BIBLIOTECA DELLA
SOCIETÀ ITALIANA DI GLOTTOLOGIA - 42
TRA SEMANTICA E SINTASSI:
IL RUOLO DELLA LINGUISTICA STORICA
ZWISCHEN SEMANTIK UND SYNTAX:
DIE ROLLE DER HISTORISCHEN
SPRACHWISSENSCHAFT
Atti del Convegno Congiunto | Gemeinsame Arbeitstagung
Società Italiana di Glottologia | Indogermanische Gesellschaft
Testi raccolti a cura di
Paola Cotticelli Kurras e Sabine Ziegler
Verona, 11-14 ottobre 2017
Il volume è stato pubblicato con il contributo Dipartimento di Culture e Civiltà
dell’Università degli Studi di Verona
PROPRIETÀ RISERVATA
©
COPYRIGHT MMXVIII
EDITRICE ‘IL CALAMO’ SNC
www.ilcalamo.it
info@ilcalamo.it
ISBN: 9788898640409
INDICE
Premessa………………………………………………………....
MARINA BENEDETTI, C'è Oggetto e Oggetto: esplorazioni
sintattico-semantiche su ἔχειν ……………………………...
PIER MARCO BERTINETTO, LUCA CIUCCI, Reconstructing ProtoZamucoan. Evidence (mostly) from Verb Inflection ……….
MICHELA CENNAMO, Intransitive Alternations and the
Semantics of Predicates in Latin …………………………...
EYSTEIN DAHL, Experiencer Predicates with Multiple Object
Alternation in Early Vedic …………………………………
GUGLIELMO INGLESE, The Middle Voice and the Encoding of
Reciprocity in Hittite ……………………………………….
AGNES JÄGER, The Syntax-Semantics Interface from a
Diachronic Perspective …………………………………….
DANIEL KÖLLIGAN, From Parenthesis to Particle: the
Grammaticalisation of Speech Act Verbs in Greek and
Latin ………………………………………………………..
VILLE LEPPÄNEN / BENEDIKT PESCHL, Adpositional Phrases in
Indo-European: Aspects of Grammaticalization ……...….. .
ROSEMARIE LÜHR, Stancetaking in der zitierten Rede in
altindogermanischen Sprachen……………………..............
ELISABETTA MAGNI / ROMANO LAZZERONI, Presenti a
raddoppiamento e plurazionalità .........................................
ANDREAS OPFERMANN, Uridg. 3. *⸗kue – eine grundsprachliche
Fokuspartikel ........................................................................
TIZIANA QUADRIO, Desiderativ-jussive Formeln in den
griechischen Liebeszaubern und das Problem von μή +
Impv.Aor. im Griechischen ...................................................
VELIZAR SADOVSKI, Words Outlandish and Presumptuous: Performative Speech Acts in Indo-Iranian Sacred
Jurisprudence between Ritual Formulation, Pragmatic
Application and Political Resemanticization ........................
ONDŘEJ ŠEFČIK, Development of Verbal Reduplication in Vedic .
7
15
27
49
81
99
111
129
143
157
177
191
203
231
259
⸗
1.
DIE DREI URINDOGERMANISCHEN *⸗(S)KUE
Im Lexikon der indogermanischen Partikeln und Pronominalstämme
(LIPP) sind insgesamt drei fast homonyme Lemmata *⸗(s)ku̯e gelistet.2 Im
Folgenden soll nach einem Referat von LIPP II s. vv. der Versuch unternommen werden, das Postfix3 uridg. 3.*⸗ku̯e, das u. a. in lat. quis⸗que ,jeder‘
erscheint, näher zu beleuchten (§2).
1.1. Urindogermanisch 1.*⸗(s)ku̯e ,und‘
Die koordinierend-additive Konjunktion 1.*⸗(s)ku̯e (LIPP II 442, 689–
702) ist in den indogermanischen Sprachzweigen Anatolisch, Indoiranisch,
Griechisch, Phrygisch und Italisch sehr gut belegt, vgl. bspw.4
(1) Hethitisch (KBo XI 14 i 6f.)
ZÍZ-tar šeppit parḫuenaš e an karaš ḫattar zinail⸗ku tiyan
„Dinkel, Weizen, parḫuenaš, Gerste, karaš, Linsen und Kichererbsen werden
gesetzt“
(2) Griechisch (Il. 1,544+)
πατὴρ ἀνδρῶν⸗τε θεῶν⸗τε
„Vater der Menschen und Götter“
Die Konjunktion verbindet in ihrer eigentlichen Verwendungsweise
antonyme und synonyme sowie komplettierende Konzepte zu einer Einheit,
vgl. bspw. Gonda (1954a/b). Dunkel (1982: 138, LIPP II 698 Fn. 29) hält
1
2
3
4
Dieser Aufsatz ist im Rahmen meiner Arbeit am Projekt „Digitales etymologisch-philologisches Wörterbuch der altanatolischen Kleinkorpussprachen“ (eDiAna) entstanden,
das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird (RI 1730/7‑1).
Vgl. dazu auch ausführlich Berenguer Sánchez (2000: 440–483).
Ein Postfix ist ein Wortbildungsmorphem, das nicht vor sondern hinter der Flexions endung erscheint (Haspelmath 1997: 22 Fn. 4), vgl. die free choice-Pronomina lat.
quī⸗vīs, alb. kush⸗do, rum. cine⸗va, span. cual⸗quier(a), ital. qual⸗sivoglia, oss. či⸗fændy.
Die innere Struktur dieser Beispiele kann im Deutschen nachvollzogen werden: Da
kannst du fragen, wen⸗[du〈⸗fragen〉⸗willst]. Jeder wird dir das gleiche sagen. Vgl. zu all
diesen Opfermann (2016: 149–156).
Beispiele aus und Übersetzungen nach LIPP II 694–696.
192
Andreas Opfermann
einerseits die Doppelsetzung der Konjunktion für das Mittel zum Ausdruck
der Komplementarität, andererseits die Konjunktion 1.*⸗(s)ku̯e als solche
für den Marker der konzeptuellen Einheit des Syntagmas. Eine eingehende
Überprüfung dessen kann an dieser Stelle nicht erfolgen, ebensowenig wie
Dunkels Etymologie bewertet werden soll.5
1.2. Urindogermanisch 2.*⸗(s)ku̯e ,wenn; als‘
Die im LIPP (II 442, 702–706) als 2.*⸗(s)ku̯e notierte Konjunktion
wird mit ,wenn; als‘ glossiert und ist im Hethitischen und Vedischen selbstständig belegt, vgl. bspw.6
(3) Vedisch (RV 10,108.3c)
ā́ ⸗ca gáchān mitrám enā dadhāma
„Falls er herkommt, werden wir einen Vertrag mit ihm schließen“
Das Nebeneinander von konditionaler und temporaler Lesart ist durch
den semantischen Entwicklungspfad TEMPORAL > KONDITIONAL leicht zu
erklären. Dunkels Auffassung, die Bedeutung ,wenn‘ sei primär (LIPP II
705f.), ist dementsprechend unwahrscheinlicher, vgl.7
(4) Neuhochdeutsch (Akatsuka 1986: 344 Bsp. 39)
Wenn mein Mann zurückkommt, werde ich fragen.
„When/If my husband comes home, I’ll ask.“
(5) Hethitisch (Kloekhorst 2010)
mān ,wann (aheth.); wenn (jheth.)‘
Ebenso führt gemäß typologischer Erkenntnisse (gegen LIPP II 705f.)
kein spezifischer Weg von einer koordinierend-additiven zu einer konditionalen Konjunktion,8 weswegen Dunkels angeführte Parallelen für ADDITIV
5
6
7
8
Nach Dunkel 2000 (ebenso LIPP II 701f.) sei 1.*⸗(s)ku̯e, älter ⸗sku̯e (vgl. ved. Vok.
Vā́ yav Índra⸗śca „Vāyu und Indra!“, LIPP II 689), auf 3.Sg. Inj. Med. früh‑uridg. *sku̯‑ó
(zu uridg. *seku̯- ,(med.) sich anschließen‘, LIV² 525f.), zurückzuführen. Lautliche Reduktion durch Grammatikalisierung (**sku̯ó → *⸗sku̯e) und Metanalyse im Sandhi
(*‑s⸗sku̯e > *‑s⸗ku̯e) hätten letzlich zu uridg. *⸗ku̯e ,und‘ geführt.
Beispiel aus LIPP II 705. Nach Cabañeros (2016) handelt es sich bei lat. (abs)⸗que nicht
um eine konditionale Konjunktion, sondern lediglich um komplementierendes ⸗que „,en
cuanto a‘, ,por otra parte‘“ (ibid. 678).
Vgl. außerdem Wackernagel 1940 und bspw. Reilly 1986.
Die vier Grammatikalisierungsbasen für CONDITIONAL sind COPULA, S‑QUESTION, SAY,
TEMPORAL, vgl. Heine/Kuteva (2002: 329) und zu den einzelnen Grammatikalisierungspfaden ibid. 94f., 249, 265, 293.
Uridg. 3.*⸗k e – eine grundsprachliche Fokuspartikel
193
> KONDITIONAL9 noch einer ausführlichen Untersuchung unterzogen werden müssten.10
Da die Fortsetzer von uridg. 2.*⸗(s)ku̯e nicht ausschließlich konditional
sind (vgl. Hettrich 1988: 256–260 für das Vedische), wäre theoretisch auch
der allgemeinere Grammatikalisierungspfad VP‑AND > SUBORDINATOR
(Heine/Kuteva 2002: 43f.) zu erwägen. Dagegen spricht aber, dass die
postulierte Quelle 1.*⸗(s)ku̯e ,und‘ prototypisch bei beiden koordinierten
Konstituenten oder gar nur der letzten steht – vgl. Bspp. (1), (2) – und
somit die Reihenfolge [Apodosis]–[Protasis]⸗(s)ku̯e prädestiniert wäre.11
Zum einen jedoch findet sich in den Sprachen der Welt vorwiegend die
umgekehrte Reihenfolge, der Subordinator ,wenn‘ also im ersten Satz und
nicht im zweiten.12 Zum anderen „[wurden] durch das idg. *qe nicht Sätze,
sondern Wörter mit einander in Beziehung gesetzt“ (Delbrück 1897: 513),
da die Fortsetzer von 1.*⸗(s)ku̯e ,und‘ eher NP‑AND als VP‑AND aufweisen.13
Diese Probleme begegnen nicht, wenn eine etymologische Trennung
von 1.*⸗(s)ku̯e ,und‘ und 2.*⸗(s)ku̯e ,wenn‘ sowie Anschluss von 2.*⸗(s)ku̯e
(besser: 2.*⸗ku̯e) an den Pronominalstamm *ku̯ó/í- (LIPP II 452–479)
erwogen wird, vgl. bspw. heth. mān ,wann; wenn‘ ← uridg. Pron. *mo(LIPP II 518–523). Dass 2.*⸗ku̯e ,wenn‘ dann auf dem Indefinitum aufbaut,
lässt sich durch die regelmäßige Stellung nach dem ersten betonten Satzglied (Wackernagelposition) begründen.14 Grosso modo kämen schließlich
zwei Kasusformen für 2.*⸗ku̯e ,wenn‘ in Frage:
9
10
11
12
13
14
Vgl. schon Dunkel 1982/83: 183, 2008: 409.
Eines dieser Beispiele ist uridg. 2.*⸗h2o ,dabei, und‘ (LIPP II 334–345) neben 3.*h2o
,wenn‘ (ibid. 346–349). An anderer Stelle (ibid. 345, 349) wird von Dunkel aber
angenommen, dass nicht das eine vom anderen abgeleitet ist, sondern beide lediglich
dieselbe Basis haben. Überhaupt steht 3.*h2o ,wenn; wie‘ auf tönernen Füßen, denn
„[d]ie Fortsetzer von idg. 3.*h2o kommen nirgends mehr als freie Form vor“ (ibid. 346).
Vgl. bereits Delbrück (1888: 472–475) und Hettrich (1988: 260), der statistische Gründe
anbringt.
Vgl. zur Typologie Comrie (1986: 83–86, 87f.) und zum Vedischen Hettrich (1988:
255). Patri (2003: 280f., 298f.) weist darauf hin, dass 2.*⸗ku̯e ,wenn‘ stets, 1.*⸗(s)ku̯e
‚und‘ aber nie im Phrasenkopf steht, deutet die beiden Verwendungsweisen als positionsabhängig und uridg. *⸗ku̯e als Topikalisierungspartikel. — Die Reihenfolge [Protasis]⸗ku̯e–[Apodosis] kann auch bei den wenigen Beispielen von konditionalem ⸗(k)ku
im Hethitischen (hierzu Berenguer Sánchez 2000: 477 Fn. 82) beobachtet werden, vgl.
bspw. KUB XXXIII 24 i 43–45. Heth. takku ,wenn‘ (HEG A–K 600–602) sollte als
Univerbierung vorerst nicht miteinbezogen werden.
Vgl. auch LIPP II 699f. und für den altavestischen Ahunavaiti Gāθā d’Amato (2015: 6),
der bei den Fällen phrasaler Konjunktion durch av. ⸗ca das Verhältnis von 49 NPs : 4
VPs zählt.
Vgl. ebenso plausibel Berenguer Sánchez (2000: 477), der von Parataxe und einer
modalen Partikel ausgeht: „en cierto modo/de algún modo/en algún momento > even tualmente“.
194
Andreas Opfermann
(6) Lok. Sg. *ku̯e ,(irgend‑)wo‘ > ,(irgend‑)wann‘ > ,wenn‘
Instr. Sg. *ku̯e‑h1 ,(irgend‑)wie‘ > ,(irgend‑)wann‘ > *⸗ku̯e ,wenn‘15
1.3. Urindogermanisch 3.*⸗ku̯e ,jedes Mal, immer; (wer, was, wie
usw.) auch immer‘
Im Gegensatz zu 1./2.*⸗(s)ku̯e wird im LIPP II 442–446 uridg. 3.*⸗ku̯e
ohne ursprünglich anlautendes *s- rekonstruiert. Daher sei diese Partikel
nach Dunkel etymologisch nicht mit den beiden Konjunktionen zu verbinden, sondern mit dem Pronominalstamm *ku̯ó/í‑. Der Instr. Sg. *ku̯e‑h1
,irgendwie‘ des tonlosen Indefinitums *ku̯o/i- habe über (nach Dunkel
unerklärten) Laryngalverlust zu uridg. 3.*⸗ku̯e geführt.
Am prominentesten ist diese Partikel als Postfix im Pronomen uridg.
„*ku̯ó/í‑ ku̯e belebt, generalisierend ,wer auch immer‘; (distributiv) ,jeder‘“
(LIPP II 442–444) belegt, wozu Dunkel uriir. *(Hi̯ ás) kás/ćís⸗ća, gr. hom.
„??τίς τε“, urit. „*ku̯ó/í- ku̯e“, got. f. ƕoh etc. und arm. ok‘ zählt. Das
schwierige sog. „epische τε“ des Griechischen deutet Dunkel als den einzigen selbstständigen Reflex der besprochenen Partikel.
2.
URINDOGERMANISCH * KUO/I‑⸗KUE ,JEDER‘
Um dem Wesen der Partikel uridg. 3.*⸗ku̯e auf die Spur zu kommen,
sollen im Folgenden lat. quis⸗que ,jeder‘, got. ƕaz⸗uh ,id.‘ und arm. ok‘
,any‘ beleuchtet werden. Unberücksichtigt bleibt diejenige Evidenz, die
entweder niederfrequent und spät (uriir. *kas⸗ča, jav., ?JUB 1.57.2,
BhP+),16 mehrdeutig (gr. τίς[⸗]τε?) oder phonologisch (heth. kuiš⸗ki, lyk. A
ti⸗ke)17 bzw. philologisch unklar (gr. „episches τε“, myk. ⸗qe) ist.
2.1. Armenisch o⸗k‘
(7) m./f. Nom./Akk. o⸗k‘ etc. < vorurarm. *ku̯o‑⸗ku̯e mit Interr/RelPron arm. o
(8) nt. Nom./Akk. i⸗k‘* etc. < vorurarm. *ku̯i‑⸗ku̯e mit Interr/RelPron arm. (z‑)i (vgl.
Dat./Lok. Sg. i‑m)18
15
16
17
18
Hier müsste sekundäre Kürzung (*⸗ku̯eh1 > *⸗ku̯ē → *⸗ku̯ĕ) oder Laryngalverlust (*ku̯eh1
→ *ku̯e) angenommen werden, wie es Dunkel (LIPP I 90) auch für 3.*⸗ku̯e (← *⸗ku̯eh1)
postuliert, aber nicht erklären kann. Phonetische Erosion durch Enklise wäre m. E. eine
Möglichkeit.
Vgl. zum Altindischen AiGr III 571 §259γ.
Vgl. LIPP II 400 mit Fn. 10, 343 mit Fn. 43 und Sideltsev/Yakubovich 2016.
Vgl. zu den armenischen Pronomina Schmitt (2007: 123–126).
Uridg. 3.*⸗k e – eine grundsprachliche Fokuspartikel
195
Die Bedeutung des Indefinitums arm. ok‘ wird in der Literatur unterschiedlich angegeben.19 Eine kursorische Durchsicht des armenischen Johannesevangeliums und der Geschichte der Armenier (Buzandaran Patmut‘iwnk‘) ergab, dass arm. ok‘ in diesen klassisch-armenischen Texten weitestgehend engl. any(⸗one) entspricht. Die wichtigsten mikro-semantischen
Kategorien sind:20
(9) direct negation [DN]
oč‘/mi ok‘ ,οὐδείς, keiner, not anyone, nobody‘ (vgl. Joh 1,18, Buz. 3,7 et
passim)
(10) conditional antecedent [CA]
(e)t‘e ok‘ ,ἐάν τις, wenn einer, if anyone‘ (vgl. Joh 6,51, Buz. 3,5 et passim)
(11) universal free choice [UFC]
ok‘ or ,πᾶς ὁ (… ποιῶν), jeder, der, anyone, who‘ (vgl. Joh 19,12 [hapax], Buz.
4,4 et passim)
Jeweils einmal im Johannesevangelium konnten folgende Kategorien
identifiziert werden:
(12) free choice [FC]
mi ok‘ ,ἕνα, einen beliebigen, someone‘ (Joh 18,39)
(13) generic [GEN]
ayl ok‘ ,ἄλλος, ein anderer, another‘ (Joh 5,7)
2.2. Gotisch ƕaz⸗uh
(14) Nom. Sg. m. ƕaz⸗uh etc. < vorurgerm. *ku̯o‑⸗ku̯e mit Interr/Rel/IndPron got. m.
ƕas etc.21
19
20
21
Vgl. ,irgendwer‘ (LIPP II 444), ,irgend jemand‘ (Schmitt 2007: 125f., Matzinger 2005:
10), ,someone‘ (Olsen 1999: 782), ,someone, a person‘ (EDAIL 522f.), ,anyone‘ (Godel
1975: 108), ,a certain (person)‘ (Sterling 2004: 29).
Zur Zuordnung zu den mikro-semantischen Kategorien von Indefinita vgl. Opfermann
(2016: 159–184 und 2017 mit Verw.). Nichtsdestoweniger müsste eine große Anzahl
armenischer Belege genauer untersucht werden, um abschließende Klarheit über die
Semantik von arm. ok‘ zu erlangen.
Daneben stehen Nom. Sg. m. ƕarjiz⸗uh etc. ,jeder‘ und eine oder zwei Formen von
ƕaϸar⸗uh* ,beide‘ (Dat. Sg. m. ain‑ƕaϸarammeh, Lat 5750, Skeir. 3.5 und wahrscheinlich auch ƕaϸaramme(h), E ƕaϸaramma, Skeir. 5.22), vgl. Streitberg (1910: 62, 63). —
Zu den gotischen Pronomina vgl. bspw. Krahe (1949: 98f., 101).
196
Andreas Opfermann
Meist steht im griechischen Paralleltext πᾶς ,jeder‘, vgl. Streitberg
(1910: 69). Auch die Univerbierungen sa⸗[ƕaz⸗uh] und ϸis⸗[ƕaz⸗uh],
ὅσ[⸗τις] ἔαν etc. ,jeder, der, wer auch immer‘ (vgl. Streitberg 1910: 113)
stützen diese Deutung. Die Verwendungsweise universal free choice [UFC]
ist also hier dominant.
2.3. Lateinisch quis⸗que etc.
(15) Nom. Sg. m. quis⸗que etc. (Plaut.+) < vorurital. *ku̯o/i‑⸗ku̯e mit Interr/Rel/IndPron lat. m. quis etc.22
Für die vorchristliche Periode des Lateinischen lassen sich insgesamt
fünf verschiedene Verwendungsweisen von lat. quis⸗que feststellen,
nämlich anti-additive [AA], conditional antecedent [CA], comparative [CO],
generic [GEN] und universal free choice [UFC]. Letztere Kategorie ist der
semantische Prototyp des lateinischen Pronomens und am häufigsten
belegt.23
2.4. Die erste Konstituente uridg. *ku̯o/i‑(⸗ku̯e)
Man könnte aufgrund der Schnittmenge der synchron zugrunde
liegenden Pronomina (arm. Interr/RelPron o, got. Interr/IndPron ƕas, lat.
Interr/Rel/IndPron quis) annehmen, dass die erste Konstituente von uridg.
*ku̯o/i‑⸗ku̯e das Interrogativum fortsetzt. Da aber lat. quis⸗que syntagmatisch
auf die Wackernagelposition fixiert ist,24 kann vermutet werden, dass nicht
nur quis⸗que, sondern auch das zugrunde liegende Simplex quis unbetont
war und daher als Indefinitum identifiziert werden muss.25 In diesem Fall
22
23
24
25
Daneben stehen uter⸗que ,beide‘ (Plaut.+) sowie Adverbien wie undi⸗que ,von jeder
Seite‘ (Plaut.+) und das Postfix ⸗[cum⸗que] ,⸗[auch⸗immer]‘ (Plaut.+) (< *ku̯om⸗ku̯e ,auf
jede Weise, anyhow‘). — Lat. us⸗que quā⸗que ,überall‘ (Plaut.+) dagegen ist als
Kompletivkollokation *„woher und wohin“ mit additivem ⸗que zu erklären (vgl.
Opfermann 2016: 262–265); quandō⸗que ,(und) wenn‘ (Lex XII+) zeigt ebenfalls
additives ⸗que, das (homophone) indefinite Relativum quandō⸗que ,wann auch immer‘
wurde sekundär im 1. Jh. v. Chr. (Cic.+) neugebildet. Daher ist umbr. panupei ,jedes
Mal, immer‘ (IgT VIIb 1, WOU 512f.) trotz etwaiger lautlicher Identität nicht
gleichzusetzen; dēni⸗que ,am Ende, zuletzt‘ (Plaut.+) ist etymologisch schwierig (non
liquet: EDLIL 160f.) und entspricht außerdem nicht dem Muster der anderen hier zu vergleichenden Lexeme.
Vgl. hierzu ausführlich Opfermann 2017.
Vgl. bspw. KS II.1 644–648 §119.6 und Bortolussi (2013).
Bereits für die Grundsprache muss bekanntlich rekonstruiert werden, dass der Prono minalstamm *ku̯o/i- indefinit ist wenn unbetont und interrogativ (oder auch relativ) wenn
betont, vgl. LIPP II 452.
Uridg. 3.*⸗k e – eine grundsprachliche Fokuspartikel
197
wäre das neue Indefinitum *ku̯o/i‑⸗ku̯e ,jeder‘ mithilfe des Postfixes 3.*⸗ku̯e
aus einem Indefinitpronomen *ku̯o/i- ,irgendein‘ gebildet.26
2.5. Quellen von free choice-Indefinita
Wie aus §§2.1–3 hervorgeht, kann uridg. *ku̯o/i‑⸗ku̯e als universal free
choice-Indefinitum rekonstruiert werden.27 Es muss daher nun aus den
verschiedenen bekannten Quellen von free choice-Indefinita die wahrscheinlichste ausgewählt werden. Beim Gros der von Haspelmath (1997)
untersuchten Fälle dieser Pronomina liegen ursprüngliche Relativsätze vor:
(16) Indefinita des want/pleases-Typs (Haspelmath 1997: 133–135)
lat. quid⸗vīs ← quid 〈facere〉 vīs „was du 〈tun〉 willst“ (vgl. Opfermann 2016:
141–185)28
lat. quid⸗libet ← quid 〈tibi facere〉 libet „was 〈dir zu tun〉 beliebt“
→ unspezifische freie Relativsätze
(17) Indefinita des it may be-Typs (Haspelmath 1997: 135–140)
und der no matter-Typ (ibid. 140f.)
kannada yaar⸗[aad⸗ar⸗uu] ← wer.es.sei.auch
nhd. gleich⸗wér ← 〈Es ist mir〉 gleich, wer …
→ konzessiv-konditionale Relativsätze
Es muss hierbei also i. d. R. mit einer Ellipse gerechnet werden bzw.
es sollte andernfalls mindestens ein Prädikat in der Univerbierung zu
identifizieren sein. Letzteres ist bei uridg. *ku̯o/i‑⸗ku̯e nicht möglich und
ersteres dann nicht anzuraten, wenn sich eine andere, elegantere Lösung
findet. Es können free choice-Indefinita nämlich auch aus syntaktisch
weniger komplexen Ausgangskonstruktionen entstehen. In diesen Fällen
werden bereits existierende Indefinita mit einer (skalaren) Fokuspartikel
,auch, sogar, wenigstens‘ versehen:
(18) Indefinita ohne komplexe Ausgangskonstruktion (Haspelmath
1997: 157–164)
Hindi/Urdu koii⸗bhii < jemand.auch/sogar
ndl. [ook⸗maar]⸗iemand < [sogar/wenigstens].jemand
26
27
28
Dieses ist im Armenischen nicht direkt fortgesetzt, sondern durch die rezente Bildung
arm. o⸗mn ,irgendein‘ etc. ersetzt, vgl. LIPP II 521 und 520 Fn. 6, ratlos ist Schmitt
(2007: 125).
Im Lateinischen und Armenischen ist eine sekundäre Funktionserweiterung zu beobachten.
Weitere Bspp. oben in Fn. 3.
198
Andreas Opfermann
Begründet werden kann dieser Mechanismus damit, „that free-choice
indefinites must be understood as denoting the low point on a pragmatic
scale [which is] precisley the function of scalar focus particles: expressing
an extreme point on some scale“ (Haspelmath 1997: 164). Diese Skalarität
lässt sich sehr gut veranschaulichen (ibid. 116f.):
(19) Superlativ: Mein Onkel kann das leiseste Geräusch hören.
≈ Fokuspartikel + Superlativ: Mein Onkel kann sogar das leiseste Geräusch hören.
= universal free choice-Indefinitum: Mein Onkel kann jedes Geräusch hören.
Es ist also – anders als im Falle von (16) und (17) – nicht nötig, uridg.
*ku̯o/i- hier als Relativpronomen zu interpretieren, sondern als Indefinitum.29 Mit Blick auf die Typologie kann also uridg. *ku̯o/i‑⸗ku̯e durchaus auf
eine Kollokation aus Indefinitpronomen *ku̯o/i‑ und (skalarer) Fokuspartikel 3.*(⸗)ku̯e zurückgeführt werden.
2.6. Uridg. 3.*(⸗)ku̯e als Fokuspartikel?
Im Hethitischen ist der Fortsetzer von uridg. 3.*(⸗)ku̯e in verschiedenen Univerbierungen als heth. ⸗(k)ku30 belegt und kann in heth. apii̯ a⸗(k)ku
als Fokuspartikel gedeutet werden:
(20) heth. apii̯ a ,dann, damals; dort(hin)‘ vs.
heth. apii̯ a⸗(k)ku ,erst dann; eben dort, erst da‘31
Außerdem erscheint heth. ⸗(k)ku als Konstituente der komplexen Negation ne⸗(k)ku in rhetorischen Affirmativfragen:32
29
30
31
32
Vgl. die Beobachtung, die oben bzgl. lat. quis⸗que gemacht wurde, dass nämlich der
ersten Konstituente ein Indefinitum zugrunde liegen kann.
Vgl. bspw. HEG A–K 598: „Adverbialpartikel mit verstärkender Funktion“.
Vgl. HW² A 183f., 184f. Ibid. wird als Bedeutung lediglich ,dort; dann; dabei‘
angegeben, wobei es in den drei zitierten Beispielen einerseits mit Bezug auf eine
vorausgehende lokale/temporale Einordnung durch kuu̯api(t) ,wo(hin); wann‘ bzw. INA
É.GALLÌ ,im Palast‘ steht. Andererseits ist die Übersetzung mit Adverb und Fokuspartikel
(,erst dann‘ bzw. ,eben dort, erst da‘) treffender. — Auch kluw. ⸗kuwa ist eher (konsekutiv-adversative) Fokuspartikel („in turn“) als koordinierende Konjunktion (Simon i. Dr.,
eDiAna), vgl. ähnlich auch manche Belege von lyk. B ⸗ke(⸗pe) und pal. ⸗ku (Sasseville p.
c., eDiAna).
In dieser Funktion ist es eher mit (a)lat. ⸗ne (vgl. hierzu Hackstein 2018) zu vergleichen
als mit phonologisch identischem lat. neque ,(und) nicht‘ (so bspw. EDHIL 601f.), vgl.
OLD² 1288f., bes. [1].
Uridg. 3.*⸗k e – eine grundsprachliche Fokuspartikel
199
(21) KUB XXXVI 75 ii 13–14
ūk⸗za ne⸗ku DINGIR‑IA tuk kuit i [(anu)]n nu kuit u̯aštāḫḫun
„Habe ich dich etwa nicht irgendwie verehrt, mein Gott (Antwort: Doch.); was
habe ich gesündigt?“33
Das Simplex heth. imma (: imma⸗(k)ku ,gerade eben, erst jetzt‘) und
auch uridg. 2.*⸗ku̯id (LIPP II 448–451) erweisen sich schließlich als starke
Parallelen für uridg. 3.*⸗ku̯e:
Fokuspartikel
(enklitisch)
rhet. Affirmativfragen (+ NEG)34
[UFC]‑Indefinita
(+ *ku̯o/i‑)
uridg. 3.*⸗ku̯e
heth. apii̯ a⸗(k)ku
(HW² A 184f.)
heth. ne⸗(k)ku
(CHD L–N 432f.)35
uridg. *ku̯o/i‑⸗ku̯e
heth. ⸗imma
uridg. 2.*⸗ku̯id
(HW² I 48f. [1.2])
natta⸗imma
(HW² I 49f. [3])36
kuiš⸗imma kuiš
(HW² I 50 [4])
(LIPP II 451)
gr. οὐκ(ί)
(LSJ 1267 [A.II.12])
uridg. *ku̯o/i‑⸗ku̯id
(LIPP II 450)
Nach Ausweis der Typologie (§2.5), der hethitischen Evidenz sowie
der beiden Komparanda heth. ⸗imma und uridg. 2.*⸗ku̯id (§2.6) ist es nun
wahrscheinlich, dass es sich bei uridg. 3.*⸗ku̯e um eine grundsprachliche
Fokuspartikel handelte.37
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34
35
36
37
Anders Eichner (1971: 31f.) und CHD L–N 432f.: „I haven’t done something against
you, my god, have I, or sinned in some way, have I?“). Heth. i̯ e/a‑zi ,tun, machen‘ mit
göttlichem Objekt bedeutet nicht ,etw. (feindlich) gegen jmd. tun‘, sondern ,verehren‘
(HW² I 13 [I.3.2]). Zum dativus incommodi, der in unserem Beispiel nicht vorliegen
kann, vgl. Hoffner/Melchert 2008: 258f. („in the vast majority of occurrences a ,local‘
particle […] occurs“, ibid. 258). Es ergibt sich durch die Bedeutung ,verehren‘ also eine
positive Kernproposition, weswegen „die Frage […] die Negation des erwarteten
Sachverhalts infrage[stellt]“ (Hackstein 2018: 68). Ein weiteres wichtiges Beispiel für
heth. ne⸗(k)ku ist KUB XXIV 8 ii 16–18, das stets zu recht als Reihe rhetorischer
Affirmativfragen verstanden wird, vgl. Hoffner/Melchert 2008: 346.
Neben raising der Negation (vgl. Hackstein 2016) kann auch eine Fokuspartikel an der
Negation eine rhetorische Affirmativfrage induzieren.
Vgl. Hoffner/Melchert 2008: 345f.
Vgl. Hoffner/Melchert 2008: 342f.
Angedeutet wird diese Lösung bereits bei Delbrück (1897: 512). In welchem genauen
Verhältnis schließlich uridg. 3.*⸗ku̯e und 1.*⸗(s)ku̯e ,und‘ – diese beiden Funktionen
erfüllt bspw. jap. ⸗mo, vgl. Goldstein (2019: 13 mit Lit.) – aber auch 2.*⸗ku̯e ,wenn‘
zueinander stehen, muss an anderer Stelle geklärt werden.
200
Andreas Opfermann
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