Unter Grund
Editorial
«It is a dark, a colorless, a tasteless, a perfumeless, as well as a shapeless world:
the leaden landscape of perpetual winter.»1 Mit diesen düsteren Worten beschreibt der Soziologe und Technikphilosoph Lewis Mumford das menschenfeindliche Terrain des Bergwerks. Während Felder, Wiesen, Wälder und Flüsse
eine Umwelt des Lebendigen und Fruchtbaren repräsentierten, sei der Untergrund ein Ort des Unbelebten und Mechanischen. Nur mithilfe von künstlicher
Beleuchtung, Belüftungs- und Hebemaschinen sei es dem Menschen möglich, in
die Tiefen vorzudringen, um Bodenschätze an die Oberfläche zu holen. Mumfords Untergrund ist ein von Dunkelheit umschlossener Raum, der zwar Reichtümer birgt, aber auch Tod bringt. Bergarbeiter*innen lebten denn auch in ständiger Furcht und Gefahr. Bei Mumford avanciert das Bergwerk zur Metapher
für eine vollständig technisierte Umwelt. Freilich steht dieser Raum niemals
für sich allein, sondern ist durch horizontale Stollen und vertikale Schächte, die
Belüftung und Transport von Personen und Materialien gewährleisten, mit der
Oberfläche verbunden. Die Praktiken und Auswirkungen des Bergbaus bleiben
deshalb auch nicht auf den subterranen Bereich beschränkt. Sie verändern Landschaften auch an der Erdoberfläche, haben Einfluss auf die Körper und die Lebenswelt der mit dem Bergbau verbundenen Arbeiter*innen und beeinflussen mit
den abgebauten Rohstoffen Wirtschaftskreisläufe und Technik.
In Mumfords Charakterisierung des Bergwerks spiegelt sich eine Leitdifferenz
des westlichen Denkens: «Unten» ist das Dunkle, das Böse, das Niedrige, das
Wüste, Unheimliche und Bedrohliche; «oben» ist das Licht, das Gute, das Hohe,
das Schöne, das Wahre, Geistige und Erhabene. Diese normative Differenz, die
sich religiös als Dualismus Gott versus Teufel, Himmel versus Hölle artikuliert, durchdringt symbolische Ordnungen und dominante narrative Strukturen
der westlichen Kultur.2 Die Erzählungen der antiken Mythologie wie etwa der
Gang von Orpheus oder Aeneas in die Unterwelt, die Ikonografie des Jüngsten
Gerichts seit dem Mittelalter sowie die zahlreichen Visualisierungen der Divina
Commedia von Dante Alighieri seit der Renaissance oder die naturalistischen
Beschreibungen der entsetzlichen Arbeitsbedingungen unter Tage in Émile Zolas
Germinal legen beredtes Zeugnis davon ab. Dabei kann die eine Sphäre nicht
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ohne die andere existieren. Je deutlicher «oben» und «unten» voneinander geschieden erscheinen, desto notwendiger bedarf es des jeweiligen Gegenstücks,
damit dieser Gegensatz überhaupt gedacht werden kann.
Dass «oben» und «unten» zwangsläufig zusammengehören, ist der Ausgangspunkt dieses Themenhefts. Die hier versammelten Beiträge erproben die Perspektive einer vertikalen Verflechtungsgeschichte zwischen den Sphären über
und unter der Erdoberfläche. Inwiefern haben Projektionen von und Praktiken an
der Oberfläche zum Verständnis und zur Handhabung des Untergrunds beigetragen? Was hat andererseits der Untergrund, seine materiellen Eigenschaften und
das, was auf ihn projiziert wird, an der Oberfläche bewirkt? Und wo lassen sich
Phänomene überhaupt nur dann verstehen, wenn ihnen in die «Höhe» und die
«Tiefe» nachgegangen wird?
Der Untergrund weckt aktuell vielerlei Begehrlichkeiten. Manchen gilt er als
letzte frontier und zentrale Ressource des 21. Jahrhunderts, die es für die eigenen
Zwecke zu erforschen und nutzbar zu machen gilt.3 So soll der Untergrund unsere Zukunft nicht nur dank mineralischer Rohstoffe, Wasser und Energie sichern,
sondern auch Raum für die Tiefenspeicherung von Abfall, für Transportprojekte,
Forschungsinfrastrukturen und neue Sicherheits- und Datenräume bereitstellen.
Aus Platzmangel in der Horizontalen sollen Städte nicht nur immer weiter in die
Höhe, sondern auch planmässig in die Tiefe wachsen.4 Auch Verkehrsinfrastrukturen im Untergrund sorgen mit immer monumentaleren Bauprojekten für Aufsehen. 2016 avancierte etwa die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels, des längsten Eisenbahntunnels der Welt, zum medienwirksam gefeierten Grossereignis.
Allerdings wird auch die Kritik an der fortschreitenden Kommodifizierung des
Untergrunds und der dort lagernden Ressourcen immer lauter, von der Besetzung des Hambacher Forstes 2018, um gegen den Kohleabbau zu demonstrieren,
bis zu den transnationalen Protesten gegen das Fracking oder den Bergbauhandel, wie ihn in der Schweiz etwa der multinationale Konzern Glencore betreibt.5
Nicht zuletzt gewinnt der Untergrund innerhalb der Debatte um das «Anthropozän» als neues Erdzeitalter an Bedeutung. Diese neue Ära in der Geschichte unseres Planeten soll den inzwischen irreversiblen Spuren der menschlichen Existenz
Rechnung tragen, die sich letztendlich auch in die Tiefenschichten des Planeten
eingraben werden.6 Der Untergrund hat also derzeit Konjunktur in Öffentlichkeit,
Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der subterranen Sphäre ist freilich kein neues Phänomen, im Gegenteil. Volkskunde, Religionsgeschichte, Literatur und Kunstgeschichte haben sich mit dem Untergrund als Sitz von Geistern
und Göttern oder des Jenseits beziehungsweise des Reichs der Toten intensiv
auseinandergesetzt. Ganze wissenschaftliche Disziplinen – von der Archäologie
bis zur Geologie – widmen sich dem Bereich unter der Erdoberfläche. Jedoch
Asmussen, Berger Ziauddin, Elsig, Hoenig: Editorial
begegnen viele dieser wissenschaftlichen Perspektiven und Disziplinen dem
unterirdischen Raum als einem vergangenen, fremden, lebensfeindlichen oder
exotischen Raum: als «Anderes», das sich dem Menschen entzieht und deshalb
Eroberungs- und Beherrschungsfantasien anregen kann.7
In der Geografie und den Urban Studies wiederum blieb der Blick der Forschung
lange Zeit auf die Horizontale beziehungsweise auf Raumkonfigurationen auf
der Erdoberfläche konzentriert. Auch die globalhistorisch ausgerichteten Studien zu Zirkulation, Transfer oder Verflechtung sind mehrheitlich einer flächigen
Konzeption von Raum verhaftet.8 Jüngst rücken allerdings auch die vertikale
Raumachse und volumetrische Perspektiven in den Vordergrund. So haben Studien zu vertikal stratifizierten Metropolen,9 zu besetzten Gebieten und überwachten Lufträumen10 ebenso wie dem Fliessraum des Meeres11 auf einen Wandel im
Verständnis dieser Räumlichkeiten hingewiesen. In aktuellen geopolitischen Studien, die sich dem «vertical» oder «volumetric turn» verschrieben haben,12 werden Räume und Territorien in dreidimensionalen Konfigurationen gedacht.13 Gebiete wie etwa die Westbank sind nach Ayel Weizman nur in ihrer ausgeprägten
Dreidimensionalität zu erfassen, mit Luftraum, Drohnen, Hügelspitzen, Zäunen,
Gelände, Tunnels und Grundgesteinen. Deutlich wird dabei, dass es eine ausgeprägte Reziprozität zwischen «oben» und «unten» gibt: Die Netzwerke, Infrastrukturen sowie die gebaute und physikalische Umwelt auf, ober- und unterhalb
der Erdoberfläche sind aufeinander bezogen.14
Im Anschluss an diese Forschung steht bei unserer Beschäftigung mit dem Untergrund nicht die blosse Betrachtung dessen im Vordergrund, was sich unter der
Erdoberfläche ereignete, oder die Frage, wie sich Menschen die unterirdische
Sphäre vorstellten und deuteten. Ausgehend von der These, dass sich die Sphären
unter und über Grund gegenseitig bedingen, stellen die hier versammelten Beiträge die diachrone und synchrone Vielfalt menschlicher Imaginationen und Nutzungen des Untergrunds als vertikale Verflechtungsgeschichte ins Zentrum. Die
Aufsätze umfassen unterschiedliche Zeiten und untersuchen verschiedene Gegenstände mit je eigener Methodik. Sie erschliessen die Wechselwirkungen zwischen «oben» und «unten» zwischen dem 16. und 21. Jahrhundert in der Schweiz,
Deutschland und den USA und wenden Instrumentarien der Umwelt-, Wirtschafts-, Wissens- und Infrastrukturgeschichte sowie literaturwissenschaftliche
Methoden an. Durch ihre Analyse gesellschaftlicher Strukturen, Praktiken und
Wahrnehmungen in und auf der Vertikalen leisten sie einen Beitrag zur Dezentrierung etablierter Narrative und Perspektiven. Die Aufsätze lassen sich schwerpunktmässig drei thematischen Bereichen zuordnen: 1. der Erschliessung und Visualisierung von Ressourcen/Bodenschätzen, 2. den städtischen Infrastrukturen
sowie 3. dem Untergrund als Imaginations- und Identifikationsraum.
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Erschliessung, Visualisierung und Nutzung von Ressourcen
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Der Untergrund birgt eine Vielzahl von Stoffen, die der Mensch als Bodenschätze wertschätzt und ausbeutet. Was als wertvolle Ressource gilt, bedarf der
gesellschaftlichen Aushandlung und kann sich dementsprechend ändern. Gerade der Blick auf das durch verschiedene Studien prognostizierte postfossile
Zeitalter macht dies deutlich, in dem die Menschheit ohne die Treibstoffe der
industriellen Revolution – Kohle und Öl – wird auskommen müssen. Zugleich
haben andere Rohstoffe wie etwa das zur Herstellung von Akkus für Elektrofahrzeuge benötigte Lithium Konjunktur. Auch die «Energiewende» bringt in
ihrem Bestreben, die CO2-Emissionen in die Atmosphäre zu reduzieren, grosse
unterirdische Umwälzungen mit sich, insbesondere bei der Förderung seltener Erdvorkommen.15 Neben den Imaginationen, Begehrlichkeiten und Wertzuschreibungen, die Stoffe aus dem Untergrund auf sich ziehen, entstehen auch
die materiellen Strukturen, die der Abbau von Bodenschätzen erfordert, aus dem
Wechselspiel zwischen «oben» und «unten». Dass es lohnend ist, den Fokus
genau auf solche Relationen zu richten, zeigen die in diesem Heft versammelten Fallstudien zum Bergbau in der Frühen Neuzeit, zu geologischen Kartierungsprojekten im 19. Jahrhundert und den Debatten um den Atommüll in den
1980er-Jahren.
Franziska Neumanns Artikel über die Praxis der Kodierung der unterirdischen
Welt im Erzgebirge des 16. Jahrhunderts durch Karten adressiert Fragen der
Macht und Kontrolle über die Ressourcen, in diesem Fall die Erzvorkommen.
Der montanwirtschaftliche Raum wurde niemals nur über die naturräumlichen
Bedingungen und geologischen Besonderheiten des unterirdischen Raums definiert, sondern, wie Neumann argumentiert, durch administrative Praktiken und
mit ihnen verbundene Papiertechniken des Aufschreibens, Berechnens und Darstellens. Der physisch-materielle Raum war somit nur eine Dimension eines weit
vielschichtigeren vertikalen Herrschafts-, Wirtschafts- und Rechtsraums.
Auch Felix Freys Beitrag zur Kartierung des geologischen Untergrunds in der
Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts macht deutlich, dass keineswegs von einer klaren Trennlinie zwischen «oben» und «unten» ausgegangen
werden darf. Um die 21 Blätter der 1894 fertiggestellten Geologischen Karte
der Schweiz herzustellen, waren die Mitglieder der Geologischen Kommission
massgeblich auf Oberflächenkarten (topografische Karten) und geognostische
Wanderungen im Terrain angewiesen. Wie Frey eindrücklich zeigen kann, ermöglichte die Evidenz der Oberfläche zwar das Studium des Untergrunds, präfigurierte und begrenzte aber auch den Erkenntnisrahmen und die empirischen
Grenzen des Unternehmens.
Asmussen, Berger Ziauddin, Elsig, Hoenig: Editorial
Historische wie auch zeitgenössische Diskussionen über Bodenschätze und die
Nutzung von Ressourcen im Untergrund tangieren immer auch Fragen nach Eigentum und Souveränität. Im römischen Recht ist der Eigentümer einer oberirdischen Parzelle auch der Eigentümer des entsprechenden unterirdischen Teils,
theoretisch bis zum Mittelpunkt der Erde. Diese Rechtsprechung nimmt jedoch
Bodenschätze aus. Diese stellen ein Gemeingut dar, das eine nachhaltige Bewirtschaftung durch die Allgemeinheit verlangt. In der Schweiz reicht gemäss Zivilgesetzbuch das Grundeigentum nicht bis zum Erdmittelpunkt hinunter, sondern
nur so weit, als der Grundeigentümer ein schutzwürdiges Interesse an der Ausübung seiner Nutzungsrechte hat.16 Was sich unterhalb des Grundeigentums befindet, gilt als «öffentlicher Untergrund» und dessen Nutzungsrechte bestimmen
sich nach kantonalem öffentlichem Recht. Im Untergrund treffen also Privatrecht
und öffentliches Recht aufeinander, wobei diese Grenze nicht fix ist, sondern
sich abhängig von technischen Entwicklungen, von den gesetzlichen und raumplanerischen Rahmenbedingungen sowie von den Bedürfnissen des Grundeigentümers stetig verändert.17
Romed Aschwandens Artikel zeigt die Konflikte um die Nutzung des Untergrundes im Kanton Uri, wo ein Projekt zur Vergrabung nuklearer Abfälle in den
1980er-Jahren für erbitterte Kontroversen zwischen dem Staat und der Umweltbewegung sorgte. Die Bedürfnisse der nationalen Wirtschaft stimmten nicht mit
denen der lokalen Gemeinschaften überein. Den Akteur*innen vor Ort gelang es,
Wissen zu mobilisieren, welches das von der Nationalen Genossenschaft für die
Lagerung nuklearer Abfälle (NAGRA) verkündete risikominimierende Wissen
infrage stellte. Das Thema der Atommüllentsorgung in Tiefenlagern ist für den
Kanton Uri inzwischen nicht mehr aktuell. Andere Gemeinden beschäftigt es allerdings weiterhin. Die Schweiz hat sich verpflichtet, auf ihrem Territorium die
fast ewigen Abfälle (wir sprechen von 100 000 Jahren) zu entsorgen. Aschwandens Artikel regt somit an, über unterschiedliche Zeitlichkeiten zu reflektieren –
etwa über die Lebensdauer von Uran und von Menschen – und die Quasiirreversibilität technischer und politischer Entscheidungen zu akzentuieren. Ähnlich
wie die Debatten um das Anthropozän zwingt uns auch die Problematik des
Atommülls, über das Verhältnis zwischen geologischer Zeit und menschlicher
Geschichte nachzudenken.
Infrastrukturen und Stadtgeschichte
Spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wachsen die modernen Metropolen massiv nach unten. Mit einer Mischung aus Verzückung und Widerwillen registrierten Zeitgenoss*innen um 1900 das grosse Buddeln und Verlegen
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von Leitungen, Kabeln und Röhren. So wurden in Paris oder London zu jener
Zeit umfassende Infrastrukturen geschaffen oder ausgebaut, die bis heute den
städtischen Alltag prägen, ja erst ermöglichen: Kanalisation, Wasserversorgung,
U-Bahnen, Telefonleitungen, Eisenbahntunnels und Rohrpostsysteme. Immer
mehr begann der Untergrund zur Lebensader der networked city der industriellen Ära zu werden. Heute sind Nutzungskonflikte im städtischen Kontext besonders akut, da der Untergrund von einer kaum mehr zu überblickenden Vielzahl
von Infrastrukturen (Waren-, Energie- und Personenverkehr, Kommunikationswege usw.) durchdrungen ist, die eine koordinierte und nachhaltige Raumplanung erfordern.18
Jan Hansen nimmt in seinem Artikel die Infrastruktur einer überaus dynamischen und um 1900 rasant wachsenden Stadt in den Blick: Los Angeles. Auch
wenn die kalifornische Metropole aus der Vogelperspektive als flächige Stadt par
excellence erscheint, ist sie doch nicht denkbar ohne ihre vertikalen Infrastrukturen. Hansen belegt, dass sich die ungezügelte Ausbreitung der Stadt in der Fläche
auch auf den Untergrund auswirkte, und zwar durch den Bedarf an Wasser- und
Energieinfrastrukturen für jede einzelne Wohnung. Beispielhaft für die Verflechtung von «oben» und «unten» rückt er in Anlehnung an den Ansatz eines «volumetrischen Urbanismus» den Hausanschluss in den Blick. Dieser markiert die
physische Verbindung der Horizontalität der Stadtfläche mit dem Untergrund
und unterstreicht aufgrund seiner Verschränkung von Nutzer*innen, Finanzströmen, Bodenrechten, Kodifizierungen und materiellen Artefakten den dreidimensionalen Netzwerkcharakter des urbanen Raumes.
Die Entwicklung der städtischen Infrastruktur steht auch im Mittelpunkt von Rachele Delucchis Analyse, die sich den Anfängen der Rohrpost in drei Schweizer
Städten widmet. Die Rohrpost begreift sie als mehrfach grenzüberschreitende Infrastruktur des Alltags, die sich nicht nur des städtischen Untergrunds bediente,
um oberirdische Dienstleistungen zu beschleunigen. Auch verband sie Innenund Aussenräume und schloss die Lücke zwischen Fern- und Nahtransport. In
diese Technologie wurde in Zürich, Lausanne und Genf grosse Hoffnungen gesetzt, um das allgemein steigende Verkehrs- und Nachrichtenaufkommen, aber
auch ganz spezifische lokale Bedürfnisse dieser Städte schneller und effizienter
zu bedienen. Wenn die Rohrpost in der Schweiz auch eine «Nischenangelegenheit» blieb, wie Delucchi schreibt, gelang es ihr doch immer wieder, Brüche und
Engpässe in der Informationsinfrastruktur zu überbrücken.
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Asmussen, Berger Ziauddin, Elsig, Hoenig: Editorial
Identitäten und Imaginationen
Vertikalität spielt nicht zuletzt auch mit Blick auf das kollektive Selbstverständnis
und das Geschichtsbild eines Gebirgslandes wie der Schweiz eine zentrale Rolle.
An wohl keinem Ort lässt sich die identitäts- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung der «dritten Dimension»19 für das Land so deutlich zeigen wie am Gotthard – und zwar sowohl mit Blick nach oben, auf Pass und hohe Gipfel, als auch
nach unten, in das Innere des gewaltigen Gebirgsmassivs. Der Untergrund ist deshalb nie bloss als ein Raum natürlicher Ressourcen und monumentaler Infrastrukturen zu verstehen, sondern immer auch als Nährboden der Imagination.
Bereits im 16. Jahrhundert wurde der Gotthard als Festung, Grenzwall oder gar
als irdisches Jerusalem gedeutet.20 Im Zeitalter der Nationalstaaten verdichteten
sich die Deutungen zu einem Mythos Gotthard. So wurde er im 19. Jahrhundert
wahlweise als Herz der Schweiz, als hydrografisches Zentrum, Alpentransversale, Hort urschweizerischer und christlicher Werte oder als Lokus der Beständigkeit und Sicherheit inthronisiert. Die gewaltigen, unterirdischen Militäranlagen als Teil des im Zweiten Weltkrieg gebauten «Reduits» unterstreichen die
identitäts- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des Gotthards als Symbol
und Artefakt des Widerstands und der Wehrhaftigkeit der Schweiz.21
Der Beitrag von Andreas Bäumler belegt anhand der Analyse der Schriften von
Leonard Ragaz und Gonzague de Reynold die symbolische Wirkmächtigkeit des
Gotthardmassivs. Die beiden Intellektuellen entwickelten in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts widersprüchliche literarische Vorstellungen vom Platz der
Schweiz in der Welt und von ihrer Beziehung zu Alpeninnenräumen. Beide Autoren gehen davon aus, dass die geologischen Tiefenschichten eines Landes
dessen «Seele» bestimmen würden, und zwar auf naturalistische Weise. Beim
christlichen Sozialisten Ragaz freilich werden die Alpen als Quelle des Republikanismus und des Internationalismus installiert, während der reaktionäre Katholik de Reynold das Gotthardmassiv mit seinen geopoetischen Kerbungen
zum Schauplatz eines in sich geschlossenen Imperiums erhebt, das mit einem
Machtanspruch auf das ganze christliche Abendland verbunden war. Wie Bäumler differenziert darlegt, hatten die beiden Schriften ein unterschiedliches Schicksal: Während Ragaz’ progressive Visionen für die Schweizer Öffentlichkeit zu
radikal waren, materialisierte sich de Reynolds literarische Fiktion während des
Zweiten Weltkriegs in der Reduitstrategie und fand Eingang in die Geistige Landesverteidigung.
Auch bei Felix Freys Beitrag wird sichtbar, dass das Projekt der geologischen
Karte an nationalstaatliche Interessen und kollektive Wahrnehmungsmuster gekoppelt war, die letztlich für das Selbstverständnis der Schweiz essentiell sein
sollten. So avancierte das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewon-
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nene geologische Wissen zur wichtigen Ressource für den Bau des GotthardEisenbahntunnels und half mit, Infrastrukturprojekte im nationalen Imaginationsraum zu verankern.22
Was gewinnen wir mit einem Blick auf die zwangsläufige Interdependenz von
«oben» und «unten»? Zum einen ermöglicht eine vertikale Verflechtungsgeschichte, wie wir anhand der drei Themenbereiche skizziert haben, etablierte
Forschungsfelder wie etwa die Bergbau-, Stadt- und Geologiegeschichte zu erweitern und bereits bekannte Untersuchungsgegenstände neu zu justieren. Zum
anderen erlaubt ein Blick auf die Verschränkung von «oben» und «unten», neue
Zusammenhänge in Zeit und Raum zu schaffen. Das betrifft insbesondere die
bereits angesprochene Reflexion über unterschiedliche Zeitlichkeiten: Bezieht
man den Untergrund in die historischen Überlegungen mit ein, verbinden sich
wie bei der Ausschachtung eines Bergwerks menschliche Zeitmassstäbe mit geologischen Zeitaltern. Auf der einen Seite steht der zeitliche Horizont von Finanzierung und Grabung, von Bergmannsgenerationen und Handelsketten, in denen
die abgebauten Stoffe zirkulieren. Auf der anderen Seite impliziert der Vorstoss
in die Tiefe auch das Durchdringen geologischer Schichten, die von einer ganz
anderen Zeitskala, der Erdgeschichte, berichten und die durch menschliches Urteil wiederum in wertvolle Rohstoffe und ökonomisch wertlose Sedimente geschieden werden. Mit Blick auf räumliche Konfigurationen werden die gewohnten Distanzverhältnisse obsolet, die einer horizontalen Raumwahrnehmung und
-deutung inhärent sind: Bereits wenige Dutzende Zentimeter unter den Strassen
und Häusern beginnt der dunkle und schwer durchdringbare Unterbau der Städte.
Die Sphäre unter Grund, in die der Mensch bisher vorgedrungen ist, beträgt einige Kilometer und entspräche übertragen auf die Horizontale nur dem Weg bis
ins nächste Dorf. Bereits in geringer Distanz entzieht sich der Untergrund damit
dem menschlichen Zugriff. Umso erhellender sind volumetrische Zugänge, die
auf die Diskrepanzen der menschlichen Weltaneignung in der Horizontalen und
der Vertikalen hinweisen.
Eine weitere Dimension, für die die Verbindung von «oben» und «unten» in historischer Betrachtung neue Perspektiven eröffnen kann, betrifft die Rückbindung, sozusagen die «Erdung», unserer zunehmend digitalen Gesellschaft. Zwar
scheinen Informations- und Wirtschaftsflüsse immer stärker entgrenzt, je mehr
sie sich von traditionellen materiellen Trägern entkoppeln und in vermeintlich
rein virtuellen Räumen stattfinden. Doch auch unsere Gesellschaft ist im materiellen Untergrund verankert: Denn Datenübertragungen werden häufig angetrieben von fossiler Energie und Bodenschätzen, die im Untergrund gebunden liegen.23 Serverfarmen werden in der Sicherheit und Kühle unterirdischer Stollen
eingerichtet; im Gotthardmassiv werden sensible Daten und Kryptowährungen
durch Beton und Alpengranit geschützt. Daten basieren somit auch im Zeitalter
Asmussen, Berger Ziauddin, Elsig, Hoenig: Editorial
digitaler, schwebender und scheinbar ortloser «clouds» auf einer materiellen Matrix,24 die aufgrund ihrer oft unterirdischen Lokalisierung meist unsichtbar bleibt.
Wie dieses traverse-Heft zeigt, vermag eine vertikale Verflechtungsgeschichte
nicht nur für komplexe Interdependenzverhältnisse zu sensibilisieren, sondern
auch herkömmliche Wahrnehmungsmuster zu dynamisieren, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart.
Tina Asmussen, Silvia Berger Ziauddin, Alexandre Elsig, Bianca Hoenig
Anmerkungen
1 Lewis Mumford, Technics and Civilization, London 1934, 70.
2 Hartmut Böhme, «Topographien des ‹unüberschaubaren, seelischen Höhlensystems›», in Dagmar Kift, Eckhard Schinkel, Stefan Berger, Hanneliese Palm (Hg.), Bergbaukulturen in interdisziplinärer Perspektive. Diskurse und Imagination, Essen 2018, 187–198, hier 188; Rosalind
Williams, Notes on the Underground. An Essay on Technology, Society, and the Imagination.
New edition. Cambridge 2008 (1990). Jüngst zum «Oben» als Denkraum Susanne Schregel,
Nicoletta Asciuto, Nina Engelhardt (Hg.), Above – Degrees of Elevation (Sonderausgabe von
Space and Culture), online 5. 3. 2020, DOI: 1206331219896985.
3 Schweizerischer Nationalfonds (Hg.), Wilder Westen im Untergrund? Ansturm auf neue Ressourcen (Horizonte. Das Schweizer Forschungsmagazin 118), September 2018; Themenheft
«Im Untergrund», Hochparterre, Januar 2019; Godofredo Pereira, «The Underground Frontier», continent 4/4 (2015), 4–11.
4 Silvia Berger Ziauddin, «Unten ist das neue Oben», etü. HistorikerInnen-Zeitschrift, Herbstsemester 2016, 12–15, hier 14.
5 Tamara Seger, Milos Milicevic, «One Global Movement, Many Local Voices. Discourse(s) of
the Global Anti-Fracking Movement», in Liam Leonard, Sya Buryn Kedzior (Hg.), Occupy the
Earth. Global Environmental Movements, Bingley 2014, 1–35; Déclaration de Berne, Swiss
Trading SA. La Suisse, le négoce et la malédiction des matières premières, Lausanne 2011.
6 Will Steffen, Paul Crutzen, John McNeill, «The Anthropocene. Are Humans Now Overwhelming the Great Forces of Nature?», Ambio 36 (2007), 614–621. Zur Bedeutung des Anthropozänkonzepts für die Geschichtsschreibung Dipesh Chakrabarty, «The Climate of History. Four
Theses», Critical Inquiry 35 (2009), 197–222; Christophe Bonneuil, Jean-Baptiste Fressoz,
L’événement Anthropocène. La Terre, l’histoire et nous, Paris 2013.
7 Weiterführend zur Kritik an der Forschung zum Untergrund als Raum des «Anderen» Paul
Dobraszczyk, Carlos López Galviz, Bradley L. Garrett (Hg.), Global Undergrounds. Exploring
Cities Within, London 2016.
8 Zur Kritik an der planaren Perspektive innerhalb der Kolonialgeschichte siehe Heidi Scott,
«Colonialism, Landscape and the Subterranean», Geography Compass 2/6 (2008), 1853–1869.
9 Steven Graham, Vertical. The City from Satellites to Bunkers, Brooklyn 2016; Steven Graham,
Lucy Hewitt, «Getting off the ground: On the politics of urban verticality», Progress in Human
Geography 37 (2013), 72–92.
10 Stuart Elden, «Secure the volume: Vertical geopolitics and the depth of power», Political Geography 34 (2013), 35–51; Peter Adey, Aerial Life. Spaces, Mobilities, Affects, Malden, MA
2010.
11 Vgl. «Wet matter», Harvard Design Magazine 49 (2014).
12 Der Begriff «vertical turn» wurde von Stephen Graham und Lucy Hewitt geprägt. Vgl. dies.
(wie Anm. 9).
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13 Bruce Braun, «Producing vertical territory. Geology and governmentality in late Victorian Canada», Cultural Geographies 7 (2010), 7–46; Rachael Squire, Klaus Dodds, «Introduction to
the Special Issue: Subterranean Geopolitics», Geopolitics 25/1 (2020), 4–16.
14 Eyal Weizman, Hollow Land. Israel’s Architecture of Occupation, London 2012.
15 Diese Prozesse bleiben bei der Entwicklung sogenannter grüner Energien noch wenig sichtbar.
Soraya Boudia, «Quand une crise en cache une autre: la ‹crise des terres rares› entre géopolitique, finance et dégâts environnementaux», Critique internationale 85 (2019), 85–103.
16 Vgl. Leonie Dörig, «Wer darf den Untergrund nutzen?», Vortrag Ringvorlesung Vertikal. Interdisziplinäre Perspektiven auf die Tiefen und Höhen der Schweiz, Universität Bern, 23. 3. 2020.
17 Ebd.
18 Zu den aktuellen Debatten über die subterrane Raumplanung in der Schweiz vgl. Gabriela Neuhaus, «Platznot im Untergrund», Hochparterre, 20. 2. 2019, www.hochparterre.ch/nachrichten/
planung-staedtebau/blog/post/detail/platznot-im-untergrund/1550690918 (17. 4. 2020).
19 Vgl. den Titel des Buches von Jon Mathieu, Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit, Basel 2011.
20 Guy P. Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006, bes. 463–473.
21 Boris Previšić (Hg.), Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur, Baden
2016.
22 Zur nationalen Identitätskonstruktion im Kontext des Baus des Gotthard-Eisenbahntunnels vgl.
auch Judith Schueler, Materialising Identity. The Co-Construction of the Gottard Railway and
Swiss National Identity, Amsterdam 2009.
23 Alexander Klose, Benjamin Steininger, «Im Bann der Fossilen Vernunft», Merkur 72/835
(2018), 5–16; Guillaume Carnino, Clément Marquet, «Les datacenters enfoncent le cloud. Enjeux politiques et impacts environnementaux d’internet», Zilsel 3 (2018), 19–62.
24 Vgl. auch Monika Dommann, Hannes Rickli, Max Stadler (Hg.), Data Centers. Edges of a
Wired Nation, Zürich 2020.
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