wird, ist klar erkennbar. Der
andere Grenzpunkt — wann hört er auf, ein Ankömmling zu sein, verschwimmt
jedoch. Das Labeling des Migranten oder des Adoleszenten als ein erst zu werdendes, soweit verwirrendes Subjekt wird somit hinfällig. Die Konzepte der Adoleszenz und der Migration können weiterhin nebeneinandergestellt werden, weil sie
gewisse Gemeinsamkeiten wie Identitätserschütterung oder Verwirrung aufweisen.
Bei der Migration, die gewöhnlich räumlich, und der Adoleszenz, die umgekehrt
an der Zeitachse gedacht wird, können bestimmte Korrelationen identifiziert
werden: In ihrer Fluidität wirken sie unsicher, provozierend oder sogar verdächtig.
Beide Übergangsformen sollten bei ihrer Verflechtung durch das gleichzeitige Auftreten somit zu einer doppelten Entfremdung der migrierenden Jugendlichen in Bezug
auf ihre Selbstwahrnehmung führen. In ihrer Darstellung kann die eine oder die
andere Form eine Oberhand gewinnen, wie die folgende Interpretation von
Brežnás Text belegt:
Die Wahrnehmung der Fremdheit ist darin so vorgelegt, als ob diese ausschließlich
durch die Migration bedingt wäre. Wenn man die Schilderung der Konflikte der
Erzählerin erwägt, kann man jedoch darauf zurückschließen, dass die Migration
bei weitem nicht der alleinige Faktor der geschilderten Integrationsschwierigkeiten
sein müsste, sondern dass dabei die unreflektierte Tatsache der Adoleszenz eine
grundsätzliche Rolle spielen könnte. Mit anderen Worten: Der komplizierte
Prozess der Selbstpositionierung der Erzählerin begründet sich anhand ihrer
Osterweiterung in der deutschsprachigen “Migrantenliteratur” vor und nach der Wende’, in
Michaela Bürger-Koftis (Hg.), Eine Sprache — viele Horizonte … Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträt einer neuen europäischen Generation (Wien: Praesens, 2008), S. 13–22.
7
Vgl. das Vorwort in Vera King, Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation,
Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften (Wiesbaden: Springer, 2013), S. 9.
8
Vgl. King, Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz; Gertraud Diem-Wille, Pubertät —
Die innere Welt der Adoleszenz und ihrer Eltern. Psychoanalytische Entwicklungstheorie nach
Freud, Klein und Bion (Berlin: Kohlhammer, 2017), S. 9.
9
Leslie A. Adelson, ‘Against between — Ein Manifest gegen das Dazwischen’, in Andreas Langenohl, Ralph Poole and Manfred Weinberg (Hg.), Transkulturalität. Klassische Texte (Bielefeld:
Transcript, 2015), S. 125–38.
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Reflexionen nie explizit in ihrer persönlichen Reifung. Brežná ist allerdings auch
ausgebildete Psychologin, daher kann angezweifelt werden, dass sie eine explizite
Reflexion der Adoleszenz in ihrem Roman unbewusst ausgeblendet hat. Nehmen
wir deshalb an, dass es eine absichtliche Strategie ist, die durch die Adoleszenz verstärkte Belastung der ich-Erzählerin unbenannt zu lassen. Sofern das Buch hauptsächlich für Schweizer Leser geschrieben wurde, um ihnen wegen ihrer Einstellung zu
den Immigranten ins Gewissen zu reden,10 kann der Text im Kontext der zeitgenössischen interkulturellen Literatur als Instrument eines Appells gedeutet werden, der
vor der Schilderung der Umstände der Verwirrung und Entwirrung eines jungen
Menschen Priorität gewinnt.
Dieses Beispiel soll in erster Linie illustrieren, inwieweit der Begriff der
Migrationsliteratur ein Konstrukt ist. Manche auch nur nebensächlich auf die
Migration bezogene Werke der Gegenwartsliteratur werden damit schon deshalb
bezeichnet, weil ihre Autoren einen Migrationshintergrund haben oder weil es
beinahe zum guten Ton der Marketingstrategie zählt.11 Die Migrationsliteratur
hat sich in dieser Hinsicht in den Mainstream verwandelt. Sogar der berühmte
Adelbert-von-Chamisso-Preis, mit dem die Robert-Bosch-Stiftung deutschsprachige
Autoren mit einer anderen Muttersprache von 1985 bis 2017 auszeichnete, hat die
Preisverleihung eingestellt, weil ihre Absicht, Migrationsautoren auf ihrem Weg zu
helfen, mit dem Ruhm, den sie nach und nach erlangen, erfüllt wurde.12
Das darf aber nicht den Eindruck erwecken, dass sich die literarische und interpretatorische Arbeit bereits ausgeschöpft hat, wenn es um das Thema der Migration
geht. Es muss eher darauf aufmerksam gemacht werden, dass unter dem Etikett
Migrationsliteratur die Breite der möglichen Interpretation der so benannten
Texte sich zu verflüchtigen droht. Die Werkinterpretation muss allerdings neuen
Zugängen zu den in den Texten eher nebensächlich gestreiften Aspekten geöffnet
bleiben, wie hier z.B. der Adoleszenz, des Frauwerdens und deren Erinnern.
Dieses Thema wird im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der Erfahrung des
Fremden behandelt, welche in den Romanen von Brežná, Fusek und Rakusa eine
große Bedeutung haben. Das Fremde wird vom Philosophen Bernhard Waldenfels
in seinen Werken Topographie des Fremden13 und Der Stachel des Fremden14 als
Anspruch, Anreiz, Herausforderung oder Provokation definiert. Jede Erfahrung
könnte aus phänomenologischer Sicht als Verhandlung mit dem Fremden begriffen
werden, auf dessen Ansporne eine Antwort gefordert wird. Waldenfels unterscheidet
drei Typen der Fremdheit: die alltägliche, strukturelle und radikale Fremdheit. Die
erste zeigt sich beispielsweise in der Figur des Postboten — wir könnten seine
Rolle notfalls übernehmen. Das Verstehen wird zum Beispiel durch Nachschlagewerke erleichtert. Die strukturelle Fremdheit liegt außerhalb einer bestimmten
10
Irena Brežná im Gespräch mit Peer Teeuwsen, Zeit Online, 8.3.2012. Online: <https://www.
zeit.de/2012/11/CH-Interview-Irena-Brezna/seite-2> (Stand: 29.8.2018).
11
Vgl. Immacolata Amodeo im Interview mit Eva Marková, ‘Psát o migrační literatuře patří k
dobrému tónu’ [Es gehört zum guten Ton, über die Migrationsliteratur zu schreiben], Plav.
Měsíčník pro světovou literaturu, 2 (2017). Online: <http://svetovka.cz/archiv/2017/
02-2017-rozhovor.htm> (Stand: 29.8.2018).
12
Vgl. ‘Über den Chamisso-Preis’, Webseite der Robert Bosch Stiftung: <http://www.
bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp> (Stand: 29.8.2018).
13
Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997).
14
Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990).
DIE GRAUSAMEN JAHRE?
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Ordnung — wie eine fremde Sprache. Die radikale Fremdheit befindet sich
außerhalb jeder Ordnung: Es geht um Grenzphänomene wie Eros, Rausch, Schlaf,
Tod oder Revolution, die die Raum- und Zeitordnung durchbrechen.15
Die Erzählerinnen von Brežná, Fusek und Rakusa vermissen diese übergreifende
Ordnung. Brežnás Hauptfigur bemüht sich um die Bewältigung der alltäglichen
Fremdheit, wenn sie als Studentin ausgerechnet als Postbotin arbeitet, sowie der
strukturellen Fremdheit durch das Erlernen der Sprache. Erst als Dolmetscherin
handelt sie jedoch so, als ob sie schon wisse, dass sie den Asylbewerbern helfen
muss, nicht nur die alltägliche und strukturelle Fremdheit zu bewältigen — denn
die radikale Fremdheit der Emigration ist widerstandsfähiger. Die radikale Fremdheit bei Katja Fusek bezieht sich demgegenüber auf den privaten Bereich. Zitas
Partner Stefan ist Schweizer. Sie gibt an einer Stelle zu, sich in der deutschen
Sprache in intimen Momenten vollkommen fremd zu fühlen.16 Sie bewältigt zwar
die strukturelle Fremdheit, indem sie die deutsche Sprache völlig beherrscht, doch
die radikale Fremdheit des Eros bleibt resistent — und Zita überträgt diese auf die
deutsche Sprache. Umgekehrt funktioniert der Eros bei Rakusas Protagonistin,
indem sie sich mit dem Pariser Orgelspieler M. ausdrücklich außerhalb jeder
Ordnung zu befinden ahnt — ihre Begegnungen werden ‘Feste außerhalb von
Norm und Zeit’.17 Diesen Rausch ist sie imstande genauso wie in der totalen
Hingabe an die Musik und Literatur zu ihrem Vorteil zu nutzen, um die fremdartig
anmutenden Objekte und Situationen um sie im Sinne ihrer Bedrohlichkeit zu
entkräften.
In allen Romanen wird auf das Fremde eine bestimmte Antwort gegeben: In Waldenfels’ Auffassung wird diese Erfahrung also durch die Antwort übersetzt. Dasjenige, was den Protagonistinnen widerfährt, ist nicht mehr einfach eine Außenwelt,
denn durch das Erfahren wird es in gewisser Hinsicht bereits Teil ihrer eigenen
Welt. Die ‘Übersetzung’ des Fremden ist eine Voraussetzung für das Funktionieren
nicht nur in jeder neu betretenen Ordnung, sondern auch in jeder Ordnung, deren
Erfahren ohne eigene Mitwirkung zum Ausdruck kommt. In der Übersetzungswissenschaft wurde von Joachim Renn ein Übergang von einem Äquivalenz- zu
einem Adäquanzprinzip postuliert18: Das Fremde sei demnach nicht mit dem, was
in unserer Ordnung von Geltung war, zu vergleichen, sondern mit dem, was
unsere Existenz im Moment erfordert — was adäquat ist.19 Andreas Langenohl,
Ralph J. Poole und Manfred Weinberg postulieren im Anschluss daran eine ‘Zurückstellung des normativen Kriteriums “richtigen” Verstehens in Übersetzungsprozessen zugunsten der Frage nach den produktiven und Deutungen konstituierenden
Effekten von Übersetzung’. Von diesem Standpunkt her sollte überprüft werden, wie
Romane von Brežná und Fusek mit dem möglichen Verstehen und der Übersetzung
15
Vgl. Waldenfels, Topographie, S. 35–37.
Vgl. Fusek, Novemberfäden, S. 58.
17
Rakusa, Mehr Meer, S. 252.
18
Joachim Renn, ‘Die Übersetzung der modernen Gesellschaft. Das Problem der Einheit der
Gesellschaft und die Pragmatik des Übersetzens’, in Joachim Renn, Jürgen Straub, Shingo
Shimada (Hg.), Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration (Frankfurt
a.M.: Campus, 2002), S. 183–214. Zitiert nach Andreas Langenohl, Ralph J. Poole and Manfred
Weinberg, ‘Übersetzung. Einführung’, in dies. (Hg.), Transkulturalität. Klassische Texte (Bielefeld:
Transcript, 2016), S. 175–85, hier S.176.
19
Vgl. Langenohl et al., ‘Übersetzung. Einführung’, S. 176.
16
292
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der radikalen Fremdheit umgehen, im Spektrum zwischen dem hermeneutischen
Ansatz, also der Postulierung der Möglichkeit des ‘richtigen’ Verstehens und differenznivellierender Äquivalenz, und dem produktiven Nicht-ganz-Verstehen im Sinne
differenzproduktiver Adäquanz, und zwar in der Repräsentation von Identifizierung, Enttäuschung und Verschränkung.
STRATEGIEN DER FREMDHEITSBEWÄLTIGUNG: VON ‘ZERTÄUSCHUNG’
VERSCHRÄNKUNG
ZUR
Die Identifikation mit konkreten Bildern oder Menschen erleichtert den Hauptfiguren der Romane möglicherweise die Orientierung in der Welt, aber zugleich entstehen durch den Charakter dieser Bezüge die eigenen Schwierigkeiten, von deren
Bewältigung ihre Zukunft abhängt. Diese Identifikation als Täuschung durch die
Fremderfahrung entpuppt sich als eine falsche Übersetzungsstrategie. In den
Romanen von Brežná, Fusek und Rakusa ist auch die zweite Stufe der Übersetzung
der Fremderfahrung präsent, die Enttäuschung. Die Enttäuschung konnotiert heute
etwas Negatives: Im Universalwörterbuch Duden steht sie für ‘die Nichterfüllung
einer Hoffnung oder Erwartung, die jmdn. unzufrieden o. ä. stimmt’.20 Von der
Motivation her ist der Ausdruck Enttäuschung jedoch durchaus positiv gefärbt.
Im Herkunftswörterbuch Duden liest man beim Stichwort ‘enttäuschen’:
Das […] Wort bedeutet eigentlich in positivem Sinne “aus einer Täuschung
herausreißen, eines Besseren belehren” […]. Es wird aber unter dem Einfluss
von täuschen nur für die unangenehme Zerstörung guter Erwartungen
gebraucht.21
In den Muttersprachen von Brežná und Fusek gibt es ein Äquivalent der
Enttäuschung in den Wörtern sklamanie (Slow.)/zklamání (Tsch.), aber auch rozčarovanie (Slow.)/rozčarování (Tsch.). Die erste Variante könnte ins Deutsche wörtlich
als ‘Vertäuschung’ oder ‘Zertäuschung’ übersetzt werden. Die zweite Variante heißt
wörtlich ‘Entzauberung’. Um die Frage nach der Darstellung der Fremderfahrung in
den behandelten Romanen befriedigend beantworten zu können, muss erstmal mitbedacht werden, wie hier das Verhältnis zwischen der einen und der anderen
Enttäuschung aussieht.
Die dritte Stufe, die ich bei Brežná, Fusek und Rakusa beobachtet habe, ist die
Verschränkung. Nach Waldenfels ist sie die Voraussetzung der Interkulturalität
überhaupt. Er schlägt diesen Begriff vor, um die Verwicklung des Eigenen und
Fremden zu veranschaulichen. Die Entwirrung verschränkter Elemente und verschlungener Linien führt nach Waldenfels zu einer Zerstörung des Musters. Er formuliert aber eine Möglichkeit, wie man das Eigene und das Fremde voneinander
unterscheiden kann, und zwar im Ereignis des Antwortens, in der sogenannten
Responsivität.22 Er empfiehlt sie als Korrektiv gegen die Normalisierung des
20
Vgl. die jeweiligen Einträge in Duden Online-Wörterbuch. Online: <https://www.duden.de/>
(Stand: 29.8.2018).
21
Vgl. den Eintrag ‘Enttäuschung’ in Duden Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen
Sprache (Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1989).
22
Vgl. Waldenfels, Topographie, S. 109.
DIE GRAUSAMEN JAHRE?
293
Verhaltens. Der Grundzug der Responsivität steht für ein Verhalten, das nicht bloß
repetitiv nach Regeln abläuft, sondern immer wieder kreativ von bestehenden
Regeln abweicht in der Antwort auf Ansprüche des Fremden.23
Die Hauptfigur in Brežnás Roman Die undankbare Fremde ist von der Behandlung durch die Schweizer vom ersten Moment erschüttert, als ihr Name bei der
Grenzkontrolle verstümmelt wird. Die darauf folgende alltägliche Ernüchterung
über die Schweizer Gesellschaft, ihre Regeln und Selbstkontrolle ist so befremdend,
dass die junge Frau nur in der Identifikation überleben kann. Bei Brežná realisiert
sich die Identifikation als eine Phase räumlicher Bezüge der Erzählerin zu ihrem Herkunftsland. Die Tschechoslowakei wird immer ‘unser Land’ genannt, die Schweiz
als ‘das Land’, ‘dieses Land’, ‘Euer Land’; die Erzählerin trennt also konsequent
das ‘ich’ und ‘das fremde Land’ voneinander. Als symbolträchtiges Absterben der
Bindung zum Herkunftsland und das Ende der Identifizierungsphase damit kann
die letzte Episode der ersten Erzählebene interpretiert werden, in der die Erzählerin
mitteilt, dass Mara, ihre beste Freundin, mit der sie ihre Herkunft und Erinnerungen
teilt, beim Autounfall mit einem lokalen Dichter gestorben ist.
Bis zu dieser symbolischen Darstellung geht der Text jedoch eine bemerkenswerte
Verwandlung durch. Die pure Enttäuschung wird nämlich zur Entzauberung transformiert, als Ent-Täuschung durch Erlebnisse des Akzeptiertwerdens einerseits,
durch Entfremdung ihren Landsleuten gegenüber andrerseits. Die Erzählerin übt
an der falschen Strategie ihrer Landsleute Kritik, die auch in die Schweiz emigriert
sind. Sie reut die Demut ihres Volkes, wobei sie auf den Gedanken einer möglichen
Kooperation an sich nicht verzichtet. Sie wirft ihren Landsleuten aber vor, sich vorwiegend zur Vergangenheit zu wenden und nur im Gemeinschaftleben der Emigrierten die Auflösung ihrer Entwurzelung zu suchen:
Wären wir bloß aus dem Untergrund aufgetaucht und hätten die Alteingesessenen zu einer Nationalfeier eingeladen und unser Wissen, unsere Befindlichkeiten, Dummheiten, berechtigte Forderungen und Sehnsüchte preisgegeben.
Doch wer in der undankbaren Fremde24 hätte uns zuhören wollen? Wir
waren ein uneiniges Volk, unorganisiert, unrevolutionär, geschwächt von
Minderwertigkeitsgefühlen, unsicher in der neuen Sprache, geduckt unter
den fremden Regeln, geplagt vom Heimweh, willig, uns anzupassen bis
zum Verlust der Würde, einig und aufmüpfig nur im geheimen Motzen.25
Die Gemeinschaft in einer Sache kann nur für eine kurze Zeit erreicht werden, wie
Helmuth Plessner im deutschen Kontext des aufkeimenden Rechtsradikalismus
vor knapp ein hundert Jahren aufmerksam gemacht hat; wenn ein solcher
23
Vgl. Bernhard Waldenfels, ‘Response und Responsivität in der Psychologie’, Journal für
Psychologie, 2 (1994), 71–80. Online: <http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/2057>
(Stand: 29.8.2018).
24
Diese Wortverbindung markiert einen Wechsel der Betrachtung, wo die Schweiz als die
Fremde bezeichnet wird, die den Ankömmlingen gegenüber undankbar ist, während ‘die undankbare Fremde’ bis dahin im Sinne einer Vorwegnahme der Wertung verwendet wird, die die Erzählerin von den Einheimischen ihr gegenüber wahrnimmt: ‘Da hatten sie mir Zuflucht in der besten
aller Welten geboten, und die undankbare Fremde verspottete ihre Weltanschauung.’ Brežná, Die
undankbare Fremde, S. 34; meine Hervorhebung.
25
Brežná, Die undankbare Fremde, S. 103–04; meine Hervorhebung.
294
J. DUŠEK PRAŽ ÁKOVÁ
Zustand länger anhalte, werde das menschliche Seelenleben vergewaltigt.26 Der
soziale Radikalismus in der Gemeinschaft der emigrierten Landsleute ist übrigens
imstande, eine ähnliche Leblosigkeit zu verursachen: Die Gruppe formt einen instrumentalen Körper, aber kein organisches Leib mehr.27 Brežná reflektiert die Gefahr
der Attraktivität der Gemeinschaft, deren Konformität in derselben Sprache und
demselben kulturellen Hintergrund liegt. Sie bietet eine Überwindung dieser
Gefahr durch die Transformation ihrer Hauptfigur, die die von ihr einst gepflegte
eigene Heimwelt als nicht mehr adäquat entlarvt, zur aktiven Rolle der Dolmetscherin. Das Verhalten dieser Figur entspricht der schon anfangs dieses Kapitels
beschriebenen kreativen Abweichung vom normalisierten Verhalten nach Waldenfels. Durch ihre Wiedergabe werden die dramatischen Geschichten der Flüchtlinge
hörbar. Michel Foucault und Gilles Deleuze nehmen an, dass die Subalternen, wie
diese Menschen bezeichnet werden können, für sich sprechen können und ihre
Repräsentation im Sinne einer Vertretung unmöglich ist: ‘Representation no
longer exists’.28 Gayatri Chakravorty Spivak lehnt diese Annahme teilweise ab:
Sie meint, die Intellektuellen haben die Pflicht, den Unrepräsentierten zur Stimme
zu verhelfen, und zwar nicht ausgerechnet durch deren Vertretung (representation)
im politischen Sinne, sondern durch eine revidierte Darstellung (re-presentation)
von sich selbst:
there are people whose consciousness we cannot grasp if we close off our benevolence by constructing a homogenous Other referring only to our own
place in the seat of the Same or the Self. […] To confront them is not to represent (vertreten) them but to learn to represent (darstellen) ourselves.29
Die Dynamik von Vertretung und Darstellung ist bei Brežná folgendermaßen zu
deuten: Die Erzählerin sehnt sich in der Adoleszenz nach einer besseren Darstellung
der Schweizer zu Einwanderern. In ihrer späteren Arbeit als Dolmetscherin soll sie
an der Schnittstelle zwischen den Ämtern und den Flüchtlingen sprachlich die Interessen beider Gruppen vertreten. Doch sie bemüht sich nicht primär um das Verstehen der Interessen dieser Subalternen, die den jeweiligen Institutionen übermittelt
werden sollen. Sie bewegt sich zugleich im Raum des Zuhörens bzw. schweigender,
unterstützender Anwesenheit. Sie bemüht sich, ihr Verhältnis zu den Flüchtlingen
aufgrund ihrer eigenen Migrationserfahrung durch ihre eigene Darstellung zu
26
Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft — Eine Kritik des sozialen Radikalismus
(Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002). Erste Veröffentlichung: 1924. Nach der engl. Übersetzung The
Limits of Community: A Critique of Social Radicalism (New York: Humanity Books, 1999), übersetzt von Andrew Wallace.
27
Zur Unterscheidung der Begriffe ‘Körper’ und ‘Leib’ bei Plessner vgl. ‘Translator’s Notes’,
in ebd., S. 39.
28
Vgl. ‘Intellectuals and Power: A Conversation between Michel Foucault and Gilles Deleuze’,
in Donald F. Bouchard (Hg.), Language, Counter-Memory, Practice: selected essays and interviews
by Michel Foucault (Ithaca: Cornell University, 1993). Zit. nach Gayatri Chakravorty Spivak,
‘Can The Subaltern Speak?’ in Cary Nelson and Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the
Interpretation of Culture: International Conference: Selected Papers (Urbana: University of Illinois,
1988), S. 271–313, hier S. 279. Der Transkript des Gesprächs online: <https://libcom.org/
(Stand:
library/intellectuals-power-a-conversation-between-michel-foucault-and-gilles-deleuze>
29.8.2018).
29
Spivak, ‘Can The Subaltern Speak?’, S. 288–89.
DIE GRAUSAMEN JAHRE?
295
ihnen möglichst fruchtbar zu machen, obwohl es verboten ist, persönliche Beziehungen mit den Flüchtlingen anzuknüpfen. In ihrer Einstellung liegt deshalb eine adäquate Realisierung der Antwort auf Spivaks Forderung an Intellektuelle. Ihre
Responsivität macht deutlich, dass sie das Eigene nicht mehr in der Vergangenheit
sucht, sondern in der Arbeit für die sozial Benachteiligten.
Zita aus Katja Fuseks Roman Die Novemberfäden erinnert sich, dass sie als Kind
die Möglichkeit einer Ausgeglichenheit mit einer Vereinigung von zwei Welten konnotiert hat — d.h. mit einer räumlichen Verschmelzung, die im fernen Zukunftshorizont liegt. Zita bezeichnet jene Vorstellung über die vor ihr liegenden Zukunft als
einen Weg mit einem ‘Ausgang’,30 der negative Emotionen abflauen lässt. Der
ursprüngliche Wunsch von Zita, ‘mit der einen oder anderen Welt vollkommen zu
verschmelzen’,31 könnte bei Waldenfels (ähnlich wie Plessner) als Komplizierung
durch das Phänomen der Identifizierung oder sogar Überidentifizierung gelesen
werden, in der das Ich nahezu nichts ist, das soziale Selbst dagegen nahezu Alles ist.
Die eins nach dem anderen auftauchenden fremden Anstöße schaffen diese Identifizierung ab: Wenn Zita durch Mitschüler in der Schweiz wegen der nicht vollkommenen Kenntnisse des Deutschen verspottet wird, von den Schweizer Männern aus
demselben Grund als eine leicht Verletzliche belästigt wird oder die Untreue ihres
Prager Freunds Marek ertragen muss. Es sind Momente, die in ihr Gefühle zwischen
der Melancholie und Enttäuschung im negativsten Sinne hervorbringen. Das Identifizierungsbedürfnis aus der Kindheit wird durch diese Momente sowie durch Zitas
Entfremdung gegenüber ihren tschechischen Verwandten aufgehoben, die in der
Tschechoslowakei geblieben sind. Als Zitas Familie Geschenke aus der Schweiz mitbringt, nimmt sie an einer Stelle die neidischen Reaktionen dieser Verwandten
vorweg:
Wir, die Gebliebenen, sind die Leidtragenden. Ihr, die Weggegangenen, seid
diejenigen, die in Wohlstand und Reichtum leben, und dafür habt ihr uns
zu entschädigen.32
Der Vorwurf könnte auch als Drang nach einer schematischen und stereotypischen
Äquivalenz gedeutet werden. Es legt nahe, dass der Mangel an Fremderfahrung und
ihrer Bewältigung zum Verlust des Gefühls für das Adäquate führt.
Dreizehn Jahre nach der Auswanderung gelangt Zita schließlich zum neuen
Bewusstsein: Sie beobachtet in Prag am Fluss Moldau sich selbst als eine fremde
Frau:
Immer dachte ich, dies sei die wichtigste Frau in mir, die wirkliche, die
ursprüngliche, die vertrauteste. Stets hab ich sie gehegt und umworben, sie
war die treibende Kraft aller anderer Frauen in mir. Und plötzlich merke
ich, diese Frau, die am Moldauufer spaziert, ihrem Schirm im Nieselregen aufspannt, ist mir fremd geworden. Ich verstehe sie nicht mehr.33
30
31
32
33
Fusek, Novemberfäden, S. 60.
Ibid.
Fusek, Novemberfäden, S. 72.
Fusek, Novemberfäden, S. 85.
296
J. DUŠEK PRAŽ ÁKOVÁ
Bei Alfred Schütz, Autor des Essays ‘Der Fremde’,34 fungieren die Figuren des Auswanderers/Vertriebenen und des Heimkehrers als zwei komplementären Weisen des
Fremdwerdens. Die Auswanderung und die Heimkehr lassen sich nach Schütz nicht
nur geographisch, sondern auch historisch deuten:
Während der Auswanderer oder Vertriebene in eine fremde Heimwelt gerät,
in der er sich noch nicht auskennt, gerät der Heimkehrer in seine eigene,
inzwischen fremd gewordene Heimwelt, in der er sich nicht mehr auskennt.35
Fuseks Schlussepisode zeugt letzten Endes von dieser Entzauberung. Sie ereignet sich
in der Besinnung auf die Inkongruenz des gegenwärtigen Ich mit dem vergangenen
Ich,36 in der Metapher des Spaziergangs an der Moldau, einem heraklitschen Sinnbild von panta rhei. In diesem Augenblick der Verwirrung, nachdem sie erfährt, dass
ihr ehemaliger, in der Scheidung seiner Ehe stehender Freund Marek sie kontaktieren
versucht, gelangt sie zur Befreiung ihres Ichs, und zwar auch trotz des von ihr beklagten Nichtverstehens.37 Sie fühlt sich nicht mehr dazu gezwungen, ihre Identität
aufgrund konkreter Beziehungen zu definieren.
Das alte Ich kommt aber der folgenden Textpassage entsprechend nicht vollkommen abhanden. Diese entblößt Zitas Sprachkonflikt in einem intimen Moment. Sie
denkt in einem inneren Monolog über den Satz ‘Miluji tě.’/‘Ich liebe dich’ nach.38
Nach drei Jahren der Beziehung mit ihrem schweizerischen Partner Stefan offenbart
sie ihm ihre Liebe auf Tschechisch und nicht auf Deutsch, da es für sie auf Deutsch
nicht stimmen würde, obwohl er es bevorzugt:
Verstehst du denn nicht, dass ich dir mit diesen beiden Worten in meiner Muttersprache das Törchen zu meinem verletzlichen Inneren weit geöffnet habe?
Die Frau, die deine Sprache spricht, zittert nicht vor Dankbarkeit, vor Sehnsucht, vor überbordender Liebe. Sie bildet eine Hülle, baut einen Schutzwall,
zieht einen Stacheldraht um die verletzte und daher verletzbare Person, die in
ihrer Muttersprache denkt und fühlt.39
Sie muss in dieser Situation ihre Identität zwischen Tschechisch und Deutsch aushandeln: das erste ist als innere Verletzlichkeit, das andere als äußere Widerstandsfähigkeit inszeniert. Diese Responsivität macht deutlich, dass sie zum Tschechischen
auf weiterhin eine engere Beziehung hat als zum Deutschen. Die Untreue ihres
vorigen und ersten Freunds Marek mag es verursacht haben, dass sie ihre
34
Alfred Schütz, ‘Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch’, in ders., Gesammelte Aufsätze. Studien zur soziologischen Theorie, Bd. 2 (Den Haag: Nijhoff, 1972), 53–69. Zit. nach Waldenfels, Topographie, S. 39.
35
Zit. nach Waldenfels, Topographie, S. 39.
36
Vgl. Renata Cornejo, ‘Identitätskonzepte im Prosawerk von Katja Fusek im Hinblick auf die
Konstruktion von eigen und fremd’, in Vesna Kondrič Horvat (Hg.), Transkulturalität der
Deutschschweizer Literatur. Entgrenzung durch Kulturtransfer und Migration (Wiesbaden:
Metzler, 2017), S. 179–88, hier S. 187.
37
Vgl. Renata Cornejo, ‘“Auch dies ist mein Land” — von der Erfahrung des Fremdseins in
Katja Fuseks Roman Novemberfäden’, Studia Germanistica, 4 (2009), 103–13.
38
Fusek, Novemberfäden, S. 58.
39
Ibid.
DIE GRAUSAMEN JAHRE?
297
Liebeserfahrungen nun mit Stefan durch das Tschechische, ihre Muttersprache zu
revidieren sucht. Da er aber andere Vorstellungen über die Sprache der Liebeserklärung hat, entsteht in Zita eine postmonolinguale Spannung, zu deren Sinnbild der
zitierte Stacheldraht wird. Postmonolingualism ist ein Konzept von Yasemin
Yildiz: Sie geht davon aus, dass die mehrsprachigen Praktiken oft an die Ideologie
der dominierenden Einsprachigkeit stoßen. Der Begriff Postmonolingualism
bezieht sich dann auf die Spannung zwischen dem Paradigma der Einsprachigkeit,
das stets um die Durchsetzung bemüht ist, und dem Paradigma der Mehrsprachigkeit, das sich immer wieder spontan hervorbringt.40 Die radikale Fremdheit des
Deutschen in einem intimen Erlebnis wird durch den Schluss nicht gelöst: Zita verzichtet zwar am Ende darauf, sich mit einem Land oder einem Mann zu identifizieren. Ihre Resistenz zum intimen Gebrauch des Deutschen wird im Roman aber nicht
durchbrochen. Die Überwindung der Zwiespältigkeit zwischen zwei Männern und
zwei Ländern schließt die Verschränkung ihrer Sprachidentität nicht ein.
Rakusas Erzählerin in Mehr Meer bewundert als Kind diejenigen, die den Überblick über ‘Europa, den halben Planeten’ haben, ‘die Herren in der Meteorologischen Anstalt’.41 Sie sehnt sich danach, wie berühmte Globetrotter weltläufig zu
sein:
Wenn ich tapferer wäre, möchte ich “Weltforscherin” werden. Möchte in die
Sand- und Stein- und Eiswüsten und über die Meere. Wie Thor Heyerdahl,
Heinrich Harrer, Robert F. Scott, diese Abenteurer. Deren Bücher ich verschlinge. […] Ein unstillbarer Drang nach Weite. Entdeckungsdrang. Eroberungsdrang. Neugier.42
Dieser Drang wird jedoch wiederholend mit dem Selbstzweifel durch die Diagnose
der mangelnden Tapferkeit relativiert — ‘Reise ich nicht am liebsten in meinen
vier Wänden? Geborgen hinter Jalousien?’43 — oder durch das Gefühl der Unerreichbarkeit: ‘Der Schmerz des Unerreichbaren. Was ich bewunderte, war immer
fern. Oder entzog sich’.44 Diese Ambivalenz scheint erst durch das weitere Erzählen
kontextualisiert zu werden: Sie kann auf die Enttäuschung durch die Handlung ihres
Vaters zurückgeführt werden. Trotz positiver Erinnerungen an seine Umarmung und
Prinzipien gerät ihr Verhältnis zu ihm angesichts seiner Unstetigkeit und Rücksichtslosigkeit ambivalent.45 Als Kind will sie ihre Finger in ihren riesigen Pelzhandschuh
Kesztye und in die Erde stecken46 — als ob sich darin ihre Gegenbewegung zum Eroberungsdrang des Vaters, dessen Unstetheit der Darstellung zufolge mit einem nicht
saturierten Bedarf nach äußerer Freiheit erklärt werden kann, als Hang zum Bleiben
und Verwurzeln widerspiegelt. Nach dem Umzug von der Küste in Triest nach
Zürich spürt das junge Mädchen die allumfassende Begrenzung und Einschränkung
40
Vgl. Yasemin Yildiz, Beyond the Mother Tongue (New York: Fordham University Press,
2012).
41
42
43
44
45
46
Rakusa, Mehr Meer, S. 165.
Ibid.
Rakusa, Mehr Meer, S. 165.
Rakusa, Mehr Meer, S. 187.
Vgl. Rakusa, Mehr Meer, S. 87.
Rakusa, Mehr Meer, S. 49.
298
J. DUŠEK PRAŽ ÁKOVÁ
durch pedantische Ordnung und Vorschriften. Den Unterschied zwischen Slowenien
und der Schweiz bringt sie mit der Antinomie ‘Geborgenheit’ vs. ‘Vereinzelung und
Kälte’47 zum Ausdruck. Das stete Umziehen macht sich in der Erschöpfung des
Kindes und rückblickend als Vorwurf formulierten Erinnerungspassagen über die
Reise in die Schweiz bemerkbar:
Weiter, immer weiter, diese Melodie kannte ich schon. Nur über das Warum
war ich mir im unklaren. Mich hatte auch keiner je gefragt. Vater, so erfuhr
ich später, wollte in ein demokratisches Land. Wollte stabile Verhältnisse
für sich und seine Familie. Und so fuhren wir durch den Schnee. Ich glaube,
ich staunte nicht nur über diese unwirsche Winterlandschaft, ich war
erschrocken.48
Der Bedarf der Erzählerin nach Geborgenheit realisiert sich in ihrer Jugend hauptsächlich in der Zuwendung zur Lektüre: Erstens im engen Verhältnis zum Chassidismus und zweitens zur russischen Literatur. Sie liest jüdische Mystik und Martin
Bubers Chassidische Geschichten: ‘Ich stieß auf Dinge, die mir wie Antworten auf
uneingestandene Fragen vorkamen’.49 Auf die Frage ‘Keine Pubertätsprobleme?’
in einem Dialog mit N., einer der verstreut auftauchenden undefinierten Stimmen,
antwortet sie lakonisch: ‘Vordergründig nicht. Die Monatsblutungen machten mir
schlechte Laune. Aber kratzen und beißen, das wollte ich nicht. Buber war spannender’.50 Die Beschäftigung mit der beliebten Aktivität lindert demnach die drohenden
Folgen des empfundenen Auseinanderklaffens der körperlichen Beschaffenheit und
der Außenwelt.
Zur ähnlichen Linderung des Konflikts der werdenden Frau zählt auch Sonja aus
Fjodor Dostojewskis Schuld und Sühne, das wichtigste Identifizierungsvorbild ihrer
frühen Jugend, insbesondere wegen ihrer Sensitivität und Milde: ‘Kaum ist Sonja da,
spüre ich Rührung und Ruhe. Rundherum herrscht die reinste Hysterie, aber Sonja
wird es richten. Vögelchen Sonja’.51 Diese Deutung ermöglicht, Sonja als Antipodin
zur Performanz der falschen Mythen über Frauen zu betrachten. Was für eine Bedeutung sie für die Erzählerin spielt, zeigen ihre Äußerungen, Sonja sage ihr, was zu tun
ist, z.B. mit dem kleinen Bruder zu spielen oder einer Mitschülerin mit Hausaufgaben zu helfen.52 Sonja bedeutet ihr ‘Menschenliebe, die an Gottesliebe grenzt’,53
weil sie aufopfernd ihren Körper verkauft, um die Familie zu ernähren und Raskolnikow ihre Unterstützung zu leisten. In diesem intertextuellen Verweis lässt sich
Sonja als Rollenmodell eines Christentums deuten, das Maria Magdalena dem Patriarchat vorzieht.
Die Lektüre hilft der Protagonistin über einen eigenen Osten-Raum zu phantasieren, einen Raum ihrer Herkunft sowie poetischer Möglichkeit, der hinter dem realen
47
48
49
50
51
52
53
Rakusa, Mehr Meer, S. 86.
Rakusa, Mehr Meer, S. 87.
Rakusa, Mehr Meer, S. 215.
Rakusa, Mehr Meer, S. 216–17.
Rakusa, Mehr Meer, S. 159.
Vgl. Rakusa, Mehr Meer, S. 164.
Ibid.
DIE GRAUSAMEN JAHRE?
299
Eisernen Vorhang imaginiert wird und in dem nicht alles vom herrschenden Regime
abhängt:
Der Osten war unsere Bagage. Mit Herkunft und Kindheit und Gerüchen und
dicken Pflaumen. Mit Braunkohle und Ängsten und Dampfloks und sukzessiven Fluchten. Wir kamen von DORT und kappten die Verbindungen nie.
[…] Die Regime waren eines, die Topographien ein anderes. Die Sprachen,
die Speisen, die Gesten.54
Die Ambivalenz zwischen dem Drang zur Grenzüberschreitung und dem Bedarf
nach Geborgenheit wird auch in der bemerkenswerten Episode sichtbar, in der
eine Assoziation des Jalousien-Motivs die Erinnerung an den kindlichen Nachmittgasschlaf in Triest hervorruft und zur Entfaltung eines Jalousien-Motivs führt:
Zum Sichtbaren gehört das Verborgene. Die Fenster-Physiognomie mit Jalousie ist ebenso geheimnisvoll wie erotisch. In ihrer diskreten Noblesse kitzelt sie
die Phantasie.55
Dieses Motiv wird bei Rakusa zu einer ‘Jalousien-Poetik’ erhoben: Auch der Osten
stellt für die Erzählerin nämlich bis zum Erhalt des Schweizer Passes und der Reise
nach Prag 1967 einen Raum, der wegen seiner Unsichtbarkeit die Vorstellungskraft
herausfordert.
Die Verschränkung des Eigenen und des Fremden geschieht bei Rakusa quer
durch den Text in der Form eines einzigartigen Fremdsprachenregisters, den die
Erzählerin besitzt und oft zur Sprache bringt. In der Schweiz, wohin ihre Erzählerin
mit fünf Jahren kommt, beginnt sie für die Lektüre und Selbstgespräche Hochdeutsch zu verwenden, das ihr eine Abgrenzung gegen das Ungarische der Familie
und den Dialekt der Umgebung schafft. Innerhalb der Fremdsprachen, die sich die
Ich-Erzählerin von klein auf aneignen muss (Slowenisch, Ungarisch, Italienisch,
Schweizer Deutsch, Zürcher Dialekt) und später will (Französisch, Russisch),
bekommt im Roman eine spezielle Rolle das Englische. Die im ganzen Roman verstreuten Wörter und Sätze auf Englisch scheinen einen Bedarf nach Entspannung
und Zwangslosigkeit zu vermitteln. Englisch sowie England werden zum Topos
der Flucht, in welcher sich die Umkehrung der traditionellen romantischen Flucht
nach Osten oder in den Orient ereignet. Beim Musikkurs in Dartington kauft sich
Erzählerin die Gedichtsammlung Four Quartets (1943) von T. S. Eliot,56 die sie
durch die Verse über die Ambivalenz des Menschseins tief bewegt:
Um das zu werden, was du nicht bist, / Musst du den Weg gehen, auf dem du
nicht bist. / Was du nicht weißt, ist das einzige, was du weißt, / Was dir gehört,
ist was dir nicht gehört, / Und wo du bist, ist wo du nicht bist.57
54
55
56
57
Rakusa, Mehr Meer, S. 14.
Rakusa, Mehr Meer, S. 85.
Erste Auflage: Thomas Stearns Eliot, Four Quartets (New York: Harcourt, 1943).
Rakusa, Mehr Meer, S. 171–72.
300
J. DUŠEK PRAŽ ÁKOVÁ
Da sie zu diesem Zeitpunkt nervös hinsichtlich ihres Platzes zwischen Musik und Literatur ist, wird sie mit Eliot beruhigt, nach dem das Leben eine Reihe von Versuchen
ist:
“Doch vielleicht geht es weder um Gewinn / Noch Verlust. Für uns gilt nur der
Versuch. Der Rest ist nicht unsere Sache.” The rest is not our business.58 Mit
“Versuch” konnte ich leben. Das war brauchbar.59
Mit Blick auf weitere Einlagen wie ‘Then we were heading towards the sea’ (S. 50),
‘There was something swinging in the air’ (S. 86), das Lesen als ‘an enchantment’ (S.
106), Buch als ‘Reich der expanded minds’ (S. 123), ‘Die Musik gab sich nicht auf
Abruf, als instant fever’ (S. 171) u.a. kann angenommen werden, dass mit der Verwendung des Englischen eine starke positive Emotion verbunden ist, die mit der Verfügbarkeit eines besonderen Raumes zusammenhängt.
Die Wirkung der Eliot-Lektüre zeigt sich darin, dass die Erzählerin die volle Verantwortung für ihr Leben auf sich nimmt, indem sie sich vom Einfluss von ihren Vorbildern befreit. Einer von ihnen, der berühmte Cellist Mstislav Rostropovich, habe
ihr in Straßburg 1966 bei seiner Uraufführung eines Cello-Konzerts von Benjamin
Britten einen Ratschlag gegeben, den sie revidieren muss: Er empfahl ihr, sich
zwischen Musik und Literatur zu entscheiden.60 Doch später bei ihrem Forschungsaufenthalt in Leningrad erinnert sie sich an diesen Geheimtipp, dem sie gefolgt ist,
mit einem leichten Sarkasmus:
Wo ist Slava mit seinem Cello? Zuletzt in Straßburg riet er mir, meine Kräfte
zu konzentrieren. Ein dicker Strahl sei besser als zehn dünne. Jetzt bin ich hier,
eine Bibliotheksmaus, laboriere an Studien über die Einsamkeit.61
Sich in einem Bereich durchsetzen können hat für sie demnach von nun an eine Voraussetzung: die Einsamkeit auszuhalten.62 Es hat aber positive Konsequenzen in der
steigenden Bereitschaft zum Risiko, das sie bei künftigen Begegnungen mit dem
radikal Fremden auf sich zu nehmen lernt. Diese Bereitschaft ist dann zu beobachten,
wenn die Erzählerin mit bescheidenen Stolz erzählt, wie sie in den Siebzigern wieder
in die Tschechoslowakei zu kommen pflegte, als diese ‘ein anderes Land’63 nach der
Niederschlagung des Prager Frühlings geworden ist. Sie riskiert es, Buchverträge von
dissidenten Schriftstellern hinauszuschmuggeln, obwohl sie in der dortigen Atmosphäre zittert.64 Ihre Resilienz schöpft sich davon, dass sie in Prag im Jahre 1966
in einer begeisternden Solidarität zum ersten Mal auch das Gefühl der Geborgenheit
58
Die ins Deutsche übersetzten Verse stehen neben anderen Versen, die überhaupt nicht übersetzt werden, z.B. ‘The chill ascends from feet to knees’ (Rakusa, Mehr Meer, S. 172).
59
Rakusa, Mehr Meer, S. 172.
60
Vgl. Rakusa, Mehr Meer, S. 187–88.
61
Rakusa, Mehr Meer, S. 294.
62
Ilma Rakusa hat selbst zum Thema der Einsamkeit in der russischen Literatur promoviert.
Vgl. Ilma Rakusa, Studien zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur (Bern: Peter Lang,
1973).
63
Rakusa, Mehr Meer, S. 256.
64
Vgl. Rakusa, Mehr Meer, S. 256–57.
DIE GRAUSAMEN JAHRE?
301
im Kollektiv erlebt: ‘Das sozialistische Grau scheint wie weggewischt’,65 und nähert
sich dem Land durch das Erlernen tschechischer Vokabeln, denn ihr ‘Russisch ist
hier unerwünscht’.66 Die Ereignisse vom 21. August 1968, an dem der Prager Frühling von den Truppen des Warschauer Paktes niedergeschlagen wurde,67 werden in
der Form einer verdichteten Wiedergabe der Enttäuschung ihrer Prager Freunde und
der Emigration mancher von ihnen in die Schweiz geschildert.
MEHRSPRACHIGE VERSCHRÄNKUNG ALS MODUS VIVENDI
RÄUMEN
IN FLUIDEN
Die Grausamkeit des Fremdwerdens in der Schweiz ist bei Brežná, die sich vorwiegend mit Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens — in Bezug auf die Schweizer und ihre Landsleute — befasst, direkt mit den schwierigen Anfängen in der
Schweiz verbunden. In Fuseks und Rakusas Romanen, die auf die Darstellung des
Familien- und Freundeskreises mehr Gewicht legen, erzeugt sich die Grausamkeit
im Frauwerden gleichermaßen. Aus der Analyse im vorigen Kapitel geht im Weiteren
hervor, wie das Verhältnis zwischen der usuellen und semantischen Bedeutung des
Begriffs Enttäuschung ist, d.h. Enttäuschung als ‘Zertäuschung’, wie die wörtliche
Übersetzung von sklamanie (Slow.)/zklamání (Tsch.) ins Deutsche lauten würde,
und Ent-täuschung als Entzauberung: Bei Brežná und Fusek funktioniert die Verwandlung der negativen Zertäuschung in die positive Entzauberung als Vorphase
der Verschränkung des Fremden und Eigenen. Brežnás Erzählerin bekennt sich:
‘Vorher hatte ich in einem Verlies gelebt, dass ich mir aus falschen Erwartungen
gezimmert hatte’,68 bevor sie ihre Realisierung in der vermittelnden Instanz der Dolmetscherin findet. Fuseks Erzählerin Zita entlastet sich durch die Aktualisierung
ihrer Bindungen, nachdem sie sich der Entfremdung gegenüber ihrem vergangenen
Ich bewusst wird, die Zita vom Druck der Wahl zwischen zwei Optionen befreit.
Sofern bei Brežná und Fusek die Enttäuschung als grundlegende Voraussetzung
und somit als Vorphase der Verschränkung funktioniert, ist es bei Rakusa umgekehrt die Identifikation mit selbst ausgesuchten Rollenmodellen, die die Verschränkung fördern; auch diese Identifikation muss doch schließlich einer Revision
unterliegen, um sich selbst treu zu bleiben. Die Erfahrung der Geborgenheit in der
insularen Existenz mit imaginären Ansprechpartnern und die Entfaltung der
eigenen Anlagen und Interessen als Ausstaffierung einer maßgeschneiderten Expansionslust (glückliche Selbstrealisierung im Lesen, Schreiben und Vermitteln) transportiert in ihrem Roman eine Resilienz, dank deren die Begegnung mit der
radikalen Fremdheit nicht als Bedrohung, sondern als potentielle Bereicherung angesehen wird.
Die untersuchten Romane aller drei Autorinnen arbeiten mit einer Verschränkung, die ihren Figuren ermöglicht zu überleben. Diese Verschränkung als modus
65
Rakusa, Mehr Meer, S. 255.
Rakusa, Mehr Meer, S. 256.
67
Die nächste Assoziation zur Prager Normalisierung ist bemerkenswert: Es ist nämlich eine
Notiz zum fünften Jahrestag des USA-Angriffs im Irak, der 2003 einsetzte. Der Jahrestag sei in
den Medien als Feiertag vermittelt, doch die Ich-Erzählerin hält es für gar keinen Grund zum
Feiern (Rakusa, Mehr Meer, S. 258).
68
Brežná, Die undankbare Fremde, S. 131.
66
302
J. DUŠEK PRAŽ ÁKOVÁ
vivendi ist durch ihre eigenständigen Fremdsprachenregister bedingt. Ihre Mehrsprachigkeit wird nämlich zum Freiheitsraum außerhalb des Schweizerdeutschen
und der Schweizer Dialekte. Brežná setzt die Berufung zur Dolmetscherin ein,
Fusek spielt mit der intimen Sprachkrise und Rakusa wendet die Zugriffe auf die
englische und russische Literatur als Mittel zur Bildung der Resilienz an. Der freie
Umgang mit den angeeigneten Fremdsprachen ermöglicht ihnen eine emotionelle
Entlastung vom Druck ihrer Umwelt. Die Mehrsprachigkeit funktioniert hiermit
in der Fluidität der weiblichen Adoleszenz und Migration als grundlegendes
Motiv der Verschränkung des Eigenen und des radikalen Fremden. Bei der Begegnung mit der radikalen Fremdheit hilft den Erzählerinnen kein Äquivalenzprinzip
der Übersetzung. Er führt zur Identifizierung und von daher zur Täuschung. Die
einzig wirklich produktive Übersetzungsmethode in der Auseinandersetzung mit
dem Fremden ist die Verschränkung nach dem Prinzip der Adäquanz, die nicht
um ein völliges Verstehen des Fremden bemüht ist: Sei es bezogen mehr auf die
wuterzeugende gemeinschaftliche Fremdheit bei Brežná oder mehr auf die unsichere
Selbstpositionierung gegenüber den Fremdeingriffen bei Fusek — ‘Ich verstehe sie
nicht mehr’, wo ‘sie’ ihr altes Ich meint69 — und Rakusa: ‘Ich drehe mich im
Kreis. Und weiß nicht, wozu das gut ist’.70
Der Schlüssel zur Bewältigung des an der Schwelle der Adoleszenz und des
Erwachsenseins verschärft wahrgenommenen Fremden liegt bei allen Autorinnen
an erster Stelle in der Transformation der eigenen Darstellung zu sich selbst und
dem Fremden. Die interkulturelle Auseinandersetzung mit dem Fremden, welche
die jungen Figuren in der Schweiz bewältigen müssen, erfordert eine besondere
Fähigkeit: Eine Intelligenz nämlich, die sich nicht mit der Internalisierung der wandelnden objektiven Normen zufriedenstellt, sondern erstmals die Bereitschaft zur
eigenen Transformation hat als Balanceakt innerhalb und außerhalb des Systems,
zwischen der Raumexpansion und Rauminversion, Kontrolle und Subversion.
FÖRDERUNG
Dieser Artikel wurde von der Grantagentur der Karls-Universität unter dem Grant
Nr. 786218 ‘Migration and Adolescence in Literary Texts by Contemporary Swiss
Exophonic Female Writers’ unterstützt.
NOTES ON CONTRIBUTOR
Jana Dušek Pražáková promoviert seit 2016 im Fach Germanische Literaturen am Institut für
germanische Studien an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Hier
schloss sie 2013 ihr Magisterstudium in Germanistik (Diplomarbeit zum Motiv der Italienreise in der DDR-Literatur) und 2014 das Lehramt für Sekundarstufe II ab. Bevor sie mit
dem Promotionsstudium anfing, war sie als DaF-Lektorin in Sprachschulen, in der DaFWeiterbildung (Hueber-Verlag), im Kulturmanagement im Bereich der klassischen Musik
(ArcoDiva) und als Übersetzerin freiberuflich tätig. In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt
sie sich mit der weiblichen Adoleszenz in der zeitgenössischen Deutschschweizer Literatur im
Kontext von Migration. Im akademischen Jahr 2017/2018 forschte sie an der School of Literatures, Languages and Cultures an der University of Edinburgh.
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Fusek, Novemberfäden, S. 85.
Rakusa, Mehr Meer, S. 166.