Hans Cornelius: Leben, Denken, Wirkung
Hans Cornelius: Life, Thought and Influence
Daniel Pucciarelli
Universidade Estadual de Minas Gerais (UEMG)
Orcid 0000-0002-9053-6444
arelli@gmail.com
Eduardo Soares Neves Silva
Universidade Federal de Minas Gerais (UFMG)
Orcid 0000-0002-8601-7617
esnsilva@gmail.com
Zusammenfassung: Die Arbeit liefert einen Überblick über das Leben, das Denken und die philosophische Wirkung des Philosophen
Hans Cornelius. Ausgehend von einer kurzen Rekonstruktion seiner
Biographie exponiert der Text die Hauptideen, die er in seinen philosophischen Schriften entwickelt. Den Wahrnehmungs- und Dingbegriffen Cornelius wird in diesem Zusammenhang Vorrang gegeben,
da diese Begriffe in der Regel als den originellsten Beitrag Cornelius’
angesehen werden. Danach stellt der Aufsatz die Kritik Husserls an
Cornelius und die Quelle ihrer philosophischen Differenzen dar. Zuletzt wird noch auf die Wichtigkeit Cornelius‘ für die Entstehung der
sogenannten „Frankfurter Schule“ reflektiert.
Keywords: Münchener Phänomenologie, Psychologismus, Husserl,
Frankfurter Schule
Princípios: Revista de Filosofia, Natal, v. 27, n. 54, set - dez. 2020. ISSN1983-2109
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Abstract: The paper provides an overview of the life, the thinking and
the philosophical influence of the philosopher Hans Cornelius. After a
brief reconstruction of his biography, the text exposes the main ideas
he develops in his philosophical writings. Our priority is given to Cornelius’ concepts of “perception” and the “thing”, as his reformulation
of these concepts have generally been regarded as his most original
contributions to the history of philosophy and phenomenology. The
essay then presents Husserl’s criticism of Cornelius and the source of
their philosophical differences. Finally, we reflect on the importance
of Cornelius for the emergence of the so-called “Frankfurt School”.
Keywords: Munich Phenomenology, Psychologism, Husserl, Frankfurt School
1. Einleitung
Hans Cornelius teilt das melancholische Schicksal jener Denker, die der kompletten Unbekanntheit nur nicht angehören, weil sie anderen Denkern wichtig waren. Hat man
überhaupt von ihm gehört oder gelesen, dann in der Regel
durch Husserl oder Adorno und Horkheimer, die sich auf ihn
teils mit Bewunderung, teils kritisch, aber immer mit Interesse
beziehen. Seine Relevanz wird dementsprechend durch die Relevanz anderer gemessen; wenn überhaupt, wird seine Arbeit
höchstens als Bindeglied, kaum für sich selbst gelesen. Der vorliegende Aufsatz möchte diese Diagnose zwar nicht von vornherein revidieren, sondern kann ihre eigene Existenzberechtigung in erster Linie aus diesem Umstand ableiten. Denn zur
Relevanz eines philosophischen Denkens gelten nicht nur rein
innertheoretischen Elemente, sondern auch äußerliche Bedingungen und Umstände, die durchaus kontingent sind. Sofern
Cornelius für jene Denker ersten Ranges wichtig ist, wird auch
eine ausführliche Auseinandersetzung mit seinem Denken nicht nur begründet, sondern wohl auch für deren volles Verständnis erfordert. Eine derartige Auseinandersetzung liegt aber
noch kaum vor.
Doch auf diesem Weg kann die vorliegende Untersuchung ebenso die Elemente entwickeln, damit jene Diagnose besPrincípios: Revista de Filosofia, Natal, v. 27, n. 54, set - dez. 2020. ISSN1983-2109
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ser begründet oder widersprochen werden kann. So unternimmt
sie den Versuch, Cornelius möglichst in seinem eigenen Recht zu
behandeln, um zu einer autonomen Betrachtung seines Denkens
beizutragen. Sie liefert erstens ein Porträt der Person Hans Cornelius (2), um dann zu einem ausführlichen Panorama über sein
Denken überzugehen (3). Erst dann versucht die Untersuchung,
die Auseinandersetzung mit Husserl zu thematisieren (4). Zum
Schluss wird noch auf die Relevanz Cornelius‘ für die Autoren
der sogenannten „Frankfurter Schule“ reflektiert (5).
2. Hans Cornelius: Ein Porträt
Hans Johannes Wilhelm Cornelius ist 1863 in München
geboren1. Studiert hat er Mathematik, Physik und Chemie in
München, Berlin und Leipzig. Von seinen Münchener Professoren berichtet er lediglich, dass an der dortigen Universität
„sich damals für Mathematik und besonders für Physik in den
ersten Stellen völlig minderwertigen Lehrkräften befanden“
(Cornelius, 1921, S. 84). In Berlin studiert er 1882 und 1883
bei Weierstraß und Kirchhoff; Helmholtz aber, der allbekannte
Universalgelehrter seiner Zeit, „blieb [Cornelius] gleichgültig;
[dieser] konnte [sich] in seinen stets unvorbereiteten, unordentlich vorgetragenen theoretischen Vorlesungen nicht aufnahmefähig erhalten“ (Ebd., S. 85.). Schließlich studiert Cornelius reine Mathematik bei dem großen Mathematiker Felix
Klein in Leipzig und zielt darauf ab, dort sein Studium abzuschließen; „jedoch nach zwei Monaten kam [er] nach Hause,
überarbeitet und überzeugt, daß die mathematische Arbeit nicht [s]eine Sache sei“. Zu dieser Zeit hatte Cornelius schon eine
anfängliche, experimentierende Beschäftigung auch mit der
Philosophie hinter sich – vor allem mit der Kritik der reinen Vernunft und mit dem Denkgebäude Schopenhauers –, sodass er
dann seinem Vater erklärte, „daß [er] nur zur Musik oder zur
Philosophie als Lebensberuf [sich] entschließen könne“ (Ebd.).
Sich aber für die Chemie entscheidend, promovierte Cornelius
1886 als Chemiker mit einer Arbeit über die Synthese des Orzins
aus Zitronensäure in München und arbeitet zwei Jahre lang im
Alle biographischen Informationen über Hans Cornelius stammen
dem von Cornelius publizierten autobiographischen Text Cornelius, 1921.
1
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Laboratorium vom Chemiker Adolf von Baeyer. Seine erste Habilitationsschrift über die Axiome und Hypothesen der exakten
Wissenschaften aber, die Cornelius der naturwissenschaftlichen
Sektion der Philosophischen Fakultät in München eingereicht
hatte, wurde von der Fakultät aufgrund „ungenügender philosophischer Vorbildung“ zurückgewiesen (Ebd., S. 86).
Mit dem Scheitern seines ersten Habilitationsversuches
widmet sich Cornelius intensiver der Philosophie zu. Wohl aufgrund seiner eigenen intellektuellen – naturwissenschaftlichen
– Laufbahn, aber auch zweifelsohne im Sinne des dann in nachidealistischem Deutschland herrschenden Zeitgeistes orientiert sich Cornelius durchaus an einer Art Neukantianismus,
der der dann höchstfortgeschrittenen naturwissenschaftlichen
Methode gewachsen sein könne. Er beschäftigt sich zunächst
„mit der neueren und neuesten Philosophie, vor allem mit der
englischen und deutschen psychologischen Literatur“ (Ebd., S.
86-7) und zielt bereits darauf ab, eine „von allen illegitimen Begriffen freie[n] Philosophie“, die auf der „sichere[n] Grundlage
metaphysikfreier Naturerkenntnis“ ruhe (Ebd.), zu begründen.
Diesem philosophischen Programm, das ja in vielerlei Hinsicht die deutsche – und wohl europäische – Jahrhundertwende
tief mitprägt, blieb Hans Cornelius lebenslänglich treu. Philosophisch betreibt er stets, mithilfe der Psychologie, „metaphysikfreie“ und systematische prima philosophia. Seine ersten rein
philosophischen Schriften – die zweite, nun erfolgreiche Habilitationsschrift Versuch einer Theorie der Existentialurteile (1894)
und Psychologie als Erfahrungswissenschaft (1897) –, die die
Aufmerksamkeit und Kritik von so unterschiedlichen Lesern
wie Edmund Husserl und Wladimir Lenin veranlassen, legen
Zeugnis von einem ersten Versuch ab, ein derartiges Programm
durchzuführen. Dabei versucht er eben
eine von allen dogmatischen Voraussetzungen freie Wissenschaft
von den unmittelbar gegebenen Tatsachen des Bewußtseinsverlaufens, also eine metaphysikfreie Psychologie zu begründen (…),
die als Unterbau für alle weitere Philosophie und für alle Erfahrungswissenschaft dienen sollte (Cornelius, 1921, S. 87).
Dass Cornelius dem Geiste des Positivismus gewissermaßen niemals ganz fremd gewesen ist, beweist die Tatsache, dass
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er 1931, am Ende seines intellektuellen Lebens also, einen Aufsatz
(Cornelius, 1931) in der klassischen Zeitschrift Erkenntnis, von R.
Carnap und H. Reichenbach herausgegeben, veröffentlicht.
Nach seiner Habilitation wirkte Cornelius etwa zehn Jahre
lang als Privatdozent, und noch etwa fünf als außerordentlichen
Professor für Philosophie in München. Zu dieser Zeit schreibt Husserl eine lange Rezension über Versuch einer Theorie der Existentialurteile (1894) und übt Kritik an Cornelius’ Psychologie in seinem
ersten, 1906 erschienenen Hauptwerk Logische Untersuchungen.
Die Rezension und Auseinandersetzung Husserls veranlassen dann
Cornelius, sich mit dem Denken Husserls gründlich zu befassen
und anschließend mit ihm 1906 im sehr kurzen, aber bedeutenden Briefwechsel zu stehen. Im Laufe dieser Auseinandersetzung
entsteht Cornelius’ drittes philosophisches Werk: Einleitung in die
Philosophie (1903), die seine philosophische Theorie mit einer Philosophie der Geschichte der Philosophie ausführt. Die Entstehung
und Formierung des eigentlich philosophischen Denkens von Hans
Cornelius dürfte man also wohl zwischen 1894, da er den Versuch
einer Theorie der Existentialurteile der Philosophischen Fakultät der
Münchener Universität als Habilitationsschrift einreicht, und 1903,
da er sein Werk Einleitung in die Philosophie veröffentlicht. Außer
diesen zwei Werken und der bereits erwähnten Psychologie als Erfahrungswissenschaft hat Cornelius erst viel später, 1916, nur noch
ein viertes Werk – die Transzendentale Systematik – veröffentlicht,
das als rein philosophisch bezeichnet werden dürfte und eben
hauptsächlich eine Systematisierung der Gedankengänge der anderen drei Bücher enthält2. Zwar haben sich sehr wenige Interpreten
mit seinem Denken gründlich befasst, aber die wenigen, die dies
getan haben, oszillieren nämlich zwischen der Behauptung, sein
Denken sei bereits 1897 mit der Psychologie als Erfahrungswissenschaft vollständig gebildet, und der Auffassung, dass es mindestens
noch bis 1903, wenn nicht bis 1916, wesentlichen Veränderungen
unterliege. Zu dieser Frage, wie zur Husserl-Cornelius-Debatte,
kommen wir noch ausführlicher zurück.
Cornelius selbst hat die Transzendentale Systematik als ein zwar wichtiges, doch als „Ergänzungswerk“ gekennzeichnet: „Wer meine Philosophie kennen lernen will, möge zuerst meine ‘Einleitung’ lesen; in der ‘Transzendentale Systematik’ wird er einige wesentliche Ergänzung dazu finden“,
Cornelius, 1921, S. 93.
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Auch zur Cornelius’ Münchener Zeit nimmt er an der
sich um Theodor Lipps bildenden Gruppe von Philosophen
und Psychologen teil – dem sogenannten Psychologischen Verein –, die dann später als die „Münchener Phänomenologie“3
Bekanntschaft erringen würde; zwar wird er kein richtig aktives Mitglied des Vereins sein, aber sah in der Gruppe unter
anderen eine Möglichkeit für seine Berufung als Ordinarius
für Philosophie, da Theodor Lipps 1909 der Gruppe, und dann
1914 der Fakultät ausgetreten sein würde. Auch deshalb lehnt
Cornelius 1908 einen Ruf nach Halle a. S. als Ordinarius ab,
aber seine Hoffnungen konkretisieren sich, auch aufgrund von
politisch-bürokratischen Umständen und von Streitigkeiten mit
Lipps (wohl der bekannteste Anhänger des Psychologismus im
damaligen Deutschland), letztinstanzlich nicht4. Aus diesem
Grunde entschließt er sich, 1910 eine ordentliche Professur für
Philosophie an der Akademie für Sozialwissenschaften (späten Johann-Wolfgang-von-Goethe Universität) in Frankfurt am
Main zu übernehmen. Seine Antrittsvorlesung behandelte das
aufschlussreiche und zu jener Zeit – und wohl immer noch heute – kontroverse Thema: „Die Erkenntnis der Dinge an sich“.
Während seiner Münchener Zeit beschäftigt sich Cornelius und publiziert auch zu Kunstphilosophie – wie sein 1908
erschienenes Buch Elementargesetze der bildenden Kunst: Grundlagen einer praktischen Ästhetik –, es ist aber während seiner
Frankfurter Zeit, die solche nicht rein philosophischen Beschäftigungen und Veröffentlichungen intensiver und wohl auch fruchtbarer werden. Neben der kontinuierlichen praktischen Beschäftigung mit Bildhauerei und dann mit Malerei entstehen in seiner
Frankfurter Zeit – die von 1910 bis zu seiner Emeritierung 1928
Über die heute eher unbekannte „Münchener Phänomenologie“,
vgl. Smid, 1982.
3
„Schon damals und noch weit mehr in der unmittelbar folgenden
Zeit wurden die Verhältnisse in München von Tag zu Tag unerfreulicher (…)
durch die immer krankhafter ausartende Mißgunst meines Oberkollegen
Theodor Lipps, der in [Cornelius] mit Recht einen wissenschaftlichen, sehr
mit Unrecht einen persönlichen Gegner sah“. Cornelius, 1921, S. 91.
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andauert – sein politisches Buch Völkerbund und Dauerfrieden5
(1919), seine Kunstpädagogik: Leitsätze für die Organisation der
künstlerischen Erziehung (1921) wie seine Werke Vom Wert des
Lebens (1923) und Die Aufgabe der Erziehung (1928).
Nach seiner Emeritierung im Jahre 1928 veröffentlicht
Cornelius keine weiteren originellen Arbeiten. Abgesehen von
dem bereits erwähnten, 1931 in der Zeitschrift Erkenntnis publizierten Aufsatz befasst er sich theoretisch mit Zusammenfassungen und neuen Systematisierungen seines philosophischen
Denkens, wie seinem Beitrag im interessanten Sammelbande Deutsche Systematische Philosophie nach ihren Gestaltern
(1934). Seine Professur an der Frankfurter Universität wurde
kurzfristig von Max Scheler, dann vom Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich übernommen. Gestorben ist Hans
Johannes Wilhelm Cornelius 1947 in Gräfelfing bei München.
3. Denken
So hat Cornelius sein eigenes Denken retrospektiv,
1923, charakterisiert: „Unter den dogmatischen Voraussetzungen, die dem Streben nach letzter Klarheit im Wege stehen,
Politisch war Cornelius, wie es in dem in Völkerbund und Dauerfrieden formulierten Programm zu lesen ist, ein ausgesprochener Internationalist
und Kriegsgegner (das Buch wurde noch während des Ersten Weltkrieges
konzipiert). In dieser Schrift entwickelt er die im Sinne der damaligen Weltpolitik radikale Idee eines Föderalismus aller europäischen Länder als einzige Möglichkeit zur Erreichung einer dauerhaft pazifistischen Lösung für die
inneren politischen Konflikte Europas. In seinen eigenen Worten: „Ich konnte
in dem Wahnsinn des Weltkrieges nichts anderes sehen, als die Folge der
allgemein herrschenden Unklarheit über die fundamentalen Bedingungen
des sozialen Daseins. Die klare Erkenntnis dieser Bedingungen seitens der
Regierungen mußte die Beendigung des Krieges und den Zusammenschluß
der feindlichen Nationen zu föderativen übernationalen Staatsbildungen zur
Folge haben, analog wie in der Schweiz und in Amerika die Föderativstaaten
aus vorher feindlichen Bestandteilen zusammengeschmiedet worden waren
(…) Nicht ein Mitteleuropa im Sinne Naumanns, sondern ein Gesamteuropa oder zum mindesten ein Kontinentaleuropa, nicht als Staatenbund, sondern als Bundesstaat mit einheitlichem Wirtschaftsgebiet, mit einheitlicher
Diplomatie und Militärgewalt war das Gebilde, durch welches nicht nur die
Gründe für alle ‘nationalen’ Kriege – in erster Linie die elsaß-lothringische
Frage und alle andern wirklichen oder vermeintlichen ‘Irredenta’-Probleme –
ausgeschaltet, sondern auch alle Möglichkeiten für kriegerische Störungen in
Europa endgültig beseitigt werden konnten“. Cornelius, 1921, S. 92.
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zeigte sich bereits oben als die folgenschwerste diejenige des
Dingbegriffs. Von der Forderung der Klärung dieses Begriffs
ist die Entwicklung meiner Philosophie ausgegangen“ (Ebd.,
S. 15). In der Tat synthetisiert das Zitat den Großteil dessen,
was Cornelius im Laufe seines Lebens philosophisch getan hat.
Zunächst: Cornelius möchte sein Philosophieren innerhalb einer großen aufklärerischen Tradition – die wohl mindestens
auf Descartes und die Anfänge der neuzeitlichen Philosophie
zurückgreift – platziert sehen, die die Hauptanliegen der Philosophie in dem Streben nach letzter Klarheit und so in der
Gewinnung einer möglichst voraussetzungslosen Lehre sieht.
Das Wort „dogmatisch“ wird von Cornelius eben im aufklärerischen Sinne eines Denkgebäudes verwendet, dessen Voraussetzungen und Grundlagen nicht stringent geprüft worden
waren und somit nicht klar und distinkt nachvollziehbar sind.
Darin, wie in vielen anderen Aspekte seines Denkens wie etwa
in der Rede von „metaphysischen Scheinproblemen“ und dem
allgemeinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit für die Philosophie, ist Cornelius, wie bereits erwähnt, dem philosophischen
Geist seiner Zeit gar nicht fremd. Mit den sogenannten „metaphysikfreien“ und „wissenschaftlichen Philosophien“ – von dem
Frühen Positivismus bis zum Wiener Kreis – war Cornelius in
mehr oder minder fruchtbarer Beziehung. An das Denken von
Mach und Avenarius etwa, besonders das sogenannte „Prinzip der Denkökonomie“ (Mach) bzw. das „Prinzip des kleinsten Kraftmaßes“ (Avenarius) betreffend, hat er mindestens bis
1903 ausdrücklich angeknüpft6.
Für Rollinger (1991) ist das Denken Cornelius‘ bereits in der Psychologie als Erfahrungswissenschaft wesentlich gebildet; danach variiert ihm
zufolge bloss jeweils die verwendete Terminologie. Jay (1996) und Petazzi (1979) argumentieren dagegen, dass Cornelius zu seiner eigentlichen
Denkweise erst infolge der Auseinandersetzung mit Husserl und der Loslösung von Mach und Avenarius tatsächlich gelangt. Aus dem Standpunkt der
Wirkungsgeschichte seines Denkens hat Rollinger wahrscheinlich recht, da
Cornelius interessanterweise von Husserl und Lenin immer als Anhänger von
Mach und Avenarius gesehen wurde. Pettazzi schreibt diesbezüglich: „I libri
di Cornelius sono oggi dimenticati e un velo polveroso li ricopre nelle biblioteche. A suo tempo essi dovettero però godere di una certa notorietà, tanto
che vengono citati in opere come Materialismo et empiriocriticismo di Lenin
e Richerche logiche di Husserl. In ambedue i casi Cornelius viene considerato
un sostenitore e continuatore delle posizioni di Mach e Avenarius, e su questa
base aspramente criticato“. Pettazzi, 1979, S. 40.
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Eine voraussetzungslose und metaphysikfreie – oder,
wie Cornelius sich auch ausdrückt: von naturalistischen Voraussetzungen befreite – Philosophie kann sich dann nach Cornelius lediglich auf dasjenige Material stützen und aufgebaut
werden, das sich jederzeit dem Bewusstsein mit unmittelbarer
Klarheit und Evidenz darstellt: das, was Cornelius meistens das
unmittelbar Gegebene nennt. Diesbezüglich ist er in vollem Einverständnis etwa mit der Tradition des radikalen Empirismus
von David Hume und William James – in den Logischen Untersuchungen beispielsweise hat Husserl Cornelius als den radikalsten „modernen Humeaner“ gekennzeichnet (Husserl, 1921,
S. 211ff.). In wesentlichem Unterschied mit der Tradition des
Empirismus – und auch wohl der Transzendentalphilosophie
– aber dürfte diejenige Lehre Cornelius’ gezählt werden, derzufolge die empirische Erfahrung keine minderwertige, sondern
eine allgemeingültige Erkenntnisquelle darstellt. Dies präsentiert der Philosoph namentlich als den originellsten Hauptpunkt
seiner Lehre: „Ein Hauptpunkt meiner Lehre, durch den sie sich
zu allem Herkommen in Gegensatz stellt, ist der Nachweis, daß
Erfahrung durchaus keine minderwertige Erkenntnisquelle ist,
vielmehr uns allgemeingültige Erkenntnis zuführt“7. In der Tat
ist diese Lehre, soweit sie wirklich begründet werden kann,
sehr originell. Dies macht wohl die allererste Besonderheit
der Philosophie Cornelius’ aus, denn mit dieser Lehre kann er
nichts weniger als den Anspruch erheben, eine radikal-empiristisch, also lediglich auf klaren und evidenten Bewusstseinsinhalten bzw. Gegebenheiten gestützte Philosophie als System
aufzubauen, die dann nicht in Skepsis einmünden muss. Dieses
Programm einer systematischen Neubegründung der Philosophie mithilfe der in diesem Sinne verstandenen Psychologie hat
Cornelius, wie gesagt, wohl immer durchzuführen versucht;
sein Werk Psychologie als Erfahrungswissenschaft, das dieses
Anliegen zum ersten Male systematisch und ausführlicher darsCornelius, 1921, S. 14: So referiert Husserl diese Lehre Cornelius‘:
„Wir besitzen in der äußeren wie in der inneren Wahrnehmung durchaus
gleichgeordnete und keiner Täuschung ausgesetzte Grundlagen und Quellen
der Erkenntnis; ja mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten der inneren Beobachtung ist die äußere Wahrnehmung geradezu als die sicherste Erkenntnisquelle zu betrachten“. Husserl, 1979, S. 358.
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tellt, möchte er als philosophische Grundwissenschaft oder gar
als reine Phänomenologie verstanden wissen8.
Obwohl erst systematisch und ausführlich in der Psychologie als Erfahrungswissenschaft (1897) dargestellt, werden
einige der oben referierten Kernelemente des Denkens Cornelius bereits in seiner Habilitationsschrift Versuch einer Theorie der Existentialurteile ansatzweise dargestellt. In diesem
Werk befasst sich der Autor nicht nur mit einer Theorie der
Existentialurteile, sondern, wie Husserl bemerkt, mit einer Urteilstheorie im Allgemeinen, die aber erst am Ende der Schrift
vollständig entwickelt wird. Dabei setzt sich Cornelius hauptsächlich mit der Tradition des radikalen Empirismus wie mit der
Brentanoschule auseinander. Das allgemeine Ziel der Schrift
besteht darin, die Urteilstheorie ausgehend lediglich vom unmittelbar Gegebenen bzw. vom „elementaren Wahrnehmungsurteil“ neu zu begründen, sodass alle anderen Urteilsklassen
vom Wahrnehmungsurteil unmittelbarer – klarer und distinkter – Gegebenheiten abgeleitet werden. Dazu muss Cornelius
dementsprechend den eigentlichen Begriff der inneren und
äußeren Wahrnehmung derart konzipieren, dass eine jegliche
Transzendenz zum Bewusstsein dezidiert ausgeschlossen bleibt. Wahrnehmung, gleichgültig nun ob innere oder äußere, ist
nach Cornelius (und hier noch im Sinne der Brentanoschule)
stets auf einen rein immanenten Bewusstseinsinhalt bezogen,
der sich im Bewusstseinsverlauf befindet. Das Wahrnehmen
wird somit zu einer Art Innewerden eines bereits vorhandenen
und rein immanenten Bewusstseinsinhalts:
Erklären wir in Übereinstimmung mit einer ziemlich verbreiteten
Terminologie die innere Wahrnehmung allgemein als die Wahrnehmung psychischer Phänomene, so erscheint es nur konsequent,
die äussere Wahrnehmung als entsprechende Wahrnehmung physischer Phänomene zu definieren. Wenn nach dieser Definition die
innere und die äussere Wahrnehmung sich nur durch die wahrgenommenen Inhalte unterscheiden, so wird über die Bedeutung des
Wortes Wahrnehmung auch bei der äussern Wahrnehmung kein
„Ich sehe heute ein, daß der Titel des Buchs für die Fachgenossen
mehr eine Verdunkelung als eine Andeutung seiner Absicht sein mußte. Ich
hätte es – mit entsprechender Umformung seiner Terminologie – lieber als
‘reine Phänomenologie’ oder als ‘philosophische Grundwissenschaft’ bezeichnet sollen“. Schmidt, 1921, S. 85.
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Zweifel bestehen können: auch hier ist das Wahrnehmen nichts
anderes als das Vorfinden, Innewerden oder Bemerken eines gegenwärtig als Inhalt unseres Bewusstseins vorhandenen physischen
Phänomens (Cornelius, 1894, S. 8).
Dass der Autor somit die Begründung einer reinen Immanenzphilosophie im Sinne hat, lässt er keine Zweifel bestehen,
indem er den Begriff physischer Phänomene derart erläutert:
Insbesondere darf mit dem Ausdrucke ‘physischer Phänomen’ nicht
der Gedanke an ‘ausser-psychische’ Existenzen, an die Objekte im
Sinne der Physik verbunden werden: das physische Phänomen bezeichnet stets nur einen Empfindungs- oder entsprechenden Vorstellungsinhalt als solchen, nicht aber irgend eine äussere Ursache, einen
Reiz, welcher diesen Inhalt hervorbringt (Cornelius, 1894, S. 8.).
Dies bedeutet dann letztinstanzlich, dass auch die genannten physischen Phänomene „wesentlich psychische Inhalte
[sind], da sie, als Phänomene, nur innerhalb eines wahrnehmenden Bewusstseins denkbar sind“ (Ebd.). Ein Wahrnehmungsbegriff dagegen, der den Verweis auf Bewusstseinstranszendentes
oder gar „irgend welchen bewussten oder unbewussten Schluss
auf eine Ursache dieses Phänomens, einen Reiz, eine Substanz
oder ein Ding an sich“ zuließe (Ebd., S. 9), wird von Cornelius
als die „weitverbreitet[e] metaphysisch[e] Auffassung des Begriffs der äusseren Wahrnehmung“ charakterisiert (Ebd.).
Diesem radikal immanenten Wahrnehmungsbegriff
gemäß, auf dem Cornelius seine Urteilstheorie basieren will,
wird etwas dann wahrgenommen, wenn ein bereits vorhandener Bewusstseinsinhalt als solchen bemerkt wird; bemerkt
wird er dann, wenn er vom Gesamtinhalt, der das Bewusstsein
konstituiert, unterschieden wird – oder, besser gesagt, der das
Bewusstseins letztinstanzlich ist9. Wahrnehmen wird zum Bemerken eines Bewusstseinsinhaltes; Bemerken wird seinerseits
zu nichts anderem als dem Unterscheiden dieses gegenwärtiAus dieser Neubestimmung des Wahrnehmungsbegriffs kann man
bereits in aller Klarheit einsehen, dass Cornelius einer der strengsten Gegner
der sogenannten Atomistik bzw. atomistischen Psychologie gewesen ist. Rudolf Eisler beispielsweise behandelt Cornelius so: „Atomistische Psychologie
wird jede psychologische Richtung genannt, welche voraussetzt, daß das Psychische aus ursprünglich bestehenden, isolierten Elementen aufbaut. Dagegen
besonders H. Cornelius“. Eisler, 1904, Antrag: „Atomistische Psychologie“.
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gen Inhaltes von vorher wahrgenommenem Gesamtinhalt des
Bewusstseinsverlaufs. In diesem Sinne ist dieses Wahrnehmen
bzw. dieses Bemerken für Cornelius vom Urteil nicht zu unterscheiden: „Das (elementare) Wahrnehmungsurteil“, schreibt er
am Ende des ersten Kapitels dieser Schrift,
besteht somit wesentlich in der Erkenntnis des gegenwärtigen Inhaltes als eines vom vorhergehenden Inhalt verschiedenen. Diese Erkenntnis aber ist von der Thatsache des Vorfindens des betreffenden
Inhaltes, seinem Erscheinen oder Vorgestelltwerden in der üblichen
weiteren Bedeutung des letzteren Wortes nicht unterschieden; wir
konnten daher einer Trennung des Urteilsaktes im elementaren Wahrnehmungsurteil vom vorstellenden Akte nicht zustimmen (Cornelius, 1894, S. 31).
Das so konzipierte elementare Wahrnehmungsurteil
bildet wohl die Basis der Urteilstheorie, die Cornelius in dieser
Schrift entwickelt. Die anderen Urteilsklassen, die auf dem Wahrnehmungsurteil basieren oder ihn voraussetzen, subsumiert
Cornelius unter die Kategorie der symbolischen Urteile. Während
die Wahrnehmungsurteile je auf gegenwärtige Objekte gerichtet
sind, betreffen die symbolischen Urteile (Erwartungsurteile und
Gedächtnisurteile) nicht gegenwärtige Objekte, die ihrerseits im
Bewusstseinsverlauf durch ein Symbol (wie beispielsweise ein
Sprachsymbol) stets vertreten sein müssen und somit auf irgend
Wahrgenommenes hinweisen. Dies erlaubt bestimmte Vergleichungsrelationen – Relationen von Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit – und mit ihnen bestimmte Einordnungskriterien:
Damit wir über ein nicht gegenwärtiges Objekt urteilen können,
muss dasselbe irgendwie durch einen gegenwärtigen Inhalt vertreten,
repräsentiert sein. Wir wollen diesen gegenwärtigen Inhalt, der an
Stelle des nicht gegenwärtigen zu beurteilenden Objektes steht, als
Symbol des letzteren bezeichnen: alle Existentialurteile, welche nicht Wahrnehmungsurteile sind, müssen sich hiernach eines Symboles
als Repräsentanten ihres logischen Subjektes bedienen und mögen
daher im Folgenden kurz als symbolische Existentialurteile bezeichnet sein. Handelt es sich um ein sinnlich wahrnehmbares Objekt, also
um einen nicht gegenwärtigen Sinnesinhalt, so dient als Repräsentant
desselben in letzter Instanz stets ein diesem Inhalte entsprechendes
mehr oder minder bestimmtes Phantasma. Das Prinzip, vermöge dessen dies Phantasma als Symbol jenes Inhaltes erscheint, ist die zwischen beiden bestehende spezifische Vergleichungsrelation, welche,
wie jede Vergleichungsrelation, die indirekte Bestimmte ihres eines
Fundamentes durch das andere gestattet (Ebd., S. 53).
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Diese so konzipierten Urteilsklassen bilden, beinahe
ohne Modifikationen, wohl eine der wichtigsten epistemischen
Grundlagen des Gesamtdenkens Cornelius’ bis zu seiner Spätphase. Zwar erfahren diese Begriffe terminologische und architektonische Differenzierungen – wie etwa bereits im Werke
Einleitung in die Philosophie (1903), in dem sie als die „zwei
Kategorien der begrifflichen Bestimmung der Erlebnisse“ auftreten –, ihre logische Funktion bleibt aber als solche größtenteils bestehen. Auch von dieser Urteilstheorie ausgehend meint
Cornelius dann, die mit naturalistischen Voraussetzungen kontaminierten Begriffe der Philosophie wie beispielsweise und
exemplarisch den Dingbegriff zu reinigen.
Bereits in der Psychologie als Erfahrungswissenschaft
(1897) – im klaren Anschluss an den Versuch einer Theorie der
Existentialurteile (1894) – spricht Cornelius von einer notwendig zu leistenden „Umbildung des Dingsbegriffs“ (Cornelius,
1897, S. 243) und definiert das Ding somit als den „gesetzmäßigen Zusammenhang seiner Erscheinungen“ – eine Bezeichnung, die er seitdem immer wieder verwendet wird10. Mit der
Lehre des Dings als „gesetzmäßigen Zusammenhanges seiner
Erscheinungen“ werden für Cornelius die Probleme der subjektiv-idealistischen und kantisch-transzendentalphilosophischen
Dingtheorien zugleich behoben, indem die Unabhängigkeit und
Beständigkeit des Dinges (bzw. der Dingwelt) vermittelst lediglich bewusstseinsimmanenter Inhalte, ohne Rekurs also auf
„metaphysische“ oder „naturalistische“ Begriffe, gesichert werden. Mit der empirischen Erfahrung werden uns laut Cornelius
verschiedenartige Schattierungen des wahrgenommenen Dings geliefert, die zugleich den Regel, das Gesetz des Zusammenhanges seiner Erscheinungen in uns bilden. Das Ding ist also
nicht einfach die Summe der Erscheinungen, die wir aktuell
Alles, was sich ändern kann, ist wie gesagt die Terminologie. Cornelius verwendet beispielsweise in der Transzendentalen Systematik den Begriff
„idealgesetzlicher Zusammenhänge“; „idealgesetzlichen Ergebnisses“ usw.
Interessanterweise knüpft Adorno an diese Terminologie an bezüglich des
Dingbegriffs und auch in seiner Kritik am Husserls Dingbegriff. Vgl. diesbezüglich unten über seine Promotionsschrift Zur Transzendenz des Dinglichen und
Noematischen in Husserls Phänomenologie.
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wahrnehmen (wie etwa der subjektive Idealismus behaupten
kann), sondern dieser gesetzmäßige Zusammenhang:
Wir fassen nach diesen [bereits über den Dingbegriff durchgeführten
– D.P. u. E.S.N.S.] Auseinandersetzungen in der Behauptung der objektiven Existenz eines Dinges eine Reihe gemachter Erfahrungen und
auf diese Erfahrungen gegründeter Erwartungen zusammen: wenn
ich sage, dieses oder jenes gegenwärtig nicht wahrgenommene Ding
existiere, so ist damit derjenige Erfahrungszusammenhang bezeichnet, den ich kennen lernte, als ich unter bestimmten Bedingungen
wiederholt bestimmte Wahrnehmungen machte, – die eben als Wahrnehmungen des betreffenden Dinges bezeichnet wurden – und welcher Zusammenhang mich erwarten lässt, dass ich unter Erfüllung der
entsprechenden Bedingungen die eine oder die andere Wahrnehmung
dieses Dinges abermals erhalten werde. Die eine oder die andere Wahrnehmung des Dinges: denn wie wir gleichfalls gesehen haben, ist
mit dem Dingbegriff selbst ebenfalls der gegenseitige Zusammenhang
gewisser, unter bestimmten Bedingungen zu machender Erfahrungen
bezeichnet, von welchen jede einzelne als ‘Wahrnehmung des Dinges’
gilt, insofern wir sie nicht als einzelne Thatsache, sondern eben mit
Rücksicht auf jenen Zusammenhang betrachten.11
4. Husserls Kritik
Über die Urteilstheorie Cornelius’ hat Husserl am Ende
1896 zunächst eine lange Rezension geschrieben, die ein paar
Monate später vom Autor zusammengefasst worden und 1897
im Rahmen eines „Berichts über deutsche Schriften zur Logik
aus dem Jahre 1894“ im Archiv für systematische Philosophie
Cornelius, 1897, S. 241-2. Um nachzuweisen, dass Cornelius diesem so umgebildeten Dingbegriff lebenslänglich treu geblieben ist, sei nur
ein Zitat aus einem 1934 publizierten Text angeführt: „Wie hier am Beispiel
des Buches, so läßt sich an jedem beliebigen anderen sinnenfälligen Dinge
zeigen, daß in ihm stets ein bestimmter Zusammenhang von Erscheinungen
vorliegt, die unter völlig bestimmten Bedingungen von uns wahrzunehmen
sind und die wir, sobald wir diesen Zusammenhang erkannt haben, als die
Erscheinungen dieses bestimmten Dinges bezeichnen. Wir gebrauchen stets
das Wort ‘dieses Ding’ als gleichbedeutend mit dem, was wir auf Grund dieser Erfahrung und Überlegung als diesen gesetzmäßigen Zusammenhang zu
bezeichnen haben. Das Ding ist also nicht anderes als ein solcher Zusammenhang der Erscheinungen (‘seiner’ Erscheinungen!) nach einem bestimmten
Gesetz – dem Gesetz nämlich, nach welchem wir je nach der Erfüllung bestimmter Bedingungen die eine oder die andere der Erscheinungen vorfinden,
die wir gemäß diesem ihrem Zusammenhang als die Erscheinung dieses Dinges kennen und benennen.“ Schmidt, 1921, S. 27.
11
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erschienen ist. In einem Brief an Paul Natorp erläutert Husserl,
dass die zuerst verfasste Rezension derart lang war, weil Cornelius typische Fehler begehe (Husserl, 1979, S. 465). Später, in
den Logischen Untersuchungen (1906), hat er die Kritikpunkte
dieser Rezension teilweise wieder aufgenommen und Kritik an
der Psychologie als Erfahrungswissenschaft von Cornelius geübt.
Das ist deshalb als den Grundstein der Husserlschen Kritik und
Auseinandersetzung mit Cornelius zu bezeichnen.
So fasst Husserl den oben referierten Versuch einer Theorie
der Existentialurteile Cornelius’ in der kleinen Rezension zusammen:
Es ist eben, wenn ich recht verstehe, der wesentliche Gedanke der
Schrift darin zu suchen, daß Vorstellen und Urteilen, Verneinen
ebenso wohl wie Bejahen – bloßes Bemerken sei, schlichtes Vorfinden eines Inhalts, während alle Unterschiede, die wir durch Wahl jener mannigfaltigen Termini andeuten, in den vorgefundenen Inhalte liegen sollen (Ebd., S. 139).
Oder mit anderen Worten, diesmal in der großen
Rezension:
Das Hauptfundament der vorliegenden Theorie ist die Identifikation
von Bemerken und Unterscheiden; damit soll nicht etwa eine terminologische Festsetzung getroffen, sondern eine wichtige Erkenntnis
gewonnen sein: Bemerken eines Inhalts ist Unterschieden desselben
vom vorhergegangenen Gesamtinhalt (Ebd., S. 372).
Nun vertritt Husserl in seiner Kritik an Cornelius eine Position, die interessanterweise den rein immanenzphilosophischen
Standpunkt Cornelius’ als solche in Frage stellt und kritisiert. Mit
anderen Worten und zugespitzt formuliert: im Vergleich zu Cornelius’ rein monistisch-immanenzphilosophischem Standpunkt
vertritt Husserl eine Position, die Raum sogar für mögliche dualistisch angelegte Interpretationen offen lässt. Diese Position ließe
sich bezüglich zweier Hauptelemente zusammenfassen:
1) Gegen Cornelius’ erkenntnistheoretische Identifikation von
Bemerken und Unterscheiden – bzw. von „logischen“ und „anschaulichen“ Elementen innerhalb der Urteilslehre – besteht
Husserl auf deren eigentlichen und nicht zu umgehenden Du-
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alität. Wenn ein Inhalt bemerkt wird, wird er tatsächlich vom
Gesamtinhalt des Bewusstseinsverlaufs unterschieden; dieses
Unterscheiden, das mit dem Bemerken eines Inhalts vollzogen
wird, setzt aber voraus, so Husserl, dass der Inhalt als solcher
bereits im Bewusstseinsverlauf unterschieden bestehe, sonst
wäre der Inhalt erst vom Bemerken „konstituiert“, was Husserl
nicht zu akzeptieren scheint:
Wo immer ein Inhalt für sich bemerkt wird, da ist natürlich das Urteil richtig, daß er von dem ‘vorher wahrgenommenen Gesamtinhalt’
verschieden ist; aber daraus folgt nicht, daß das Bemerken in diesem
beziehenden Urteil (welches erst die nachträgliche Reflexion herbeiführt) bestehe. Sieht man in dem ‘Abheben’ eines Inhalts von einem Hintergrund ein eigenartiges Verhältnis, das sogar Abstufungen
zuläßt, so habe ich nichts dagegen; aber das Bemerken des Inhalts
ist nicht das Bemerken dieses Verhältnisses, sondern der Bestand des
letzteren (d. h. nicht der Vollzug der beziehenden oder bemerkenden
Tätigkeit, durch die wir es gelegentlich erfassen) ist nur die durch
psychologische Reflexion und Induktion erkennbare Vorbedingung
für die Bemerkbarkeit jenes Inhalts (Husserl, 1979, S. 140).
2) Gegen den ontologischen Monismus, zu dem die Cornelius’sche Position letztinstanzlich führt, verwendet Husserl
auch hier ein eher dualistisch angelegtes Argumentationsmuster, das auf die Dualität von Inhalt und Gegenstand und von
„Vorstellen im Sinn des Bemerkens und dem durchaus heterogenen Vorstellen im Sinn des Repräsentierens“ hinweist (die
Cornelius, so Husserl, mit einander vermengt habe). Hier sieht
man bereits die Entstehung der Theorie der Intentionalität, die
die einige Jahre später veröffentlichten Logischen Untersuchungen vertreten wird:
Einen Gegenstand sinnlich wahrnehmen, das ist dem Verf. <gleichbedeutend mit:> einen sinnlichen Inhalt bemerken. Ist aber der
Baum, den ich jetzt mit wanderndem Blick auffasse, identisch mit
den mannigfaltigen und verschiedenen Inhalten, die ich bemerke?
(Ebd., S. 374).
Und dann ausführlicher:
Ich muß mich hier <mit> diesen Andeutungen begnügen und kann
nur wiederholt meine Überzeugung aussprechen, daß man sich
ernstlicher wird mit dem Gedanken vertraut machen müssen: die
Repräsentation sei eine gegenüber dem bloßen Bemerken grundverschiedene ‘Weise des Bewußtseins von einem Inhalt’, und zwar
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eben die, welche den Inhalt zum Repräsentanten eines Gegenstandes stempelt, der selbst kein Teil, kein Stück und auch kein unselbständiges Moment des ‘vorstellenden’ Aktes ist, sondern ihm nur ‘intentional’ einwohnt, d. h. nur auf eine Funktion desselben hinweist,
die sich entfaltet in gewissen möglichen Urteilszusammenhängen
(Ebd., S. 376).
In den Logischen Untersuchungen hat sich Husserl, wie
gesagt, erneut mit Cornelius beschäftigt. In diesem Werk aber
konzentrieren sich Husserls Kritikpunkte vor allem auf Elemente des Denkens Cornelius, die bereits in Versuch einer Theorie
der Existentialurteile zu finden waren und in der Psychologie
als Erfahrungswissenschaft systematischer ausgeführt werden.
Es handelt sich hauptsächlich, wie im Falle der oben ausgeführten Überlegungen, um eine Kritik an der „Vermengung von
dem, was zum intentionalen Inhalt der Erkenntnis gehört (...),
mit dem, was zum intentionalen Gegenstande der Erkenntnis
gehört, und dieser beiden wiederum mit dem, was näher oder
ferner zur bloßen psychologischen Konstitution des Erkenntniserlebnisses gehört“ (Husserl, 1921, S. 212).
Diese Vermengungen, so Husserl, treten bei Cornelius
klarer und deutlicher als bei jeden anderen Autoren zutage.
Dem Geiste nach folgt die Kritik Husserls das gleiche Argumentationsmuster wie im Falle der Kritik am Werke Versuch einer
Theorie der Existentialurteile, wobei Husserl gegen die Abstraktionstheorie von Cornelius argumentiert: stets zielt er darauf
ab, Inhalt und Gegenstand, bedeutungsverleihenden Akt und
Bemerken voneinander getrennt zu halten und so die „psychologistische Erkenntnistheorie“ Cornelius’, die sie mit einander
größtenteils identifiziert hatte, zu widerlegen.
Aus diesem Standpunkt lässt es sich erklären, warum Husserl mit der Ansicht Cornelius‘ nicht einverstanden sein könnte,
dass sowohl der Psychologie als Erfahrungswissenschaft als auch
den Logischen Untersuchungen grundsätzlich dasselbe Projekt zugrunde liegt. Denn während Husserl eine reine Logik begründen
will, versucht Cornelius dagegen eine Begründung der Logik durchzuführen, die eben „nah verwandt mit dem Psychologismus“
zu betrachten ist, wie Husserl behauptet. Husserls eher dualistisch angelegtes Argumentationsmuster läuft dementsprechend
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darauf hinaus, die eigentliche Grundlage des Psychologismus zu
widerlegen, wie diese sich prototypisch bei Cornelius dargestellt
hatte. Wie könnte dann Cornelius stets darauf bestehen, dass er
und Husserl im Grunde dasselbe Projekt im Sinn hatten? Laut
Rollinger einigen die Autoren zwar wichtige programmatische
Elemente wie der allgemeine Anspruch auf voraussetzungslose
Wissenschaftlichkeit, die aber eher sekundär in Ansehung der
konkreten Durchführung ihrer Denkweisen bleiben:
From Cornelius’ standpoint, he and Husserl both advocate a fundamental philosophical discipline which is to be 1) presuppositionless,
2) not causal-explanatory, and 3) prior to any distinction between
mental and physical. And even though Cornelius is committed to a
thorough-going empiricism, he diverges from the empiricist tradition
by claiming that empirically derived knowledge can be universally
valid. Insofar as his fundamental philosophical science aims at such
knowledge about experiences (to be reached by imagining examples)
and is not to consist of mere probabilities, this aim is a fourth point
on which Cornelius and Husserl agree (Rollinger, 1991, S. 52f.).
5. Hans Cornelius und die Geburt der Frankfurter Schule
Cornelius‘ Wichtigkeit für die Philosophiegeschichte
beschränkt sich aber nicht nur auf seine Auseinandersetzungen
mit Husserl. Er ist wie gesagt auch durchaus bestimmend für
die Entstehung einer anderen, in mancher Hinsicht der Phänomenologie entgegengesetzten Denkrichtung des 20. Jahrhunderts gewesen: die Frankfurter „Kritische Theorie“. Die jungen
Max Horkheimer und Theodor Wiesengrund-Adorno verfassten ihre Promotion und Habilitation unter seiner Betreuung
(Adorno aber zog die unter Cornelius geschriebene Habilitationsschrift dann letztendlich zurück). Über Cornelius konnte
Horkheimer noch 1969, in einem sehr melancholischen, kurz
nach dem Tode Adornos in Venedig frei gehaltenen Vortrag
namens Kritische Theorie gestern und heute, sagen:
Wir [Horkheimer und Adorno – D. P.] haben den Ersten Weltkrieg
erlebt und haben nachher nicht studiert, um Karriere zu machen,
sondern weil wir von der Welt etwas kennenlernen wollten. Daß uns
dies gelungen ist, und daß wir dann doch die akademische Karriere
eingeschlagen haben, hängt damit zusammen, daß wir einen wunderbaren philosophischen Lehrer hatten, nämlich Hans Cornelius,
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den Urenkel des Malers Peter Cornelius, des Freundes von Goethe.
Er war Professor, hat aber schon die Kritik an der Universität und
an seinen Kollegen geübt, die heute von den Studenten erhoben
wird. Ja, er war Professor der Philosophie und hat uns gesagt, um
Philosoph zu sein – und das alles steht in der Kritischen Theorie – ist
es notwendig, die Naturwissenschaften zu kennen, ist es notwendig,
etwas von Kunst zu wissen, von Musik und Komposition. Er selbst
hat mir Kompositionsunterricht gegeben. Und nur auf diese Weise,
durch seine Hilfe, haben wir einen anderen Begriff von Philosophie,
als er heute üblich ist, nämlich, daß sie kein Fach sei, keine Disziplin
wie andere Disziplinen (Horkheimer, 1979, S. 336).
Und Friedrich Pollock, ein lebenslanger Freund von
Adorno und Horkheimer, hat es etwa zur gleichen Zeit bestätigt, dass Cornelius’ „influence on Horkheimer can hardly be overestimated“ (Brief vom 24. März 1970 von F. Pollock an Martin
Jay, in Jay, 1996, S. 44). Ebenso als Professor könnte Cornelius
als eine für seine Schüler prägende Figur gekennzeichnet werden: denn er war, so Pollock weiter, „a passionate teacher (…),
in many ways the opposite of the current image of a German
university professor, and in strong opposition to most of his
colleagues“ (Ebd., in: Jay, 1996, S. 45).
Darüber hinaus war Cornelius, wie kurz erwähnt, ein leidenschaftlicher und vorbildlicher Kenner italienischer Kunst der
Renaissance. Wenn tatsächlich seiner philosophischen Ästhetik
ein bestimmter Klassizismus oder gar ästhetischer Konservatismus
inhaltlich sehr nah geblieben ist – darin im unzweideutigen Gegensatz etwa zu Adorno, der zu seiner Studienzeit in Frankfurt bereits
ein höchst passionierter Anhänger der Neuen Musik und als produktiver und frühreifer Musikkritiker tätig war –, so ist trotzdem
die große theoretische und philosophische Wichtigkeit, die Cornelius der Kunst im Allgemeinen zuschrieb, von seinen Schülern sicherlich als sehr prägend empfunden worden. „Aber man darf die
Tatsache nicht überschätzen“, schreibt Carlo Pettazzi,
daß Cornelius ebenso wie Adorno großes Interesse an der Ästhetik
hatte, um nicht zu oberflächlichen Parallelen bei beiden zu gelangen: seinen ästhetischen Ansichten nach war Cornelius Klassizist,
ein treuer Gefolgsmann Hildebrands; an der Musik und den bildenden Künsten interessierte ihn eigentlich nur, die Werke scharfsinnig auf ‘wissenschaftliche Gesetze’ zurückzuführen: entsprechend
der Erfüllung dieser Gesetze bestimmte sich für ihn ihr ästhetischer
Wert (Pettazzi, 1977, S. 30).
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Über die eigentlich philosophische Tragweite dieses
Einflusses kann man sagen, dass sich seine Schüler – und hier
vor allem der junge Adorno – zunächst als Fortführer seines
Projekts sahen. Denn es ist eben die philosophische Operation
einer reinen – „metaphysikfreien“ im Sinne Cornelius’ – Immanenzphilosophie im Sinne des Versuches einer Theorie der Existentialurteile, an die der junge Adorno explizit anknüpfen wird,
um Kritik an Husserl zu üben. So schreibt er in seiner Promotionsschrift Zur Transzendenz des Dinglichen und Noematischen
in Husserls Phänomenologie (1924): „Vom Standpunkt einer
reinen Immanenzphilosophie aus soll in dieser Arbeit Husserls
Theorie des Dinges an sich, so wie sie in den ‘Ideen zu einer
reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie’
entwickelt ist, geprüft werden“ (Adorno, 2003, S. 11). Diesen
hier verwendeten Begriff einer „reinen Immanenzphilosophie“
hat Adorno dann sicherlich dem Denken Cornelius entnommen: dabei handelt es sich für Cornelius letztendlich um den
methodischen und systematischen Ausschluss jeglicher Inhalte
oder Begrifflichkeiten (wie beispielsweise, wie wir sahen, des
traditionellen Kausalitäts- und Dingbegriffs), die nicht auf den
Bewusstseinsverlauf mit Klarheit und Evidenz zurückgeführt
werden können und deshalb als „Bewusstseinstranszendentes“
für Cornelius zu bezeichnen sind.
Zwar sind die unter Cornelius verfassten Arbeiten
Adornos grundsätzlich als Schulphilosophie rezipiert, derzufolge Adorno in ihnen bloss die philosophische Position seines
Lehrers und Betreuers unkritisch übernommen habe. Dabei
verträte er dieselbe Variante vom radikalisierten transzendentalen Idealismus Cornelius’, was in klarem Gegensatz zu dem eigentlichen – materialistischen – Philosophieren Adornos steht.
Als Schulphilosophie hat zuerst Rolf Tiedemann, der Herausgeber von Adornos Gesammelten Schriften, diese Phase seiner Produktion charakterisiert; die vollzogene Wende zum Materialismus, der eigentliche Anbeginn der Adornoschen Philosophie,
wäre dann ihm zufolge bei den sogenannten Vorträgen und
Thesen der frühen Dreißiger Jahre zu lokalisieren. In seinen
eigenen Worten:
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‘Der Begriff des Unbewußten’ und die frühe Husserlarbeit sind
Schulphilosophie: Arbeiten eines Schülers von Hans Cornelius, von
dem heute kaum mehr bekannt ist, als daß Lenin ihn einen Wachtmeister auf dem Professorenkatheder und Flohknacker schimpfte.
Sowohl Adornos Dissertation von 1924 – das Rigorosum fand am
28. 7. 1924 vor der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt a.M. statt – wie der ‘Begriff des Unbewußten’, den Adorno 1927
derselben Fakultät als Habilitationsschrift einreichte, aber noch vor
der Einleitung des Habilitationsverfahrens zurückzog, stellen sich
vorbehaltlos auf den Standpunkt der Cornelius’schen Version des
transzendentalen Idealismus. (…)
Die im zweiten Teil des Bandes abgedruckten Vorträge und Thesen
belegen den vollzogenen Übergang der Adornoschen Philosophie
vom transzendentalen Idealismus zum Materialismus; in Wahrheit
den Beginn der Adornoschen Philosophie. Er hängt, wenn man denn
Namen nennen will, mit der Ablösung von Cornelius und dem Anschluß an Walter Benjamin auf das engste zusammen (Adorno, 2003,
S. 382-3).12
Doch auch wenn wir diese herrschende Meinung nicht
revidieren müssen, ist es nötig zu erwähnen, dass Adorno interessanterweise diesen für sein Denken sehr bedeutenden Begriff lebenslänglich verwendet – auch wenn der Begriff bei dem
Carlo Pettazzi erzielt letztinstanzlich ähnliche Ergebnisse; diese
(Vor-)Periode des Denkens Adornos nennt er übrigens die transzendentale
Phase: „Possiamo infatti anticipare i risultati a cui arriveremo schematicamente cosí: la frattura, sia per forma come per contenuto, tra Der Begriff e
Kierkegaard è nettissima ed i punto di contatto praticamente assenti; un confronto tra le due tesi di libera docenza e le opere filosofiche successive mostra
che quanto il Der Begriff se ne discosta completamente, tanto il Kierkegaard
ne anticipa inequivocabilmente motivi essenziali. In questo quadro, quella
che noi abbiamo indicata come fase trascendentale, assume il carattere di
una parentesi senza conseguenze, di un intermezzo inspiegabile, all’interno
dello sviluppo del pensiero di Adorno. Non è infatti facile trovare da indicare
elementi della fase trascendentale, della lezione di Cornelius, che influenzino
il pensiero dell’Adorno maturo, o che permangano in qualche modo in esso.
Se si resto in campo filosofico, non pare che si possa andare al di là di indicazioni estremamente generali, come l’opposizione ad ogni intuizionismo,
l’atteggiamento antimetafisico et la diffidenza verso ogni dogmatismo; se si
estende l’attenzione all’atteggiamento complessivo verso a cultura si può ricordare anche l’interdisciplinarietà di interessi, la quale però è presente in
Adorno già fin dall’adolescenza. Che senso dare dunque all’adesione adorniana alla sistematica trascendentale, si di essa pare resti nelle opere successive
poco o nulla? Una prima risposta può essere fornita da quelle motivazioni di
carattere pratico che avevamo ipotizzato anche per Horkheimer (...)”. Pettazzi, 1977, S. 48-9.
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späten Adorno eine kritische Wende erfährt, da er gegen jede
Immanenzphilosophie richtet.
In diesem Sinne: Cornelius’ Gesamtpersönlichkeit, das
breite Spektrum seiner Interessen und Tätigkeiten, seine sehr
progressiven politischen Positionen, seine antidogmatische und
aufklärerische Philosophie in Auseinandersetzung und Kritik an
den wichtigsten Strömungen der Zeit und – last but not least –
seine akademische Befürwortung für die Einrichtung eines Instituts für Sozialforschung im Rahmen der Frankfurter Universität
machten ihn zu einer außerordentlichen akademischen Figur
von höher Wichtigkeit für seine Schüler. In dieser Hinsicht kann
Cornelius ohne jede Übertreibung als einen akademischen Vater
der Frankfurter Kritischen Theorie bezeichnet werden.
6. Schluss
Schließlich, um einen zugleich zusammenfassenden
und panoramischen Einblick in das Denken Hans Cornelius’ zu
geben, sei ein etwas langes, aber höchst instruktives Zitat von
Max Horkheimer angeführt, das Teil eines 1923 – das Jahr, da
Horkheimer bereits Cornelius’ Assistent war und Adorno sich
wohl bei der Vorbereitung seiner Dissertation befand – verfassten Textes ist, der sich dem Münchener Philosoph widmet.
Diese sehr lehrreiche Textstelle platziert in wenigen Zeilen das
Denken Cornelius innerhalb der neuzeitlichen Philosophiegeschichte und hat darüber hinaus den Vorzug, seine Philosophie
so darzustellen, wie der junge kritische Theoretiker sie empfang. So schreibt der junge Horkheimer:
Die Humesche Skepsis wurde von Kant überwunden. Cornelius hat
die Kantische Lösung aufgenommen und konsequent durchgeführt.
Diese Lösung liegt wesentlich im Hinweis auf gewisse fundamentale
Beziehungen zwischen den Erlebnissen, die man bis dahin zu studieren unterlassen hatte. Unmittelbar gegeben ist uns nämlich nirgends
eine bloße Summe von Einzelerlebnissen, die quasi als selbständige
Erwasse, mechanisch aneinandergereiht, einander folgen würden.
Dann freilich wären die Regelmäßigkeiten ihres Ablaufes (die Assoziationsgesetze, wie Hume sie aufgestellt hatte) das einzig Gesetzmäßige, was ihre Betrachtung uns enthüllen könnte. Vielmehr
zeigen sich die Erlebnisse verbunden zur Einheit des persönlichen
Bewußtseins, als dessen Teilinhalte sie sich geben und in Beziehung
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auf das sie immer nur Teilerlebnisse sind. In ihrer Vereinzelung betrachtet sind sie Abstraktionen, ja sogar falsche Abstraktionen. Die
Hauptaufgabe der Kantischen Transzendentalphilosophie, so wie sie
von Cornelius verstanden und gelehrt wird, ist es, die Beziehungen
zu studieren, die für die Einheit unseres Bewußtseins konstitutiv
sind, und die Faktoren herauszustellen, die notwendige Bedingungen für den Zusammenhang unseres Bewußtseins bilden. Die allgemeinsten Gesetze, die aus einer solchen Betrachtung sich ergeben,
müssen dann solche sein, ohne die ein Bewußtseinszusammenhang
nicht gedacht werden kann, und die daher grundlegend sind für alle
künftige Erfahrung. Das Studium dieser Gesetzäßigkeiten und auf
Grund dieses Studiums die endgültige Klärung der schon erwähnten
Grundbegriffe: des beharrlichen Dings, der Kausalität, der Persönlichkeit durch eingehende Bedeutungsanalysen ist Ziel und Inhalt
der Corneliusschen Philosophie (...) (Horkheimer, 1979, S. 151-2).
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