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Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste Julia Böcker 1 Einführung Fehl- und Totgeburten und sich anschließende Trauerprozesse sind gekennzeichnet von Deutungs- und Handlungsambivalenzen, die durch den liminalen Status des Ungeborenen als Teil des mütterlichen Körpers und als werdendes Individuum, als „noch nicht“ und „nicht mehr“, bedingt sind. Gleichzeitig sind die Umgangsweisen mit dem Verlust normiert. So wird beispielsweise der Verlust umso mehr als Todesfall behandelt und als solcher ernst genommen, je später er in der Schwangerschaft geschieht. Dieser Beitrag entfaltet eine soziologische Perspektive auf Fehl- und Totgeburt als Verlusterlebnis. Die Ausgangsannahme ist, dass Verlusterleben und Trauer im Kontext von Fehlgeburt und Totgeburt deutungsabhängig sind. Gleichzeitig lässt Trauer sich nicht radikal konstruktivistisch fassen und kann nicht unabhängig von ihrer leib-körperlichen Dimension untersucht werden. Gezeigt wird, dass handlungsrelevante (Laien-)Theorien des Schwangerschaftsverlusts und der Trauer an intersubjektive Begebenheiten wie die Schwangerschaftsphase bzw. die (vorgestellte) Entwicklung des kindlichen Körpers gebunden sind und darüber legitimiert werden. Es werden dabei sowohl die ordnenden und normierenden Funktionen solcher Theorien und Vorstellungen als auch deren Inkongruenzen mit dem subjektiven Verlusterleben Betroffener herausgearbeitet. Warum sind Fehlgeburt und Totgeburt thanatosoziologisch interessante Phänomene? Die Antwort lautet hier zunächst: weil die entsprechenden körperlichen J. Böcker (*) Lüneburg, Deutschland E-Mail: boecker@leuphana.de © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 N. Jakoby und M. Thönnes (Hrsg.), Zur Soziologie des Sterbens, DOI 10.1007/978-3-658-11874-7_8 135 136 J. Böcker Prozesse als Sterben bzw. Todesfälle und Verlustereignisse erlebt und begriffen werden. Es wird dargestellt, dass und wie diese als solche subjektiv erfahren werden. Und dass diese (nicht) als frühes Sterben sozial prozessiert und institutionalisiert werden. Trauer, heuristisch gefasst als Ausdruck kulturell bedingten und kontextualisierten Verlusterlebens, wird hier demnach als (durch Sozialisation geformtes) leibliches Schmerz- und Verlustgefühl und als intersubjektiv verstehbare und dadurch sozial anerkannte Emotion begriffen. Im Beitrag werden die Verlustsituationen und -erfahrungen, die der Trauer vorausgehen, also die Entbindungen selbst in den Blick genommen.1 Dieser Einleitung folgt die Bestimmung zentraler Begriffe, anhand derer sukzessive eine kultursoziologische Perspektive auf Verlust und Trauer entfaltet wird. Sie gründet in der Kulturalität von Lebensbeginn und -ende sowie von Trauer und konstatiert den Deutungsbedarf des Verlusterlebens (Abschn. 2). In einem zweiten Schritt werden im Hauptteil vier leib-körperbedingte Deutungs- und Handlungsambivalenzen vorgestellt, die typisch für pränatale Verluste sind (Abschn. 3). Der Aufsatz schließt mit einem zusammenfassenden Fazit (Abschn. 4). 2 Begriffe und Perspektive Im Folgenden wird eine kultursoziologische Perspektive auf Erleben und Trauer im Kontext pränataler Verluste vorgeschlagen. Ausgehend von rechtlichen und medizinischen Begriffsunterscheidungen zwischen Fehlgeburt und Totgeburt, werden der Deutungsbedarf und variierende Differenzsetzungen dargestellt, um die Kulturalität des Verlusterlebens zu veranschaulichen. Schließlich werden Trauer und Verlusterleben als leib-körperliche Erfahrung und kulturbedingtes Phänomen konzipiert. 2.1 Fehlgeburt und Totgeburt Personenstandsrechtlich werden Fehlgeborene definiert als Leibesfrüchte unter 500 g Körpergewicht, die nach der Entbindung kein Lebenszeichen aufweisen, Totgeborene als solche mit einem Gewicht über 500 g. Babys, die bis zum siebten Tag nach der Geburt versterben, zählen statistisch ebenfalls als Totgeburt. In 1Lena Dreier und Alexander Leistner danke ich für die kollegiale Kritik an früheren Fassungen. Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 137 Deutschland kommen seit 20 Jahren auf 1000 Neugeborene etwa zwei bis vier Totgeborene (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2015). Fehlgeburten passieren viel häufiger. Es wird davon ausgegangen, dass etwa jede fünfte Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt endet, bei einem großen Teil sehr früh und daher unbemerkt. Je nach Kontext bezeichnen Fehlgeburt und Totgeburt das Ungeborene selbst (X war eine Fehl-/Totgeburt) oder den Prozess respektive die Erfahrung (Y hatte eine Fehl-/Totgeburt). Als Ersatzbegriff für beides etabliert sich unter Betroffenen zunehmend die englische Entlehnung Stillgeburt (oder Stille Geburt), da sie positiver konnotiert ist: Es wird davon gesprochen, dass ein Kind still – statt tot – geboren wurde. Totgeborene gelten bestattungsrechtlich als menschliche Leichen und müssen daher standesamtlich registriert und bestattet werden. Bestattungsrecht und Leichenwesen sind Ländersache, sodass einzelne Bestattungsgesetze und -verordnungen variieren. Seit einer Änderung des Personenstandsrechts können Eltern seit Mai 2013 Fehlgeborene unter 500 g beim Standesamt dokumentieren lassen, sofern eine ärztliche Bescheinigung über die vormals bestehende Schwangerschaft vorgelegt wird. Auf Wunsch können alle pränatal Verstorbenen bestattet werden, also auch Fehlgeborene unter 500 g. Allerdings wissen dies Betroffene oft nicht, sodass einige Länder Hinweispflichten für behandelnde Einrichtungen in ihre Bestattungsgesetze aufgenommen haben. Wird keine individuelle Beisetzung gewünscht, unterliegen die Kliniken der Pflicht, für eine „hygienisch einwandfreie und dem sittlichen Empfinden entsprechende Beseitigung“ zu sorgen. Während das sogenannte Schwangerschaftsgewebe früher als Klinikabfall entsorgt wurde, veranlassen Kliniken heute Sammelurnenbestattungen der eingeäscherten Fehlgeborenen. Die Vielzahl von in Bestattungsrechten verwendeten Bezeichnungen wie beispielsweise „totgeborene Kinder“, „Totgeburten“ oder „Ungeborene und totgeborene Leibesfrüchte“2 bringt einerseits die Heterogenität der – moralpolitischen, rechtlichen, medizinischen, familiären – Perspektiven zum Ausdruck, von denen aus je anders auf die Bestattungssubjekte (oder eben nicht „Subjekte“) 2„So gibt es: totgeborene Kinder, tot geborene oder in der Geburt verstorbene Kinder, verstorbene Neugeborene, in der Geburt verstorbene Leibesfrüchte, Fehlgeburten (oder: Fehlgeborene), Totgeburten (oder: Totgeborene), aus Schwangerschaftsabbrüchen stammende Leibesfrüchte, Feten (auch: Föten) oder Embryonen, Ungeborene und totgeborene Leibesfrüchte. Teilweise werden diese Begriffe im Gesetz definiert, teilweise wird eine Definition vorausgesetzt“ (Aeternitas e. V. Verbraucherinitiative Bestattungskultur 2012). 138 J. Böcker zugegriffen wird. Andererseits spiegelt sich darin auch die Entwicklung des im Mutterleib wachsenden Kindes, das in jeder Phase der Schwangerschaft verloren werden kann. Dabei variiert der physiologische Entwicklungsstand des Kindes, der Einfluss nimmt auf die (Einigung auf eine) Zuschreibung: zum Beispiel als „Gewebeklumpen“ oder als „Baby“. 2.2 Die Kulturalität von Schwangerschafts- und Lebensbeginn und -ende Die Entwicklung der befruchteten Eizelle zum Kind im Körper der werdenden Mutter, also dessen biologischer Anfang, geht nicht mit dessen sozialem Lebensbeginn einher. Entwicklungsbiologisch wird die intrauterine Entwicklung der Leibesfrucht von der befruchteten Eizelle zum lebensfähigen Baby in eine embryonale Phase und fetale Phase (61. Tag der Schwangerschaft bis zur Geburt) eingeteilt.3 Zum Ende der Embryonalperiode, also etwa in der achten Schwangerschaftswoche (SSW), sind die Organanlagen des Embryos ausgebildet. Ab der 23. SSW besteht die Möglichkeit, dass der Fötus die Entbindung vom Mutterleib überlebt. Fehlgeburten wurden und werden zuweilen nicht über das Körpergewicht (<500 g) von Totgeburten abgegrenzt, sondern als Schwangerschaftsenden vor der 24. SSW gefasst, sozusagen als pränataler Tod vor der eigenständigen Lebensfähigkeit. Fehlgeburten werden noch einmal – entlang uneinheitlicher Kriterien – in Frühaborte (etwa 12.-14. SSW) und Spätaborte unterschieden. Die unscharfe Unterteilung ist der jeweiligen Behandlungsentscheidung geschuldet, der – verkürzt gesagt – ein operativer Eingriff oder ein Geburtsprozess folgt. Was wiederum Einfluss darauf nimmt, ob die Frau das folgende Ereignis als Operation oder als Geburt erlebt. Oder als etwas dazwischen. Lebensanfang und Lebensende werden oft als natürliche, unveränderliche Tatsachen verdinglicht und es gerät aus dem Blick, dass beide Markierungen sozial hergestellt und performiert werden. Jedes Kollektiv vollzieht spezifische Praktiken, hat Erzählungen und Bilder, kurz: eine Kultur des Lebensbeginns und -endes. Soziologie und Kultur- und Sozialanthropologie erforschen die Prozesse von „coming-into-being, completion and attenuation of personhood and how life and death are attributed, contested, and enacted“ (Kaufman und Morgan 2005, S. 317). Der soziale Lebensbeginn ist historisch und kulturell variabel. Er muss 3Beiden geht eine zelluläre Phase von der Befruchtung bis zur Einnistung in die Gebärmutter voraus. Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 139 nicht mit der Geburt – der für Dritte sichtbaren Zweiwerdung – einhergehen. Während es eine ostafrikanische Tradition geben soll, die den Moment, an dem das Kind erstmals in mütterlichen Gedanken vorkommt, als dessen Geburtstag bestimmt (vgl. Alberti 2012, S. 73), beschreibt Robert Hertz in seiner klassischen Untersuchung eine Stammesgesellschaft in Südostasien, in der nicht nur Kindstötungen folgenlos bleiben, sondern im Allgemeinen „der Tod von kleinen Kindern eine sehr schwache und fast sofort abgeschlossene soziale Reaktion hervor[rufe]“ (Hertz 2007, S. 163). Dass die Absenz von Verlustgefühlen kein historisches Phänomen darstellt, zeigt eindrücklich die Studie von Nancy Scheper-Hughes (2004) zum Säuglingssterben in brasilianischen Favelas. Es existieren zahlreiche anthropologische Studien über regionalspezifische Sichtweisen, Riten und Ausdrucksformen nach Schwangerschaftsverlusten (vgl. Cecil 1996), deren Ausgestaltung immer auch davon abhängt, inwiefern ein Mensch und Kollektivmitglied betrauert wird. In heutigen „westlichen“ Gesellschaften wird das Ungeborene oft sehr früh, mitunter bereits ab dem positiven Schwangerschaftstest, als individuelles Gegenüber adressiert. Fortwährend wird der körperliche Zustand wahrgenommen, im Hinblick auf das werdende Kind (immer wieder neu) interpretiert und eigenes Verhalten angepasst. Hirschauer und Kolleginnen sprechen von der „Konstitution eines inwändigen Anderen“ (Hirschauer et al. 2014), um die Sozialität der Personwerdung im Mutterleib zu beschreiben. Voraussetzung für pränatale Interaktion ist, die leiblichen und körperlichen Erscheinungen überhaupt in einen Zusammenhang mit der Entwicklung – oder Existenz – eines Anderen zu bringen. So wird selbstreflexiv zur Frage, ob das Magenknurren ein Magenknurren ist oder das Kind, das sich entwickelt. Schwangerschaftsverdacht, die ärztliche Bestätigung, der erste Ultraschall, die ersten gespürten Kindsbewegungen stellen typische Ereignisse dar, die die fortlaufende Schwangerschaft sequenzieren. Die Wahrnehmung körperlicher Erscheinungen wird auf das Kind und dessen Zustand bezogen, das eigene Verhalten „durch Selbstführungstechniken im Namen des kommenden Kindes geprägt“ (Sänger et al. 2013, S. 56). Das Ungeborene ist ein Gegenüber im Werden. Seine „inwändige“ Entwicklung wird medizinisch prozessiert und durch bildgebende Verfahren (insbesondere Ultraschall, vgl. Heimerl 2013) zugänglich gemacht. Aus kulturhistorischer Perspektive beginnt diese pränatale Sozialisation nach Schwangerschaftsbeginn früher denn je. Barbara Duden schreibt mit Verweis auf eine italienische Studie: „Sizilianische Bäuerinnen wollten noch in den 1930er Jahren nicht wahrhaben, dass ihre Versuche, gestocktes Monatsblut (…) wieder in Gang zu bringen, als Abtreibung eines ‚Fötus‘ definiert werden könne“ (Duden 2002, S. 15). Anders gesagt, bedarf es einer Vorstellung des Kindes bzw. menschlichen Lebens als Kind, Mensch, Person, um mit 140 J. Böcker ihm oder ihr überhaupt in Interaktion zu treten und um es, ihn oder sie als bereits lebend und somit sterbefähig zu begreifen und zu behandeln. 2.3 Verlust und Trauer Sozialwissenschaftliche Trauerforschung greift unterschiedlich auf ihren Gegenstand zu. Grob unterscheide ich drei Formen soziologischer Trauerforschung, die sich entlang ihrer Ausgangstheoreme (Trauerbegriff) und Erkenntnisinteressen typisieren lassen: Trauer fasse ich demnach, kurz gesagt, als Pathologie, als thematischen Rahmen oder als Gegenstand. Im ersten Typ wird Trauer als Problem/Pathologie des trauernden Subjekts gefasst, dem geholfen werden kann (und soll). Hier ist klar, was Trauer heißt, und unklar, wie man sie lindern kann. In Erhebungen wird vorausgesetzt, dass in bestimmten Lebenslagen oder nach spezifischen Ereignissen getrauert wird. Trauer wird anhand von Symptomen oder über die Selbsteinschätzung von Trauernden festgelegt, um positive und negative Einflussfaktoren auf gelingende Verlustbewältigung zu bestimmen. In diesem Zusammenhang spielen klassische psychologische Trauertheorien eine Rolle, die „zwischen normaler und pathologischer Trauer“ unterscheiden (vgl. Jakoby 2012, S. 408). Zweitens sei der heterogene Bereich von Forschungen genannt, in denen theoretische Trauerkonzeptionen weder Einfluss auf die Untersuchungen nehmen noch durch die Forschungsergebnisse irritiert werden können. Trauer meint hier – alltagstheoretisch inspiriert – ein thematisches oder kulturelles Feld, auf das Bezug genommen wird, bspw. in Studien zur Sepulkral- und Bestattungskultur, zur Selbsthilfe oder zur gesellschaftlichen Organisation von Leben und Tod. Diese können für das Verständnis eines Trauerphänomens in seinem historischen Gewordensein unabdingbar sein. So lässt sich auf Basis der Studie Michael Prossers über das bereits im Mittelalter vorhandene Bestreben von Eltern, ihre ungetauften Fehl- und Totgeburten in geweihter Erde zu beerdigen (Prosser 2005), die prominente These anzweifeln, der Tod kleiner Kinder sei bis zur Moderne kaum betrauert worden (Hahn 2002, S. 76). Dabei stand die Erforschung von Trauer selbst aber nicht im Fokus der archäologischen und sozialhistorischen Studie. Schließlich gibt es drittens ein emotionssoziologisches Bestreben, Trauer systematisch als Gegenstand in den Blick zu nehmen (vgl. Jakoby 2012). Trauer als mitunter verkörpertes Gefühl ist bislang selten Ziel soziologischen Zugriffs gewesen. Gefragt wird, wie sich Trauer ausdrückt und wie sie beobachtbar wird: als rituelle Praxis, als normierte Emotion (Jakoby et al. 2013; Doka 2002), als Emotion mit „Bildungspotential“ (Böhner und Zirfas 2012) oder in ihrer Funktion als Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 141 „Biografiegenerator“ (Winkel 2008). Die forschungsleitende Frage ist hier nicht primär, wie kann Trauernden geholfen werden, sondern: Welche (sozialen) Ursachen, Formen und Konsequenzen hat Trauer? Wie hängen Trauer, Verlusterleben und kulturelle Konstitution des Verlusts zusammen? Trauer im Sinne des dritten Typus muss von Traurigkeit unterschieden werden, will man dabei deren leiblich-körperliche Qualität berücksichtigen. Das Gefühl oder körperliche Empfinden von Traurigkeit ist nur eine, die leibliche, Dimension von Trauer, welche als Emotion im Sinne eines kulturell kontextualisierten Gefühls gefasst werden kann. Unter einer Emotion lässt sich eine subjektive Empfindung verstehen, die aufgrund ihres sozialen Ursprungs und der prinzipiell anschlussfähigen Interpretation durch das fühlende Subjekt Sinn ergibt. Wird Traurigkeit durch das sie empfindende Subjekt gedeutet, wird sie zur Trauer im hier verstandenen Sinne: ein durch Sozialisation auf spezifische Weise interpretiertes Gefühl, das so nur in seinem kulturellen Sinnzusammenhang entstehen konnte. Sobald die Emotion externalisiert und in Form sozialer Handlung an Orten verwirklicht wird, wird sie beobachtbar. Trauer als Gefühl stellt die schmerzhafte Folge eines unersetzlichen Verlusts dar (vgl. Hahn 1968, S. 7). Der Deutung des Verlusts kommt deshalb entscheidende Relevanz zu, wobei subjektives Empfinden und Deuten eines Verlusts und soziale Geltung und Normierung dessen, was als Verlust infrage kommt (empfunden werden sollte), nicht selten auseinanderklaffen. Auf welche Art und wie intensiv getrauert werden darf oder soll, welches passende und unpassende Orte und Situationen sind, um zu trauern, unterliegt sozialer Normierung, die kontextbedingt variiert (vgl. Jakoby et al. 2013). Bis hierhin wurde Trauer eher als Zustand thematisiert. Tatsächlich ist hingegen Trauer nach einem Verlust prozesshaft. Gefühlszustände des trauernden Individuums verändern sich, Verlust und Empfinden werden reinterpretiert, das Leben neu organisiert und anders auf Verlustereignis und -objekt geblickt. Deshalb macht es einen enormen Unterschied, zu welchem Zeitpunkt man Trauernde bezüglich des Verlusterlebens befragt. Während die einen noch nicht sprachfähig sind, haben andere das Erlebnis bereits sinnhaft in ihre Lebensgeschichte integriert. Trauer ist also einerseits deutungsabhängig und somit immer auch gesellschaftlich vermitteltes und sanktioniertes Gefühl. Vorzeitige Schwangerschaftsenden im klinischen Sinne, also nicht in die Geburt eines lebenden Babys mündende Schwangerschaften, sind keine Determinanten für Trauer.4 Voraussetzung für 4So sind zum Beispiel indische Leihmütter nach der Übergabe des Kindes an die sogenannten Bestelleltern (auch) stolz darauf, ihre Familien reich gemacht zu haben, sowie auf ihre Gebärfähigkeit, die einer unfruchtbaren westlichen Frau Familie ermöglicht. 142 J. Böcker Trauer ist, dass das, was passiert, überhaupt als Schwangerschaftsende bzw. Sterbefall interpretiert wird und dass dies zweitens als ungewollt, Problem oder Verlust empfunden wird. Es gab und gibt immer Schwangerschaftsenden, die nicht als solche erkannt werden, oder solche, die (auch) als Erleichterung, Wiederherstellung von Würde und Selbstbestimmung empfunden werden oder gar die einzige Möglichkeit darstellen, frei von Fremdbestimmung und Gewalterfahrung zu leben.5 Andererseits beinhaltet Trauer eine leibliche Dimension noch deutungsbedürftiger Empfindungen oder Schmerzen, denen eine eigene Faktizität innewohnt, die für das Individuum handlungsrelevant wird, weil es die zur Verfügung stehenden Deutungen und Erklärungen beispielsweise als treffend empfindet oder als entwürdigend. Um solche Empfindungen bei der Analyse von Verlusterlebnissen und Trauer miteinzubeziehen, wird die konstruktivistische Perspektive hier um eine leibphänomenologische ergänzt. Helmuth Plessner ging in seiner Begründung der philosophischen Anthropologie von der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen aus (Plessner 1975). Diese Eigenschaft, sich die eigene Position im Hier und Jetzt bewusst zu machen, unterscheide ihn von anderen Lebewesen. Der Mensch sei durch sie doppelt positioniert: Einerseits sei er Leib, befände sich physisch an einem bestimmten Ort, fühle und verhalte sich – den Tieren ähnlich – instinktiv. Andererseits habe er einen Körper, den er bewusst einsetze, von dem er eine Vorstellung habe, dessen wahrnehmbare Qualitäten und Grenzen er interpretiere und bewerte. Diese klassische Unterscheidung von vorbewusstem Leib und kulturell geformtem Körper ist der heuristischen Trennung von Gefühl und Emotion vergleichbar. Der phänomenologischen Tradition entlehnt sei zuletzt das Begriffspaar Erleben und Erfahrung. Erst eine Typisierung auf Basis früherer Erfahrungen grenzt im Bewusstsein einen Teil des fortlaufenden Erlebens als eine bestimmte und benennbare Erfahrung ein (vgl. Schütz 1932). Jedes Verlusterleben ist individuell. Was hingegen als Verlust ins Erfahrungswissen eingeht, ist kulturell vermittelt. Erst die Interpretation der Schmerzen und Gefühle knüpft das subjektive Empfinden an bestimmte Ursachen und Erlebnisse (sowie diese bereits Einfluss auf die Entstehung der Gefühle genommen haben) und macht aus dem Erleben eine mitteilbare Erfahrung. Dabei erleben Fehl- und 5Solche Schwangerschaftsenden inkl. veranlasster Abbrüche können dennoch für Betroffene dramatisch sein. Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 143 Totgebärende den Verlust leiblich natürlich signifikant anders als andere Betroffene bzw. Beteiligte wie Partner6, Partnerinnen, Großeltern u. a., die gleichwohl einen herben Verlust empfinden können. Für die Darstellung im Folgenden wurden die Perspektiven der gebärenden/verlierenden Frauen rekonstruiert. 3 Ambivalenzen pränataler Verluste Pränatale Verluste sind in jeder Phase der Schwangerschaft von Ungewissheiten und Uneindeutigkeiten7 geprägt, die für die anschließende Trauer spezifisch sind. Diese Ambivalenzen, deren Bedingungen sowie die entscheidenden, zum Teil widersprüchlichen Differenzsetzungen im Dienste der Vereindeutigung sollen nun systematisierend dargestellt werden. Die Ausführungen basieren auf ersten Ergebnissen meines laufenden Promotionsprojekts, das im iterativen Forschungsstil der „Grounded Theory“-Methodologie (GTM) (Strauss 1998; Equit und Hohage 2016) durchgeführt wird. Im Anschluss an erste Auswertungen des Datenmaterials werden im Sinne des „Theoretical Sampling“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 181–182) systematisch kontrastiv so lange neue Daten erhoben, bis die erarbeiteten gegenstandsbezogenen Konzepte und Theorien „gesättigt“ sind. Bisher beinhaltet der Datenkorpus unter anderem Audiotranskripte8, Beobachtungsprotokolle9 und öffentlich verfügbare Beiträge in Online-Trauerforen.10 Für die sequenzanalytische Auswertung 6Zur väterlichen Trauer bei Totgeburt vgl. bspw. die Autoethnografie von Weaver-Hightower (2012). Bonnette und Broom (2011) thematisieren anhand qualitativer Interviews die Schwierigkeiten von australischen Vätern Totgeborener, legitim ihre Trauer auszudrücken und sich als (trauernde) Väter zu identifizieren. 7Ambivalenz und Uneindeutigkeit werden synonym verwendet, wobei der aus der Psychologie stammende Begriff Ambivalenz eher auf Empfindungen von Handlungssubjekten rekurriert, während soziale Uneindeutigkeit besteht, wenn eine Situation oder ein Ereignis intersubjektiv verschieden interpretiert und behandelt wird. Da davon ausgegangen wird, dass auch subjektive Ambivalenz Ergebnis internalisierter, heterogener sozialer Bedeutungen ist, wird die synonyme Verwendung für vertretbar gehalten. 8Bisher: Sieben narrative Einzel- und Paarinterviews mit Betroffenen, zwei Expertinneninterviews (zwei Kindsbestatterinnen und eine Moderatorin eines Online-Trauerforums) sowie eine Gruppendiskussion unter Selbsthilfe-Initiatorinnen. 9Zum Beispiel von Veranstaltungen am Weltgedenktag für verstorbene Kinder oder Selbsthilfetreffen. 10Zudem weiteres Material wie Reden zur Einweihung eines (Sternen-)Kindergrabfeldes, Fotografien dieser Gräber, Gedenkseiten im Internet oder Informationsbroschüren. 144 J. Böcker werden Verfahrensweisen der „Objektiven Hermeneutik“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 246–277) mit dem Kodierverfahren der GTM gekoppelt. Die folgenden vier Ambivalenzen stellen analytische Verdichtungen verschiedener leib-körperbedingter Uneindeutigkeiten dar, die sich im empirischen Material gezeigt haben. Die erste Ambivalenz ist durch die „Inwändigkeit“ des Sterbens bedingt (Abschn. 3.1). Eine zweite besteht in der Unsichtbarkeit des Verlusts (Abschn. 3.2). Während in diesem Fall eine Diskrepanz von Verlustintensität und sozusagen zu wenig kindlichem Körper besteht, können umgekehrt die leibliche Faktizität der Entbindung und der vorhandene Kindskörper im Kontrast zum sozialen Status des Kindes11 und der Frau stehen (Liminalität, Abschn. 3.3). Daran anschließend wird die ambivalente Kongruenz der Prozesse Entbinden und (baldiges) Sterben verhandelt (Abschn. 3.4). 3.1 Inwändiges Sterben Eine Ambivalenz besteht im uneindeutigen Status des Ungeborenen als Teil des mütterlichen Leibes und werdendes Individuum. Es wird bereits als Gegenüber adressiert, ist aber noch nicht richtig in der Welt. Stirbt es in dieser Phase, ist es (etwas) nicht mehr, so wie andere Verstorbene nicht mehr in der Welt sind. Nur war es für Andere ja noch nicht da. Die Deutung des Ungeborenen – als signifikantes Gegenüber, als „Prinzessin“ oder vorerst als körperliche Veränderung und Vorbereitung auf ein zukünftiges Kind – beeinflusst die Deutung des Verlusts, der zugespitzt als Verlust der Schwangerschaft oder des Kindes gefasst und/oder erlebt werden kann.12 Diese verschiedenen Vorstellungen sind allerdings nicht von der Entwicklungsstufe des Kindes bestimmt, auch wenn dies eine häufig 11„Kind“ stellt bereits eine Deutung dar. Es ließe sich auch von Leibesfrucht oder Leiche sprechen. Begrifflich soll stets die jeweilige Sicht, in diesem Fall der Trauernden, zum Ausdruck kommen. 12Der dem Englischen entlehnte Begriff „Schwangerschaftsverlust“ beinhaltet Fehl- und Totgeburten gleichermaßen. Es ist zu überlegen, ihn als umfassenderen Begriff zu verwenden, um von der scharfen und konsequenzenreichen Differenz Abstand zu nehmen, die nicht zwangsläufig dem Verlusterleben der Betroffenen entspricht. Allerdings fokussiert er den Verlust des leib-körperlichen Zustands der Schwangerschaft selbst und verschiebt damit die Blickrichtung weg vom pränatalen Sterben. Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 145 hervorgebrachte Laientheorie der Trauer ist (je entwickelter der Fötus, desto stärker sei die Bindung ans kindliche Gegenüber und umso größer der empfundene Verlust). Theoretisch formuliert, finden zwei Prozesse des Werdens im Mutterleib statt: Zum einen entwickelt sich das Ungeborene leiblich, zum anderen wird es zur sozialen Person (gemacht).13 Diese Prozesse können, das hatten die Kulturvergleiche des kindlichen Personenstatus gezeigt, unabhängig voneinander verlaufen. Faktisch wird die soziale Konstituierung der Person allerdings an die wahrnehmbaren Veränderungen des Körpers des Ungeborenen (sowie der Schwangeren) gebunden. Das Sterben des Kindes geht meist mit körperlichem Selbsterleben – vom komischen Gefühl bis zu lebensbedrohlichen Symptomen – der Schwangeren einher. In den Erzählungen mancher Frauen wird diese Doppelperspektive deutlich. So schließt die befragte Rhea14 ihre Erzählung vom Krankenhausaufenthalt, bei dem sie in der 22. SSW von Schmerzen geplagt wird und nicht weiß, was mit ihr los ist, folgendermaßen: Am nächsten, also in der Nacht dann gab’s irgendwann so’n kleines Rucken im Bauch, wo ich irgendwie dachte (.) also danach war’s irgendwie nen Stück weit entspannter. Und ich dachte irgendwie ‚Ich glaub, da ist irgendeine Entscheidung in die ein oder andere Richtung in meinem Körper gefallen‘, so. In der Erlebenssituation ist dies zunächst der entscheidende Moment, ab dem Schmerzen und Ungewissheit ein Ende haben, nicht der Augenblick, in dem die 410 g wiegende Leibesfrucht stirbt. Etwas später im Interview, als sie die Warnung der Hebamme zitiert, das Kind könne nach der Geburt zwar einen Augenblick leben, werde aber nicht überleben, formuliert sie – in einem Einschub in die fortlaufende Erzählung des Geburtsvorgangs – denselben Moment so: Ach so, und es gab noch so’n Augenblick, an dem ich irgendwie gemerkt hab, dass das Kind in meinem Bauch so’n Stückchen tiefer sinkt und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es dann in dem Augenblick, gestorben ist. Also, dass ich (.) ich hatte (.) ich war nicht ganz sicher, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass das Kind (.) lebend zur Welt kommt. 13Diese pränatal beginnenden Prozesse dauern nach der Entbindung an: Das Neugeborene ist auch danach leiblich abhängig und noch soziale Person im Werden. Für inspirierende Gedanken zum Begriff des „sozialen Akteurs im Werden“ danke ich Susanne Lemke. 14Die Namen aller Forschungssubjekte wurden durch Pseudonyme ersetzt. 146 J. Böcker Späteres Wissen um den Ausgang eines biografischen Ereignisses verändert und ergänzt hier nachträglich die Deutung der im aktuellen Erleben nicht wahrgenommenen oder anders interpretierten Anzeichen. Sie werden als Eckpunkte in den Zusammenhang des pränatalen, in Anlehnung an Hirschauer et al. (2014) „inwändig“ genannten, Sterbeprozesses eingebettet. Für das, was im Mutterleib geschieht, obliegt Ärztinnen und Schwangeren die Expertise, wenngleich es ungesehen, ungefühlt oder ungewiss bleiben kann. So thematisieren manche Frauen Schuldgefühle, nichts bemerkt zu haben. Das verweist umgekehrt auf das internalisierte „normative Muster der Mutterliebe“ (Schütze 1986), doch etwas gespürt haben zu müssen. So antwortet in einem öffentlichen Online-Forum zum Thema Fehlgeburt eine Frau: „Ja leider gibt es das, dass Babys im Bauch sterben und man keine Anzeichen15 hat“ (Juni 2013) auf den Post einer in der 9. SSW Schwangeren, deren Arzt keine fötalen Herztöne mehr feststellen konnte. Sie schrieb: So elend gings mir noch nie, weine mir die Augen aus. In 7. SSW war Herzaktivität zu sehen, was meint ihr, ist es wirklich vorbei mit mein klein Spatz? Ich habe keine Blutung und auch nich direkt Schmerzen, es zieht und zwickt ab un zu, aber nicht schlimm.16 Hier wird das Fehlen von Schmerzen oder körperlichen Anzeichen auch deshalb bedauert, weil die Tatsache, keine Blutung zu haben, mit der Tragweite der ärztlichen Diagnose inkompatibel erscheint. In beiden Beispielen besteht Unklarheit darüber, ob das Ungeborene noch lebt, und wird von den Schwangeren versucht, den eigenen leiblichen Zustand mit Hinblick darauf zu interpretieren. Während Rhea den Sterbemoment zunächst als körperliche Erleichterung empfindet und nachträglich zuordnet, ist die andere Betroffene von den schwachen Symptomen irritiert, die dem diagnostizierten Verlust nicht gerecht werden. Wahrnehmungen körperlicher Erscheinungen werden mit dem inwändigen Sterben deutend verknüpft. 15Aus dem Kontext wird ersichtlich, dass mit „keine Anzeichen“ nicht die fehlenden Herztöne gemeint sind. 16Schreibfehler in den Zitaten stammen aus den unverändert übernommenen Originaltexten. Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 3.2 147 Unsichtbare Verluste Frühe Fehlgeburten gehen häufig außerhalb klinischer Kontexte ab. Manchmal ist unklar, ob es sich um eine Fehlgeburt oder eine starke Blutung handelt, oder es bleibt kein Kind zurück, das berührt, angesehen und verabschiedet werden kann. Die Schwangerschaft wurde in dieser Phase – auch in Antizipation eines möglichen Verlustes – meist noch wenig nach außen verkündet, sodass das Ungeborene weder körperlich als Leiche noch in der sozialen Kommunikation vorhanden ist. Sara beschreibt die Situation und kognitive Realisierung ihrer frühen Fehlgeburt wie folgt: Und dann nachts ging’s aber richtig los und dann hätt ich nie gedacht, dass mich das so mitnimmt, weil man das schon […] öfters hört, wo’s hieß so, dass man mal ne Fehlgeburt hat und dann denk ich ‚naja in diesem frühen Stadium, man hat keine (.) vielleicht noch nicht diese Beziehung zu dem Kind und das ist ja ganz normal‘, in Anführungsstrichen, ne? Aber das war (.) ich hatte richtig (.) ich bin zur Toilette gekrochen auf allen Vieren, weil ich nicht mehr stehen konnte, ne und es es (.) ich hatte richtig (.) Wehen sozusagen und dann kriegst Du da (.) dieses äh (.) Kind {lacht/schnauft} (.) in Anf/Also es ist ja irgendwie noch anonym und so, aber es ist Dein Kind und und es geht einfach weg, ne, und das das fand ich irgendwie schon ziemlich krass und ich hab, also ich bin eigentlich’n sehr pragmatischer nicht so’n gefühlsbetonter Mensch und hab echt (.) war von mir überrascht, was das mit mir macht, so. Genau, mein Mann war in dem Moment auch total überfordert, weil er das gar nicht einschätzen, also für ihn war’s dann eigentlich eher (.) gut sozusagen {lacht}, dass sich alles geklärt hat und er war von mir völlig überford/also mit mir völlig überfordert, die wie ich dann da heulend in der Ecke saß und gar nicht wusste, was mit mir passiert. (…) Ich war dann, glaub ich, noch mal bei der Ärztin gewesen und dann war für mich noch (…) der krasseste Einschnitt: die Woche danach hat sie dann noch mal Ultraschall gemacht, und dann zu sehen, dass auf einmal alles leer ist, alles ist weg. Also dass Du wirklich dieses Bild noch mal vor Dir hast: Vorher war alles angelegt und da und dann ist’s auf einmal weg und das ist so: wie auch weg aus (.) es war ja auch noch nicht so offiziell (.) also es ist einfach verschwunden. {atmet ein} Genau. {atmet aus}. Das leibliche Erleben deutet Sara als Geburt eines Kindes („kriegst da dieses Kind“). Die Körper-Leib differenzierende Formulierung, dass sie „gar nicht wusste, was mit [ihr] passiert“, zeigt, dass diese Deutung zum Zeitpunkt des Erlebens noch nicht gegeben ist. Dabei „passiert“ ihr etwas Leibliches, das in seiner Wucht den „pragmatischen Menschen“ Sara überrollt. Erst die ärztliche Bestätigung der Fehlgeburt und die wahrnehmbare Leere lassen Sara den Verlust realisieren, der durch die schmerzhafte Fehlgeburt allein nicht greifbar wird. Ihre Trauer ist weniger an den leiblichen Schmerz geknüpft als an das körperliche und 148 J. Böcker soziale Nichtvorhandensein des Kindes. Zudem irritiert sie die Intensität ihrer Trauer („hätt ich nie gedacht, dass mich das so mitnimmt“), da sie eine Trauerintensitätsnorm verinnerlicht hat (frühe Fehlgeburten seien nicht so schlimm) und ein entsprechendes Selbstbild (gerade als pragmatischer Mensch sei es nicht schlimm), das erschüttert worden ist. Trauer im Falle früher Fehlgeburten, also nach Schwangerschaftsverlusten im ersten Drittel der Schwangerschaft, werden von Julia Frost und Kolleginnen bezeichnet als „a unique type of loss because of the many ambiguities surrounding the event. Early miscarriage can be seen as an ‚imperfectly scientised‘ form of death in the context of modern societies where science and medicine are expected to provide ‚rational‘ accounts of the causes of physiological phenomena“ (Frost et al. 2007, S. 1003). Neben der meist fehlenden wissenschaftlichen Erklärung der physiologischen Ursache und einer unzureichenden Professionalisierung, diese Todesfälle (als solche!) zu bearbeiten, trügen Isolation und Unsicherheit zum Leid der Frauen bei. Frost et al. bezeichnen den „holistisch“ empfundenen Verlust der Frauen als „loss of possibility“. Sie betrauerten auch den Verlust einer früheren oder potenziellen Identität: „following a miscarriage many women experience a loss of hope, a loss of agency, a loss of bodily integrity and the loss of identity“ (Frost et al. 2007, S. 1013). Angesichts einer Gesellschaft, die vollwertige/s Weiblichkeit/Frausein mit Mutterschaft gleichsetzt, empfänden die Frauen Gefühle der Minderwertigkeit und des Verlusts ihrer weiblichen Identität. Die diversen Verlustgefühle seien teilweise der „embodied nature“ (Frost et al. 2007, S. 1014) der Fehlgeburt geschuldet, da ihr neben einer emotionalen natürlicherweise auch eine physische Leere folge (die mitunter auch von Müttern lebend geborener Babys beschrieben und betrauert wird). Der physisch empfundenen Leere bezüglich des unerfüllten Kinderwunsches muss keine Schwangerschaft vorausgegangen sein. Christine schreibt über ihre – sie selbst irritierenden – Verlustgefühle, nachdem sie feststellte, wieder nicht schwanger geworden zu sein: Ich habe das Anfang des Jahres, als ich versucht habe, schwanger zu werden, genau so erlebt. Da war jeden Monat, als es nicht geklappt hat, ein starkes Gefühl von Leere, Schmerz (…) und Verlust, das mich extrem irritiert hat und mit dem ich nichts anfangen konnte. Faktisch war da ja noch nichts verloren gegangen außer einer Möglichkeit. Ich habe rational dagegen gearbeitet und irgendwann ist die Wunde geheilt, aber ich kann nach wie vor nicht verstehen, warum ich so ein starkes Verlustgefühl für etwas empfunden habe, das noch gar nicht da war. Vielleicht trauert man eher um verloren gegangene Erwartungen und unerfüllte Wünsche als um eine tatsächliche Person? Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 149 Die Verlustempfindung ist zweifach an körperliche Prozesse geknüpft: Über die Menstruationsblutung wird festgestellt, dass „es nicht geklappt hat“. Mit ihrem Einsetzen („jeden Monat“) macht sich die körperlich spürbare Enttäuschung breit („Schmerz“, „die Wunde geheilt“). Auch Rhea beschreibt im Interview, das ein Jahr nach der späten Fehlgeburt stattfindet, eine wiederkehrende Traurigkeit, sobald sie ihre Menstruation bekomme. Erst dann erinnere sie sich an die Fehlgeburt und verknüpfe beide Körpererscheinungen. 3.3 Liminalität Die Schwangere und das Ungeborene befinden sich, ritualtheoretisch gefasst, in einer „Liminalphase“ auf der Schwelle des Übergangs zur Mutterschaft und in die soziale Welt, in einem „Zwischenstadium der Statuslosigkeit“ (Turner 1989, S. 97). Dass die zwei Prozesse des Werdens – die leibliche Entwicklung von Kind und Schwangeren, die zur körperlichen Entzweiung führt, und der soziale Vorgang, Person zu werden und ein Kind zu bekommen – aneinander gekoppelt sind, mag eine anthropologische Konstante sein. Wie sie, d. h. anhand welcher sicht-, fühl- oder anders teilbaren Begebenheiten aufeinander bezogen werden, ist hingegen kulturell variabel. Fehl- und Totgeburten beenden so gesehen zwei unabgeschlossene und unterschiedlich fortgeschrittene Übergangsphasen. So kann die körperliche Entwicklung des Ungeborenen zum „fertigen“ Baby unabgeschlossen sein und der vorhandene, vielleicht zu kleine oder deformierte Körper im Kontrast zur vormaligen Repräsentation eines Kindes stehen. Eine Inkongruenz kann umgekehrt entstehen, wenn der kindliche Körper („schon alles da und alles dran“) sowie das Entbindungserleben eine unerwartete leib-körperliche Faktizität besitzen. Die bereits zitierten Fälle zeigen, dass das Entwicklungsstadium nicht über die Empfindung als Geburt entscheidet. Während Sara bereits im ersten Schwangerschaftsmonat davon spricht, „richtig Wehen“ gehabt zu haben, berichtet Rhea in der 22. SSW von wiederkehrenden Bauchkrämpfen. Das Entbinden nennt Rhea „rausschieben“. Sie versteht sich zum Zeitpunkt des Interviews nicht als Mutter. Fotos des Jungen, Namensgebung und eigeninitiierte Bestattung lehnen sie und ihr Partner einstimmig ab. Auch wenn für sie „dieses Kind“ noch nicht „auf dieser Welt“ gewesen ist, lässt der Abschluss der einstündigen Stegreiferzählung kaum den Schluss zu, Rhea trauere nicht: 150 J. Böcker Wir ham vorher noch getippt, {Stimme wird brüchig} ob’s ein Junge oder ein Mädchen ist, und lagen auch beide richtig, dass es halt’n Junge ist und so und dann {weint}. Ja so kleine Momente, die irgendwie cool warn. (4) Ja. {weint} Mhm. Und es war (2) {räuspert sich} war so ganz angenehm eindeutig, also dieses Kind war einfach definitiv zu klein, um auf dieser Welt zu leben. (2) Und gleichzeitig war halt schon alles da und alles dran und (2) mhm. Ja (12). Ja {58 Sek. Pause, putzt sich die Nase, atmet tief und trinkt etwas}. Neben diesen subjektiven Ambivalenzen können Widersprüche auf intersubjektiver Ebene zwischen den Erfahrungen – und seien sie noch so eindeutig – und den Deutungen und Handlungen Anderer bestehen. Exemplarisch sei die Trauer delegitimierende Aussage genannt, es habe sich ja noch nicht um ein richtiges Kind gehandelt. Eine sinngemäß von Betroffenen häufig zitierte Verletzung, die dem eigenen Verlusterleben zuwiderlaufe. Kenneth Doka bezeichnet einen so empfundenen Verlust, „der nicht offen anerkannt, sozial sanktioniert oder öffentlich betrauert wird“, als „entrechtete Trauer“ (Doka 2002, 2014, S. 4).17 Beispielsweise berichtete eine Frau von den sie diskreditierenden Reaktionen, als sie zur Geburt ihres Totgeborenen eine Karte mit Foto verschickte, die zugleich als Trauerbrief fungierte. Die Sanktionierung des Wunsches nach einem – bestattungsrechtlich möglichen – Einzelgrab für Fehlgeborene, indem konstatiert wird, dies sei „übertrieben für Babys, die noch nicht geboren waren“, stellt ein weiteres Beispiel dar (vgl. Böcker 2015). In diesen Fällen wird dem Verlust nicht der Status eines frühen Kindstodes zugeschrieben, den zu betrauern und offiziell bekannt zu machen, geschweige denn zu visualisieren oder rituell zu verabschieden, legitim und angemessen wäre. 3.4 Wenn Entbinden (baldiges) Sterben bedeutet Gebären bzw. Geborenwerden und Sterben sind gesellschaftlich gegensätzlich performierte Übergänge. Im Falle einer Totgeburt oder bei infauster Prognose18 kollidieren beide. 17Ein Beispiel dafür bietet auch Saras Mann, der vermittelt, auf diese Weise habe sich das Problem einer erneuten Schwangerschaft ja „geklärt“. 18Infaust (lat. „ungünstig“) ist in der Medizin eine Prognose, wenn die Erkrankung als nicht heilbar erachtet wird und mit konsekutivem Tod zu rechnen ist. Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 151 Das folgende Zitat aus einem Trauerforum im Internet veranschaulicht zunächst die Gleichzeitigkeit der Prozesse des Gebärens und Sterbens: Ich war in der 23 ssw als das kleine Herz meiner kleinen Tochter A. aufhörte zu schlagen. Das war am [Datum]. Zu dem Zeitpunkt begriff ich es noch nicht wirklich, dass meine kleine Tochter nun nicht mehr lebte. Am [Datum, zwei Tage später] um [Zeit] hatte ich meine Stille Geburt, nachdem ich bereits 1,5 Tage Tabletten zur Einleitung der Geburt bekommen hatte. Es war ein Moment der gemischten Gefühle. Ein schöner Moment, denn ich hatte alle Menschen um mich die ich liebe und ich bekam meine kleine Prinzessin. Aber zugleich, besonders traurig, denn es war das erste und letzte mal dass meine ich meine süße kleine Maus sehen und in den Arm nehmen durfte. Die Formulierung „ich hatte alle Menschen um mich die ich liebe“ verweist auf eine Vorstellung vom „guten Sterben“. Stellvertretend für die Tochter befindet sich die Schwangere im Kreise der Lieben, vergleichbar einer Sterbenden, inmitten nächster Angehöriger.19 Traditionelle Bilder von Geburt und Tod strukturieren die Erzählung: So markiert der Moment des Herzstillstands der ungeborenen Tochter deren Lebensende, das zunächst „noch nicht wirklich“ begriffen wird. Fassungslosigkeit und fehlende Realisierung werden hier dem Tod als unbegreiflicher Tatsache zugeschrieben, nicht der Inwändigkeit oder körperlichen Ungewissheit der Ereignisse. Die „Stille Geburt“ wird als „Moment der gemischten Gefühle“ beschrieben. Ihre Tochter zu bekommen, beschreibt sie als schöne Seite des Moments – dies konstituiert sie auch als Mutter – während das Traurige in der Abschiednahme liegt. Die Chronologie suggeriert eine Lebensgeschichte der tot geborenen Tochter, die im Leben begrüßt und verabschiedet wird („das erste und letzte mal“, nicht: das einzige Mal), die Sterbe- und Geburtsdaten, ein Geschlecht und Charaktereigenschaften („süß“, „klein“), kurz: eine Identität und eine Biografie besitzt. 19Mit der Lebensdauer steigt die Anzahl an Personen, die mit dem Kind interagiert haben. Der Kreis der Angehörigen wächst. So beschrieb ein Paar in einer Selbsthilfegruppe die Anteilnahme des Klinikpersonals am Tod ihrer vier Wochen alten, zu früh geborenen Tochter. Mitarbeitende der neonatalogischen Abteilung, das Paar nennt sie „die Familie“ ihrer Tochter, seien zur Beerdigung gekommen und würden sich noch gelegentlich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen. Im anschließenden Gespräch mit einer von Schwangerschaftsverlust betroffenen Frau erklärt diese, wie schwer es ihr fiele, von solcher Anteilnahme zu hören. Bei ihr sei das überhaupt nicht so gewesen, sondern „eine richtige Scheißerfahrung! Ausschabung und fertig“. 152 J. Böcker In diesem Fall werden Geburt und Abschiednahme durch Chronologisierung normalisiert. Im folgenden Kontrastbeispiel wird die fehlende Lebendigkeit zum ursächlichen Kriterium misslingender Abschiednahme. Eine von einer Betroffenen 2009 gegründeten Initiative verbreitete online und in Kliniken einen sogenannten Leitfaden20, der betroffenen Eltern in Vorbereitung auf die anstehende Entbindung ausgehändigt werden sollte. Anliegen war es, ihnen konkrete Hinweise für einen „guten Abschied“ an die Hand zu geben, der – so das implizite Versprechen – später dabei helfen werde, den Verlust zu bewältigen. Ein Hinweis lautet: Überlegen Sie sich im Vorfeld, was mit dem Kind direkt nach der Geburt geschehen soll. Wir empfehlen Ihnen, das Kind direkt in den Arm zu nehmen (vor allem bei Lebendgeburten!), es zu sehen und zu halten. Haben Sie keine Angst davor, Ihr Kind zu sehen. Es ist IHR Kind und wird genau so wie es ist schön und perfekt aussehen, selbst wenn es schon einige Tage zuvor im Bauch verstorben sein sollte (Herv. i. O.)! Der Leitfaden reproduziert jene Delegitimierung, der er eigentlich etwas entgegensetzen will. Die „Lebendgeburt“21 symbolisiert hier die antizipierte offizielle Anerkennung, ein Kind verloren zu haben, selbst wenn das Neugeborene kurz darauf verstirbt und dann ebenso tot ist und fehlt wie das Totgeborene. So bleibt die Statuszuschreibung einer Lebendgeburt als schlimmerer Verlust erhalten. Der Zusatz „schön und perfekt (…), selbst wenn es schon einige Tage zuvor im Bauch verstorben sein sollte“ (eig. Herv.), entspricht dieser Statuslogik, obwohl der Leitfaden jedem Verlust Anerkennung zollen möchte. Zudem werden hier Vorstellungen beginnender Verwesung und entsprechende Berührungsängste hervorgerufen. Die betonte Warnung, „keine Angst“ davor zu haben, das Kind anzuschauen, schürt Angst. Der Warnung liegt eine kritisierte (Laien-)Theorie der Trauer zugrunde: nämlich dass es besser sei, das tote Kind gar nicht erst zu sehen oder gar zu berühren. So war und ist es mitunter gängige Klinikpraxis, das Entbundene sofort zu entfernen. Im Leitfaden offenbart sich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem medizinisch-klinischen System, das sich übersetzt in die Aufforderung, gegen dessen Strukturen anzukämpfen. Die Angst einflößende Nachricht lautet: Das 20http://www.klinikaktion.de/leitfadeneltern.pdf. Zugegriffen: 21. Dezember 2015. sind solche „Lebendgeburten“, die nach infauster Prognose in absehbarer Zeit versterben werden. 21Gemeint Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste 153 Klinikpersonal wird gegen Ihre Wünsche und Bedürfnisse handeln, es ist Ihre Aufgabe, gegen diese Entmachtung anzugehen. So heißt es weiter unten: „Versuchen Sie, so viele Erinnerungen wie möglich zu sammeln. Sie müssen für den Rest Ihres Lebens reichen. Lassen Sie sich nicht drängen, nehmen Sie sich Zeit. Bestehen Sie nötigenfalls darauf.“ Es wird deutlich, dass keine institutionalisierten Prozessierungen für Fehlgeburten oder Totgeburten bestehen, die diese aus dem Leben und die Frau am Ende der werdenden Mutterschaft begleiten. Hier wird versucht, eine Abschiedspraktik zu institutionalisieren. Auch im wissenschaftlichen Diskurs besteht die Tendenz, zur Berührung und Auseinandersetzung mit dem tot geborenen Kind zu ermutigen, ohne Betroffene – wie im Leitfaden – unter Druck zu setzen (vgl. Warland und Davis 2011). Denn nicht jede will und wird das Ereignis als Sterbefall prozessieren und erinnern. 4 Fazit Prä- und perinatale Verlusterfahrungen sind von sozialen Uneindeutigkeiten geprägt. Je weiter das Ungeborene entwickelt ist, desto eher wird dessen Verlust medizinisch als Todesfall prozessiert und vom sozialen Umfeld als Verlust eines Kindes behandelt. Die soziale Performierung eines Todes (in Form von Sterbebegleitung, Gefühlsnormierung oder Bestattungsrechten) und die Akzeptanz von Trauer um diesen werden an den sterbenden bzw. toten Körper gekoppelt. Dieser bleibt bei pränatalem Verlust stets liminal und Aushandlungssache. Die konstruierte Verknüpfung von kindskörperlicher Entwicklung und Verlust beinhaltet eine Trauerintensitätsnorm, welche – wie anhand empirischer Beispiele gezeigt – mit subjektiven Verlustgefühlen und -intensitäten kollidieren kann. Ausdrucksform und Intensität der subjektiv empfundenen Trauer lassen sich nicht auf den Verlustzeitpunkt in der Schwangerschaft zurückführen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wurde eine begriffliche und phänomenologische Strukturierung des Forschungsgegenstands Verlusterleben und Trauer bei Fehl- und Totgeburt anhand von Deutungs- und Handlungsambivalenzen vorgeschlagen. Vier leib-körperbedingte Uneindeutigkeiten wurden behandelt. Die erste ist der Inwändigkeit des Sterbens geschuldet. Der Sterbeverlauf des Ungeborenen wird auf Basis wahrgenommener Empfindungen oder ärztlich festgestellter Veränderungen des Körpers gedeutet. So kann aus mutteridentitärer Sicht sowohl in der 7. SSW bestürzen, den Todeszeitpunkt nicht gespürt zu haben, als auch das bewusst wahrgenommene Versterben des Ungeborenen in der 22. SSW als 154 J. Böcker Erleichterung empfunden werden. Die Uneindeutigkeit besteht im ungewissen Schluss leiblicher Empfindung auf den kindlichen Zustand (der zudem mit ärztlichen Aussagen konkurrieren kann), das Problematische im akuten Deutungszwang sowie der – aus Subjektperspektive – Missdeutung konkreter Ereignisse, die erst im Nachhinein als Sterben und Verlieren gedeutet werden. Die zweite körperbedingte Uneindeutigkeit ist bei unsichtbaren Verlusten gegeben, wenn also Schwangerschaften vorerst unbemerkt zu Ende gehen oder, weiter gefasst, kein kindlicher Körper (mehr) vorhanden ist, der Verlust aber als der eines nun fehlenden Kindes empfunden und betrauert wird. Die Intensität des empfundenen Verlusts kollidiert mit gesellschaftlichen Trauerintensitätsnormen, die von den Betroffenen verinnerlicht sind. Drittens kam die Liminalität des kindlichen Körpers und der Frau inmitten des Übergangs zur sozialen Mutterschaft in den Blick. Es wurden die Kopplung von leiblichem und sozialem Prozess des Werdens während der Schwangerschaft und deren problematische Inkongruenz im Verlustfall diskutiert. Daran anschließend wurde viertens die zeitliche Kongruenz von Gebären und Sterben thematisiert, zwei gesellschaftlich gegensätzlich performierte Übergänge. Ist beispielsweise das Ungeborene bereits im Mutterleib verstorben, gehen mit der physiologischen Entbindung nicht die sozialen Prozesse einher, geboren zu werden und Mutter zu werden. Es existieren keine institutionalisierten Prozessierungen für Fehlgeburten oder Totgeburten, die diese aus dem Leben und die Frau am Ende der werdenden Mutterschaft begleiten. Literatur Aeternitas e.V. Verbraucherinitiative Bestattungskultur (2012). http://www.aeternitas.de/ inhalt/recht/themen/artikel/2012_05_15__03_56_19. Zugegriffen: 10. Dezember 2015. Alberti, B. (2012). Die Seele fühlt von Anfang an. Wie pränatale Erfahrungen unsere Beziehungsfähigkeit prägen. 6. Aufl. München: Kösel. Böcker, J. (2015). Kein Tod ohne Leben. Zu Krisen des Trauerns nach Fehl- und Totgeburt. In M. Endreß (Hrsg.), Routinen der Krise – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier. 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