Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                
Academia.eduAcademia.edu

Hybrides Musikdenken im türkischen Nationalstaat

2005, Dörte Schmidt (Hrsg.), Musiktheoretisches Denken und kultureller Kontext. Schliengen: Edition Argus, 2005, 149–170

Abstract

Während des gesamten 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich von zunehmender Verwestlichung (batılılaşma) geprägt, ein Prozess, der schließlich in der Gründung der Türkischen Republik 1923 und den radikalen Reformen der 1920er und 30er Jahre seinen Höhepunkt erreichte. Die Erwartungen insbesondere dieser frühen Republikphase, die moderne Türkei könne sich rasch und vollständig in einen europäischen Staat mit europäischer Kultur verwandeln, erwiesen sich indessen bald als unrealistisch. Bei dem Versuch, bestehende kulturelle Traditionen einerseits den Ideen der westlichen Moderne anzupassen, andererseits dem-ebenfalls europäischstämmigen-Nationalismus, verwickelte sich das Land bald in vielfältige Widersprüche. Heute ist klar, dass die kulturelle Gegenwart und Zukunft der Türkei weder in einer reinen Europäisierung liegt, noch gar in einem Rückfall in ein neu aufgelegtes islamisches Reich. Die Türkei befindet sich heute offenbar nicht in einer historischen Übergangsphase. Ihre überaus reichhaltige, dynamische und keineswegs widerspruchsfreie kulturelle Hybridität scheint sich als dauerhafter Charakter zu haben.

Hybrides Musikdenken im türkischen Nationalstaat Während des gesamten 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich von zunehmender Verwestlichung (batılılaşma) geprägt, ein Prozess, der schließlich in der Gründung der Türkischen Republik 1923 und den radikalen Reformen der 1920er und 30er Jahre seinen Höhepunkt erreichte. Die Erwartungen insbesondere dieser frühen Republikphase, die moderne Türkei könne sich rasch und vollständig in einen europäischen Staat mit europäischer Kultur verwandeln, erwiesen sich indessen bald als unrealistisch. Bei dem Versuch, bestehende kulturelle Traditionen einerseits den Ideen der westlichen Moderne anzupassen, andererseits dem - ebenfalls europäischstämmigen - Nationalismus, verwickelte sich das Land bald in vielfältige Widersprüche. Heute ist klar, dass die kulturelle Gegenwart und Zukunft der Türkei weder in einer reinen Europäisierung liegt, noch gar in einem Rückfall in ein neu aufgelegtes islamisches Reich. Die Türkei befindet sich heute offenbar nicht in einer historischen Übergangsphase. Ihre überaus reichhaltige, dynamische und keineswegs widerspruchsfreie kulturelle Hybridität scheint sich als dauerhafter Charakter zu haben. Die Osmanische Musiktheorie erlebte in diesem Kontext die Umgestaltung von einer elitären Denkschule zu einer modernen, hybriden Musikwissenschaft sowie einer breit zugänglichen Musikpädagogik. Bereits im 19. Jahrhundert war westliches Musikdenken zunächst als Konkurrenz neben die osmanische Tradition getreten. Schon bald ergaben sich zwischen beiden vielfältige Beeinflussungen und Vermischungen, die das inhaltliche und konzeptuelle Spektrum theoretischer Reflektionen über Musik während der folgenden Jahrzehnte ständig erweiterten. Seit dem 20. Jahrhundert ist Musiktheorie und Musikwissenschaft (wie das gesamte türkische Musikleben überhaupt) in der Türkei überdies stark vom türkischen Nationalismus geprägt. Dies betrifft insbesondere die Erforschung anatolischer Volksmusik. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts entstand dabei eine ausgeformte Theorie türkischer Volksmusik, in der sich osmanische Musiktheorie mit europäischer Musiktheorie und europäischer Volksliedforschung verband. I Die k l a s s i s c h e Kunstmusik des Osmanischen Hofes in Istanbul war, grob zusammengefasst, im Laufe des 16. Jahrhunderts durch die allmähliche Verbindung von zentralasiatischen und anatolischen Musiktraditionen mit solchen aus dem Iran entstanden. Spätestens im 17. Jahrhundert war osmanische Hofmusik zu einer 1 eigenständigen Musiksprache geworden, die sich von allen übrigen 1 Kunstmusiktraditionen der islamischen Welt klar unterschied. Auch osmanische Musiktheorie geht auf zentralasiatische und vor allem persische Vorläufer zurück (insbesondere auf Abdülkadir Merağı, gest. 1435), diese wiederum auf arabische. Ab dem 17. Jahrhundert erlebte Musiktheorie in Istanbul einen starken Aufschwung und tiefgreifende Veränderungen. Auffälligstes Merkmal dieser osmanischen Schriften war die Nähe zur musikalischen Praxis, insbesondere die Verwendung von Notation. Bereits im Mittelalter hatten arabische und persische Theoretiker Buchstaben des arabischen Alphabets zur Darstellung von Tonstufen verwandt, um so Skalen darzustellen zu können - eine Praxis, die von antiken Notationen angeregt worden sein dürfte. Das um 1700 verfaßte Traktat Kitâb-i ‘Ilmü’l Mûsîkî ‘ala Vechi’l Hurûfât (Buch der Wissenschaft von der Musik nach Art der Buchstabennotation) des rumänischen Prinzen Demetrius Cantemir (1673-1723) jedoch beinhaltete u.a. ein Notensammlung mit 352 Instrumentalstücken, notiert in einer von Cantemir entwickelten Buchstabennotation.2 Eine weitere Buchstabennotation entwickelte etwa zeitgleich der Mevlevi-Şeyh Nâyî Osman Dede (?1652-1730). Die praktische Überlieferung des osmanischen Repertoires hingegen geschah ohne Notation durch Nachspielen und Auswendiglernen. Gegenstand der theoretischen Betrachtung war zum einen - wie in der älteren arabischen und persischen Theorie - das Tonsystem sowie rhythmische und modale Konzepte (in modernem Türkisch: usul bzw. makam).3 Bis zum 18. Jahrhundert entstand in Istanbul das Konzept eines offenen Modal-Systems, das immer komplexere Modulationen innerhalb einer wachsenden Anzahl melodischer Modi ermöglichte. Theoretiker wie Cantemir oder Hızır Ağa befaßten sich mit den Möglichkeiten improvisierter Darstellung dieser Modulationen (seyir, taksim, gazel), die offenbar im osmanischen Musikleben bedeutender waren als sonst irgendwo in der islamischen Welt.4 Komponierte musikalische Formen hingegen wurden zwar genannt, aber kaum ausführlich thematisiert. 1 Walter Feldman, Music of the Ottoman Court: Makam, Composition and the early Ottoman Instrumental Repertoire (= Intercultural Music Studies 10), Berlin 1996 2 Demetrius Cantemir: Kitâb-i ‘Ilmü’l Mûsîkî ‘ala Vechi’l Hurûfât, Faks. Istanbul 1976 3 Um Missverständnisse zu vermeiden werden türkische Begriffe im Folgenden stets im Singular angegeben. Usul sind rhythmische Muster, die in der metrisierten Kunstmusik ostinat wiederholt, dabei allerdings meist ausgeziert werden. Die Länge der Patterns variiert zwischen 3 und 88 Schlägen. Makam bezeichnet ein melodisches Konzept, das bestimmt ist durch jeweils charakteristische Skalen mit qualitativer Tonstufenhierarchie, Tonräume, Modulationen, melodische Floskeln, Gefühlsassoziationen sowie implizit in ihnen angelegte Formmodelle. Makam bestimmen komponierte Melodien ebenso wie improvisierte. Karl L. Signell, Makam: Modal Practice in Turkish Art Music, Seattle, Washington 1977. 4 Taksim (improvisierte, freirhythmische Darstellungen von makam sind heute aus in der Türkei in allen westarabischen Ländern verbreitet, im Irak allerdings erst seit dem 2. Weltkrieg, ebenso im Yemen und 2 Im 19. Jahrhundert trat zunächst unverbunden neben die bisherige osmanische Hofmusik europäische Militär-, später auch Konzertmusik. Zumindest in Istanbul war ohnehin seit den Anfängen des Osmanischen Reiches ein intensiver Austausch mit europäischen Staaten gepflegt worden.5 Jahrhundertelang hatten hier europäische Gesandtschaften gelebt und auch umgekehrt waren seit dem 17. Jahrhundert osmanische Gesandten nach Europa gereist. Seit etwa 1800 wurde der Klavierunterricht für die osmanische Oberschicht zum Teil der allgemeinen Erziehung. Im Zuge der umfangreichen Reformen des 19. Jahrhunderts, als in Militär, Wirtschaft, Politik sowie im alltäglichen Lebens der Oberschicht europäische Kultur übernommen wurde, gewann in Istanbul westliche Kunstmusik weiter an Bedeutung. 1828 wurde Giuseppe Donizetti (1797-1856) Leiter einer neuen, ›westlichen‹ osmanischen Militärmusikkappelle mit angeschlossener Musikschule (mızıkay-ı hümâyun).6 Diese entwickelte sich bald zu einer Ausbildungsstätte für westlich ausgerichtete Musiker aller Art und vermittelte grundlegende Kategorien europäischen Musikdenkens wie Notation, Harmonik und Kontrapunkt. Die Sultane des 19. Jahrhunderts förderte die Pflege europäischer Musik, luden berühmte europäische Musiker wie Franz Liszt (1847) und Henri Vieuxtemps (1848) zu Gastspielen nach Istanbul ein, spielten oft selbst Klavier und komponierten.7 Spätestens seit den 1840er Jahren besuchten immer häufiger italienische und andere europäische Opern-, Operetten- und Theatergruppen die Stadt und im Istanbuler Christenviertel Beyoğlu/Pera entwickelte sich ein öffentliches europäisches Konzert- und Theaterleben. Angeregt durch das Vorbild europäischer Notation, aber wohl auch in dem Gefühl, die eigene Tradition könnte durch die neue Konkurrenz dauerhaft bedroht sein, wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts auch für die traditionelle Hofmusik schriftliche in Marokko, wo taksim aus Ägypten übernommen wurden. In arabischen und persischen Traktaten taucht der Begriff erst im 19. Jahrhundert auf. Vergl. Walter Feldman, Ottoman Sources on the Development of the Taksim, in: Yearbook for Traditional Music 25 (1993), S. 1-28, S.2. 5 Metin And, Türkiye’de Italyan Sahnesi – Italyan Sahnesinde Türkiye, Ankara: 1989, S. 13ff; Bülent Aksoy: "Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Musiki ve Batılılaşma", in: Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Türkiye Ansiklopedisi, Bd. 5, hrsg. von Murat Belge, Istanbul 1985, S. 1211-1236, S. 1212. 6 Yılmaz Öztuna: "mızıkay-ı hümâyun", in: Büyük Türk Mûsikîsi Ansiklopedisi, Ankara (1969-76), ²1990 (= Kültür Bakanlığı 1163, Kültür Eserleri Dizisi 149), Bd. 2, S. 230; Erdoğan Okyay: "Die Schulmusikerziehung in der Türkei. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihr heutiger Zustand", in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Musik des Orients 12 (1973/74), S. 5-39; Ralf Martin Jäger: "Die türkische Janitscharenmusik: Mehterhane", in: MGG, Sachteil Bd. 4, Kassel 1996, Sp. 1318-1329. 7 CD The London Academy of Ottoman Court Music: European Music at the Ottoman Court (Kalan, 2000) mit Rekonstruierten und für Streichorchester bearbeiteten Kompositionen des Hofes. Cornelia Zimmermann-Kalyoncu: Deutsche Musiker in der Türkei im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984, S. 8-13; Vedat Kosal: "Osmanlı Imparatorluğu'nda Klasik Batı Müziği", in: Musıki Mecmuası 465 (1999), S. 17-24; Martin Greve: Die Europäisierung Orientalischer Kunstmusik in der Türkei, Frankfurt a.M 1995, S. 50ff. 3 Überlieferung bedeutsamer. Schon im 17. und 18. Jahrhundert waren praktisch ausgerichtete Sammlungen von Liedertexten (ohne Melodien) entstanden (mecmû’a)8, um 1820 wurden nun sowohl die byzantinische wie die armenische Neumenschrift - beide seit Jahrhunderten in Istanbul bekannt - durch einschneidende Reformen (Chrysanthos, 1770?-1846, bzw. Hamparsum Limonciyan, 1768-1839) für den prakischen Gebrauch zur Überlieferung osmanischer Kunstmusik tauglich gemacht. Die reformierten Notationssysteme basierten in ihrer prinzipiellen Anordnung sowie der Zeitnotation auf dem europäischen System. Ihre Zeichen wurden damit unabhängig vom musikalischen Kontext lesbar und ebenso unabhängig von christlichen Inhalten. Insbesondere die Hamparsun-Notation wurde im 19. Jahrhundert für eine Reihe von osmanischen Notensammlungen verwendet.9 Um 1875 begann in Istanbul der Druck von - westlichen - Noten und auch die breit angelegten Sammlungen und Notenausgaben der frühen Republikzeit, etwa in den Büchern von Suphi Ezgi, waren stets in westlicher Liniennotation notiert.10 Die schlagartige Liberalerisierung des Bildungswesens, ausgelöst durch den Sturz Abdülhamids II. 1908/1909 ermöglichte dann erstmals die Gründung privater Musikschulen, 1917 eröffnete in Istanbul überdies das erste städtische Musikkonservatoriums des Reiches (Darü'l Elhan, Haus der Melodien). Etwa gleichzeitig erschienen in Istanbul die ersten Lehrbücher zum autodidaktischen Studium von Instrumenten osmanischer Kunstmusik, in denen auch Grundlagen der Musiktheorie vermittelt wurde, daneben einige kleinere Musikführer.11 Hatten sich westliche Notation und allgemeiner Musiklehre also allmählich verbreitet, so sind aus den letzten Jahrzehnten des Osmanischen Reich kaum theoretisch ausgerichtete Musiktraktate erhalten. Ein Interesse an Musiktheorie scheint in dieser Zeit nur noch unter einzelnen musikalischen Führern der Istanbuler Mevlevi-Sufis bestanden zu haben (Fahreddin Dede, Ataullah Dede und Celaleddin Dede), deren 8 Feldmann, Ottoman Court Music; Owen Wright, Words without Songs. A Musicological Study of an Early Ottoman Anthology and ist Precursors (= SOAS Musicological Series 3), London 1992. 9 Ralf Martin Jäger: Türkische Kunstmusik und ihre handschriftlichen Quellen aus dem 19. Jahrhundert, Eisenach 1996; ders.: Katalog der hamparsun-notası-Manuskripte im Archiv des Konservatoriums der Universität Istanbul, Eisench 1996; Greve, Europäisierung orientalischer Kunstmusik, S. 128ff. 10 Suphi Ezgi Türk Musikisi, Nazari ve Ameli, Istanbul 1933 - 1953. 11 Mu'allim Ismâ'îl Hakkı Bey, Usûlât, Solfej, Makâmât ve Ilâveli Nota Dersleri, Istanbul 1925; Tanburi Cemil Bey, Rehber-i Musıki, Constantinople 1903; Mehmet Zati, Nazariat-i Musıki ve Talim-i Kiraat-ı Musıki, Istanbul ca. 1905; Hasan Tahsin, Gülzar-i Musıki, Istanbul 1903/04; Kazim Zu, Musikî Istilâhatı, Istanbul 1894, Neuausgabe Ankara 1964. Vergl. Eugene Borrel, "Contribution à la Bibliographie de la Musique Turque au XXe Siècle", in: Revue des Etudes Islamiques (1928), S: 513-527, S.520; Ruhi Kalender, "Yüzyılımızın Başlarında Istanbul'un Musiki Hayatı", in: Ilâhiyat Fakültesi Dergisi xxiii (1978), S. 412-444); Gültekin Oransay, "Cumhuriyetin ilk elli Yılında Geleneksel Sanat Musıkimiz", in: 50.Yıl, hrsg. Von N.Öner (= Ankara Üniversitesi Ilâhiyat Fakültesi Yayınları 117) Ankara: 1973, S.1501f; Greve, Europäisierung orientalischer Kunstmusik, S. 127f. 4 Schüler Rauf Yekta, Suphi Ezgi, Sâdeddin Arel und Ahmed Avni Konuk später für die Musiktheorie des frühen 20. Jahrhunderts prägend wurden.12 Zwischen 1913 und dem Ausbruch des Befreiungskrieges 1920 veröffentlichten Yekta, Ezgi und Arel Artikel bei verschiedenen türkischen Zeitschriften (Şehbal, Millî, Tetebbular Mecmuası), nach 1923 trat an die Stelle Yektas der Physiker Sâlih Murad Uzdilek. Diese spätere Gruppe veröffentlichte ihre theoretischen Arbeiten jedoch erst ab den 1930er Jahren. Mit der Gründung der Türkischen Republik 1923, die sich explizit als europäischer Staat verstand, endete zunächst jede staatliche Unterstützung osmanischer Musik. Schon ein Jahr nach der Gründung des neuen Staates beschloß die Regierung ein Gesetz zur Vereinheitlichung des Unterrichtswesens (Tevhid-i Tedrisat Kanunu), das westliche Musik zum Pflichfach für jede Klassenstufe machte. Im gleichen Jahr wurde als Voraussetzung zur Realisierung dieser Vorschrift in Ankara eine Musiklehrer-Schule (Musiki Muallim Mektebi) gegründet. 1925 wurden nach einem Wettbewerb die ersten zehn Musiker zum Studium ins Ausland, nach Paris, Wien, Berlin, Prag und Budapest geschickt, 1926/27 das Istanbuler Konservatorium auf westliche Musik beschränkt.13 Nachdem Atatürk 1934 die Umsetzung musikalischer Reformen öffentlich angemahnt hatte, wurde zunächst eine entsprechende Fachkommission gegründet, die im folgenden Jahr ihren Bericht vorlegte (Türkiye Devlet Musiki ve Tiyatro Akademisinin Ana Çizgileri).14 1935 lud das türkische Kulturministerium den Berliner Komponisten Paul Hindemith zu einem zweimonatigen Aufenthalt als Gutachter und Berater in die Türkei ein. Auf der Basis 12 Rauf Yekta verfaßte ab 1898 vereinzelte Artikel in der Zeitschrift Ikdam ("Beharrlichkeit"), sowie zwischen 1900 und 1920 biographische Abhandlungen über seinen Lehrer Zekai Dede (1825-1897), dessen Lehrer Ismâîl Dede Efendi (1778-1846) und den spätmittelalterlichen Theoretiker Abdülkadir Merağı: Rauf Yekta, "Esâtîz al-Elhân", (1902-1925). Eine Reihe der musiktheoretischen Abhandlungen Yektas erschienen bemerkenswerterweise im Ausland: in der Revue Musicale (19071908) und als Gesamtdarstellung in der Encyclopédie Lavignac (geschrieben 1914, wegen des Krieges aber erst 1922 gedruckt). Ganz im Sinne osmanischer Tradition steht bei Yekta das Tonsystem sowie die Makame im Mittelpunkt des Interesse, das Schlußkapitel in der Encyclopédie Lavignac behandelt die "harmonisation des modes orientaux". Rauf Yekta, "La Musique Turque", in: Encyclopédie de la Musique et Dictionnaire du Conservatoire 5, hrsg. von A.Lavignac et al., Paris 1922, S. 29453064; Im Jahr 1924 (1343 H) erschienen Teile von Yektas Theorie unter dem Titel "Türkische Musiktheorie" (Türk Musikisi Nazariyati) auch in Istanbul. Eugene Borrel, "Contribution à la Bibliographie de la Musique Turque au XXe Siècle", in: Revue des Etudes Islamiques (1928), S: 513-527, S.520. 13 Gültekin Oransay, "Çoksesli Müzik", in: Cumhuriyet Dönemi Türkiye Ansiklopedisi, hrsg. Von Murat Belge, Istanbul 1983, S. 517-1730, S.1520. 14 Mitglieder der Kommission waren Cemal Reşit Rey, Cevat Memduh Altar, Cezmi Erinç, Halil Bedii Yönetken, Hasan Ferid Alnar, Necil Kâzım Akses, Nurullah Şevket Taşkıran und Ulvi Cemal Erkin, vergl. Filiz Ali, "Türkiye Cumhuriyeti’nde Konservatuvarlar", in: Cumhuriyet Dönemi Türkiye Ansiklopedisi, hrsg. Von Murat Belge, Istanbul 1983, S. 1531-1534, S. 1531. 5 seiner "Vorschläge für den Aufbau des Türkischen Musiklebens"15 (1936) entstand im gleichen Jahr die nationale Musik- und Schauspielakademie (Milli Musiki ve Temsil Akademisi), 1938 das Staatliche Konservatorium Ankara. In den folgenden Jahren wurde der Aufbau von Opernhäusern, Orchestern und Ballett in Ankara, später in Istanbul und Izmir unter Beteiligung westeuropäischer Musiker kontinuierlich weiterbetrieben. Grundkenntnisse der allgemeinen europäischen Musiklehre einschließlich der Notation und Vorstellungen von Musikgeschichte wurden zum Allgemeinwissen für türkische Musiker jeder stilistischen Ausrichtung. II Mit der Gründung der neuen Türkischen Republik war nicht nur ein in kultureller Hinsicht europäisch ausgerichteter Staat entstanden, an die Stelle einer islamischen Dynastie war ein Nationalstaat getreten. Praktisch aus dem Nichts versuchte die neue türkische Regierung nun das Bild einer homogenen türkischen Nation zu formen und praktisch durchzusetzen. Die theoretische Grundlage des offiziellen türkischen Nationalismus lieferte der Soziologe Ziya Gökalp.16 Beeinflußt durch die damals neue finno-ugrische Forschung in Europa sah Gökalp den mythischen Ursprung des t ü r k i s c h e n V o l k e s in Zentralasien und als seine Vorfahren große historische Kulturen wie Hunnen oder Mongolen bzw. alt-anatolische wie Hetither und Sumerer. Während für Gökalp die osmanische Zivilisation (medeniyet) in Istanbul byzantinisch, arabisch und iranisch geprägt war und somit kein Bestandteil der nationalen türkischen Kultur (hars) sein konnte, schien ihm unter der anatolischen Landbevölkerung eine nationale türkische Kultur zu existieren. Die Losung der frühen Türkischen Republik lautete daher "halka doğru" (auf das Volk zu). Das doppelte Ziel bestand darin, zum einen anatolische - t ü r k i s c h e Volkskultur in den Städten bekannt zu machen, sowie zum anderen osmanische Elemente im Gegenzug zurück zu drängen. So investierte die türkische Regierung beträchtliche Mühe in die Schaffung einer nationalen Geschichte und Kultur, eines Ursprungsmythos und damit verbunden der Idee eines ursprünglich reinen türkischen 15 Paul Hindemith, Vorschläge für den Aufbau des Türkischen Musiklebens (1935), herausgegeben von Gültekin Oransay, Izmir: 1983; Cornelia Zimmermann-Kalyoncu, Deutsche Musiker, S. 20-63; Filiz Ali. 16 Ziya Gökalp, Türkçülüğün Esâsları, Ankara 1923; Martin Stokes, The Arabesk Debate. Music and Musicians in Modern Turkey, Oxford 1992, S. 25ff; Irene Judith Markoff, Musical Theory, Performance and the Contemporary Bağlama Specialist in Turkey, Ann Arbour 1986; Greve, Europäisierung orientalischer Kunstmusik, S. 59ff; Cem Behar, Klasik Türk Musıkisi üzerinde Denemeler, Istanbul 1987, S. 93ff. 6 Volkes.17 Ab 1932 drängte die staatliche Türkische Sprach-Gesellschaft (Türk Dil Kurumu) auf die Abschaffung arabischer und iranischer Wörter und grammatischer Formen und ihre Ersetzung durch angebliche oder tatsächliche alt-türkische. Mit dem aufkommenden türkischen Nationalismus war Ende des 19. Jahrhunderts auch die Idee entstanden, anatolische Volksmusik - unter gebildeten Osmanen zuvor meist ignoriert und als primitiv verachtet - sei die echte t ü r k i s c h e M u s i k und stünde in dieser Hinsicht im Gegensatz zur f r e m d e n osmanischen Musik.18 Auch Ziya Gökalp widmete diesem Gedanken in seinem Hauptwerk "Grundlagen des Türkismus" ein eigenes Kapitel. Um diese tatsächlich noch weithin unbekannte t ü r k i s c h e V o l k s m u s i k überhaupt kennenzulernen, begannen Istanbuler Musiker wie Musa Süreyya, Ahmet Cevdet und Necip Asım ab 1915 damit, auf Reisen nach Anatolien gezielt Volkslieder zu sammeln. Mit der Gründung der Türkischen Republik weitete sich diese Forschungs- und Sammeltätigkeit stark aus. Das 1917 gegründete Istanbuler Konservatorium, dessen Leitung Musa Süreyya übernommen hatte, bildete nun ebenfalls eine "Fachgruppe zur Erforschung von Volksmusik" (Folklör Inceleme ve Değerlendirme Heyeti), die eine Serie von Forschungsreisen unternahm und die dabei aufgenommenen bzw. transkribierten Volkslieder in großen Sammelbänden herausgab.19 Auch andere Forscher unternahmen in den ersten Jahrzehnten der Türkischen Republik ähnliche Reisen, etwa Sadi Yaver Ataman (1906-1994), der bis 1930 am Konservatorium sowie am Istanbuler TurkologieInstitut studiert hatte oder Vahid Lutfi Salcı.20 Parallel zu diesen reinen Liedersammlungen begann eine Form der Musikforschung, die sich in ihrem Gegenstand und ihrer Methodik von allen osmanischen Vorgängern drastisch unterschied. Zentrales Thema türkischer Musikwissenschaftler wie Mahmud Ragıb Gazimihal (1900-1961) war die Suche nach zentralasiatischen Wurzeln 17 1924 entstand an der Istanbuler Universität unter der Leitung von Köprülüzade Mehmed Fuat (1890-1965), dem späteren Prof. Dr. Mehmed Fuad Köprülü ein "Turkogisches Institut" (Türkiyat Enstitüsü), im Jahr darauf in Ankara ein erstes ethnographisches Museum, im Jahr 1927 die "Gesellschaft für Anatolische Volkskunde" (Anadolu Halk Bilgisi Derneği). Arzu Öztürkmen, Türkiye'de Folklor ve Milliyetçilik, Istanbul 1998; M.Şakir Ülkütaşır (Hrsg.), Türkiye'de Folklor ve Etnografya Çalışmaları, Ankara 1973. 18 Bülent Aksoy, "Is the Question of the Origin of Turkish Music not redundant?", in: Turkish Musical Quarterly, 2, 4 (1989); Süleyman Şenel (Hrsg.), "Béla Bartók'un Türk Halk Müziği Çalışmaları İçindeki Yeri", in: Türkiye'ye Gelişin 60. Yıldönümü Anısına. Béla Bartók Paneli Bildirileri, Istanbul 2000, S. 26-36. 19 Notenausgaben des Konservatoriums: Yurdumuzun Nağmeleri, Istanbul: Anadolu Halk Şarkıları, Istanbul (1926 - 1931); Mahmut Ragıp [Gazimihal], Şarkî Anadolu Türküleri ve Oyunları. Istanbul Konservatuarı Folklôr Hey'eti'nin dördüncü Tetkik Seyahatı Münasebetiyle, Istanbul 1929; Süleyman Şenel (Hrsg.) "Béla Bartók'un Türk Halk Müziği Çalışmaları İçindeki Yeri"; Süleyman Şenel, Trabzon Bölgesi Halk Musıkisine Giriş, Istanbul 1994; Atınç Emnalar, Tüm Yönleriyle Türk Halk Müziği ve Nazariyatı, Izmir 1998, S.40ff. 20 Süleyman Şenel, Sadi Yaver Ataman, Istanbul 1997; Vahid Lutfi Salcı, Gizli Halk Musıkisi, Istanbul 1938. 7 türkischer Musik.21 Die Langhalslaute saz erschien nun als Nachfahre der zentralasiatischen Laute kopuz, die Spießgeige kabak kemane als eine der ähnlich gebauten zentralsiatischen iklığ. Unter Einfluß der sogenannten "SonnensprachTheorie" (güneş dil teorisi), nach der Vorformen der türkischen Sprache eine Ursprache der Menschheit dargestellt haben sollte, suchten die Musikforscher in Anatolien nach Pentatonik, die als vergleichbar fundamentale melodische Grundsubstanz angesehen wurde.22 Vorbild solcher Arbeiten war offenkundig die westliche Volksmusikforschung, Aufsätze türkischer Musikwisenschaftler erschienen nun immer häufiger in westlichen Sprachen und in westlichen Zeitschriften. Mit der Einladung des prominenten Volksliedforscher und Komponisten Béla Bartók in die Türkei 1936 begann eine Verlagerung der Volksliedforschung von Istanbul nach Ankara. Auch Bartók war vor allem an der zentralasiatischen Herkunft anatolischer Musik interessiert sowie an Gemeinsamkeiten mit ungarischer Musik, die er zuvor bereits mit Volksmusik von Tscheremissen / Mari sowie der von Turk-Tartaren der Kazan-Region verglichen hatte. Während seiner kurzen Feldforschung in der Südtürkei (bei Adana) unter Begleitung der Komponisten Ahmad Adnan Saygun, Ulvi Cemal Erkin und Necil Kazım Akses suchte Bartók vor allem bei turkmenischen Yörük-Nomaden nach besonders a r c h a i s c h e r Musik.23 Angeregt durch die Begegnung mit Bartók, der in Ankara drei Vorträge gehalten hatte, entstand 1937 am neu gegründeten Ankaraer Konservatorium unter Leitung von Muzaffer Sarısözen (1899-1963) ein eigenes Volksmusikarchiv. Nach dem Vorbild der Forscher des Istanbuler Konservatoriums unternahmen Sarısözen, teilweise gemeinsam mit Halil Bedii Yönetken (1899-1968), Gazimihal, Cevat Memduh Altar und Mithat Fenmen, zwischen 1937 und 1952 insgesamt neun Feldforschungsreisen, in deren Verlauf gut 10 000 Melodien in Tonaufnahmen gesammelt und teilweise transkribiert wurden.24 In Istanbul wurde die Volksliedforschung erst in den 1950er Jahren wieder intensiviert, Leiter einer Forschungsgruppe am Konservatorium (Folklor Inceleme ve Değerleme Kurulu) war Ataman geworden. 21 Mahmut Ragıp [Gazimihal], "Aperçus préliminaires sur l'origine asiatique de quelques instruments turque", in: Bilten Inst. za prousavanje folklora sarajevo, Sarajevo 1927; Mahmut Ragıp [Gazimihal], Anadolu Türküleri ve Musıki İstikbalımız, Istanbul 1928; Mahmut Ragıp Gazimihal, Asya ve Anadolu Kaynaklerında Iklığ, Ankara 1958; Mahmut Ragıp Gazimihal, Ülkelerde Kopuz ve Tezeneli Sazlarımız, Ankara 1975. 22 Ahmet Adnan Saygun, Türk Halk Mûsıkîsinde Pentatonizm, Istanbul 1936; Ferruh Arsunar, TunceliDersim Halk Türküleri ve Pentatonik, Istanbul 1937. 23 Laszlo Vikár, A. Adnan Saygun, Béla Bartók's Folk Music Research in Turkey, Budapest 1976; Béla Bartók, Turkish Folk Music from Asia Minor, hrsg. von Benjamin Suchoff, Princeton 1976. 24 Necati Gedikli, "Ege Bölgesi Halk Musikisi Çalışmalarına Toplu bir Bakış", in: Bilimselliğin Merceğinde Geleneksel Musıkilerimiz ve Sorunları, hrsg. von Necati Gedikli, Izmir 1999, S. 35 - 50; 8 Seit den 1930er Jahren begann sich die zuvor regional sehr unterschiedliche anatolische Volksmusik allmählich landesweit zu verbreiten, insbesondere gefördert durch den 1939 gegründeten Rundfunksender Ankara. 1947 gründete dort Sarısözen einen eigenen Volksmusikchor namens "Stimmen der Heimat" (Yurttan Sesler), der landesweit berühmt wurde und bald Nachfolger an anderen Rundfunkstationen und später Konservatorien fand.25 Musikalische Basis dieser neuen Volksmusikchöre sowie der parallel mit diesen sich verbreitenden Volkstanzgruppen - waren die Notenausgaben der Volksliedsammler. Insbesondere Sarısözens eigene Sammlungen wurde zum Grundstock des anwachsenden Rundfunkarchivs, das 1967 unter seinem neuen Leiter Gültekin Oransay in die vier Jahre zuvor gegründete staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT übernommen wurde. Hier, in den Notenarchiven des TRT besorgten sich Volksmusiker aus der ganzen Türkei ihre Repertoirekenntnisse, große Kopiesätze gingen von hier an neugegründete Rundfunksender in anderen Großstädte der Türkei sowie ab Ende der 1970er Jahre an die neuen Konservatorien. Volkskunde und Volksliedforschung sind in der Türkei bis heute angesehene und insitutionell gut ausgebaute Forschungsrichtungen und Feldforschung, das persönliche Sammeln (derleme) "authentischer" Volkslieder in einem anatolischen Dorf ist unter türkischen Musikern hoch angesehen.26 Auf den offiziellen Notenausgaben des TRT-Archives ist neben der Herkunftsregion jedes Liedes, der Gewährsperson bzw. dem Komponist/Dichter stets auch der Feldforscher, das Datum der Feldforschung sowie der Transkribient angegeben. Die besondere Praxisnähe solcher Forschung zeigt sich etwa auch darin, dass der Begriff folklor, Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem englischen für "Volkskunde" übernommen, insbesondere für Volksmusikforschung, im heutigen Türkisch zum Synonym für "Volkstanz" geworden ist. Erst in den 1950er Jahren jedoch wurde ernsthaft versucht, türkische Volksmusik durch die Aufnahme in Schulmusikbücher auch in den Städten bekannt zu machen. Dort domminierte zunächst westliche Musik. Süleyman Şenel, Trabzon Bölgesi Halk Musıkisine Giriş; Coşkun Elçi, Muzaffer Sarısözen. Hayatı, Eserleri ve Çalışmaları, Ankara 1997. 25 Niyazi Yılmaz, Türk Halk Müziğinin Kurucu Hocası Muzaffer Sarısözen, Ankara: 1996; Muzaffer Sarısözen, Yurttan Sesler, Ankara: 1952, eine Sammlung mit 86 Stücken, Markoff, Musical Theory, S. 36f.; Süleyman Şenel, Ataman. 26 Zu zeitgenössischen Volksliedforschern der Türkei siehe Atınç Emnalar, Türk Halk Müziği, Izmir 1998, S.747-930. 9 III Auch für die osmanische Kunstmusik und ihre Musiktheorie bewirkte die Gründung eines türkischen Nationalstaates mit seinen neuen ideologischen Rahmenbedingungen erhebliche Veränderungen. Gelangte anatolische Volksmusik ebenso wie die europäische Kunstmusik in der frühen Türkischen Republik unvermittelt in den Genuß staatlicher Protektion, so war traditionelle osmanische Hofmusik im Gegenzug nun massiven nationalistischen Vorwürfen ausgesetzt. Schon früh versuchten Musiktheoretiker daher, derartige Angriffe dadurch zu unterlaufen, dass sie auch diese Musik als Teil nationaler türkischer Kultur darstellten. Wie schon bei Rauf Yekta 1924 ist auch im Titel Ezgis fünfbändigem Kompendium, das ab 1933 erschien, abstelle von osmanischer Musik von t ü r k is c h e r Musik die Rede. 1939/40 veröffentlichte Hüseyin Sâdeddin Arel (1880-1955) eine Folge von Artikeln unter dem Titel "Wem gehört die türkische Musik?" (Türk Musikisi kimindir?27), in denen er die These vertrat, osmanische Kunstmusik sei nicht auf antike, arabische, iranische oder byzantinische Vorläufer zurückzuführen, sondern auf zentralasiatische und alt-anatolische, und damit eben doch Teil des nationalen türkischen Erbes.28 Die ideologisch-historische Debatte um den U r s p r u n g t ü r k i s c h e r M u s i k ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob konkret gerade beispielsweise von einem griechischen Musiker des Osmanischen Hofes die Rede ist, von einem armenischen oder einem ethnisch gesehen türkischen. Auch islamische Musiktheoretiker des Mittelalters wie Al-Farabi oder Safi Al-Din wurden von der kemalistischen Musiktheorie zu Türken erklärt, und die Geschichte türkischer Musik auf 1000 oder sogar 6000 Jahre rückdatiert.29 Arels Standpunkt, türkische Kunst- und Volksmusik entstammten einem gemeinsamen nicht-orientalischen Ursprung wurde zur offiziellen Doktrin.30 Weitreichende Folgen für das Musikdenken ergaben sich weiterhin aus den nationalistischen Sprachreformen der 1920er und 30er Jahre, während derer die arabische Schirft durch die lateinische ersetzt wurde, sowie zahlreiche persische und arabische Wörter und grammatische Formen des Osmanischen durch alt-türkische. Zwischen der osmanischen Musiktheorie und den Schriften der Türkischen Republik entstand ein sprachlicher Bruch, der es heutigen Musikern praktisch unmöglich 27 H.S. Arel, Türk Musikisi Kimindir, Istanbul 1969 (Türk Musikisi Araştırma ve Değerlendirme Komisyonu Yayınları). 28 Yekta dagegen begann seine Darstellung türkischer Musikgeschichte mit Mohammed (Yekta, musique turque, S.2975). 29 Beispielsweise Emin, Bedia und Hakan Ünkan, 1000 Yıllık Türk Sanat Musikisi, Istanbul 1984; Aksoy, the question of origin, S.5f. 30 Aksoy, the question of origin; Ezgi, nazari, Bd.III, S.305. 10 macht, Musikschriften aus dem 19. Jahrhundert oder davor überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Nur wenige osmanische Traktate sind in türkischen Transliterationen oder gar Übersetzungen erschienen (beispielsweise Merağı, Cantemir oder Nâyî Osman Dede). Selbst die Bücher von Ezgi aus den 1930er Jahren erscheinen heutigen türkischen Lesern sprachlich antiquiert und schwer verständlich. Vor allem westliche Musik wird in der Türkei heute mit einer weitgehend französischstämmigen Begrifflichkeit behandelt und auch in orientalischer Musik wurden solche Fremdwörter übernommen (form, teori etc.), die heute parallel zu osmanischen oder türkischen Neologismen verwendet werden. So läßt sich beispielsweise der Wechsel von einem makam zum anderen auf türkisch bezeichnen als "şed" (arabisch-osmanisch), als "transposition" (französisch-türkisch) oder "göçürüm" (neutürkisch). Selbst für "Musik" werden heute nebeneinander die Worte "musiki" (arabisch-osmanisch) und "müzik" (französisch-türkisch) verwendet, Oransay schlug darüber hinaus den alttürkischen Begrif "küg" vor, der sich jedoch nicht durchsetzte. Auch die präzisen osmanischen Intervall- oder Tonbezeichnungen sind heute nicht mehr allgemein bekannt, viele Musiker bevorzugen Ausdrücke wie "fa diyez" oder "si bémol", also französische Tonsilben mit einer unbestimmten Angabe von Erhöhung bzw. Erniedrigung. Das genaue Intervall ergibt sich dann aus dem makam. Schließlich wuchs der Einfluß europäischer Kunstmusik und insbesondere in den 1930er Jahren setzten sich viele Musiker der osmanischen Kunstmusik mit dieser auseinander. Der frühere Hofsänger Münir Nurettin Selçuk etwa ging 1927 für ein Jahr nach Paris, um dort Gesang und Klavier zu lernen.31 In der Türkei wurde er in den 1930er Jahren einer der bekanntesten Vertreter einer neuen, westlich beeinflussten Gesangstechnik, später dirigierte er Chöre. Auch das Klavier wurde in dieser Zeit versuchsweise in Ensembles osmanischer Kunstmusik eingesetzt. Die vereinzelten Versuche, türkische Kunstmusik mit westlichen Techniken zu kombinieren, vor allem mit Mehrstimmigkeit oder durch den Bau von In- strumentenfamilien, führten dagegen insgesamt kaum zu greifbaren Ergebnissen. Parallel zu diesen immer deutlicheren Einwirkungen nationalistischer und proeuropäischer Diskurse bemühten sich eine kleine Gruppe von Musikern und Theoretikern um den Erhalt der offenkundig in ihrer Existenz bedrohten Tradition. Mit den ersten beiden von fünf Bänden Suphi Ezgis 1933 und 1935 begann eine Phase der theoretischen Erfassung und Kodifizierung osmanischer Kunstmusik. Neben 31 Sein Sohn Timur Selçuk (geboren 1945) studierte ebenfalls 1964-69 in Paris Musik, in der Türkei bearbeitete er später Kunstmusik für westliches Kammerensemble. 11 großen Repertoiresammlungen, die beispielsweise das Konservatorium Istanbul nun herausgab, erfuhren in dieser Zeit sowohl das Tonsystem als auch die makam(Modal-) Lehre ihre weitgehend bis heute gültige Ausformulierung und Standartisierung. So hatte die Intonation osmanischer-türkischer Kunstmusik in früheren Zeiten offenbar vielfältige individuelle und stilistische Unterschiede aufgewiesen.32 Bei der Beschreibung dieser Situation waren osmanische Theoretiker und Notationssysteme von 18 bzw. 15 Stufen innerhalb einer Oktave ausgegangen, Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Rauf Yekta Bey und später die Gruppe Arel, Ezgi und Uzdilek ein nicht-temperiertes 24stufiges Tonsystem.33 Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Teilung eines Ganztones (8:9, 204 cent) in neun gleiche Intervalle, sogenannte koma von knapp 23 cent.34 Nur fünf dieser neun Positionen jedoch werden tatsächlich benutzt, sodass sich folgende Intervalle (mit gerundeten cent-Angaben) ergeben: koma (F35) 1 koma (23 cent) bakiye (B) 4 koma (90 cent) küçük mücennep (S) 5 koma (114 cent) büyük mücennep (K) 8 koma (180 cent) tanini (T) 9 koma (204 cent) Neben seiner systematischen Klarheit brachte das System den nun überaus wichtigen Vorteil, dass sich die Kunstmusik mithilfe leicht modifizierter Vorzeichen mit westlicher Notation eindeutig verschriften ließ - insbesondere für Arel eines der wichtigsten Ziele.36 Im Großen und Ganzen scheint das 24stufige System mit der musikalischen Praxis weitgehend übereinzustimmen,37 lediglich in einigen wenigen makam werden Töne außerhalb des Systems verwendet (etwa in uşşak oder sabâ)38, andere theoretisch vorgesehene Töne dagegen treten praktisch nie auf (etwa das ein koma erniedrigte C). Notationszeichen und Tonsystem setzten sich daher schnell durch und wurden in der Türkei zum selbstverständlichen Standard. Dagegen griffen verschiedene spätere Theoretiker das Arel-Ezgi-Uzdilek-Tonsytem 32 Signell, makam, S.44 Yekta, musique turque; Ezgi, nazari (1933-53); Hüseyin Sâdettin Arel, Türk Musikisi Nazariyatı Dersleri, Ankara 1991; S.M.Uzdilek: Ilim ve Musiki ve Türk Musikisi üzerinde Etüdler, Istanbul 1944. 34 Zur theoretischen Herleitung dieses Kommas, dessen Größe angenähert 22,6415 cent beträgt, siehe Erich F.W.Altwein, "Versuch über das "arabische Komma", in Die Musikforschung 1971, S. 432-437. 35 Die hier in Klammern hinzugesetzten Großbuchstaben dienen in türkischen Texten als Abkürzung und sind heute allgemein gebräuchlich. 36 Cem Behar, Review von Y.Tura: Türk Mûsikîsinin Mes'eleleri, in: Turish Musical Quarterly 2, 2-3, 1989, S. 17f. 37 Signells Messungen (makam, S.153-159) bestätigen bei wenigen Ausnahmen diese Theorie. 38 Signell, makam, S.37ff; Oransay, Ilk Elli Yılında, S.1498. 33 12 an. Kann man Oransays Versuch von 1957 noch als Erweiterung des Systems um fünf Stufen betrachten und ebenso die Entwürfe von Gürmeriç, gingen Karadeniz 1965, Zeren 1978 und Tura 1988 darüber hinaus.39 Türkische Musiker gehen denoch heute im allgemeinen von dem 24-stufigen System aus, ziehen aber bei abweichenden Intonationen besonders das 1984 wieder aufgelegte Buch von Karadeniz heran. Eine Neubestimmung des theoretischen Ansatzes, wie sie Tura vorschlug, ist derzeit nicht erkennbar. Parallel zu dieser Entwicklung kam es im Übrigen auch bei den Tonbezeichnungen zu einer Standardisierung. In osmanischer Theorie hatte diese Terminologie mitunter beträchtliche Schwankungen aufgewiesen, die bis in die 1920er Jahre andauerten. Erst Ezgis Tabelle im ersten Band seiner Musiktheorie (1933) zeigt die Namen, wie sie seither unverändert bis heute gebräuchlich sind.40 Schließlich sezte sich auch Ezgis Beschreibung von makam aus dem Jahr 1933 weitgehend durch. Anders als seine Vorgänger ging Ezgi (und nach ihm alle türkischen Theoretiker) bei der Konstruktion von makam-Skalen nicht mehr einzig von Tetrachorden aus. Seine dreizehn Grundskalen setzen sich vielmehr aus sechs Tetra- und Pentachorden zusammen. Jedes Tetrachord konnte dabei durch die einfache Ergänzung eines Tones zu einem gleichnamigen Pentachord erweitert werden. Aus diesen dreizehn Grundmakamen (basıt makam) ergeben sich durch Transpositionen (z.B. acemaşiran = cargâh auf f, mahur = cargâh auf g) und Zusammensetzung aus verschiedenen Makamteilen (birleşik: ferahfeza = buselik auf d + çargâh auf f) weitere makam. Wie schon etwa bei Cantemir tritt bei der Beschreibung einzelner makam zu dieser Skalentypologie die Nennung strukturell wichtiger Tonstufen, melodische Entwicklungstendenzen und mögliche Modulationen in verwandte makam. Die musikalische Form dagegen spielte auch in der Musiktheorie der Republikzeit lediglich eine marginale Rolle. Ezgi entwarf zwar im dritten Band (1938) - erstmals in osmanisch-türkischer Theorie - eine an westliche Vorstellungen angelehnte Terminologie musikalischer Formen, die er in ausführlichen formalen und melodischen Analysen exemplifizierte, sein Ansatzes blieb jedoch ohne Nachfolger. 39 Oransay, "Das Tonsystem der türkei-türkischen Kunstmusik, in Die Musikforschung 1957, S. 250 264; Ekrem Karadeniz, Türk Musikisi Nazariyati, in: Bağlama 1965/66, Nachdruck Istanbul 1984; Die Erweiterung durch Gürmeriç ist nicht publiziert (Signell, makam); M.Ayhan Zeren, Müzikte Ses Sistemleri: Genel Diziler, Ankara 1978; Tura schlägt eine Erweiterung von dem Safi al-Dins vor (Yalçın Tura, Türk Mûsıkîsinin Mes'eleleri, Istanbul 1988). 40 Zur Geschichte dieser Terminologie der Töne siehe Gültekin Oransay, Die melodische Linie und der Begriff Makam vom 15. - 19. Jahrhundert, Ankara 1966, S. 71ff. Greve, Europäisierung orientalischer Kunstmusik, S. 123f.Arel, Türk Mûsıkîsinin Nazari Dersleri, S.1; Ismail Hakkı Özkan, Türk Musikisi Nazariyatı ve Usulleri, Istanbul 1984, S.38; Zeki Yılmaz, Türk Müziği Dersleri, Istanbul 1988, S.30; Emin, Bedia und Hakan Ünkan, 1000 Yıllık Türk Sanat Musikisi, Istanbul 1984, Bd I, S.83f.; Ezgi, Türk Musikisi, Bd.I, S. 20-26. 13 Lediglich der in München musikwissenschaftlich ausgebildete Gültekin Oransay entwarf in seiner Dissertation 1966 ein tiefergehendes Konzept. Er unterschied darin zwischen einem melodischen Kern und Verzierungen durch stehende Floskeln, sowie eine aus dem Kern entwickelte melodische Linie. Auch seine Analysemethodik wurden in der Türkei nicht weiter verfolgt. IV Von Anfang an war der Aufstieg der Volksmusik mit einer starken Tendenz zur Hybridisierung verbunden: Ziya Gökalp, Atatürk und ebenso Hindemith hatten explizit gefordert, türkische Volksmusik mit europäischer Kunstmusik zu verbinden.41 In den 1930er Jahren schrieben die von ihren Auslandsstudien in die Türkei zurückgekehrten westlich orientierten türkischen Komponisten zahlreiche einfache Harmonisierungen von anatolischen Volksliedern, und auch in ihren vom französischen Impressionismus bzw. vom Neoklassizismus beeinflussten Orchesterwerken sind häufig Volksliedmelodien und -rhythmen eingearbeitet. Bekanntester Komponist dieser ersten Generation westlich-türkischer Musik war Ahmet Adnan Saygun, der bereits Bartók auf dessen Feldforschung begleitet hatte. Bis ins hohe Alter schrieb Saygun Artikel, Vorlesungen und Bücher, in denen er die Volksliedforschung weiterführte. Auch später folgten die meisten türkischen Komponisten dieser folkloristischen Ausrichtung.42 Etwa in den 1950er Jahren entwarf Kemal Ilerici (1910-1986) ein Harmoniesystem, dass türkischen Volks- und Kunstmusik mit europäischer Mehrstimmigkeit verbinden sollte.43 Basis des Systems war die Skala des makam hüseyni (dorisch über a mit um eine koma erniedrigter zweiter Stufe), eine Skala, die gerade in der Volksmusik überaus häufig auftritt. Übertragen ließ sich das System aber auch auf andere Skalen und zwar insbesondere auf solche, die Töne außerhalb des temperierten Zwölftonsystems enthält. Innerhalb der Skalen unterschied Ilerici zwischen den stabilen Stufen I, IV und V und allen übrigen, wobei diese Unterscheidung in Akkorden und in melodischer Hinsicht galt. Terminologisch griff Ilerici sowohl auf osmanische Musiktheorie zurück (etwa in dem Begriff makam oder auch durak für die Stufe I) als auch auf europäische Konzepte (insbesondere durch die Begriffe Tonika und 41 Hindemith, Vorschläge, S.102; Cornelia Zimmermann-Kalyoncu, Deutsche Musiker, S. 20-63; Behar, Klasik Türk Musıkisi, S.103. 42 Beispielsweise Okan Demiris (geb. 1942), Muammer Sun (geb. 1932), Bülent Tarcan (1914-1991), Ferid Tüzün (1929-1977), Ilhan Baran (geb. 1934). 43 Kemal Ilerici, Bestecilik Bakımdan Türk Müziği ve Armonisi, Istanbul 1970. Ertuğrul Bayraktar, "An Outline of Kemal Ilerici Harmonic System", in: Ahmet Say (Hrsg.), The Music Makers in Turkey, Ankara 1993, S. 51-54. 14 Dominante). Basis seiner Mehrstimmigkeit jedoch waren Quartschichtungen, außerdem lagen die drei harmonisch wichtigsten Haupstufen jeweil im Terzabstand voneinander entfernt. Der Zusammenklang a-d-e (I-IV-V, bzw die Umkehrung zweier übereinandergeschichteter Quarten) galt Ilerici als entspannt, der Zusammenklang cfis-g dagegen als instabil. Es ergabt sich ein komplexer Kanon von Mehrklängen mitsamt Auflösungs- und Stimmführungsregeln. Insbesondere in den 1970er Jahren beeinflußte Ileric System eine Reihe türkischer Komponisten. Andere türkische Komponisten freilich lehnten seit den 1950er Jahren derartige Synthesen westlicher und anatolischer Musiksprachen ab und setzten sich ausschließlich mit der Neuen Musik Europas und den USA sowie deren Theorien auseinander.44 In den 1950er Jahren entstanden die ersten türkischen Zwölftonkompositionen, später Stücke in aleatorischen Formen (Usmanbaş, Fırat), Klangkompositionen (Usmanbaş, Tanç) und elektronische Musik (Arel, Mimaroğlu).45 Aber auch innerhalb der Volksmusik zeigten sich schon ein wachsender Einfluß europäischer Kunstmusik. Indem nämlich anatolische Volksmusik als türkische Volksmusik gedeutet und staatlich gefördert worden war, hatte sie sich im Rundfunk oder in den "Volkshäuser" (halkevi) genannten Bildungszentren allmählich von früheren sozialen Kontexten gelöst. Aufwendig produzierte Notenausgaben, musikwissenschaftliche Bücher und nicht zuletzt Schallplatten (später Kassetten) vermittelten immer deutlicher das Bild einer eigenständigen Kunstform. Spätestens in den 1940er Jahren war die Ausübung von Volksmusik in der Türkei zu einem angesehenen Beruf geworden, seit den 1970er Jahren boten Konservatorien und private Musikschulen eigene Studiengänge türkischer Volksmusik an. Daneben freilich rückten auch ökonomische Aspekte immer stärker in den Vordergrund. Musikalisch wurde die Volksmusik im Zuge dieser Entwicklung immer anspruchsvoller. Während einfache Volkssänger auf dem Land früher mitunter recht ungenau intoniert, häufig fast rezitiert hatten, stiegen mit der Professionalisierung der Volksmusik bei Instrumentalspiel und Gesang die Anforderungen an die Präzision. So stieg die Langhalslaute bağlama seit etwa den 1960er Jahren vom reinen Begleitinstrument zu einem Soloinstrument mit immer schwierigerer und differenzierterer Spieltechnik auf, für das Musiker wie Ali Ekber Çiçek (geboren 1938) 44 Etwa Ilhan Usmanbaş (geb. 1921), Bülent Arel (1918-1990) und Ilhan Mimaroğlu (geb. 1926), daneben auch Cengiz Tanç (1933-1998), Ertuğrul Oğuz Fırat (geb. 1923) und Ahmet Yürür (geb. 1941). 45 Als das erste Zwölftonwerk eines türkischen Komponisten gilt Cello ve Piano için Müzik No.1 ("Musik Nr. 1 für Cello und Klavier", 1950) von Ilhan Usmanbaş. 15 oder Talip Özkan (geboren 1939) neue, technisch schwierige Spieltechniken entwickelten. Begleitet wurde diese Entwicklung Standartisierung des Instrumentenbaus. von einer Verbesserung und 46 Dabei wuchs auch der Bedarf nach einer Theorie dieser neuen, künstlerisch anspruchsvollen Volksmusik, sowie einer didaktisch sinnvollen allgemeinen Volksmusiklehre, für die ja keinerlei Vorbild bestand. Als die frühen türkischen Volksmusikforscher in den 1920er Jahren Volksmusik wissenschaftlich zu fassen versuchten, griffen sie einerseits auf europäische Musikwissenschaft zurück, andererseits aber auch auf Terminologie und Konzepte der osmanischen Musiktheorie. So beschrieb Gazimihal die anatolische Rhythmik 1929 stets als usul,47 und Ezgi gab im 1938 erschienen dritten Band seiner Theorieabhandlung bei Volksliedern auch stets deren makam an - beides Kategorien osmanisch-türkischer Musiktheorie. Arels These vom t ü r k i s c h e n Ursprung der osmanischen Kunstmusik (1939) untermauerte die Annahme weiter, dass zwischen dieser Musik und anatolischen Volksmusik grundsätzliche Gemeinsamkeiten bestünden. Die Tonsysteme beider Musiksprachen etwa, so heute die gängige Auffassung, seien im Kern identisch. Dabei ist es keineswegs unproblematisch, bei einfacher dörflicher Volksmusik überhaupt von einem Tonsystem zu sprechen. Saubere Intonation spielte dort keine herausgehobene Rolle, von den feinen Differenzierungen und Alterierungen der Kunstmusik finden sich in der anatolischen Volksmusik kaum Spuren, ebenso wenig vom hochdifferenzierte Modalkonzept des makam. In der heute allgemein akzeptierten westlichen Notation der Volksmusik tauchen in der Regel nur zwei mögliche Alterationen auf (entgegen deren fünf in klassischer türkischer Musik), neben dem europäischen b bzw. # jedoch ausgerechnet b² / #² für eine etwas tiefere, um zwei koma versetzte Stufe – beides Tonstufen, die in der klassischen türkischen Musik nicht verwendet werden. Wichtigstes didaktisches Hilfsmittel im praktischen bağlama-Unterricht jedoch sind heute die aus Europa übernommenen Solmisationssilben (do, re, mi, fa, sol, la, si, do) und solfej, das Singen von Tonfolgen auf den entsprechenden Tonsilben, ist fester Bestandteil einer guten Volksmusikausbildung. Selbst wenn Lehrer Noten verteilen oder an eine Tafel 46 Dörfliche Instrumente wiesen oft unsaubere Bundeinteilungen auf, die sich von Region zu Region voneinander unterscheiden konnten, auch die Größe der Instrumente, Saitenzahl und Stimmungen waren keineswegs einheitlich. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Aussehen der Instrumente durch diverse Dekorationen verändert, außderdem dadurch, dass das Halsende mit den Wirbeln abgeknickt wurde, was eine höhere Saitenspannung und somit einen schärferen Klang ermöglicht. Seit den 1960er Jahren gibt es überdies die Variante der E-saz nach Vorbild der E-Gitarre. 47 Mahmut Ragıp [Gazimihal], Şarkî Anadolu Türküleri ve Oyunları. Istanbul Konservatuarı Folklôr Hey'eti'nin dördüncü Tetkik Seyahatı Münasebetiyle, Istanbul 1929. Die vollständige Ausarbeitung dieses Ansatzes findet sich in Muzaffer Sarısözen, Türk Halk Müziği Usulleri, Ankara 1962. 16 schreiben, ziehen es viele bağlama-Schüler vor, sich handschriftlich die Solmisationssilben darüber zu notieren, diese dann möglichst schnell auswendig zu lernen und die Noten anschließend wieder zu ignorieren. Als theoretisches Gegenstück zu makam entstand für anatolische Volksmusik überdies das Konzept ayak (wörtlich "Fuß"), ein Begriff, der aus der Volksdichtung übernommen wurde. Heute werden meist einzelne ayak direkt entsprechenden makam gleichgesetzt.48 Gleichzeitig wurden Konzepte von Transposition und Modulation in der Volksmusik übernommen. Eine technische Neuerung in diesem Zusammenhang ist beispielsweise die Einführung des bağlama-Kapodasters, übernommen von der Gitarre. Noch immer allerdings beklagen viele türkische Volksmusiker das Fehlen einer standardisierten Lehrmethode für türkische Volksmusik. Immerhin sind in den letzen Jahren jedoch für bağlama und ebenso für weitere Instrumente der Volksmusik Lehrbücher zum Selbststudium erschienen, die in der Regel mit einer allgemeinen (Volks-)Musiklehre beginnen.49 Bemühten sich einzelne Volksmusiker daneben auch praktisch um eine Synthese ihrer Musiksprache mit westlicher Mehrstimmigkeit, so entstand in diesem Mischfeld bislang keine theoretische Auseinandersetzung. In fast allen Fällen werden bei solchen Versuchen die Melodien der Volkslieder (mitsamt ihren Texten) unverändert gelassen, ebenso Rhythmik und Form, hinzugefügt wird eine Begleitung in einfacher Harmonik. Insbesondere die Begleitung von Volksliedern durch eine Kombination von saz und Gitarre ist heute unter jüngeren türkischen Volksmusikern in keiner Weise ungewöhnlich. In einigen Fällen wurden solche Ausharmonisierungen auch für große Orchester gesetzt, zuletzt beispielsweise in dem Concertino für drei Bağlama, nach Volksliedern für Orchester bearbeitet von Cengiz Özdemir (Istanbul).50 Bei Betin Güneş's Bearbeitung des berühmten bağlama-Stückes Haydar Haydar von Ali Ekber Çiçek, die im Jahr 2000 in Köln uraufgeführt wurde, handelte es sich dagegen um eine komplexe und höchst anspruchsvolle Kombination des Originalstücks mit Stravinsky-Zitaten und freien thematischen Variationen. 48 So entsprächen etwa müstezat ayağı dem rast makamı, garip ayağı dem hicaz makamı usw. Siehe Atınç Emnalar, Türk Halk Müziği, S. 548ff.; Markoff, Musical Theory, S. 84ff.; Onur Akdoğu, Türk Müziginde Perdeler, Ankara 1994. Auch andere Elemente der Volksmusik werden heute häufig mit solchen der klassischen türkischen Musik parallel gesetzt, neben den Ton-, Modal- und Rhythmussystemen die improvisierten Gattungen taksim und giriş (bzw. açış) oder gazel und uzun hava sowie einzelne Instrumente, etwa die Längsflöte kaval mit der ney. Çinuçen Tanrıkorur, "Türk Halk Mûsikîsi ve Klâsik Türk Mûsikîsi", in: Müzik Kimliğimiz üzerine Düşünceler, Istanbul 1998, S. 6377. 49 Burhan Tarlabaşı: Kaval Metodu, Istanbul 1988; Irfan Kurt, Bağlama Düzen ve Pozisyon, Istanbul 1989; Nevzat Altuğ: Teknik Bağlama Eğitimi, Izmir 1992. 50 Kassette Arif Sağ Trio: Concerto for Bağlama (ASM, 1998). 17 V Je mehr in der Türkischen Republik die Öffentlichkeit an Bedeutung gewann, das islamische Reich sich zu einer Demokratie wandelte, desto stärker verlagerte sich auch das Musikleben von privaten in öffentliche Räume. Spätestens seit etwa Ende der 1940er Jahre, in der Zeit der Demokratisierung der Türkei, wurden die vielfältigen hybriden Formen türkischen Musikdenkens vor allem von öffentlichen Institutionen und Medien getragen. Musiker, Musikliebhaber und Theoretiker schrieben nun für Tageszeitungen oder für neu gegründete spezielle Musikzeitschriften (Musiki Mecmuası ab 1948, Türk Musikisi Dergisi 1947/49, Musiki ve Nota seit 1969 und andere). Insbesondere Hüseyin Sâdettin Arel wurde als Herausgeber und Theoretiker einer der bedeutendsten Figuren des türkischen Musiklebens. In seiner monatlichen Zeitschrift Musiki Mecmuası (Musiksammlung) wurden grundlegende, oftmals polemische pro-kemalistische Artikel sowie große Artikelserien gedruckt. Als zeitweiliges Organ von Arels "Fortschrittlichen Konservatoriums für Türkische Musik" (Ileri TürkMûsikîsi Konservatuvarı) publizierte die Zeitschrift auch Aufsätze und Notenbeilagen zu westlicher Musik; das Titelbild konnte ebenso gut Johann Sebastian Bach zeigen wie Selânikli Udi Ahmet Bey.51 Seit den 1960er Jahren wurde in der Türkei parallel zum gesellschaftlichen Wiederaufstieg des Islam auch das Spannungsverhältnis von Religion und Musik wieder diskutiert52. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts waren erstmals Instrumentallehrbücher für Autodidakten erschienen, ihre Anzahl und musikalische Breite wuchs seither kontinuierlich an.53 Heute liegen darüber hinaus zahlreiche Bücher vor, die die Grundlagen türkischer Musik nebst Listen von makam und usul didaktisch aufbereiten, bis hin zu der Improvisationsanleitung von Onur Akdoğu.54 Eine Reihe von Textanthologien55, biographischen Sammelschriften56 und großen 51 Viele der Artikelserien von Arel erschienen später kopiert oder nachgedruckt als eigenständige Bücher: Türk Musikisi Kimindir?, Istanbul 1939/40, ²1969; Prozodi Dersleri, Istanbul 1950 (Hg.: Murat Bardakçı, Istanbul 1992); Türk Musikisi Nazariyatı Dersleri. 52 Halil Can, Dînî Musiki, Istanbul 1992 (Eine Sammlung von Artikeln aus den Jahren 1963-1973]; M.Sadık Yığıtbaş, Dil, Din ve Musiki, Istanbul 1968; Dr. Ali Kemâl Belviranlı, Mûsikî Rehberi - Dînî Mûsikî, Istanbul 1968; Zekâi Kaplan, Dinî Musikî Dersleri, Ankara 1991 (Millî Eğitim Bakanlığı Yayınları); Ismail Baha Sürelsan, Dini Türk Musikisine Giriş, Ankara 1972. 53 Greve, Europäisierung orientalischer Musik, S. 127. 54 Beispielsweise Türk Sanat Müziği Makamları ve Örnekleri, o.O., o.J.; Yılmaz, Türk Musikisi Dersleri; Arel, Nazariyati Dersleri; Ünkan, Türk Sanat Musikisinde Temel Bilgiler; Karadeniz, Nazariye; Özkan, Nazariyat; Onur Akdoğu, Taksim Nedir Nasıl Yapılır, Izmir 1989. 55 Ahmet Şevket Terzet, Klâsik Türk Musikisi Antolojisi, Istanbul 1975; Avni Anıl/ Bünbey Zakoğlu, Güfteler, Türk Sanat Musikisi Sözlü Eserler, Istanbul 1979; Edhem Ruhi Üngör, Güfteler Antolojisi, Istanbul 1982; Sadun Aksüt, Musikisi Güfteleri, Istanbul 1983; Emin, Bedia und Hakan Ünkan: Türk Sanat Musikisinde Temel Bilgiler, Istanbul 1984. 18 Musikenzyklopädien57 erschloß interessierten türkischen Musikliebhabern das einstmals nur regional oder schichspezifisch zugängliche osmanische Musikleben. Mit dem gewachsenen Interesse an Wissen und Schrifttum über Musik, Musiktheorie und Musikgeschichte entwickelte sich schließlich auch eine kleine Schicht professioneller türkischen Musikwissenschaftler und -journalisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war in der Nachfolge Arels eine neue Generation von Musiktheoretikern aufgetreten, die sich bei allen Polemiken gegeneinander insgesamt westlichen Vorstellung von Musikwisenschaft annäherten. Typisch für zwei Forschergenerationen und ihre unterschiedlichen Ansätze sind die Bücher über Abdülkadır Merağı von Yılmaz Öztuna und Murat Bardakçı58 Während Öztuna als Titelbild ein viele Jahrhunderte nach Merağıs Tod entstandenes Gemälde verwendet, findet sich bei Bardakçı an dieser Stelle das Faksimile aus einer Handschrift dieses mittelalterlichen Theoretikers. Erst diese jüngere Forschergeneration versucht die musikalische Gegenwart und Geschichte aus der distanzierten Perspektive zu beschreiben, die das Idealbild westlicher - internationaler - Musikwissenschaft ist.59 Bei ihnen spielt das ideologische Moment früherer Autoren praktisch keine Rolle mehr. Zentrum des türkischen Musikdenkens blieb Istanbul, sowie an zweiter Stelle Ankara, mit der Berufung Oransays an den neugegründeten Lehrstuhl für Musikwissenschaft in Izmir 1976 entstand dort ein weiteres Zentrum. Ein internationaler Austausch türkischer Musikwissenschaftler jedoch blieb auf wenige Musikwissenschaftler begrenzt, etwa Yılmaz Öztuna, der 1950 bis 1957 in Paris studierte, oder Gültekin Oransay, der 1930 als Sohn deutsch-türkischer Eltern in Berlin geboren wurde, in den 1960er Jahren ein Musikwissenschaftsstudium in 56 Schon Yekta und Ezgi hatten Biographien verfasst (Yekta, Esatiz; Ezgi, Nazari, Bd.IV-V), nun schrieb der Literat Ibnülemin Mahmut Kemal [Inal] (1869-1957) eigenständige biographische Lexika über Vezire, Kaligraphen, Dichter und 1958 über Musiker (Hoş Sada, Istanbul 1958). Innerhalb weniger Jahre erschienen weitere breit angelegter Bücher dieser Art: Mustafa Rona, 50 Yıllık Türk Musikisi, Istanbul 1960; B.S.Ediboğlu, Ünlü Türk Bestekarları, Istanbul 1962; Sadun Kemali Aksüt, 500 Yıllık Türk Musikisi Antolojisi, Istanbul 1967; Yılmaz Öztuna, Türk Bestecileri Ansiklopedisi, Istanbul 1969; Mustafa Rona, 20 Yüzyıl Türk Musikisi, Istanbul 1970; Salâhattin Göktepe, Büyük Müzisyenler Ansiklopedisi, Izmir 1971; Sadun Aksüt, Türk Musikisinin 100 Bestekârları, Istanbul 1993. 57 Vural Sözer, Müzik ve Müsisyenler Ansiklopedisi, Istanbul 1964, ²1986; Yılmaz Öztuna, Türk Musikisi Ansiklopedisi, Ankara, 1969, 1974 und 1976, ² 1990; Ahmed Say, Müzik Ansiklopedesi, Ankara 1985. Das zweibändige Werk von Sözer kombinierte erstmals westliche und östliche Musik; frühere Musiklexika hatten sich auf einen der beiden Bereiche beschränkt (z.B. Kazım Uz, Musiki IstIlahatı,1894, ²1964). Bei Öztuna, einem Schüler Arels, werden aus dem Bereich westlicher Musik lediglich Musikinstrumente behandelt, bei türkischer Musik liegt das Hauptgewicht auf Biographien. Die vierbändige Enzyklopädie von Ahmet Say ähnelt in ihrer Anlage der von Sözer, ist aber aktueller und wesentlich umfangreicher. Schließlich liegen heute diverse Einzelmonographien vor, von denen einige in der Reihe "Große Türken" (Büyük Türkler) des Kulturministeriums erschienen sind. 58 Yılmaz Öztuna, Abdülkaadir Merâği, Ankara 1983 (Kültür ve Turizm Bakanlığı Yayınları); Murat Bardakçı, Meragalı Abdülkadir, Istanbul 1986. 59 Bekannte türkische Musikwissenschaftler sind etwa Cem Behar, Yalçın Tura, Onur Akdoğu, Bülent Aksoy und Çinucen Tanrıkorur. 19 München absolvierte. Seit wenigen Jahren versuchen Universitäten, etwa das staatliche Konservatorium Istanbul eigene Studiengänge Musikethnologie aufzubauen - türkische Volks- oder Kunstmusik ist dort selbstverständlich nicht enthalten. Hatten in osmanischer Zeit einzelne Musiker versucht, ihre Kunst auch theoretisch zu rechtfertigen, so tritt in der Türkei gegenwärtig - ähnlich wie in Europa und Nordamerika etwa in der Alten Musik-Bewegung - auch der umgekehrte Fall auf: Die Personalunion von Musikwissenschaftler und Musiker, wobei die Erkenntnisse der Forschungstätigkeit unmittelbar für die praktische Musik nutzbar gemacht werden. Bemerkenswerterweise findet sich diese Entwicklung sowohl in Kunst- wie der Volksmusik. Bereits Saygun hatte ja Volksmusikforschungen mit kompositorischem Schaffen verbunden, später waren viele führende Volksliedsammler gleichzeitig auch Chorleiter oder bağlama-Solisten tätig. In den 1990er Jahren beispielsweise stießen einige bağlama-Spieler bei südanatolischen Yörük-Nomaden in der Region Fethiye auf die bereits vergessene sogenannten şelpe-Technik der kleinen, drei-saitigen cura (-Laute). Hierbei werden die Saiten nicht mit einem Plektrum angeschlagen, sondern mit den Fingern der rechten Hand, oder die Saiten werden durch ein kräftiges Aufsetzen von Fingern der rechten Hand auf die Saiten am Griffbrett zum Schwingen gebracht.60 Diese dort relativ einfache Grifftechnik gelangte durch Ramazan Güngör an moderne Virtuosen wie Arif Sağ, Erol Parlak oder Erdal Erzincan. Insbesondere Parlak sammelte auf zahlreichen musikwissenschaftlichen Feldforschungen weitere verwandte Techniken, verglich sie mit solchen zentralasiatischer Lauten wie der kopuz und entwickelte sie daneben - hier nun als praktischer Musiker - zu zuvor vollkommen ungeahnter Virtuosität weiter.61 Begleitet wurde diese Entwicklung durch ein Revival von historischen Aufnahmen älterer Volksmusik, insbesondere produziert vom Istanbuler Label ›Kalan‹.62 Noch deutlicher ist das Vorbild der Alten Musik-Bewegung in den jüngsten Versuchen, auch osmanische Hofmusik in historischen Rekonstruktionen aufzuführen. Vorreiter dieser Entwicklung ist die Gruppe Sarband unter der Leitung 60 Ursprünglich entstand sie offenbar zur instrumentalen Imitation eines jodelähnlichen Gesangsstiles, bei dem sich die Sänger mit der Hand auf den Kehlkopf klopfen (boğaz oder kırtlag). Hamit Çine, "Boğaz Havaları ve Üçtelli Bağlama", in: V. Milletlerarası Türk Halk Kültürü Kongresi. Halk Müziği, Oyun Tiyatro, Ankara 1997, S. 100-103; Ursula Reinhard, "Eine alte nomadische Singtechnik in der Türkei und auf dem Balkan und ihre instrumentale Wiederbelebung", in: Doris Stockmann, Jens Henrik Koudal (Hrsg.), Historical Studies on Folk and Traditional Music, Kopenhagen 1997. 61 Erol Parlak, Şelpe Tekniği Metodu 1, Istanbul 2001. 62 Beispielsweise Aufnahmen von Malatyalı Fahri Kayahan, Hisarli Ahmed, Nida Tüfekci und Muharrem Ertaş. 20 des Lautenisten Vladimir Ivanoff.63 Im Bemühen um musikalisch befriedigende Aufführung einstimmiger mittelalterlicher Musik suchte Ivanoff Kontakt zu arabischen, persischen und türkischen Musikern und stieß in München u.a. auf den jungen türkischen ud-Lautenisten Mehmet Yeşilçay. 1986 gründeten Ivanoff und Yeşilçay gemeinsam mit anderen die Gruppe Sarband. Von Anfang an war das Repertoire von Sarband, mit seinen wechselnden Besetzungen interkulturell offen angelegt: In der "Music of the Emperors" (1992) etwa stellte man die Musik vom Hof Friedrichs II. (13.Jh) in Sizilien der des mongolischen Khan Tamerlan (14. Jh) in Samarkand gegenüber – beide in historischer Aufführungspraxis. Vermittelt durch Yeşilçay kamen eine Reihe hochkarätiger Instrumentalisten türkischer Kunstmusik aus Istanbul zu der Gruppe (der ney-Spieler und Sänger Mustafa Doğan Dikmen, der kanun-Spieler Mehmet Ihsan Özer oder Ahmet Kadri Rizeli mit kemençe). Die Platte "Yehudi – Jüdische Komponisten am Osmanischen Hof", inhaltlich die Fortsetzung eines Projektes mit Sefardischer Musik, hätte rein musikalisch gesehen eine Istanbuler Kunstmusikproduktion sein können. In "alla turca" kombinierte Sarband 1999 Rekonstruktionen osmanischer Hofmusik aus europäischen Quellen mit europäischen Immitationen des alla turca-Stiles.64 In Istanbul bemüht sich heute das Ensemble Bezmârâ unter der Leitung von Fikret Karakaya darum, einige nicht mehr praktizierte historische osmanische Instrumente wie çenk (Harfe), kopuz (Langhalslaute), şehrud (Kurzhalslaute) oder mıskal (Panflöte) nach dem Vorbild ikonographischer Quellen zu rekonstruieren, für andere, noch lebendige Instrumente wurden deren historische Spieltechniken wiederbelebt. Das Repertoire der Gruppe besteht aus Kompositionen, die in den wenigen notierten osmanischen Quellen erhalten sind, etwa von Demetrius Cantemir (Ende des 17. Jahrhunderts) oder von Şerif Çelebi (um 1700-1750).65 Angeregt und unterstützt wurde die Gruppe durch das Institut Français d’Études Anatoliennes (Istanbul) sowie durch den amerikanischen Musikwissenschaftler Walter Feldman. --------------------Praktisch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch war das musiktheoretische Denken in der Türkei von der allgemeinen Identitätssuche des Landes geprägt. Die Osmanische Musiktheorie, die sich bereits seit etwa 1700 von älteren, iranisch 63 Ähnliche Versuche finden sich bereits auf der Platte Kecskes Ensemble, Ancient Turkish Music in Europe (Hungaroton, 1984). 64 CD L'Orient Imaginaire: Alla Turca, (Teldec 3984-24573-2) 65 CD Bezmârâ, Yitik Sesin Peşinde (Kalan, 2000); Bezmârâ: Turkey. Splendors of Topkapı (Opus 111, 1999). 21 beeinflußten Vorbildern abgewandt und selbstständig entwickelt hatte, wurde neu belebt und bis in die Gegenwart weitergeführt, geriet dabei jedoch zum einen unter nationalistischen Rechtfertigungsdruck und nahm zum anderen grundlegende Ansätze europäischen Musikdenkens auf. Gleichzeitig wurde nun auch westliche Theorietradition in der Türkei gepflegt, hier jedoch vor allem bemüht um eine Verbindung zwischen europäischer Musik und anatolischer sowie osmanischtürkischer. Ohne direkte historische Vorläufer schließlich begann eine theoretische Auseinandersetzung mit anatolischer Volksmusik, anfangs in Anlehnung an die Volksliedforschung Bartóks, später immer stärker beeinflußt durch die - ihrerseits europäisch beeinflußte - Theorie osmanisch-türkischer Kunstmusik. Zwischen den ursprünglich getrennten Bereichen Kunst- Volks und europäischer Musik ergaben sich dabei vielfältige Vermischungen, musikalisch-praktisch ebenso wie in ihrer theoretischen Reflektion. Insgesamt also hat die Verwestlichung der Türkei keineswegs zu einer Vereinheitlichung oder gar einer kulturellen oder intellektuellen Verarmung geführt. Im Gegenteil: Sowohl die Vielfalt theoretischen Musikdenkens als auch dessen Verbreitung in der Türkei sind heute wesentlich größer als vor etwa hundert Jahren am Ende des Osmanischen Reiches. Diese Vielfalt hybriden Denkens über Musik in der Türkei dürfte exemplarisch sein. Auch in den meisten Ländern außerhalb Europas und Nordamerikas ist westliche Musiktheorie heute präsent - allerdings vor allem als ein Reservoir von Bausteinen, neben dem eben noch viele weitere Baukästen existieren. Die Möglicheiten zur individuellen Kombination scheinen heute beinahe unerschöpflich. 22