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Bullshit

2020, Working Paper 2/2020

Bullshit Warum es hilfreich sein kann, manchmal nicht auf den Punkt zu kommen Stefan Kühl Working Paper 2/2020 Das Spielen von Bullshit-Bingo hat sich zu einer Strategie von Mitarbeitern entwickelt, Sitzungen mit allzu vielen Plattitüden ihrer Vorgesetzen zu überleben. Vor Beginn eines Meetings erstellt man eine Liste mit den gerade in der Organisation besonders populären Begriffen und ordnet Sie in einem 5 x 5 Schemata an – Wertschätzung, Synergie, Proaktiv, Mindset, Nachhaltigkeit, Innovation, Integrität, Exzellenz, Effektivität, Disruption und Agilität werden vermutlich häufig zu den Favoriten gehören. Immer, wenn in der Sitzung einer dieser Begriffe fällt, streicht man diesen weg. Wer zuerst horizontal, vertikal oder diagonal fünf Worte in einer Reihe durchgestrichen hat, ruft laut (oder vielleicht auch besser leise) Bingo und hat gewonnen. Die Erfindung des Bullshit-Bingos ist nur ein Indiz dafür, dass das „Bullshiten“ in Organisation zuzunehmen scheint. Inzwischen kursieren in Unternehmen Listen von „Bullshit-Jobs“ – also von Tätigkeiten, von denen die Mitarbeiter im Stillen glauben, dass sie eigentlich unnötig sind. In Beratungsfirmen, Investmentbanken oder PR-Agenturen wird auf der Hinterbühne diskutiert, mit welchem „Bullshit“ man Kunden überzeugen kann.1 Um Missverständnissen vorzubeugen: Bei Bullshit handelt es sich nicht um Lügen, sondern um eine Form des Redens, mit der vom eigentlich Relevanten abgelenkt werden soll. Wenn jemand in Bullshit-Buzzwords kommuniziert, geht es ihm oder ihr nicht um die Verdrehung der Wahrheit; die Beiträge sind einfach nur völlig frei von jedem Bezug zur Realität.2 Es gibt verschiedene Wege, um „Bullshit“ zu produzieren. Eine Möglichkeit besteht darin, nur Worte zu verwenden, deren Bedeutung schwer zu greifen ist. Wertformulierungen wie Innovation, Nachhaltigkeit oder Diversität lassen genug Interpretationsspielraum, damit sich alle Anwesenden darunter das vorstellen können, was sie wollen. Eine andere Option besteht 1 2 David Graeber: Bullshit Jobs. A Theory. London 2018. Dazu einschlägig und lesenswert Harry G. Frankfurt: On Bullshit. Princeton 2005. darin, Redebeiträge mit einer Vielzahl solcher Wertformulierungen derart zu „überladen“, dass es unmöglich wird, festzulegen, welches Ideal im Zweifelsfall das wichtige(re) ist. Eine andere Alternative besteht darin, dynamisch zwischen den Werten hin und her zu wechseln. Je schneller der Austausch der verschiedenen Prinzipien stattfindet, desto geringer ist die Gefahr, dass man auf eine Position festgelegt wird.3 Zweifellos ist die Produktion von Bullshit harte Arbeit. Es kommt darauf an, Wertformulierungen so zusammenzusetzen, dass sie einen konsistenten Eindruck vermitteln. Sie müssen derart abstrakt formuliert sein, dass sich alle mit ihnen identifizieren können, gleichzeitig aber die Suggestion von Konkretheit mit sich führen. Sie müssen ebenso anschlussfähig an das sein, was andere an Bullshit produzieren, sind dabei aber auch dazu genötigt, zumindest den Anschein von Originalität zu erwecken. Es hat sich inzwischen eine eigene Industrie ausgebildet, die Organisationen bei der Produktion und Plausibilisierung solcher Wertelisten unterstützen. Managementgurus helfen dabei, drastische Gegenüberstellungen zwischen „veralteten“ und den „modernen Werten“ aufzubauen. Berater rechtfertigen die propagierten Ideale dadurch, dass sie diese als konkrete Lösungsalternativen für ungelöste Probleme der Organisation zur Schau stellen. Managementkonferenzen dienen dazu, die gerade besonders aktuellen Prinzipien durch permanente, nur leicht variierende Wiederholungen einzutrichtern.4 Inzwischen mehren sich die Stimmen, welche auf die Gefahr von Bullshit für Organisationen hinweisen: Die Produktion von Bullshit lenke von den „eigentlichen Zielen“ ab. Die Rationalität der Entscheidungsfindung erodiere, weil alle nur noch in allgemein akzeptierten Konsensformeln sprächen. Die professionellen Identitäten würden unterminiert, denn die durch Klarheit gekennzeichneten Standards von Berufsgruppen würden durch eine zu starke Orientierung an besagten Werteformeln aufweichen. Langfristig ginge das Vertrauen in die Organisation verloren, weil sie nicht mehr zu greifen ist. Aber warum wird akzeptiert, dass in Organisationen so viel Bullshit geredet wird? Zweifellos mögen Höflichkeit, Naivität oder Angst eine wichtige Rolle spielen. Aber vielleicht gibt es eine zentrale Funktion, die Bullshit für die Stabilisierung moderner Organisationen erfüllt. Vorgesetze, die ja auch in den auf Selbstorganisationen basierenden Organisationen immer noch existieren, nehmen eine immer größer werdende Diskrepanz zwischen ihren realen 3 So die Strategien des „Bullshiting“ bei André Spicer: Shooting the Shit. The Role of Bullshit in Organizations. In: Management 16 (2013), S. 653–666, hier S. 661. Auch die folgende Diagnose von Bullshit als „hard work“ ist von Spicer. 4 Siehe dazu David Greatbatch, Timothy Clark: Management Speak. Why We Listen to What Management Gurus Tell Us. London 2005, 48ff. Handlungsmöglichkeiten und der ihnen zugewiesenen Verantwortung wahr. Die eigenen Mitarbeiter bestimmen immer stärker selbst, aber am Ende werden trotzdem die Chefs verantwortlich gemacht, wenn etwas richtig in die Hose geht.5 Es zeichnet sich immer deutlicher ein grundlegendes Dilemma für Führungskräfte ab. Einerseits sollen sie Führungsstärke unter Beweis stellen, andererseits aber die Selbstorganisationsprozesse ihrer Mitarbeiter nicht hemmen. Bullshit, so die These von Lars Thøger Christensen, Dan Kärreman und Andreas Rasche, ist die verlockende Lösung für dieserart Dilemma. Weil man sich mit direkten Befehlen als Führungskraft der „alten Schule“ zu erkennen geben würde, nehmen die nach wie vor geforderten Orientierungshilfen immer mehr den Charakter allgemeiner Wertformulierungen an. Führungskräfte können so eine Anmutung von Anweisungen geben, ohne wirklich anzuweisen.6 Bullshit ist also nicht eine persönliche Macke einer Vorgesetzten, sondern das Ergebnis einer zunehmend widersprüchlich werdenden Rollenerwartung. 5 Siehe zu dieser Situation Stefan Kühl: Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur. Frankfurt a.M., New York 2015, S. 45. 6 Lars Thøger Christensen, Kärreman, DAn, Rasche, Andreas: Bullshit and Organization Studies. In: Organization Studies 40 (2019), S. 1587–1600, hier S. 1594.