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ISBN Print: 9783847109976 – ISBN E-Book: 9783847009979
Bonner Biblische Beiträge
Band 189
herausgegeben von
Ulrich Berges und Martin Ebner
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ISBN Print: 9783847109976 – ISBN E-Book: 9783847009979
Ulrich Berges / Johannes Bremer /
Till Magnus Steiner (Hg.)
Zur Theologie des Psalters und
der Psalmen
Beiträge in memoriam Frank-Lothar Hossfeld
Mit 6 Abbildungen
V&R unipress
Bonn University Press
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Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen
schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Petrus empfängt den Psalter von Egbert. Unbekannter Mönch,
Egbert-Psalter fol. 19r., 10. Jh.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISSN 0520-5670
ISBN 978-3-8470-0997-9
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1. Die Spannung von Klage und Lob
Beat Weber
Von der Beherzigung der Tora JHWHs (Ps 1,2) zur Darbringung der
Tehilla JHWHs (Ps 145,21). Erkundungen und Erwägungen zum Psalter
als Lehre und Lob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Uwe Rechberger
Zwischen individueller Klage und universalem Lob. Die Psalmen 22–24
als ein für den Psalter exemplarisches Itinerar eines Gebets-Pilgerweges .
45
W. H. Bellinger, Jr.
The Direction of the Psalter in Book V and the Question of Genre
. . . .
69
Kathrin Liess
„Um deiner Güte willen“ (Ps 44,27). Geschichtserinnerung und
Geschichtserfahrung in Psalm 44 im Kontext der ersten Korachsammlung
Ps 42–49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
2. Das Echo auf die Geschichte
Jorge M. Blunda Grubert
The Vision of History According to the Yhwh-mālāk-Psalms
. . . . . . . 113
Dirk J. Human
Pentateuchal ‘History’ as Source for Israelite Praise in Psalms 105 and 106 133
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6
Inhalt
3. Das Thema der Präsenz Gottes in Raum und Zeit
Bernd Janowski
„Bis an den Himmel reicht deine Güte“ (Ps 36,6). Zum Thema „Gott und
Raum“ in den Psalmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Till Magnus Steiner
„Des Nachts singe ich seine Lieder“ (Ps 42,9). Erinnerung, Zion und die
Völker im Ersten Korachpsalter (Ps 42–49) . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Corinna Körting
JHWH besteigt seinen Thron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
4. David als Autorität des Psalters
Johannes Schnocks
Musiker, Machtmensch und Messias. Redaktionsgeschichtliche
Überlegungen zu David als einer theologischen Schlüsselfigur im Psalter . 261
Egbert Ballhorn
Von David dem Knecht zum Volk der Gottesknechte im Psalter
. . . . . 287
5. Die Armentheologie
Johannes Bremer
The “Theology of the Poor” as a Constructive Contribution to the
Theology of the Psalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Alphonso Groenewald
“Happy are those who consider the Poor; YHWH Delivers Them in the
Day of Trouble” (Ps 41:1). A Trauma Perspective of the Redaction of the
Poor at the end of Book I (Pss 3–41) and Book II (Pss 42–72) . . . . . . . 357
W. Dennis Tucker, Jr.
The Dynamics of Powerlessness in Psalm 71 . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
6. Die kanonische Bedeutung des Psalters
Ulrich Dahmen
Königlich-messianische Erwartungen. Eine These . . . . . . . . . . . . . . 395
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7
Inhalt
Susan E. Gillingham
‘The righteous shall inherit the Land, and live in it forever’ (Ps 37:29).
Towards a Theology of an Human and Divine Justice through the
Reception History of Psalm 37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Heinz-Josef Fabry
„Mich machte Er zum Herrscher über die Söhne Seines Bundes“
(Ps 151,11). Der Beitrag Qumrans zu einer Theologie des Psalters . . . . . 429
Nancy Rahn
„Sein Königtum waltet des Alls“. Gottes מלכותals psaltertheologischer
Reflexionsbegriff – wiederentdeckt im Werk Franz Rosenzweigs . . . . . 451
Abschlussdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
Register ausgewählter Bibelstellen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
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Nancy Rahn
„Sein Königtum waltet des Alls“. Gottes מלכותals
psaltertheologischer Reflexionsbegriff – wiederentdeckt im
Werk Franz Rosenzweigs1
מלכותך מלכות כל־עלמים וממשׁלתך בכל־דור ודור
Dein Königtum ist ein Königtum aller Allzeiten,
und deine Herrschaft durch alle Generation und Generation. (Ps 145,13)2
יהוה בשׁמים הכין כסאו ומלכותו בכל משׁלה
ER hat seinen Stuhl im Himmel errichtet,
und sein Königtum waltet des Alls.
(Ps 103,19 in der Übersetzung von Buber/Rosenzweig)
לתקן עולם במלכות שׁדי
וכל בני בשׂר יקראו בשׁמך
להפנות אליך כל רשׁעי ארץ
[…] die Welt zu ordnen für das Königtum des Gewaltigen,
dass alles Fleisches Kinder deinen Namen rufen;
zu dir zu wenden alle Frevler der Erde.
(Aus dem Alejnu-Gebet des Rav Abba Areka)3
1 Ich danke sowohl den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Bonner Tagung, die diesem Band
vorausging, sowie jenen des Berner Kolloquiums für Dogmatik, Fundamentaltheologie und
Religionsphilosophie unter der Leitung von Prof. Dr. Magdalene Frettlöh, mit denen ich
Gedanken dieses Beitrags diskutieren konnte. Den einzelnen Abschnitten des Aufsatzes sind
jeweils konkrete Fragen aus diesen Gesprächen vorangestellt.
2 Alle Übersetzungen biblischer Texte sind, sofern nicht anders notiert, diejenigen der Autorin.
3 Das Alejnu(dt. „An/wegen/über uns“)-Gebet wurde ursprünglich als Einleitungsteil des Abschnitts Malchujoth der Liturgie für Rosh ha-Shana, später dann (ab dem 12. Jhd.?) zum
Abschluss des täglichen Gottesdienstes verwendet. Der erste Abschnitt dieses Gebets betont
den Zu- und Anspruch Gottes gegenüber Israel, der zweite Teil artikuliert die Hoffnung der
Menschheit auf das Königtum Gottes als Ziel des Gebets ([…] um zu ordnen/gerade zu machen
[…]). Franz Rosenzweig bezieht sich darauf in F. Rosenzweig, Stern 359f. Vgl. zum Alejnu als
Teil der jüdischen Liturgie auch S. Ben Chorin, Betendes Judentum 100–117.
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Nancy Rahn
„Er [sc. der Mensch] hat diese Gewissheit, er darf sie haben.
Denn es gibt außer ihm und außer der Welt noch Ihn,
der beiden zugekehrt ist, der ihn bei Namen ruft,
auf dass er sich einreihe in die Gemeinde derer, die ihn rufen,
und der den Dingen ihre Bahn gesetzt hat,
auf dass sie ein Reich werden, das seinen Namen trägt.“
(Aus Franz Rosenzweigs Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand)4
„Und sein Königtum waltet des Alls“ – so haben Martin Buber und Franz Rosenzweig Ps 103,19b verdeutscht. In diesem Satz steckt auch eine Einsicht für
den Psalter als Gesamtkunstwerk. Das Königtum Gottes (in seinen verschiedenen
semantischen Variationen) ist als Thema für die Komposition des Psalters
strukturgebend gewesen. Gottes מלכות, einer der zentralen Begriffe dieser Vorstellung, kann zudem als (psalter)theologischer Reflexionsbegriff gelten. Als
solcher hat er Geschichte geschrieben. Eine Auseinandersetzung mit Episoden
dieser Geschichte hält auch Impulse bereit für das Unternehmen einer „Theologie des Psalters“. Versuchsweise möchte dieser Beitrag solcherlei Impulse
ausbuchstabieren. Dies geschieht anhand einer bestimmten Episode der Geschichte von „Psalter“ und „Königtum Gottes“, im Werk Franz Rosenzweigs.
1.
Rezeptionsgeschichte des Psalters und seiner Psalmen
und das Unternehmen einer „Theologie des Psalters“ –
Vorbemerkungen
Wieso trägt Rezeptionsgeschichte etwas aus für das Verständnis biblischer Texte,
deren Abfassung den Kapiteln dieser Geschichte vorausliegt? Und wieso sollte sie
etwas austragen für das Nachdenken über eine „Theologie des Psalters“?
Ihr theologisches Potential entfalten Texte in mehr als einem Kontext, wie
rezeptionsgeschichtliche Arbeiten zu einzelnen Psalmen immer wieder zeigen.5
Gerade sogenannte Redaktionstexte, wie der oben zitierte und für den Begriff
מלכותim Psalter zentrale Text Ps 145, die mit großer Plausibilität für einen
ganz bestimmten Kontext im Psalter geschaffen wurden und aus diesem heraus
verstanden werden wollen, werden oftmals weit weniger stark in ihrem Gewicht
und in ihrer Geschichte als Einzeltexte wahrgenommen. Diese Geschichte aber
schreibt in ihren einzelnen Stationen und vor allem auf den Wegen zwischen
diesen Stationen an einer „Theologie des Psalters“ – je nachdem, wie man dieses
Unternehmen genau umreißt, mindestens an deren Fortsetzung. Brennan
4 F. Rosenzweig, Büchlein 104.
5 So beispielsweise die zahlreichen Studien von Susan Gillingham. Siehe auch den Beitrag im
vorliegenden Band, S. 411–427.
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„Sein Königtum waltet des Alls“
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W. Breed hat wichtige Einsichten zur Bedeutung der Geschichte von Texten in
seinem Buch „Nomadic Text“ in einem Bild formuliert. Er schreibt über seine
Studie:
„In this book, I have offered a new model of the biblical text, one that draws on reception
history’s potential to conceive texts as nomads […]. Nomads do not come from any
fixed point, and neither are they headed toward any fixed point. Instead of yearning to
return to one sedentary location like the exile or shifting between two sedentary locations like the migrant, the nomad is always moving between and beyond fixed points.
For the nomad, there is no origin and no endpoint. Even for nomads who follow
traditional routes, any point at which the he or she stops to rest is no more home than
anywhere else. But neither is it less home than anywhere else. Home is a process – the
road itself. Movement and change is the sedentary state.“6
Dies nivelliert nicht die Notwendigkeit, nach konkreten, auch näherungsweise
„ursprünglichen“, Orten von Texten zu forschen. Es vermag aber zu sensibilisieren für die anregende Beobachtung, dass ein Text, wo immer wir ihn treffen,
niemals ganz „zu Hause“ ist. Dieser Blick auf Rezeptionsgeschichte und das
Studium derselben kann für das Unternehmen einer „Theologie des Psalters“
nahelegen, dass sie ihre Grenzen nicht mit dem Abschluss eines Kanons setzt,
sondern die Geschichte des Psalters, sowie seiner Einzeltexte durch Zeiten und
Interpretationsgemeinschaften hindurch weiterverfolgt und dabei immer wieder
die Frage stellt, was ihre rezeptionsgeschichtlichen Beobachtungen für die
Deutung eines Textes austragen und welche Impulse für die Erforschung der
Rezeptionsgeschichte sich aus der Auslegung eines Textes ergeben.
Es lässt sich so aber nicht nur nach der Rezeption einzelner Texte fragen,
sondern ebenso nach der Geschichte, oder besser, den Geschichten zentraler
theologischer Themen und Begriffe in Verbindung mit einem Textbereich. Was
wurde also aus dem psaltertheologischen Reflexionsbegriff der מלכותGottes?
Und was kann der Blick in die weitere Geschichte von Text(en) und Thema
austragen für Annäherungen an eine Theologie des Psalters? Gerade auch in den
rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen, in der Beschreibung von Bewegung
und Wandel von Texten und ihren Themen durch die Zeit, bietet das Unternehmen einer Theologie des Psalters Anknüpfungspunkte für das interdisziplinäre theologische Gespräch, ja, ist sogar mehr denn je auf dieses angewiesen.
Einen solchen, zugegebenermaßen experimentellen Versuch des Gesprächs zu
Gunsten des Nachdenkens über eine Theologie des Psalters möchte der vorliegende Beitrag anstoßen, wenn er die Bedeutung des Psalters für das Werk Franz
Rosenzweigs (3.) sowie ein Stück Geschichte des psaltertheologischen Reflexionsbegriffs der מלכותGottes in der Verwendung des Reich-Gottes-Begriffs bei
Franz Rosenzweig entdeckt (4.). Zunächst aber soll deutlich werden, welche
6 B.W. Breed, Nomadic Text 202, Hervorhebung im Original.
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Nancy Rahn
Bedeutung dem Begriff der מלכותfür Annäherungen an eine Theologie des
Psalters zukommen kann (2.).
2. Gottes מלכותals psaltertheologischer Reflexionsbegriff
Weshalb ist es überhaupt berechtigt einem Einzelbegriff, der in Bezug auf Gott
innerhalb des Psalters nur zweimal belegt ist, Bedeutung für das Unternehmen
einer „Theologie des Psalters“ beizumessen?
Die Prädikation Gottes als König, wie sie uns innerhalb des Psalters in den
Ps 103 und 145 auf einen besonderen Begriff gebracht begegnet, hat in der
Theologie jüdischer, christlicher und muslimischer Provenienz einen festen
Platz. Sie kann als ein „theologischer Schwerpunkt“7 des Psalters, der Grundlage
des Betens verschiedener Konfessionen, beschrieben werden. Die Linie des
göttlichen Königtums, seine verschiedenen Aspekte und sein Verhältnis zum
menschlichen Königtum, bzw. zu menschlicher Macht und Ohnmacht zieht sich,
trotz eines deutlichen Schwerpunkts in den Psalmenbüchern IV und V, durch
den ganzen Psalter. Synchron und mit Blick auf die Tradition des masoretischen
Psalters gesprochen: vom lachenden Himmelsthroner aus Ps 2 zum König der
Kinder Zions in Ps 149. Auch wenn sowohl Ps 103, als auch Ps 145 zumeist nicht
unter den klassischen JHWH-Königspsalmen aufgeführt werden, bilden sie doch
einen besonderen kompositionellen und inhaltlichen Höhepunkt dieses Reigens.
Beiden Texten fehlt die für die Sammlung 93–100 so charakteristische Themaformel יהוה מלך, wie sie auch in Ps 47 modifiziert auftaucht. Nicht Jerusalem
als Sitz des Königsgottes ist Mittelpunkt der königstheologischen Geographie
dieser beiden Psalmen, sondern „das All“ und „die Allzeitigkeit“ sind Hauptkoordinaten. Die Ps 103 und 145 akzentuieren die Verbindung von „Gott“ und
„König(tum)“ sprachlich und inhaltlich auf besondere Art und Weise. Beide
Psalmen benutzen dabei als einzige Psalmen des Psalters den Begriff der מלכות
mit Bezug auf Gott.8 In diesem Begriff selbst – und zu ihm selbst gehört die
Traditionsgeschichte in der er steht – sowie in seiner bewussten Anwendung an
psalterkompositorisch zentralen Stellen lässt sich „Theologie des Psalters“ im
Vollzug beobachten.
Mit Blick auf eine Annäherung an Aspekte einer „Theologie des Psalters“, das
Ziel dieses Bandes, lässt sich der Begriff der מלכות, der ja nicht einfach selbsterklärend, sondern in seiner inhaltlichen Füllung und kontextuellen Verortung
7 J. Schnocks, Psalmen 6.
8 Weitere Nominalbildungen der Wurzel מלךim Psalter sind מלוכהund ממלכה, welche von der
Septuaginta ebenfalls mit βασιλεία wiedergegeben werden können. In Ps 45,7 bezieht sich der
Terminus מלכותje nach Übersetzung auf das menschliche oder göttliche Königtum.
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„Sein Königtum waltet des Alls“
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das Ergebnis konzeptioneller Arbeit ist, als „(psalter)theologischer Reflexionsbegriff“ bezeichnen. Er ist nicht nur strukturgebender Teil der Psalterredaktion,9
sondern auch einer der Begriffe des Psalters, die in besonderer Art und Weise
Geschichte geschrieben haben.
Der Begriff der מלכותGottes ist in seiner spezifischen Anwendung in den
Ps 103 und 145 Ergebnis eines Reflexionsprozesses das begründet liegt in dem
Anliegen der Texte, Traditionen zu verbinden und im Begriff der מלכותzu verdichten, grundlegende Einsichten in Gott- und Menschsein zu formulieren und
mit dem Begriff der מלכותeinem Gott-Mensch-Welt umfassenden „Kosmos“
zuzuordnen. Der Begriff der מלכותGottes ist in seiner spezifischen Anwendung
in den Ps 103 und 145 aber auch Ausgangspunkt eines Reflexionsprozesses,
indem er in der Rezeption des Psalters und seiner Einzelpsalmen neue Entfaltungen erfährt. Die Geschichte der מלכותGottes beginnt mit den Texten des
Psalters gerade erst. Im Folgenden werde ich grob die Bedeutung des מלכותBegriffes der Ps 103 und 145 für eine „Theologie des Psalters“ zu skizzieren
versuchen.
Gottes מלכותlässt sich auf Grundlage von Ps 103 und Ps 145 als ein doppeltes
Vermittlungsgeschehen entfalten:
Gottes מלכותtritt uns in Ps 103 und besonders betont in Ps 145 als ein zu
vermittelndes Geschehen entgegen. Ihrer zeitlichen und räumlichen Universalität
korrespondiert ihre umfassende Kommunikation durch den Menschen bzw.
durch alle Werke Gottes, wie besonders Ps 145 durch ein ganzes Kompendium
von Lob-, Verkündigungs-, ja Gebetsvokabular deutlich macht.
Gottes מלכותwird in Ps 103 und wiederum besonders betont in Ps 145 zudem
als Reflexionsbegriff mit vermittelnder Funktion verwendet. Dies geschieht mit
Blick auf das Gottesbild, wie auch im Bereich des Verhältnisses von göttlichem
und menschlichem Handeln. Wie geschieht das?
In beiden Psalmen ist mit dem מלכות-Begriff ein Höhepunkt in der Beschreibung der Universalität göttlichen Handelns und menschlichen bzw. geschöpflichen Lobens, Bezeugens, Erzählens verbunden. Neben der Funktion des
alphabetischen Akrostichons in Ps 145 spielen dabei in beiden Psalmen zeitliche
Aspekte eine herausgehobene Rolle. Vor allem aber ist wichtig, dass der in den
Psalmen gezeichnete zeitliche Rahmen gefüllt wird durch die Dynamik von individuellen und kollektiven Aussagen, sowie durch die Dynamik der Interaktion
von göttlichem und menschlichem Handeln.
Die individuellen Perspektiven auf den einzelnen Beter oder bestimmte
Gruppen als Nutznießer der göttlichen Herrschaft werden dabei also nicht ausgeblendet, sondern in den universalen Horizont integriert. In beiden Psalmen
9 Vgl. zusammenfassend M. Leuenberger, Jhwh-König-Theologie, mit weiterführender Literatur.
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Nancy Rahn
wird dies durch die Komposition deutlich: Ps 103 beschreitet einen Weg vom
Leben des Einzelnen über die kollektive Erfahrung der Vergänglichkeit hin zum
universalen Lob der Werke Gottes. Von der Ermöglichung „meines Lebens“
(נפשׁי, s. den Rahmen des Psalms in den V. 1f. und 22) durch Gott, über seine
Bundestreue gegenüber der Gemeinschaft der Kinder Israels (בני ישׂראל, s. V. 7),
hin zu seinem Königtum über „das All“ ( )הכולim Abgesang der V. 19ff.10
Ps 145 stellt Gottes מלכותnoch deutlicher als zentrales Element des Textes vor
und unterstreicht dessen universale Geltung durch die Häufung des Begriffs in
verschiedenen Perspektiven in der Klimax des Psalms ()מלכות – מלכותו – מלכותך.
Auch in Ps 145 findet sich die Dynamik von individuellen und kollektiven
Aussagen, die in das universale Lob des göttlichen Königtums mündet, in das
„alles Fleisch“ (כל־בשׂר, s. V. 21) ebenso einstimmt wie „mein Mund“ (פי, s. V. 21).
Das Zentrum des 145. Psalms enthält auch die Aussage größtmöglicher zeitlicher
Ausdehnung, die gesteigerte Allzeitigkeit der כל־עלמים, einer für den hebräischen
Text masoretischer Tradition in dieser Form singulären Konstruktion, die die
zentralen Verse des Psalms mit seinem Rahmen verbindet.11
Ein weiteres Element, das die den Texten eigene Methodik von Verdichtung
und Entfaltung unterstreicht, ist der Einsatz der sogenannten „Gnadenformel“
aus Ex 34,6f., die in sich schon eine Zusammenfassung darstellt und Reflexion
sowie Integration spannungsvoller Leitdifferenzen bietet.12 So wird Geschichtserinnerung und mit ihr das Wissen über Gottes Handeln kondensiert. Beide
Texte entfalten diesen zentralen Satz auf unterschiedliche Art und Weise und
verbinden ihn mit dem Bild von Gottes Königtum, das sein Handeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bündelt und so gleichsam zu einem Wirkbereich macht, in welchem Generationen von Menschen stehen, sich erinnern,
loben und klagen, Gottesfurcht weitergeben, erzählen. Das Erzählen von Geschichte kann kondensiert werden in Begriffen – in unserem Fall beispielhaft im
Begriff der מלכות/βασιλεία – aus denen heraus sich dann wieder Geschichten
entwickeln lassen. Nur ein Beispiel sind hier, in unserem speziellen Fall, die
Gleichnisse zum Reich Gottes in den Texten des Neuen Testaments.
Der integrative Charakter des מלכות-Begriffes lässt sich auch an der von Ps 103
und Ps 145 betonten Reziprozität menschlichen und göttlichen Handelns ablesen, seiner Dialogizität, wie Franz Rosenzweig es nennen würde. Vor allem für
Ps 145 und sein Verständnis von Gottes מלכותist dieser Aspekt zu betonen. In der
Kommentierung jenes Textes wurde häufig auf die unbestritten starken theologischen Beschreibungen abgehoben. Dieser Text steckt aber auch voller An10 S. zu Text, Übersetzung und Deutung von Ps 103 bspw. J. Schnocks, Barmherzigkeit und
Königtum Gottes, mit weiterführender Literatur.
11 S. zu Text, Übersetzung und Deutung von Ps 145 bspw. F. Neumann, Schriftgelehrte Hymnen, mit weiterführender Literatur.
12 Vgl. J. Schnocks, Barmherzigkeit und Königtum Gottes 231 u. ö.
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„Sein Königtum waltet des Alls“
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thropologie und lebt gerade von der Verschränkung theologischer und anthropologischer Aussagen. Zum zweiten ist für die gesamte Theologiegeschichte des
Reiches Gottes die Frage nach dem Verhältnis göttlichen und menschlichen
Handelns zentral.13 Der Clou in vielen Reich-Gottes-Texten (antiker wie späterer)
ist neben der Frage nach Zeit und Ort dieses Reiches Gottes gerade die Frage nach
dem Handeln Gottes und der Partizipation des Menschen.
In beiden Texten, Ps 103 und Ps 145, lassen sich Beispiele für diese Dynamik
finden. So sind die mit מעשׂהbezeichneten Werke Gottes, das, was Gott gemacht
hat, in Ps 145,4 Gegenstand des Lobes, in V. 9 sind sie Referenzpunkte des
göttlichen רחם, in V. 10 schließlich sind sie Subjekte des Gotteslobes. Letzteres ist
im hebräischen Text masoretischer Tradition nur noch in Ps 103,22 der Fall.
Ps 145,10 verbindet Gottes Werke mit den חסידים, die ebenfalls mit dem
Possessivsuffix der 2. Pers. Sg. m. auf JHWH bezogen sind. Mit den חסידיםtritt
eine neue Größe in den Text von Ps 145 und seinen Dialog verschiedener Menschengruppen mit Gott ein, eine Größe, die aber zurückgreift auf die Beschreibung Gottes als mit „großer “חסדausgestattet in V. 7, welche auch für Ps 103 eine
wichtige Rolle spielt. Mit der Gruppe der חסידיםwerden offenbar Menschen mit
einer besonderen Aufmerksamkeit für das vorgängige חסד-Handeln Gottes benannt, die aus ihrer Erkenntnis, dass Gott und חסדzusammengehören, praktische Konsequenzen ziehen: im Gotteslob, in der Weitergabe des Wissens über die
חסד-Geschichte Gottes mit seinem Volk, in konkreten Taten der חסדan denen,
die es nötig haben. Die Haltung der Gottesfürchtigen, die auch in Ps 103 mehrmals Gegenüber Gottes sind, antwortet in Ps 145 direkt auf Gottes „zu fürchtende
Taten“, seine נוראות.
Der Mensch, den die Ps 103 und 145 im Blick haben, steht innerhalb der
Spannung von Erfahrungswirklichkeit, die Hunger, Unterdrückung und Bedrohung umfasst, und Zusage der göttlichen Zuwendung mit Gott selbst und
seiner Mitwelt im Dialog. Dies geschieht laut Ps 103 und 145 vor dem Horizont
der מלכותGottes, die diese Leitdifferenzen menschlichen Lebens vor und Redens
von Gott integriert. In Ps 103 geschieht dies im abschließenden Bezug auf Gottes
מלכות, nachdem Höhen und Tiefen des Menschseins, sowie verschiedene Seiten
des Handelns Gottes thematisiert wurden, in Ps 145 durch die Zentralstellung des
מלכות-Begriffs.
Das bisher Skizzierte trägt zudem bei zur Reflexion, Integration und Transformation von Gott-König-Traditionen im Begriff der מלכות. An und mit der
Vorstellung von Gott als König wurde produktiv theologisch gearbeitet, darüber
13 Ein beispielhafter Blick in die Rezeptionsgeschichte von Text und Thema, z. B. in der Auslegung Samson Raphael Hirschs zu Ps 145, verleiht dieser Feststellung Tiefenschärfe: Samson
Raphael Hirsch entfaltet an der Gegenüberstellung von „Frommen“ und „allem Fleisch“
einen Teil seiner Gemeindetheologie, deren Leitmotiv die Realisierung des Reiches Gottes ist.
Vgl. S.R. Hirsch, Die Psalmen 352f.
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Nancy Rahn
gibt der Psalter beredt Aufschluss. Die Verwendung und Kontextualisierung des
Terminus מלכותstellt hierbei eine besondere Stufe dieses Diskurses dar. Hierzu
zwei kleinere Stichproben:
Ps 103,19 verbindet Gottes מלכותmit seinem Thron im Himmel, der auch aus
anderen Psalmen bekannt ist.14 In den meisten Fällen ist er dort mit dem Zion
und seinem Tempel verbunden. Durch die Situierung des Thrones im Himmel in
Ps 103 wird nun die Dimension der Höhe unterstrichen, die sich mit den Aussagen zu Höhe und Weite in den V. 11f. verbinden lässt. Gott hat seinen Thron
zwar im Himmel errichtet, aber seine מלכותherrscht über allem. Nicht der irdische Thron Gottes auf dem Zion verbindet Himmel und Erde, sondern Gottes
מלכות, die überall und zu aller Zeit ist. Verortung und Entgrenzung werden
verbunden. Dies weist wiederum auf Universalität, zeitliche und räumliche
Umfassung, die dem menschlichen Lob bzw. Gebet korrespondiert.
Ps 145 ruft mit V. 3 die Tradition der Jerusalemer Theologie auf und transformiert sie gleichzeitig (vgl. Ps 48,2 und Ps 96,4). V. 3a bildet eine Art „Kehrvers“
der JHWH-Königspsalmen, findet er sich doch in Ps 48,2a und Ps 96,4a
(par. 1 Chr 16,25) an prominenter Stelle. Die schöne Anapher מהלל מאד, die die
Tätigkeit des Lobens besonders unterstreicht, findet sich überhaupt nur an den
genannten Stellen. Der erwähnte „Kehrvers“ wird an allen drei Belegstellen
verschieden weitergeführt:
Ps 48,2
גדול יהוה ומהלל מאד
בעיר אלהינו הר־קדשׁו׃
Groß ist JHWH und sehr gelobt
in der Stadt unseres Gottes, der Berg seiner Heiligkeit.
Ps 96,4
כי גדול יהוה ומהלל מאד
נורא הוא על־כל־אלהים׃
Denn groß ist JHWH und sehr gelobt
zu fürchten ist er über allen Göttern.
14 Beispielsweise in Ps 11,4; 29,10 und 93,2 und verbunden mit Gottes Richterstuhl in Ps 9,5.8.
Außerdem ist im Psalter von JHWHs Thronen die Rede, so z. B. in Ps 55,20; 68,17 und 113,5,
auch als Thronen über/auf den Cherubim in Ps 80,2 u. ö.
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„Sein Königtum waltet des Alls“
459
Ps 145,3
גדול יהוה ומהלל מאד
ולגדלתו אין חקר׃
Groß ist JHWH und sehr gelobt
und seine Größe ist unerforschlich.
Interessant an dieser Zusammenstellung ist, dass die ersten beiden Belege jeweils
eine weitere Größe zu JHWH ins Verhältnis setzen. In Ps 48,2 ist es die Gottesstadt, Jerusalem, an der Gottes Größe erfahrbar wird (Ps 48,9). Die Wahrnehmung Zions als fest gebauter, uneinnehmbarer Stadt, als Schönheit und Königssitz führt zur Erkenntnis über das Wesen des Gottes, der sich mit ihr verbunden hat. In Ps 96,4 werden JHWH „die Götter“, im folgenden Vers präzisiert
als „die Götter der Völker“, gegenübergestellt. Die Fremdgötterpolemik, die hier
mit der Prädikation JHWHs als „sehr gelobt“ einhergeht, verbindet die Zwillingspsalmen 96 und 97 miteinander (Ps 97,7.9) und prägt die Sammlung der
JHWH-König Psalmen (JHWH-König-Komposition Ps 93–100) allgemein. Gott
unterscheidet sich von den „Göttern der Völker“ gemäß diesen Texten dadurch,
dass er als König zugleich gerechter Richter und Schöpfer der ganzen Erde ist, in
ihm also alle Dimensionen des göttlichen Königtums kombiniert sind. Der Aspekt, der mit der Fortführung des Verses in Ps 145,3 hinzutritt, ist nun die
Grenzenlosigkeit des Erforschens der göttlichen Größe. Die Themen „Gottesstadt“ und „Götzenpolemik“ hingegen spielen in Ps 145 insgesamt explizit keine
hervorgehobene Rolle.
Ps 145,3 macht גדלzur Leitwurzel und damit deutlich, dass Gottes Größe sich
nicht (nur) als sichtbare Macht in Form einer befestigten Stadt und nicht (nur)
angesichts konkurrierender Götter manifestiert, sondern gerade in der Erkenntnis des Einzelnen, dass sein Forschen und Denken diese Größe niemals
ganz wird erfassen können – der das Loben aber trotzdem nicht sein lässt. Das
Erforschen der göttlichen Größe und damit die Auseinandersetzung mit seinem
Königtum kann an allen Enden der Erde geschehen und kommt dabei weder an
eine räumliche, noch eine zeitliche Grenze.15
Auch an dieser Stelle zeigt sich im Bild der מלכותGottes die gegenseitige
Bezogenheit göttlichen und menschlichen Handelns. Vor dem Horizont des
Reiches Gottes werden durch alle Zeiten immer wieder Verhältnisbestimmungen
15 Die Septuaginta gibt das hebräische Wort חקרmit πέρας wieder und weist somit sowohl auf
eine räumliche, als auch auf eine zeitliche Grenze. Die räumliche Konnotation erschließt sich
zum Beispiel aus Stellen wie Ps 71,8 LXX, wo von der Herrschaft des Königs bis zu den Enden
der Erde die Rede ist. Der zeitliche Aspekt geht aus Stellen wie 2 Makk 5,8 LXX hervor, wo
πέρας das Lebensende bezeichnet, ebenso aus der Bitte des Beters von Ps 38,5 LXX.
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Nancy Rahn
von göttlicher und menschlicher Macht und Ohnmacht diskutiert, Diskurse, die
uns bereits die Psalmen zeigen und im Begriff der מלכותpointieren.
Der Begriff der מלכותbündelt Gottes königliches Handeln und ist als solcher
Inhalt menschlichen Handelns, nämlich Inhalt menschlicher Kommunikation
im Erinnern, Erzählen, Bekanntmachen. So wird in diesen Texten ein Zusammenhang von göttlichem und menschlichem Handeln hergestellt – die jüdische
Tradition hat die Einsicht in diesen Zusammenhang von menschlichem und
göttlichem Handeln einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Wenn
mein Volk ablehnt, mich auf der Erde als König zu verkünden, wird auch im
Himmel das Königtum enden.“16 Gottes Königtum hängt allein vom Menschen
ab? Eine steile These, die die Poeten von Ps 103 und 145 wohl so nicht unterschreiben würden. Aber der Zusammenhang von göttlichem und menschlichem
Handeln ist da und wurde in der Geschichte der Vorstellung vom Reich Gottes
immer wieder diskutiert. Denken könnte man hier zum Beispiel an das Reich
Gottes als zentralen Verkündigungsinhalt der Predigt Jesu, an die Aussage, dass
das Reich Gottes unter bzw. zwischen den Menschen zu finden sei, sowie an die
nicht biblische aber in der Geschichte der Kirche viel verwendete Vorstellung,
dass Menschen am Reich Gottes bauen.
Diese herausgehobene Funktion der Sprache, des menschlichen Sprechens für
das Bild Gottes als König und seinem Handeln als einem Königtum, wie wir sie in
Ps 145 finden, tritt aus anderen zentralen Texten zu dieser Tradition weit weniger
stark hervor, ist aber durchaus angelegt. So beispielsweise, wenn bei Deuterojesaja das Königtum Gottes als Inhalt der Verkündigung des Freudenboten gilt
(Jes 52,7), oder wenn im JHWH-König-Psalm Ps 47 Gott unter Jubel aufsteigt, die
angemessene Reaktion auf sein königliches Herrschen der Gesang ist (s. auch
Ps 95; 96). Der Aspekt, den Ps 145 deutlich verstärkt, ist derjenige des Erzählens,
Verkündens, Bekennens, ja, des Erkennens bzw. auch des Zu-Erkennen-Gebens.
In Ps 103 wäre in diesem Kontext vor allem auf das Segnen Gottes zu verweisen,
zu welchem im Rahmen des Textes aufgefordert wird.
An und mit der Vorstellung von Gott als König wurde produktiv theologisch
gearbeitet, darüber gibt der Psalter beredt Aufschluss. Die Verwendung und
Kontextualisierung des Terminus מלכותstellt hierbei eine besondere Stufe dieses
Diskurses dar.
16 Ausspruch Gottes an die Engel in ExRab 23,1. Auch Franz Rosenzweig reiht sich in diese
Tradition ein und setzt sich mit ihr auseinander, s. dazu im Folgenden.
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„Sein Königtum waltet des Alls“
3.
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Grundlinien der Rezeption von Psalmen und
Psalter bei Franz Rosenzweig
Warum kommt – angesichts der Regale-füllenden Bibliothek von Franz Rosenzweig – gerade seiner Rezeption der Psalmen eine wichtige Stellung zu?
„Es steckt eigentlich alles darin, was in mir steckt, also natürlich auch alle
Einflüsse auf mich,“17 sagt Franz Rosenzweig einmal über sein komplexes
Hauptwerk, den 1921 erschienenen Stern der Erlösung.18
Verschiedene Beiträge in der Forschung zu Leben und Werk Franz Rosenzweigs sind jener von Rosenzweig selbst gelegten Spur gefolgt und haben gefragt,
aus welchen Quellen dieser Denker schöpfte.19 Zu diesen Quellen gehören neben
vielen anderen die Texte der hebräischen Bibel. Diese Einsicht scheint banal, ist
aber in der Forschung zum Teil noch wenig ausgeschöpft. Der Einfluss biblischer
Texte, die für Franz Rosenzweig in seiner Übersetzungstätigkeit, aber vor allem
auch vermittelt durch Gebet und Liturgie stets präsent waren, lässt sich nicht nur
für den Stern, sondern für sein Gesamtwerk wohl kaum überschätzen. Biographisch war es vor allem auch Rosenzweigs (Wieder-)Entdeckung der Welt der
Liturgie, mit ihren Gesten, Festzeiten, Texten, Gebeten, die am Anfang seines
„neuen Denkens“20 stand.
Als Gebetbuch Israels nimmt der Psalter einen besonderen Platz in Franz
Rosenzweigs Werk ein. Der Psalter mit seiner Art, Theologie zu verdichten, sowie
die aus ihm erwachsene jüdische Liturgie hängen eng mit der rosenzweigschen
Auffassung vom Reich Gottes zusammen und zeigen so paradigmatisch, wie sich
Text- und Themengeschichte treffen und teilhaben an einer „Theologie des
Psalters“.21 Dieses Unternehmen ist insofern etwas experimentell, als dass Franz
Rosenzweig sich nicht direkt auf die oben angesprochenen Ps 103 und 145 oder
auf sonstige königstheologische Psalmen bezieht und insgesamt sehr frei mit
biblischen und anderen Traditionstexten umgeht. Zitate sind in seinem Werk nur
17 F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk I 604.
18 Zur Religionsphilosophie Franz Rosenzweigs in seinem Hauptwerk, dem Stern der Erlösung,
s. immer noch grundlegend S. Mosès, System und Offenbarung.
19 Vgl. nur die verschiedenen Beiträge in M. Brasser, Rosenzweig als Leser.
20 Vgl. die Beiträge in W. Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweigs „neues Denken“.
21 Folgendes Zitat mag schon einmal illustrieren, welche Bedeutung die Psalmen mit ihrem
theologisch-integrativen Charakter für Franz Rosenzweig haben: „In der Gegenwart weicht
die Erzählung der unmittelbaren Wechselrede, denn von Gegenwärtigen, seien es Menschen
oder Gott, lässt sich nicht in der dritten Person sprechen, sie können nur gehört und angesprochen werden. Und im Buch der Zukunft herrscht die Sprache des Chors, denn das
Zukünftige erfasst auch der Einzelne nur wo und wenn er Wir sagen kann.“ (F. Rosenzweig,
Der Mensch und sein Werk III 151). Für Franz Rosenzweig weicht in den Psalmen die Erzählung der Wechselrede. Der Psalter ist damit ein Buch der Gegenwart, aber gleichzeitig auch
eines der Zukunft.
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Nancy Rahn
teilweise als solche gekennzeichnet, er verbindet alttestamentliche Texte mit
Texten der jüdischen Liturgie mit neutestamentlichen Texten mit Paraphrasen
und Goethezitaten und natürlich mit all seinen eigenen Gedanken. So soll in
diesem Abschnitt zunächst auf die Bedeutung der Psalmen für Franz Rosenzweigs Denken allgemein eingegangen werden. Diese wird im dann folgenden
Abschnitt probeweise auf ihre Verbindung zu einem für Franz Rosenzweig
zentralen Begriff, dem Reich Gottes, hin befragt.
In den verschiedensten Gattungen seines Wirkens füttert Franz Rosenzweig
seine Gedankengänge immer wieder mit expliziten und impliziten Psalmenzitaten.22 Einen herausgehobenen Stellenwert nimmt in seinem Hauptwerk und
dessen Architektur die Psalmengruppe 111–118 und innerhalb dieser noch einmal besonders der in dieser Gruppe auch kompositionell zentrale Ps 115 ein.
An seiner Diskussion dieser Texte wird vor allem eine Grundlinie seines Denkens
besonders deutlich: Die den gesamten Stern prägende Dynamik vom „Ich“ zum
„Wir“. Diese Dynamik fand Rosenzweig auch in den Texten des Psalters. Aus
mehreren seiner Briefe geht hervor, dass ihn die Frage nach dem „Ich“ der
Psalmen beschäftigte.23 In der Hallel-Gruppe der Ps 111–118 entdeckte er die
„Gruppe der reinen Wir-Psalmen“24, eine „vollkommene Illustration der
Grammatik“25 dieses Abschnitts des Stern.
Hier sind nun zumindest einige rudimentäre Bemerkungen zur Architektur
des Stern am Platze. Franz Rosenzweig errichtet mit seinem Stern ein komplexes
Gebäude, ein architektonisches Gesamtkunstwerk mit tragenden Säulen, verschiedenen Türen, möglichen Zu- und Ausgängen, Zierelementen und verwinkelten Gängen.
Die Ausführungen Franz Rosenzweigs zur Hallel-Gruppe der Ps 111–118
finden sich im zweiten Teil des Stern.26 Nachdem Franz Rosenzweig im ersten Teil
seines Werkes die drei Grundelemente der Wirklichkeit, Gott, Mensch und Welt,
als Einzelelemente betrachtet hatte, geht es in diesem zweiten Teil um die Be22 Neben dem Hauptwerk Franz Rosenzweigs lassen sich hier seine zahlreichen Briefwechsel
nennen (so die Briefe an seine Geliebte Margrit Rosenstock-Huessy und deren Mann Eugen
Rosenstock-Huessy, vgl. GB 1918, 52; GB 1918, 62 (ich zitiere die Gritli-Briefe im Folgenden
nach der elektronischen Ausgabe, jeweils mit Jahreszahl und Seitenzahl im entsprechenden
Dokument, vgl. http://www.erhfund.org/the-gritli-letters-gritli-briefe/, Stand: 23. 1. 2018),
aber auch seine Schriften zur Pädagogik (vgl. nur F. Rosenzweig, Zur jüdischen Erziehung).
23 Z. B. GB 1918, 35; s. auch GB 1919, 134.
24 F. Rosenzweig, Stern 279. Hier nennt er ausdrücklich den „hundertelften bis zum hundertachtzehnten“ und erweitert dadurch die klassisch als Pessach (oder Ägyptisches) Hallel
bezeichnete Gruppe 113–118 um die beiden alphabetisch-akrostischen Psalmen 111 und 112.
25 GB 1918, 169.
26 Die entscheidenden Paragraphen 251–254 (in der hier zitierten Ausgabe S. 278–282) sind mit
folgenden sprechenden Randtiteln versehen: „DAS WORT GOTTES“ (251), „Die Sprache der
Psalmen“ (252), „Grammatische Analyse des 115. Psalms“ (253) und „Die Verewigung des
Wunders“ (254) versehen.
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„Sein Königtum waltet des Alls“
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ziehung jener drei Grundelemente zueinander. Diese Beziehung fächert Franz
Rosenzweig in einem Triptychon aus Schöpfung, Offenbarung und Erlösung auf,
das nicht nur die drei Bücher des zweiten Teils des Stern, sondern gleichermaßen
noch einmal den dreiteiligen Gesamtaufriss des Werkes prägt. Jede Tafel dieses
Triptychons in Teil zwei des Stern illustriert er dabei mit Hilfe eines biblischen
Textkorpus: Der Schöpfungserzählung aus Gen 1 für die Schöpfung, die Gott und
Welt verbindet, dem Hohelied für die Offenbarung, die Gott und den Menschen
verbindet und den Psalmen, genauer den Ps 111–118, für die Erlösung, die
Mensch und Welt verbindet. Der Titel dieses dritten Teils des zweiten Buches
lautet, sprechend für unser Thema, „Erlösung oder die ewige Zukunft des
Reichs“. Mit diesem Teil bereitet Franz Rosenzweig die Leserin sowohl theologisch als auch was die verwendeten Referenztexte betrifft auf den dritten Teil des
Stern vor. Der Weg von „Theologie“ zu „Liturgie“ führt über die Psalmen.
In den liturgisch gewichtigen Texten der Ps 111–118,27 so die Auslegung und
Anwendung Franz Rosenzweigs, findet sich das, was einen Psalm fundamental
ausmacht. Die eschatologische Thematik des „Wir“ mit ihrer Bedeutung für die
Gegenwart, den Augenblick und damit auch die wirklichkeitsverändernde Kraft
des Gebets in der reziproken Beziehung von Gott und Mensch. Ps 115 steht in der
Mitte dieser „Wir“-Komposition und nimmt in Franz Rosenzweigs „Grammatik“
noch einmal einen herausgehobenen Stellenwert ein.28
„Er beginnt und schließt als einziger unter allen Psalmen überhaupt mit einem
gewaltig betonten Wir,“ schreibt Franz Rosenzweig.29 Auf den beiden Seiten des
Stern, auf denen er sich explizit mit Ps 115 auseinandersetzt, bietet Franz Rosenzweig gewissermaßen einen Midrasch dieses Textes. Dies wird deutlich, wenn
man die Zitate (Wortverbindungen, Halbverse und Verse) aus Ps 115 im Textverlauf markiert.30 Eine ausführliche Diskussion sowohl des Psalms als auch der
Auslegung bzw. Verwendung durch Franz Rosenzweig muss an dieser Stelle
27 Das Hallel (auch Ägyptisches Hallel oder Pessach-Hallel genannt) ist zentraler liturgischer
Teil unter anderem der jüdischen Wallfahrtsfeste. Zentrales Thema der Ps 111–118 ist die
Erinnerung an die Befreiung Israels aus Ägypten, die für die Geschichte von der Vorstellung
von Gott als König eine wichtige Rolle spielt, wie nicht nur die Ps 103 und 145 zeigen. Zu dieser
Psalmengruppe s. jetzt J. Gärtner, Exodus Psalm 114, 71–87 mit weiterführender Literatur.
28 M. Frettlöh, Gott segnen, untersucht das Thema der Reziprozität menschlichen und
göttlichen Handelns an exakt dem Psalm, der für Franz Rosenzweig von so großer Bedeutung
war (ein Verweis darauf findet sich daselbst in Fn 11). Aus diesem Beitrag wird bereits
deutlich, weshalb Franz Rosenzweig an die Psalmen allgemein und den 115. Psalm im Besonderen so fruchtbar anknüpfen konnte. N.M. Samuelson, Tracing Rosenzweig’s Literary
Sources, untersucht die Verwendung des 115. Psalms im dritten Buch des zweiten Teils des
Stern genauer und bringt sowohl die rabbinische Auslegung, als auch Gedanken Maimonides’, also weitere, Franz Rosenzweigs Aufnahme von Ps 115 informierende Quellen, ins Spiel.
29 F. Rosenzweig, Stern 280.
30 Siehe dafür N.M. Samuelson, Tracing Rosenzweig’s Literary Sources 484f.
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ausbleiben.31 Wichtig für unsere Frageperspektive ist vor allem folgende Einsicht:
Franz Rosenzweig verbindet das „Wir“, bzw. genauer die verschiedenen „Wir“Aussagen des Psalms mit der alles bestimmenden Dynamik des „Nochnicht der
Gegenwart“32 zum „Triumph des Vertrauens, das die künftige Erfüllung vorwegnimmt“.33 Diese enge Verbindung von sozialer und temporaler Struktur wird
für die im letzten Abschnitt dieses Beitrags folgenden Überlegungen zum Reich
Gottes bei Franz Rosenzweig erneut in den Fokus rücken.
Damit bildet der Abschnitt über die Psalmen zugleich einen Ausblick auf den
dritten großen Teil des Stern, der aus den vorher beschriebenen Beziehungen
zwischen Gott, Mensch und Welt die Frage gewinnt, wie die Gemeinde Gottes in
der Zeit leben kann und soll. Im Fokus dieses letzten Teils des Stern stehen Gebet
und Liturgie und als Ziel dieser Hinwendung zu Gott und der Vergemeinschaftung im gemeindlichen Beten das Reich Gottes.
Grundzüge der psaltertheologischen Fundierung dieses Begriffes im Werk
Franz Rosenzweigs sollen im abschließenden Abschnitt dieses Beitrags skizziert
werden.
4.
Synthese – Ein psaltertheologischer Reflexionsbegriff
wiederentdeckt im Werk Franz Rosenzweigs
Wer stellt die Verbindung her? Wirklich Franz Rosenzweig selbst, oder die Rezeption bestimmter Psalmen und der Schriften Franz Rosenzweigs?
Die wahrscheinlich engste Verbindung von Psalterrezeption und dem Motiv
des göttlichen Königtums begegnet uns in verschiedenen Liturgien der jüdischen
und christlichen Tradition. Ein beredtes Beispiel ist die Aufnahme von Ps 145 als
sogenanntes ʾAschre in die tägliche jüdische Liturgie, die Zentralstellung des
Reiches Gottes in Gebeten wie dem im Vorspann dieses Beitrags zitierten Alejnu
oder dem Vater Unser sowie die Verbindung von Königstheologie und Eucharistie in verschiedenen christlichen Traditionen.
Ich kreuze den Weg der מלכותGottes in diesem Beitrag an einem anderen, aber
mit dieser liturgischen Geschichte verbundenen Punkt: in den Gedanken des
jüdischen Gelehrten Franz Rosenzweigs, von denen im vorausgegangenen Abschnitt bereits Grundzüge skizziert worden sind. Nun spulen wir noch einmal
zurück, in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts, in die Hochzeit seines Lernens
und Lehrens. Hier finden wir uns in einer belebten, dynamischen Zeit der
31 Siehe dazu die bereits erwähnte Literatur.
32 F. Rosenzweig, Stern 280.
33 F. Rosenzweig, Stern 281.
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„Sein Königtum waltet des Alls“
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Wissenschaft auf allen ihren Feldern.34 Sie konzentriert sich stärker denn je auf
das Subjekt, verbunden mit der Erkenntnis, dass die eigene Position, sei es die der
Physikerin oder die des Philosophen, bei der wissenschaftlichen Arbeit immer
eine Rolle spielt. In der Medizin kommt durch die psychosomatische Forschung
mehr und mehr der ganze Mensch in den Blick, das Theater entwickelt neue
Formen der Darstellung, Karl Barth wendet sich mit seiner dialektischen Theologie gegen die für ihn in Zweifel geratene liberale Theologie und auch in diversen
anderen Wissenschaften bricht man auf die eine oder andere Weise zu neuen
Ufern auf. Besonders in solchen Zeiten des Umbruchs stellt sich die Frage nach
dem Umgang mit theologischen und philosophischen Traditionsbegriffen und
nach ihrer Integration in das jeweilige Weltbild.
Das Motiv von Gottes Königtum, seinem Reich,35 nimmt als jüdischer (und
christlicher) Traditionsbegriff eine zentrale Stellung in Franz Rosenzweigs
Denken ein und ist ein Beispiel für eine solche Arbeit an theologischen Begriffen
auf Grundlage überlieferter Traditionen und Texte und der Konfrontation mit
dem aktuellen geschichtlichen Kontext.
Um der Frage nachzuspüren, wie Rosenzweig Gott, Mensch und Welt vor dem
Horizont des Reiches Gottes verortet und zueinander in Beziehung setzt, werfe
ich zunächst einen kurzen Blick auf den Ort des Reiches Gottes in der Architektur
des Stern, die bereits für die Überlegungen zur Aufnahme der Psalmen durch
Franz Rosenzweig eine Rolle spielte. Überall in diesem Gesamtkunstwerk sind
sowohl Bezüge zum Psalter, als auch Überlegungen zum Reich Gottes zu finden.
Gebündelt bilden letztere unter dem Titel „Die Möglichkeit, das Reich zu erbeten“ schließlich die Einleitung zum dritten und letzten Teil des Stern, seinem
Finale, seiner Zielbestimmung. Sehen wir uns die Titel der anderen beiden
Einleitungen an, wird schon etwas von der Dynamik des Stern deutlich. „Über die
Möglichkeit, das All zu erkennen“ führt ein in die Auseinandersetzung mit den
philosophischen Voraussetzungen, der Basis der Überlegungen, die die Grundelemente Gott, Mensch und Welt jeweils für sich betrachtet. „Über die Möglichkeit, das Wunder zu erleben“ bildet die Brücke in das Herzstück des Stern, in
den Versuch, die „wirkliche Welt“, die Welt, die sich dem Menschen in der lebendigen, alltäglichen Erfahrung darstellt, aufzuschließen. Nach Rosenzweig
34 Zur Stimmung der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts vgl. als Zeitzeugen zum Beispiel E. Rosenstock-Huessy, Ja und Nein.
35 Franz Rosenzweig spricht vom „Reich Gottes“, manchmal auch einfach nur vom „Reich“,
bisweilen auch vom „Himmelreich“. Dass der Begriff des „Reiches“ in seiner Zeit ein politisch
bedeutsamer Begriff war, geht aus vielen seiner Schriften und denen seiner Zeitgenossinnen
und -genossen hervor. Vgl. nur GB 1918, 169, wo er Margrit Rosenstock-Huessy den Zusammenhang von „Reich Gottes“ und „Reich der Welt“ auseinandersetzt, s. auch GB 1917, 6.
Zu Aspekten des Zusammenhangs von Religion und Politik im Werk Franz Rosenzweigs s.
J. Kohr,„Gott selbst muss das letzte Wort sprechen…“.
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Nancy Rahn
kann diese Welt nur erschlossen werden mittels Betrachtung der Beziehungen
zwischen Gott, Mensch und Welt, die sich als Schöpfung, Offenbarung und Erlösung manifestieren. „Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten“ schließlich
führt in den vielleicht praktischsten Teil des Stern, den die Frage leitet, wie
Menschen angesichts des kommenden Reiches Gottes in der Zeit leben, als
Einzelne, vor allem aber auch als Gemeinschaft. Die zentrale Verbindung zwischen einer zukünftigen, einer endgültigen Erlösung, dem Kommen des Reiches,
und dem Leben in der Zeit sah er in der Liturgie von Synagoge und Kirche36 und
ihrem Auftrag, „die Welt zu ordnen für das Königtum des Gewaltigen“.
Dabei kommt den Psalmen eine Schlüsselfunktion zu, wie besonders eindrücklich die bereits erwähnten Paragraphen des Stern zusammenfassen, in
denen Rosenzweig explizit auf die Psalmengruppe 111–118 Bezug nimmt.
Ich nenne im Folgenden, in Weiterführung der unter 3. zusammengestellten
Beobachtungen zu Franz Rosenzweigs Verwendung der Psalmen allgemein, einige interessante Punkte der psaltertheologischen Fundierungen seiner Ausführungen zum Reich Gottes, die sich diskursiv mit Grundlinien des מלכותBegriffs in den Ps 103 und 145 in Beziehung bringen lassen.
„[…] und nun in diesem Aber steigert sich der Chor zum ungeheuren Unisono des
allstimmigen, alle künftige Ewigkeit ins gegenwärtige Nun des Augenblicks kohortativ
hineinreißenden Wir: Nicht die Toten, wahrhaftig nicht – ‚aber Wir, wir loben Gott von
nun an bis in Ewigkeit‘. […] Die Wir sind ewig; vor diesem Triumphgeschrei der
Ewigkeit stürzt der Tod ins Nichts. Das Leben wird unsterblich im ewigen Lobgesang der
Erlösung.“37
Der Begriff der „Ewigkeit“ spielt in Franz Rosenzweigs Werk eine zentrale Rolle,
vor allem im dritten Teil des Stern ist er immerzu präsent. Der Ausgriff auf die
Ewigkeit ergibt sich für ihn biographisch vor allem aus dem Erleben des
1. Weltkrieges.38 Mit Rückgriff auf Ps 115,17 sind es für Rosenzweig dabei nicht
die Toten, die Gott loben, sondern „wir“. „Wir“ nehmen die Zukunft vorweg, im
Augenblick. Dies geschieht in Gebärde und Gebet, ganz konkret im Psalmengebet, in dem für Franz Rosenzweig per se Zukünftiges vorweggenommen wird.
Auch das Reich Gottes wird als etwas Zukünftiges vorweggenommen, gerade in
36 Dem jeweiligen Bild von Juden- und Christentum, das Rosenzweig in diesem Kapitel entwirft
und das Impulse sowohl für berechtigte Kritik an den getroffenen Zuschreibungen als auch
für ein jüdisch-christliches Gespräch zum Reich Gottes bietet, kann an dieser Stelle nicht
weiter nachgegangen werden. S. dazu aber z. B. W. Schmied-Kowarzik, Hans Ehrenbergs
Einfluß.
37 F. Rosenzweig, Stern 281.
38 S. dazu mit entsprechenden Zitaten aus verschiedenen Briefwechseln Rosenzweigs, E. Meir,
Differenz und Dialog, 189. Auch seine schwere Krankheit, an der er bereits im Alter von
43 Jahren stirbt, führt ihn immer wieder zu Überlegungen über das Leben im Angesicht des
Todes, vor dem Horizont der Ewigkeit. Die Thematik umschließt den Stern gleichsam, der mit
den Worten „Vom Tode“ beginnt und mit dem Ausblick „ins Leben“ mündet.
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seiner spezifischen Universalität, die uns in Texten wie Ps 103 und 145 begegnet
und die sich laut Franz Rosenzweig durch die Einheit Gottes und der Menschheit
auszeichnet. Der Augenblick, das „Jetzt“, der Moment des Beters, bedarf für
Franz Rosenzweig dabei der zyklischen Wiederholung, der Institutionalisierung,
um als solcher erfahrbar zu werden und zu bleiben. Die Ewigkeit wird dabei nicht
von der Zeit abgetrennt – das kritisiert er am System Georg Wilhelm Friedrich
Hegels mit seiner Verabsolutierung der Zeit und so auch der Geschichte –,
sondern mit ihr verbunden. In diesem Konzept geht der Schrei des Einzelnen, des
„Ich“, nicht in einem System unter, sind die Grenzen des Denkens nicht mit der
Wirklichkeit identisch.39 Vereinfacht gesagt: Das Reich Gottes ist ein Thema der
Zukunft – ebenso aber auch eines der Gegenwart und Vergangenheit, in unseren
zeitlichen Kategorien gesprochen. Mit Ps 145: es ist ein Thema der Hoffnung auf
die Vernichtung der Frevler und das Lob allen Fleisches – ebenso aber eines des
einzelnen Beters, der Gott im Augenblick des Gebets als „meinen König“ ansprechen kann und es ist ein Thema der Erinnerung an die Taten Gottes im
Exodus und in der Wüste, die auf sein Wirken im Leben des Beters und seiner
Gegenüber hin transparent ist. Die Besonderheit der Psalmen allgemein, allemal
in ihrer liturgischen Verwendung, liegt darin, dass sie, einzigartig verdichtet,
diese verschiedenen Ebenen vereinen. So fand Franz Rosenzweig in vielen von
ihnen Aspekte seines Denkens – auch seines Reich Gottes Begriffes – in nuce.
„[…] denn das Leben steht zwischen zwei Zeiten, der Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der lebendige Augenblick ist des Büchermachens Ende. Aber hart
an ihn stoßen zwei Reiche des Büchermachens, zwei Reiche der Bildung. In ihnen ist des
Büchermachens kein Ende.“40
Gottes Reich ist für Franz Rosenzweig ein Umfassungsbegriff, in dem die Ewigkeit der Zeit der Einheit im Raum entspricht.41 Wie auch für die Reich-GottesDiskurse, in denen sich die Ps 103 und 145 bewegen, werden die Fragen nach Zeit
und Ort des Reiches Gottes aber ergänzt durch die Frage nach dessen Akteure.
Dies sowohl in Bezug auf die Aktivität von Gott und Mensch, als auch in Bezug
auf die soziale Struktur von Reich-Gottes-Bildern. Hier werden die Dynamik vom
„Ich“ zum „Wir“ sowie aus dieser Bewegung entstehende Dynamiken, die wir
39 Vgl. E. Goodman-Thau, Weltgeschehen und Heilsgeschichte, bes. 237f. mit Bezug auf
F. Rosenzweig, Stern, bes. auf 5 und 372.
40 F. Rosenzweig, Zur jüdischen Erziehung 44. Zum Kontext dieses Zitats vgl. ebd.: „[…] dass
Bücher nur da sind, um Gewordenes dem Werdenden zu vermitteln, dass aber, was zwischen
Gewordenem und Werdendem steht, der Tag, das Heute, die Gegenwart, das – Leben, keiner
Bücher bedarf. Wenn ich bin, was frage ich nach dem, was mich ‚bilden‘ könnte? Ich bin ja.
Aber Kinder kommen und fragen, und in mir selber erwacht das Kind, das noch nicht ‚ist‘ das
noch nicht ‚lebt‘, und es fragt und will gebildet werden, will werden: wozu denn? Nun, zum
Lebendigen, zu dem, was – ist. Und da hat das Büchermachen ein Ende.“
41 GB 1917, 15.
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bereits mit Franz Rosenzweigs Aufnahme der Psalmen verbunden haben, wieder
relevant.42
„Die Gemeinde ist nicht, noch nicht, Alle; ihr Wir ist noch beschränkt, es ist noch
verbunden mit einem gleichzeitigen Ihr; aber sie beansprucht, Alle zu sein – dennoch.
Dies Dennoch ist das Wort der Psalmen. Es macht die Psalmen zum Gemeindegesangbuch, obwohl die meisten in der Ichform sprechen. […] Diese Steigerung der
eigenen Seele zur Seele Aller gibt erst der eigenen Seele die Kühnheit, ihre eigene Not
auszusprechen – weil es eben mehr ist als bloß die eigene.“43
Neben der Wahrnehmung der Zeit, ihrer Ordnung und Dynamik und der Verortung des Menschen in ihr, der vorwegnehmen kann, aber auch warten können
muss, ist es für Franz Rosenzweig vor allem der Dialog, die Hinwendung zu Gott
sowie die Gemeinschaft des Menschen mit seinen Gegenübern und die Bedeutung des gesprochenen Wortes, die seine Auffassung vom Judentum und auch
seinen Begriff des Reiches Gottes prägen.44
Der Einzelne steht im Gebet um das Kommen des Reiches im Dialog mit Gott,
er spricht ihn direkt an, betet um das Kommen „deines Reiches“.45
Ebenso wie er im Dialog mit Gott steht, ist er aber auch Teil der Gemeinschaft
der Rufenden. Diese Gemeinschaft stiftet der Psalmengesang in Lob und Klage.
Er verbindet den Einzelnen, oder „die Seele“, wie Rosenzweig schreibt, das „Ich“
der Psalmen mit der Welt, indem er Gemeinsamkeit ins Wort setzt.
Rosenzweig setzt es in ein Wort, das „Dennoch“ als „das Wort der Psalmen“, in
dem die Leitdifferenzen menschlichen Lebens vor Gott integriert sind:
„Dies Dennoch ist das Wort der Psalmen. Es macht die Psalmen zum Gemeindegesang,
obwohl die meisten in der Ichform sprechen. Denn das Ich der Psalmen ist, obwohl ganz
wirkliches einzelnes Ich und in allen Nöten eines einsamen Herzens verstrickt, in alle
Engen einer armen Seele gefesselt, dennoch, ja dennoch ein Glied, nein mehr als Glied,
der Gemeinde: ‚Israel hat dennoch Gott zum Trost‘ ist der Leitspruch des Psalms, der für
den individuellsten gilt. Das Ich kann nur deswegen ganz Ich sein, ganz in die Tiefen
seiner Einsamen – so nennt der Psalmist seine Seele – hinabsteigen, weil es sich erkühnt,
als Ich, das es ist, aus dem Mund der Gemeinde zu sprechen. Seine Feinde Gottes Feinde,
seine Not unsre Not, seine Rettung unser Heil. Diese Steigerung der eigenen Seele zur
Seele Aller gibt erst der eigenen Seele die Kühnheit, ihre eigene Not auszusprechen –
weil es eben mehr ist, als bloß die eigne.“46
42 Zur Frage nach dem Verhältnis von „Ich“ und „Wir“ im Werk Franz Rosenzweigs, sowie zu
den verschiedenen Ebenen des „Wir“ vgl. auch W. Schmied-Kowarzik, Differenzierungen.
43 F. Rosenzweig, Stern 278f.
44 Vgl. dazu z. B. F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk III 155.
45 Abweichend von der aramäischen Vorlage übersetzt Franz Rosenzweig 1918 das Kaddisch,
zentrales und in Franz Rosenzweigs Schriften mehrmals zitiertes Gebet jüdischen Lebens und
Sterbens, in der Du-Anrede, vgl. GB 1918, 28f.
46 F. Rosenzweig, Stern 279.
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„Sein Königtum waltet des Alls“
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Wiedererkennen ließe sich solche Gemeinsamkeit auch in der Integrationsleistung von Psalmen wie 103 und 145, die anthropologische und theologische
Grundkonstanten verbinden. Gemeinsamkeit in der Erinnerung und Vergegenwärtigung der Geschichte und damit in der Bezeugung des wirkmächtigen
Handelns Gottes, das Signum seines Königtums ist.47 Er hält fest, dass die Vergangenheit dem „Ich“ vermittelt wird über die Generationen, „Großeltern und
Enkel“.48 Sie erzählen die menschliche Geschichte, die ja Geschichte Gottes mit
den Menschen und als solche die Grundlage von Theologie ist.49 Gottes Gottsein
hängt auch für Franz Rosenzweig, der sich damit in eine lange Tradition jüdischer Rede von der Reziprozität göttlichen und menschlichen Handelns stellt,
wesentlich ab von der Bezeugung Gottes durch den Menschen.50 Wichtig für
Franz Rosenzweig ist dabei aber offenbar, dass es nicht um menschliche Frechheit und Selbstüberschätzung geht, sondern dass Gott selbst es ist, der sich an
diese Bezeugung durch den Menschen bindet.51
Gemeinsamkeit in der Kontingenzerfahrung des Augenblicks, der Gefährdung des Lebens durch Hunger, Unterdrückung, Krankheit und Schuld, die das
Reich Gottes aber gerade nicht ausschließt, sondern mit einer Dynamik des
„Dennoch“ umfasst. Gemeinsamkeit auch in einem weiteren Moment der Vorwegnahme, der sich nicht bloß unter der Thematik der „Zeitlichkeit“, sondern
gerade auch unter dem Stichwort „Dialogizität“ fassen lässt: das betende „Wir“
ist noch nicht „Alle“. Gerade ein stark universal angelegter königstheologischer
Text wie Ps 145 hat sich mit der Spannung von erhofftem Dialog (zum Beispiel im
Bekanntmachen des Königtums für alle Menschen, im Lob allen Fleisches, in der
Reziprozität von menschlichem Rufen und göttlichem Hören) und erfahrener
Realität auseinandergesetzt und gibt sie dem Denken und Beten immer wieder
neu auf. Damit hält Franz Rosenzweig auch fest, dass die Wirklichkeit, in der
Menschen leben, niemals „fertig“ ist. Darin liegt eine seiner Grundeinsichten und
47 Franz Rosenzweig betont vor allem die Zukünftigkeit des Reiches Gottes und seine Vorwegnehmbarkeit, also seine Bedeutung für die Gegenwart, den Augenblick. Trotzdem taucht
die (vergangene, erinnerte) Geschichte an einigen wichtigen Stellen des Stern auf, gerade in
seiner Betrachtung der Liturgie. So, wenn er schreibt: „[…] denn die historische Erinnerung
ist kein fester Punkt in der Vergangenheit, der jedes Jahr um ein Jahr vergangener wird,
sondern eine immer gleich nahe, eigentlich gar nicht vergangene, sondern ewig gegenwärtige
Erinnerung: jeder einzelne soll den Auszug aus Egypten so ansehen, als wäre er selbst mit
ausgezogen.“ (F. Rosenzweig, Stern 337). Dies geschieht durch die Erinnerung im Augenblick, die Weitergabe in der Liturgie. Die Geschichte setzt sich fort im Handeln der Menschen,
gerade auch im Gebet, wie Franz Rosenzweig es versteht.
48 F. Rosenzweig, Stern 331.
49 An seinen Freund Eugen Rosenstock-Huessy schreibt Franz Rosenzweig einmal, dass man
Zeit nicht eigentlich in Jahren messen könne, sondern nur an wirklichen Menschen (GB 1917,
10f.) Dies lässt sich mit dem hebräischen Terminus דור ודורverbinden.
50 Vgl. nur F. Rosenzweig, Stern 191.203 u. ö.
51 Dazu F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk III 696.
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Nancy Rahn
wohl die Grundlage seines Verständnisses von Gebet, wie es uns vor allem aus
dem dritten Teil des Stern entgegentritt. Wirklichkeitsgestaltung die betend auf
Gott und den Mitmenschen ausgreift fand Franz Rosenzweig in den Texten des
Psalters und ihrer konkreten Anwendung.
Abschluss
„Die theologischen Probleme“ sagt Franz Rosenzweig, „wollen ins Menschliche
übersetzt werden und die menschlichen bis ins Theologische vorgetrieben.“52 Im
Kern fand er diese für sein Leben und Lehren prägende Dynamik in den Gebeten
Israels, dem Psalter und der aus ihm erwachsenen Liturgie, in der vorwegnehmend Gottes Königtum, seine מלכות, das Reich Gottes zu Gehör kommt. Franz
Rosenzweig beschritt seinen Weg vom „Ich“ zum „Wir“ und damit eine entscheidende Dynamik für sein Verständnis des Reiches Gottes als Ziel des Betens
auf den Sohlen der Psalmenpoesie.
Herausgegriffen aus dem Ozean der Texte, Bilder und Biographien, in die
Theologie des Psalters floss, mag sich hier beispielhaft zeigen, wie sich diese nicht
nur anhand antiker Texte diskutieren lässt. Vielmehr kann Theologie des Psalters
gerade auch mit Texten auf den Wegen ihrer Geschichte im Gespräch bleiben und
theologisches Nachdenken über Disziplingrenzen hinweg herausfordern.
Um es mit dem der jüdischen Tradition entlehnten Titel der Festschrift zu
sagen, die Frank-Lothar Hossfeld im Jahre 2004 für Erich Zenger herausgab: „Das
Manna fällt auch heute noch.“53
Abstract
In the broader field of the quest for interactions between Reception History of the
Psalms and a „Theology of the Psalter“, this article explores the term מלכותwith
reference to God in Psalms 103 and 145 and in the work of Franz Rosenzweig.
It thus aims to present insights into the discussion of the importance of the
term מלכותfor the Psalter as well as into the impact, the Psalter had on Franz
Rosenzweig and on his notion of a „Kingdom of God“. Bringing both parts
together may experimentally show the productivity provided by a single part of a
Psalm’s history for the understanding of the Psalm itself.
52 F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk III 389.
53 Hossfeld, F.-L. u. a. (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch.
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