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144 Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVI /115, 2012, Heft 3+4 Eine Spurensuche Ein Archivkarton aus der Fotosammlung des Österreichischen Museums für Volkskunde. Darauf aufgeklebt vier Miniaturfotografien. Jede dieser Fotografien bildet fotografische Aufnahmen ab – insgesamt sind es 55. Dargestellt: Menschen. Menschen, in meist ähnlichen Posen. Zusammengestellt wahrscheinlich, um Tracht zu veranschaulichen. Die Bilder stammen aus der »Coll. Prof. Wilh[elm]. Krump« – über die uns, außer der Bildunterschrift, nichts überliefert ist und die auch die einzige Quelle zu den Bildern darstellt. »Coll[ection]« in Verbindung mit »Prof[essor]« deutet an, dass hier nicht nur aus reiner Schaulust gesammelt wurde, sondern dass auch ein wissenschaftliches Interesse im Spiel war. Darüber hinaus können wir für den Moment feststellen, dass es sich bei den vier Fotografien um komplexe Verdichtungen handelt, in denen sich mehrere Ebenen überlagern. Schon die Situation des Fotografierens der dargestellten Personen wirft einige Fragen auf. Wir können aus der Bildunterschrift schließen, dass es sich um Menschen handelt, die in den so genannten »Sokac-Ortschaften« gelebt haben. Wer sie waren, was sie taten, hofften, liebten, darüber werden wir nur sehr schwer etwas erfahren. Man müsste sich dafür wahrscheinlich mit den Fotografien vor Ort begeben, um Nachfahren zu finden – denen man damit vielleicht auch Bilder zurückgeben könnte, die deren Vorfahren nie gesehen haben. Wer in diesen Ortschaften mit der Kamera unterwegs war, um diese Aufnahmen (wieviele gab/gibt es sonst noch?) zu machen – Wilhelm Krump selbst, ein kommerzieller Fotograf, ein Forscher? – ist nicht klar. Wir wissen ebenso wenig nach welchen Kriterien die Personen für die Bilder gesucht und ausgewählt wurden. Wie wurden die Menschen dazu bewegt, sich fotografieren zu lassen? Erhielten sie Bezahlung? Wurden sie überredet? Die nächste Ebene auf die wir stoßen, ist die der Auswahl der 55 Bilder. Wer stellte die Fotografien zusammen, aus welchem Ensemble wurden sie ausgewählt? War es eine kleine Auswahl aus einem großen Fundus? Auf unterschiedlichen Ebenen dieser Fotografien finden wir Spuren, die davon zeugen, dass jemand über die Anordnung der Fotografien nachdachte. Sieht man sich die handschriftlich auf das Fotopapier der beiden ersten Miniaturfotografien aufgetragenen Nummern von eins bis 30 an, dann sind auf diesen einzelnen Aufnahmen noch zarte Spuren anderer Zeichen auszumachen. Wahrscheinlich waren dies in die Ne- Bernhard Hurch, Zum Verständnis und Unverständnis von Rudolf Trebitsch gative der Einzelaufnahmen eingeritzte Nummern. Damit könnten wir vermuten, dass der Fotograf – zu jener Zeit sehr wahrscheinlich männlich – der Bilder kein kommerzielles Interesse hatte – sonst hätte er die Negative nicht so behandelt – sondern eines, das von vorneherein auf ein Ordnen dieser Bilder ausgerichtet war. Bei den beiden anderen Miniaturfotografien wurden die Nummern (in einer anderen Handschrift) vor dem Abfotografieren direkt auf die 24 Einzelfotografien aufgetra- 145 146 Österreichische Zeitschrift für Volkskunde Abb. 1 LXVI /115, 2012, Heft 3+4 »Miniaturfotografien von 55 Aufnahmen der Bevölkerung aus den SokacOrtschaften des Komitates Bacs-Bodrog in Ungarn. Coll. Prof. Wilh. Krump.«, zw. Ende 1880 und 1911, historisches Komitat Bacs-Bodrog, Königreich Ungarn, heute Ungarn und Serbien. Maße in cm: H x B: l.o. 9,2 x 7,8; r.o. 9,3 x 8,1; l.u. 11,3 x 6,6; r.u. 7,8 x 9,5; aufgeklebt auf Archivkarton im Format A4; Silbergelatinepapier Fotosammlung Österreichisches Museum für Volkskunde, Inv. Nr. pos/14531 gen. Dabei sind die Nummern 31 bis 45 auf der dritten Miniaturfotografie kleiner als die Nummern 46 bis 55 auf der vierten. Berücksichtigt man hier den Unterschied in der Stilistik der Aufnahmen und den Unterschied in der Tracht, dann liegt der Verdacht nahe, dass diese Aufnahmen in anderen Ortschaften entstanden sind. Vielleicht sind diese Bilder zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Personen fotografiert und/oder bearbeitet worden. Im Moment können wir nicht eruieren, wer welchen Schritt der Bearbeitung durchgeführt hat. Die Ebene der mit Reisnägeln ähnlich einer Pinwand an die Wand befestigten 55 Bilder, die wir auf den vier Fotografien erkennen können selbst wirft die Frage auf, warum und wozu sie aufgehängt wurden. Diese Form der Präsentation ermöglichte es, sich einen Überblick über eine größere Zahl von Fotografien zu verschaffen, neuerDings sie gemeinsam zu sehen und zu vergleichen, sie damit aufeinander zu beziehen und voneinander abzugrenzen. Oder wurden sie nur für die Reproduktion als Miniaturfotografien so aufgehängt? Wir könnten es auch mit einer Art visuellem Inhaltsverzeichnis zu tun haben, denn die Zahlen können nicht nur für die Ordnung der Bilder wichtig sein, sondern auch auf externe Begleitmaterialien, wie zum Beispiel Aufzeichnungen zu den jeweiligen Einzelbildern, verweisen. Wir wissen nicht, ob all dies Wilhelm Krump selbst war, oder nur einige Schritte von ihm durchgeführt wurden – vielleicht bekam er die vier Fotografien von jemandem anderen und schenkte sie dann aus seiner Sammlung an das Wiener Völkerkundemuseum (von dort wurden sie in den 1950er Jahren dem Volkskundemuseum übergeben). Im Archiv kommt noch eine weitere Ebene dazu. Die Bilder sind hier isoliert und losgelöst von ihrer ursprünglichen Funktion. Dafür spricht auch, dass beim Aufkleben auf den Archivkarton der Numerus Currens nicht beachtet wurde und die Bildleserichtung nicht einheitlich ist. Wesentlich ist, dass Begleitinformationen fehlen. Mit dieser Lücke stehen wir heute einem Erbe von tausenden von Fotografien gegenüber, bei dem außer rudimentären Einträgen in den Inventarbüchern kaum Informationen erhalten sind. Dies zeugt einerseits von einer im Gegensatz zum Heute historisch differenten Auffassung von Fotografie und andererseits stellt es die gegenwärtige Bearbeitung vor große Probleme. Damit sind weder die Namen der Dargestellten und schon gar nicht Formen von Selbstzeugnissen erhalten. Die abgebildeten Personen wirken auf diesen Bildern wie Statisten oder reine Staffage. Dies stellt uns vor das Problem, kaum Möglichkeiten zu haben, den Menschen, die auf diesen Bildern dargestellt sind, in ihrer historischen Realität nachzuspüren und ihnen in ihrem Nachleben gerecht zu werden. Liest man heute Texte aus dieser Zeit und betrachtet dazu parallel diese Bilder, so ist die dort anklingende Erzeugung der Sprach- und Namenlosigkeit der behandelten Subjekte auffallend. Heute erscheint es – auch oder gerade dadurch – schwierig, diesen Menschen ihre Würde wiederzugeben. In einem Ausstellungsprojekt zum Thema »Volkstypen« für das Jahr 2013 und einer laufenden Dissertation werde ich versuchen, den Fragehorizonten, die in diesem Text anklingen, weiter auf die Spur zu kommen. Herbert Justnik unter Mitarbeit von Birgit Johler 147