Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
IMMIGRATION UND ENTREPRENEURSHIP IN ARGENTINIEN
Kulturelle, soziale und wirtschaftliche Determinanten
am Beispiel der deutschen Einwanderer, 1880 – 1930
20-wöchige Abschlussarbeit im Rahmen der Prüfung im Studiengang
M.A. Wirtschafts- und Sozialgeschichte
an der
Universität Göttingen
Gutachter: Prof. Dr. Hartmut Berghoff und PD Dr. Jan Logemann
vorgelegt am: 17.01.2019
von: Simon Gerards Iglesias
geboren in: Viersen
Matrikelnummer: 11602713
1
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung ........................................................................................................... 4
1.1. Motivation ....................................................................................................................... 4
1.2. Forschungsstand.............................................................................................................. 6
1.3. Untersuchungsgegenstand ............................................................................................ 10
1.4. Methodik und Forschungsfragen .................................................................................. 12
1.5. Aufbau ........................................................................................................................... 15
2.
Theoretische Vorüberlegungen ......................................................................... 15
2.1. Der Begriff des Unternehmertums ................................................................................ 15
2.2. Die Entstehung von Unternehmertum .......................................................................... 17
2.3. Die ethnische Determinante des Unternehmertums .................................................... 19
3.
Die Einwanderung der Deutschen nach Argentinien .......................................... 20
3.1. Statistischer Überblick .......................................................................................... 21
3.1.1. Die Entwicklung der Einwanderung bis 1930 ..................................................... 21
3.1.2. Die Motive der Einwanderung............................................................................ 26
3.2. Bilder und Perspektiven der deutschen Einwanderung in Argentinien .................... 29
3.2.1. Das Bild Argentiniens unter Deutschen.............................................................. 29
3.2.2. Die deutschen Auswanderer in ihrer ökonomischen Funktion .......................... 35
3.3. Die deutsche Einwanderergemeinde in Argentinien ............................................... 38
3.3.1. Formierung einer Gemeinschaft ........................................................................ 39
3.3.2. Gesellschaftliches Engagement und soziale Institutionen ................................. 43
3.3.3. Externe Krisen und die Ängste vor Identitätsverlust .......................................... 47
4.
Deutsche als Unternehmer – Zwei Case Studies ................................................ 51
4.1. Hermann Weil ...................................................................................................... 52
4.1.1. Die Anfänge in Argentinien ................................................................................ 52
4.1.2. Wirtschaftlicher Kontext, 1860-1900 ................................................................. 53
4.1.3. Der Aufstieg eines Geschäftsmodells ................................................................. 56
2
4.1.4. Krankheit und Weltkrieg .................................................................................... 60
4.1.5. Neuanfang und Niedergang ............................................................................... 64
4.2. Die Familie Staudt................................................................................................. 67
4.2.1. Die Anfänge in Argentinien ................................................................................ 67
4.2.2. Gründung des Handelshauses und schnelle Expansion ..................................... 68
4.2.3. Wirtschaftlicher Kontext und das Plädoyer Staudts für einen ‚fairen‘ Handel .. 71
4.2.4. Der soziale Aufstieg ............................................................................................ 75
4.2.5. Die Unternehmensnachfolge in Zeiten des Weltkrieges .................................... 78
4.2.6. Unternehmensaufspaltung und weitere Expansion nach dem Krieg ................. 81
5.
Diskussion und kritische Würdigung.................................................................. 85
6.
Fazit und Ausblick ............................................................................................. 90
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis .......................................................................... 92
Quellenverzeichnis ..................................................................................................... 93
Literaturverzeichnis .................................................................................................... 95
Anhang ....................................................................................................................... 99
3
„Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu begünstigen; sie darf in keiner Weise
den Eintritt in das argentinische Gebiet von Fremden, welche in der Absicht kommen, das Land zu
bebauen, die Gewerbe zu verbessern und Wissenschaften und Künste einzuführen und zu lehren,
beschränken und mit Abgaben belasten.“ 1
„Sie wissen ja, dass deutsche Handwerker jeglicher Art jederzeit Anstellung sofort finden können.
Überhaupt sind jetzt die Arbeitsverhältnisse in Argentinien sehr günstig […].“ 2
„Diese Ähren hier, das ist unsere Armee! Damit kämpfen wir!“ 3
1. Einleitung
1.1. Motivation
In jüngerer Zeit findet in der argentinischen Gesellschaft ein Wandel im Nationalbewusstsein statt, dem ein neues Geschichtsverständnis zu Grunde liegt. Politik und Gesellschaft
hingen jahrzehntelang der Idee eines homogenen Nationalvolks hinterher. Nach neuerem
Verständnis versucht man die Einwanderergruppen aufzuwerten, die gemeinsam und
durch ihre Diversität die argentinische Nation verkörpern.4 Die ehemalige Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner bezeichnete Argentinien als ein „Land der Einwanderer“,
welches einem „Schmelztiegel von Einwanderern jeglicher Natur“ gleiche.5 Museen in Argentinien dokumentieren historische Zeugnisse über die Migration und heben die Bedeutung der europäischen Einwanderung für die Entwicklung des Landes hervor. 6 Medien
erinnern an Jahrestage, wie an das einhundertzwanzigste Jubiläum der Ankunft der ersten
deutschen Juden im Jahre 1889. Volksfeste, wie die Fiesta Nacional del Inmigrante unterstreichen den gesellschaftlichen Wert der historischen Einwanderung in Argentinien.7 Das
1
Zit. nach Ministerio de Justicia y Derechos Humanos - Presidencia de la Nación (Hg.), Artículo 25 de la Constitución de la Nación Argentina, in: http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/04999/804/norma.htm (abgerufen am 08.01.2019).
2
K.[?] D.[?], ein deutscher Einwanderer, zit. nach Greger, José M., 100 Briefe. Von nach Argentinien (Südamerika) ausgewanderten Familien und einzelnen Personen, 2. Aufl., Freising vor München 1913, S. 146.
3
Hermann Weil, zit. nach Erazo Heufelder, Jeanette, Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte
der Frankfurter Schule, Berlin 2017, S. 12.
4
Vgl. Bindernagel, Franka, Deutschsprachige Migranten in Buenos Aires. Geteilte Erinnerungen und umkämpfte Geschichtsbilder 1910–1932, Paderborn 2014, S. 234.
5
Zit. nach Casa Rosada (Hg.), Palabras de la Presidenta de la Nación, Cristina Fernández de Kirchner, en el
acto central del día del Veterano, in: https://www.casarosada.gob.ar/informacion/archivo/28517-palabrasde-la-presidenta-de-la-nacion-cristina-fernandez-de-kirchner-en-el-acto-central-del-dia-del-veterano-y-delos-caidos-en-la-guerra-de-malvinas-en-ushuaia-provincia-de-tierra-del-fuego-antartida-e-islas-del-atlantico-sur (abgerufen am 08.01.2019).
6
Zum Beispiel wurde das Museo de la Inmigración im Jahre 2013 neu eröffnet und zeigt die verschiedenen
Facetten der Einwanderer und von Argentinien als Aufnahmeland von Europäern.
7
Vgl. o.V., La llegada de los judíos a la Argentina, a 120 años, in: https://www.lanacion.com.ar/1162441-lallegada-de-los-judios-a-la-argentina-a-120-anos (abgerufen am 08.01.2019).
4
Erbe der europäischen Einwanderer in Argentinien ist ein wichtiger Baustein im kontemporären kollektiven Nationalbewusstsein. Mehr als in anderen Staaten des spanischsprachigen Amerika galt im politischen Diskurs Argentiniens im 19. und frühen 20. Jahrhundert die
europäische Einwanderung als essentieller Bestandteil einer modernen Gesellschaft.8
Neben der gesellschaftlichen Debatte zeigt auch die Wissenschaft in den letzten Jahren ein
wachsendes Interesse an Einwanderern und ihren Beiträgen zur wirtschaftlichen Entwicklung in Lateinamerika. Das Interesse an regionalen Strukturen und Akteuren führte zu einer
stärkeren Akzentuierung von Unternehmern, welche nicht selten einen Migrationshintergrund hatten und erfolgreiche Geschäftsmodelle entwickelten.9 In der Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas wird jedoch prominenten Vertretern der Institutionentheorien,
die häufig ein Bild von gescheiterten lateinamerikanischen Nationen zeichnen, viel Aufmerksamkeit geschenkt. David LANDES oder Kenneth SOKOLOFF und Stanley ENGERMAN sehen
beispielsweise das Erbe spanischer Kolonialherrschaft als Ursache für eine wirtschaftliche
‚Unterentwicklung‘ Lateinamerikas.10 Diese globale, makroökonomische Perspektive sollte
nicht für sich allein beanspruchen, eine Wirtschaftsgeschichte für Lateinamerika zu schreiben. Hier kann die Unternehmensgeschichte ansetzen und durch den Fokus auf regionale
Perspektiven und Akteure eine alternative Sichtweise vortragen.
Der Zusammenhang von Migration und Entrepreneurship ist dabei ein wichtiges Forschungsfeld, das positive Beispiele der Unternehmensentwicklung in Lateinamerika aufzeigt.
Empirische
Untersuchungen
haben
bestätigt,
dass
die
europäische
Masseneinwanderung in Argentinien im 19. und 20. Jahrhundert eine positive Kraft für die
Wirtschaft war und durch Kapitalzuflüsse Reallöhne und Produktivität gesteigert wurden.
Der hohe Kapitalzufluss nach Argentinien vor dem Ersten Weltkrieg wäre ohne Einwanderung nicht erfolgt. Die Einwanderer haben sich in dieser Zeit auch als Unternehmer betätigt
und trugen so zur wirtschaftlichen Entwicklung maßgeblich bei, unter anderem, weil sie
8
Vgl. Halperín Donghi, Tulio, ¿Para qué la inmigración? Ideología y política inmigratoria y aceleración del
proceso modernizador. El caso argentino (1810-1914), in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, 13/1,
1976, S. 437–449, hier: S. 437.
9
Vgl. Dávila, Carlos, Entrepreneurship and Cultural Values in Latin America, 1850-2000. From Modernization,
National Values and Dependency, in: José L. Garcia-Ruiz u. Pier Angelo Toninelli (Hg.), The Determinants of
Entrepreneurship. Leadership, Culture, Institutions, London 2010, S. 143–160, hier: S. 155.
10
Vgl. ebd. , S. 153f; siehe dazu auch Engerman, Stanley u. Sokoloff, Kenneth, Factor Endowments, Inequality,
and Paths of Development Among New World Economics, in: Economía, 3/1, 2002, S. 41–109; Landes, David
S., The Wealth and Poverty of Nations. Why some are so rich and some so poor, New York 1998.
5
durch Netzwerke besseren Zugang zu ausländischen Kapitalgebern, Know-how und Technologie hatten.11
1.2. Forschungsstand
Die neuere Forschung über den Zusammenhang von Einwanderung und Entrepreneurship
ist interdisziplinär aufgestellt. Es dominieren Ansätze der Ökonomik und der Soziologie, bei
denen die Neue Institutionenökonomik als paradigmatische Grundlage dient.12 In der Forschung hat sich der Begriff Immigrant Entrepreneurship als Umschreibung des Phänomens
etabliert. Als Vertreter für die ökonomische Entrepreneurship-Forschung kann beispielhaft
der Beitrag von GALBRAITH u.a. genannt werden. Sie verstehen ethnische Netzwerke als
Klubgüter, deren Nutzung durch ethnische Zugehörigkeit bestimmt ist.13 Die wirtschaftssoziologischen Ansätze sind als Antwort auf neoklassische Ökonomiemodelle zu verstehen,
indem sie das Wirtschaften in den sozialen Kontext einbetten und über die Rationalitätsannahmen moderner Ökonomieforschung hinausgehen.14 Diese Perspektive tendiert wiederum dazu, den institutionellen Kontext zu vernachlässigen, sodass eine Art gemischte
Einbettung sinnvoll erscheint. Die Entscheidung des Migranten, ein Unternehmer zu werden, hängt sowohl von den zur Verfügung stehenden Ressourcen als auch von den gegebenen Marktstrukturen ab, die konkret zeitlich und lokal spezifisch sind.15
Die Geschichtswissenschaft kann den Forschungsansatz der gemischten Einbettung durch
eine historische Betrachtungsweise bereichern, um die komplexen Handlungsmuster und
Verlaufsformen von Immigrant Entrepreneurship grundlegend zu verstehen.16 Geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zu Immigrant Entrepreneurship wenden Case Studies
an, um zeitliche oder lokale Dynamiken und Kontinuitäten zu erfassen. Der historische
11
Vgl. Taylor, Alan M., Peopling the Pampa. On the Impact of Mass Migration to the River Plate, 1870-1914,
in: Explorations in Economic History, 34/1, 1997, S. 100–132, hier: S. 125ff; Pineda, Yovanna, Industrial Development in a Frontier Economy. The Industrialization of Argentina, 1890-1930, Stanford 2009, S. 66; Pineda,
Yovanna, Sources of Finance and Reputation. Mechant Finance Groups in Argentina Industrialization, 18901930, in: Latin American Research Review, 41/2, 2006, S. 3–30, hier: S. 9.
12
Vgl. Ebner, Alexander, Transnationales Unternehmertum. Wirtschaftssoziologische und institutionenökonomische Perspektiven, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 58/2, 2013, S. 149–162, hier: S. 155.
13
Vgl. Galbraith, Craig S.; Rodriguez, Carlos L. u. Stiles, Curt H., Ethnic economies, social capital and the economic theory of clubs, in: Leo Paul Dana (Hg.), Handbook of Research on Ethnic Minority Entrepreneurship.
A Co-evolutionary View on Resource Management, Cheltenham 2007, S. 16–29, hier: S. 16.
14
Vgl. Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 155.
15
Vgl. Kloosterman, Robert, Matching opportunities with resources. A framework for analysing (migrant) entrepreneurship from a mixed embeddedness perspective, in: Entrepreneurship & Regional Development,
22/1, 2010, S. 25–45, hier: S. 26.
16
Vgl. Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 162.
6
Vergleich ist dafür ein methodischer Ansatz, der Akteure in verschiedenen geographischen
Räumen untersucht. GODLEY vergleicht jüdische Immigrant Entrepreneurs in London und
New York und erforscht die verschiedenen kulturellen Einflüsse der Mehrheitsgesellschaft
in den Zielländern im Hinblick auf Assimilierung und wirtschaftliche Tätigkeiten der jüdischen Einwanderer.17 MINOGLU und STAVROS nutzen den Vergleich, um den Grad der Organisation griechischer Handelsfirmen in der russischen Schwarzmeerregion mit der von
westlichen Handelsunternehmen zu vergleichen.18
Die qualitative Case Study-Methode ist ein Ansatz, um maximal zu Kontextualisieren und
Eigenlogiken zu identifizieren. Case Studies untersuchen einen Akteur, der eine soziale
Gruppe repräsentieren kann, aber im hohen Maße individuelle Faktoren aufweist. Geschäftsmöglichkeiten ergeben sich spezifisch für eine soziale Gruppe, zum Beispiel für eine
ethnische Gruppe, weil diese über einen spezifischen Zugang zu Netzwerken und Ressourcen verfügt.19 Im Kontext der transatlantischen Migration gibt der Band von BERGHOFF und
SPIEKERMANN einen umfassenden Überblick über deutschstämmige Entrepreneure in den
USA. Insbesondere die historische Biografie von Eliteimmigranten dient hier zur differenzierten Analyse eines Musters von deutschen Einwanderern, ihren Familien und der Entstehung von ihren Unternehmen in den USA.20 Im Kontext von Lateinamerika untersuchten
bereits Studien in den 1970er Jahren den Zusammenhang von Migranten und Entrepreneurship. Eine der ersten Pionierarbeiten mit der Case Study-Methode ist FLEMINGS Untersuchung über Entrepreneurship im argentinischen Weinanbau. Diese Arbeit macht deutlich,
dass die kulturgeschichtliche Einbettung in der modernen Entrepreneurship-Forschung unabdingbar ist, obwohl die Forschung diesen Aspekt lange vernachlässigt hat.21 Die Case
Study unterstreicht die Wertschöpfung der Migrantenunternehmer und die innovative
17
Siehe dazu Godley, Andrew, Jewish Immigrant Entrepreneurship in New York and London, 1880-1914. Enterprise and Culture, New York 2001.
18
Siehe dazu Pepelasē Minoglu, Iōanna u. Stavros, Ioannides, Diaspora Entrepreneurship between History
and Theory, in: Youssef Cassis u. Iōanna Pepelasē Minoglu (Hg.), Entrepreneurship in Theory and History, New
York 2005, S. 163–189.
19
Vgl. Razin, Eran, The economic context, embeddedness and immigrant entrepreneurs, in: International
Journal of Entrepreneurial Behavior & Research, 8/1/2, 2002, S. 162–167, hier: S. 162.
20
Siehe dazu Berghoff, Hartmut u. Spiekermann, Uwe (Hg.), Immigrant Entrepreneurship. The German-American Experience since 1700, Washington 2016.
21
Vgl. Fleming, William J., The Cultural Determinants of Entrepreneurship and Economic Development. A Case
Study of Mendoza Province, Argentina, 1861-1914, in: The Journal of Economic History, 39/1, 1979, S. 211–
224, hier: S. 211.
7
Zerstörungskraft im traditionellen Wertesystem Argentiniens am Beispiel spanischer und
französischer Einwanderer in Mendoza.22
Auf FLEMINGS Arbeit aufbauend ergaben sich eine Reihe von Untersuchungen, hinsichtlich
der verschiedenen Branchen und der unterschiedlichen ethnischen Herkünfte von Einwandererunternehmern.23 Dabei kam den ausländischen Akteuren mit Direktinvestitionen eine
tragende Rolle zu. Befunde zeigen eine meist positiv konnotierte Rolle ausländischer Kapitalgeber oder Unternehmer in Argentinien und Mexiko in der fortschreitenden Industrialisierung. Mit den Forschungsbefunden bekamen ausländische Kapitalunternehmen in der
Entwicklung der Eisenbahnen, der Banken und der Fleischverpackungsindustrie, vorrangig
aus Großbritannien, einen prominenten Platz in der Erzählung einer argentinischen Wirtschaftsgeschichte.24 Allerdings wurden andere Formen des Immigrant Entrepreneurship,
wie die Rolle von dauerhaft eingewanderten Migranten, ausgeklammert.
Die Untersuchung von BUCHENAU kann für die noch lückenhaft aufgestellte Forschung bezüglich der deutschen Einwanderer in Lateinamerika genannt werden. BUCHENAU schließt
neben der kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise auch den politisch-wirtschaftlichen
Wandel als wichtigen Faktor für die Entwicklung von Entrepreneurship in einer deutschen
Auswandererfamilie in Mexiko ein. Die sogenannte Transkulturalität der Deutschen, ständig zwischen zwei Ländern zu stehen, spielt eine wichtige Rolle in der Entstehung von Immigrant Entrepreneurship.25
Über Entrepreneurship hinaus gibt es im internationalen wissenschaftlichen Umfeld in jüngerer Zeit ein bemerkenswert verstärktes Forschungsinteresse an deutschen Einwanderern
in Argentinien, welches die Identitäten und Einflüsse der Deutsch-Argentinier in der Formierung der argentinischen Gesellschaft thematisiert. Damit stehen diese Untersuchungen
in enger Tradition zur globalen Forschungsrichtung der Migrationsgeschichte, welche
Fleming argumentiert, dass ein Grund für das ‚Scheitern‘ Argentiniens beim Aufstieg zur hochentwickelten
Industrienation in dem Fehlen einer Unternehmerelite bestünde, die im Gegensatz zur traditionellen kreolischen Bevölkerung Profite anstatt Status erlangen wolle. Vgl. Fleming, Cultural Determinants, S. 213.
23
Vgl. Dávila, Entreprenreurship and Cultural Values, S. 155.
24
Vgl. ebd., S. 153-155.
25
Vgl. Buchenau, Jürgen, Tools of progress. A German merchant family in Mexico City, 1865 - present, Albuquerque 2004, S. 9f.
22
8
zunehmend Fragen der Transnationalität und Transkulturalität behandelt, häufig in Form
von Biografien.26
BINDERNAGEL schreibt über Erinnerungskulturen der deutschen Einwanderergemeinde, insbesondere mit der Auswirkung des Ersten Weltkrieges auf die Polarisierung der Gesellschaft.27 Eine kulturgeschichtliche Perspektive der ethnischen Identitätsstiftung liefert das
Werk von BRYCE, welches sich mit den sozio-kulturellen Austauschprozessen zwischen den
Einwanderergemeinden in Buenos Aires beschäftigt.28 BRYCE erweitert den Ansatz von
NEWTON, der den Wandel und die Resistenz der deutschen Einwanderergemeinde im Zuge
des demographischen Wachstums und aufkommenden Nationalismus in Argentinien untersucht.29 Den Einfluss deutscher Einwanderer auf die Entstehung des politischen argentinischen Sozialismus behandeln GAIDO und POY.30 KRAMER untersucht die Strukturen der
Einwanderervereine unter deutschen Einwanderern.31 Schließlich erforscht noch SAUVEURHENN mit einen quantitativen Blick die deutsch-sprachigen Einwanderer.32 Die deutsche
Einwanderung in Argentinien ist auch im Rahmen der Genderstudies von Interesse wie die
Untersuchungen von Frauenbiografien von HOCK und CHA u.a. zeigen.33 AZZI und TITTO ergründen Biografien, unter anderem zu deutschen Pionieren in der Industrialisierung Argentiniens, welche die individuellen Werdegänge der Unternehmer in einen speziellen
historischen Kontext setzen.34 Die Biografien zeigen, dass fast alle Unternehmer europäische Wurzeln hatten und ihre Unternehmen in einem historisch günstigen Moment gründeten.35 Die Untersuchung betont allerdings sehr die Charaktereigenschaften der
26
Vgl. Logemann, Jan, Transnationale Karrieren und transnationale Leben. Zum Verhältnis von Migrantenbiographien und transnationaler Geschichte, in: BIOS: Zeitschrift für Biographieforschung, oral history und Lebensverlaufsanalysen, 28/1/2, 2015, S. 80–101, hier: S. 86.
27
Siehe dazu Bindernagel, Deutschsprachige Migranten.
28
Siehe dazu Bryce, Benjamin, To Belong in Buenos Aires. Germans, Argentines, and the Rise of a Pluralist
Society, Stanford 2018.
29
Siehe dazu Newton, Ronald, German Buenos Aires. Social Change and Cultural Crisis, Austin 1977.
30
Siehe dazu Gaido, Daniel u. Poy, Lucas, Los inmigrantes alemanes y la ‘prehistoria’ del socialismo argentino
(1888-1894), in: Antíteses, 4/7, 2010, S. 81–98.
31
Siehe dazu Kramer, Valentin, Zwischen den Heimaten. Deutsch-argentinische Einwanderervereine in Rosario und Esperanza 1856-1933, Bielefeld 2016.
32
Siehe dazu Saint Sauveur-Henn, Anne, Un siècle d'émigration allemande vers l'Argentine. 1853-1945, Köln
1995.
33
Siehe dazu Hock, Beate, In zwei Welten. Frauenbiografien zwischen Europa und Argentinien. Deutschsprachige Emigration und Exil im 20. Jahrhundert, Berlin 2016.
34
Siehe dazu Azzi, María Susana u. Titto, Ricardo Julio de, Pioneros de la industria argentina, Buenos Aires
2008.
35
Vgl. Baudino, Verónica, Azzi, M. S. y Titto, R., Pioneros de la industria argentina, in: Estudios Económicos,
25/50, 2008, S. 125–132, hier: S. 126f.
9
Unternehmer, sodass der Eindruck von ‚Heldenepen‘ entsteht, weil nicht detailliert historisiert wird. Der Versuch, die Entwicklung der Unternehmen und der Wirtschaftsstruktur
Argentiniens nur mit individuellem Handeln von Personen zu erklären, greift aus wirtschaftshistorischer Sicht zu kurz.
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die Forschungslücke zwischen kulturhistorischen
und unternehmensgeschichtlichen Arbeiten zu schließen. Bislang fehlt eine Form der Unternehmensgeschichte, die das komplexe Zusammenspiel von individuellen unternehmerischen Ambitionen und Fähigkeiten mit der Einwanderergemeinde verknüpft und in einen
institutionellen Rahmen setzt, sodass dem linearen Narrativ eines Heldenepos entgangen
wird.
1.3. Untersuchungsgegenstand
Diese Arbeit gliedert sich in das steigende Interesse an den eingewanderten Minderheitengruppen in Argentinien ein und verbindet dies mit der Entrepreneurship-Forschung, deren
Beiträge seit den 1980ern verstärkt Einwanderer betrachten. Das Beispiel der deutschen
Immigranten in Argentinien kann dabei ein fruchtbarer Untersuchungsgegenstand sein. Die
quantitativ kleine Einwanderungsgruppe hatte eine qualitativ weitaus größere Bedeutung
als die reine Anzahl an Deutschstämmigen in Argentinien vermuten lässt. Die durchschnittlich besser ausgebildeten Deutschen, genossen aufgrund der positiven Konnotation mit der
‚deutschen Qualitätsarbeit‘, bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen exzellenten Ruf.36
Deutsche Einwanderer und Unternehmer hatten einen prägenden Anteil in der Transformierung der Wirtschaft zur Industrialisierung und auch im Bereich der Konsumkultur.37 Unter den großen Familienunternehmen im 20. Jahrhundert finden sich überproportional
viele, die durch deutsche Einwanderer gegründet wurden.38 Einige ihnen entwickelten sich
zu argentinischen Großunternehmen und Global Playern. Die kapitalstärkste Gesellschaft
im Jahre 1924 mit deutscher Verbindung war das Textilhandelsunternehmen Staudt & Cía.
Auch im Jahre 1930 war das Unternehmen kapitalkräftiger als Ableger der multinationalen
36
Vgl. Penny, H. Glenn, Material Connections. German Schools, Things, and Soft Power in Argentina and Chile
from the 1880s through the Interwar Period, in: Comparative Studies in Society and History, 59/3, 2017, S.
519–549, hier: S. 519.
37
Vgl. ebd., S. 519f.
38
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Anne, Die deutsche Migration nach Argentinien (1870-1945), in: Peter Birle (Hg.),
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien, Frankfurt am Main u.a. 2010, S. 21–52, hier: S. 32.
10
Großkonzerne aus Deutschland in Argentinien.39 Diese expandierten am Ende des 19. und
Anfang des 20. Jahrhundert nach Südamerika und siedelten nicht selten ihre ersten Filialen
im aufstrebenden Buenos Aires an, welches als Brückenkopf für Südamerika galt. Darunter
finden sich Niederlassungen und Tochterunternehmen der Deutschen Bank, von Philipp
Holzmann und der AEG.40 Die multinationalen Unternehmen setzten bei ihrem Auslandsengagement auf die Beschäftigung von Deutschen und gingen Kooperationen mit argentinischen Unternehmen ein.41
Wenn man von ausgewanderten Deutschen spricht, besteht ein gewisser Dissens über die
Begrifflichkeit. Der in älterer Forschung geläufige Begriff ‚Auslandsdeutsche‘ wird in dieser
Arbeit vermieden, da dieser Begriff den Bezug zum Reich zu stark suggeriert. Im Gegensatz
dazu ist ‚Deutschsprachige‘ ein Quellenbegriff, der alle Deutschsprechenden, unabhängig
von Grenzen und Staatsangehörigkeiten umfasst. Deutsche Einwanderer oder deutsche
Migranten hingegen sind analytische Begriffe und lassen die Verbindung der Geschichte
mit der Migrationsforschung zu.42
Der untersuchte Zeitraum beginnt 1880 mit dem Einsetzen der Masseneinwanderung in
Argentinien. Parallel dazu befand sich Argentinien in einem beispiellosen Wirtschaftsboom,
der sich zwar als krisenanfällig herausstellte, aber in einer langen Linie bis zur Mitte des 20.
Jahrhunderts bestehen blieb. Weil sich mehrere historische Zäsuren um 1930 feststellen
lassen, endet der Untersuchungszeitraum in diesem Jahr. Aufgrund der Kontraktion des
Welthandels und der Weltwirtschaftskrise brach am Ende der 1920er Jahre in Argentinien
das Wirtschaftswachstum massiv ein. Das bisherige Wirtschaftsmodell des Agrar-Exports
wurde von einer staatlich gelenkten importsubstituierenden-Industrialisierung (ISI) abgelöst. Die Ära der großen Masseneinwanderung endete ebenfalls in diesen Jahren und
39
Vgl. Lanciotti, Norma u. Lluch, Andrea, Empresas Extranjeras en Argentina / Foreign Companies in Argentina
Database, in: http://empexargentina.com/en/ (abgerufen am 08.01.2019). → Ranking (TOP 100) → Ranking
1923/4 ; Ranking → 1930
40
Vgl. Hertner, Peter, Globale Elektrifizierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Beispiel der DeutschUeberseeischen Electricitäts-Gesellschaft in Buenos Aires, 1898-1920, in: Hartmut Berghoff, Jürgen Kocka u.
Dieter Ziegler (Hg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Deutschlands
und Österreichs. Im Gedenken an Gerald D. Feldman, München 2010, S. 47–80, hier: S. 60f; Pohl, Manfred,
Philipp Holzmann. Geschichte eines Bauunternehmens, 1849 - 1999, München 1999, S. 117.
41
Zum Beispiel setzte die Deutsche Bank für ihr Tochterunternehmen Deutsche Ueberseebank 1887 als ihren
ersten Direktor Georg Eduard Maschwitz ein, der zuvor als Banker in Argentinien gearbeitet hatte und laut
Geschäftsbericht mit den dortigen Verhältnissen vertraut sei. Vgl. Deutsche Uebersee-Bank (Hg.), Erster Geschäfts-Bericht der Direction der Deutschen Uebersee-Bank, Berlin 1887, S. 2.
42
Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 223.
11
erlebte in ihren Ausmaßen nicht mehr die Zahlen vom Anfang des Jahrhunderts. Schließlich
führte der Militärputsch im Jahre 1930 einen politischen Regimewechsel herbei und beendete damit die Zeit einer relativ liberalen demokratischen Phase.43
1.4. Methodik und Forschungsfragen
Der analytische Rahmen dieser Untersuchung orientiert sich am Modell der ‚gemischten
Einbettung‘ von KLOOSTERMAN und RATH, das aus den drei Ebenen, der Mikro-, der Makround der Mesoebene besteht.44 Die Mikroebene ist dabei das Herzstück dieser Arbeit. Hierbei ist die biografische Case Study das analytische Werkzeug, das einen qualitativen Einblick
in die individuellen Wertvorstellungen und Erwartungshaltungen der Akteure liefert.45 Das
abstrakte Phänomen des Immigrant Entrepreneurship soll durch die Analyse von Biografien
einen konkreten Bezugspunkt bekommen und durch individuelle Betrachtungen über eine
bloße statistische Aggregation hinausgehen.46 In der Forschung gibt es ein wachsendes Interesse an biografischen Untersuchungen sogenannter Elitegruppen wie Geschäftsleute,
Intellektuelle und Professionals, was an der meist leichter zugänglichen Quellenlage liegt.47
Auch diese Arbeit wird sich in den Case Studies mit zwei Vertretern der Elitegruppe auseinandersetzen. Dazu wird eine breite Quellenbasis untersucht, die aus zeitgenössischen
Publikationen, Unternehmensfestschriften und diversen Sekundärquellen besteht.
Die Biografien werden eingebettet in das zweite Level, die Mesoebene. Hiermit sind lokale
ökonomische Gelegenheitsstrukturen gemeint, die zwischen den Individuen mit ihren Ressourcen und dem institutionellen Kontext liegen.48 Die Mesoebene ist vor allem erforderlich, um der methodologischen Gefahr eines linearen Narrativ oder Heldenepos zu
43
Vgl. Sánchez-Albornoz, Nicolás, Population, in: Leslie Bethell (Hg.), Latin America. Economy and Society,
1870-1930, Cambridge 1989, S. 83–114, hier: S. 89f; Thorp, Rosemary, Economy, 1914-1929, in: Leslie Bethell
(Hg.), Latin America. Economy and Society, 1870-1930, Cambridge 1989, S. 57–82, hier: S. 79f.
44
Vgl. Kloosterman, Matching opportunities, S. 27f; Kloosterman, Robert u. Rath, Jan, Introduction, in: Robert
Kloosterman u. Jan Rath (Hg.), Immigrant entrepreneurs. Venturing abroad in the age of globalization, Oxford
2003, S. 1–16, hier: S. 9.
45
Vgl. Faist, Thomas, The Volume and Dynamics of International Migration and Transnational Social Spaces,
2. Aufl., Oxford 2004, S. 31.
46
Vgl. Berghoff, Hartmut, The Immigrant Entrepreneurship Project. Rationale, Design, and Outcome, in: Hartmut Berghoff u. Uwe Spiekermann (Hg.), Immigrant Entrepreneurship. The German-American Experience
since 1700, Washington 2016, S. 53–68, hier: S. 53.
47
Vgl. Logemann, Migrantenbiographien, S. 86.
48
Vgl. Kloosterman, Matching Opportunities, S. 27f.
12
entgehen.49 Sowohl verschiedene Formen der Netzwerkbildung innerhalb der deutschen
Gemeinde im Ausland als auch die transatlantischen Verbindungen nach Deutschland sind
Beispiele für solche Gelegenheitsstrukturen, denn soziale Beziehungen und Kontakte können zur Mobilisierung von Ressourcen dienen und Geschäftschancen eröffnen. Da die Mesoebene die Zwischenräume von Individuen und kollektiven Gruppen erfasst, werden
damit auch aggregierte Kräfte von Entrepreneurship erforscht, die jenseits von individuellem Handeln und institutionellen Strukturen liegen.50 Konkret fallen darunter alle sozialen
Interaktionen und bewusste und subtile Wahrnehmungen und Handlungen, die sich aus
der historischen, lokalen Situation ergeben. Dazu dienen soziale und gesellschaftliche Einrichtungen wie Klubs, Vereine oder Kirchengemeinden als Quellenorte. GLENN PENNY sieht
die Unterscheidung von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Formen von Einflüssen als wichtige Voraussetzung für die Analyse von Prozessen und spezifischen historischen Situationen an.51 Mit
der Mesoebene deckt diese Arbeit die Analyse jener ‚weicher‘ Formen des Immigrant Entrepreneurship ab.
Da Mikro- und Mesoebene eher auf die individualhistorische Situation abzielen, ist die Betrachtung struktureller Bedingungen des gesamten institutionellen Kontextes notwendig,
um sich von der Beobachtung einer Art historischen Experimentes unter der Glashaube zu
lösen. Die Kontextualisierung durch die Makroperspektive ist bei Biografien ein wichtiges
Werkzeug, um die Entscheidungssituation der Entrepreneure in ein bestimmtes institutionelles Setting zu setzen.52 Die Akteure bewegen sich ständig in diesem Setting und die Umweltbedingungen sind stets im Zusammenspiel aller anderen Faktoren präsent.53 Dazu wird
in beiden Case Studies ein Kapitel über den Kontext bereitgestellt, das die individuellen
Handlungen historisch nachvollziehbar macht. Die Kontextualisierung geht aber über den
retrospektiven Zustand der Ökonomie hinaus und berücksichtigt auch eine allgemeine zeitgenössischen Wahrnehmung der Situation in Argentinien, die im Verlauf der Kapitel
49
Vgl. Pertilla, Atiba u. Spiekermann, Uwe, Living the American Dream? The Challenge of Writing Biographies
of German-American Immigrant Entrepreneurs, in: Bulletin of the German Historical Institute, 55, 2014, S.
77–90, hier: S. 78; Spiekermann, Uwe, Why Biographies? Actors, Agencies, and the Analysis of Immigrant
Entrepreneurship, in: Hartmut Berghoff u. Uwe Spiekermann (Hg.), Immigrant Entrepreneurship. The German-American Experience since 1700, Washington 2016, S. 37–51, hier: S. 43.
50
Vgl. Faist, International Migration, S. 33.
51
Vgl. Penny, Material Connections, S. 521.
52
Vgl. Spiekermann, Why Biographies?, S. 45.
53
Vgl. Dávila, Entrepreneurship and Cultural Values, S.158f.
13
erörtert wird. Reise- und Länderberichte sowie Auslandsführer dienen hier als wichtige
Quellen.
Der Einbezug von theoretischen Ansätzen soll in dieser Arbeit die empirischen Ergebnisse
deduktiv einordbar machen. Vom Standpunkt klassischer Unternehmertheorien mit ethnischen Aspekten werden die empirischen Ergebnisse systematisch betrachtet, um empirische Beispiele für theoretische Überlegungen zu schaffen. Dies knüpft auch an aktuelle
Forschungstrends zur Entrepreneurship-Forschung in Lateinamerika an, die eine Theoretisierung lange Zeit hat vermissen lassen.54 Dabei ist zu bemerken, dass eine reine Zuordnung
des empirischen Befundes zu einem theoretischen Unternehmerbegriff häufig nicht möglich ist. Schon SCHUMPETER verweist auf die lokalen, temporären oder generellen Ausprägungen
von
Entrepreneurship.55
Eine
Einordnung
in
die
Kategorie
‚Variety
of
Entrepreneurship‘, wie er im Ansatz der Neuen Unternehmensgeschichte zu finden ist, erscheint somit als notwendig.56 Im Verständnis dieses Forschungsansatzes erfassen Biografien die Prozesse, in welchen individuelle oder kollektive Akteure die Entwicklung von
Gütern und Märkten verfolgen. In diesem Prozess sind nicht nur Märkte, Industrien und
Kapitalismusformen als unveränderbares institutionelles Setting zu verstehen, sondern die
Akteure selbst transformieren durch ihre Entscheidungen die Institutionen.57
Diese Arbeit soll einerseits die historische Evidenz zum länderspezifischen Fall der Deutschen in Argentinien bereitstellen und andererseits durch eine theoretische Fundierung
versuchen, bestehende Entrepreneurship-Theorien mit empirischem Material zu unterfüttern. Vor diesem Hintergrund kann die Forschungsfrage, die dieser Arbeit zu Grunde liegt,
wie folgt formuliert werden.
➢ Unter welchen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten gründet sich unter
deutschen Einwanderern in Argentinien ein Unternehmertum, im Hinblick auf den historischen Zeitraum zwischen 1880 und 1930?
Aus dieser Frage wird gleichzeitig die These deutlich, die dieser Arbeit vorangestellt wird.
54
Vgl. Barbero, María Inés, Business History in Latin America. Issues and Debates, in: Franco Amatori u. Geoffrey Jones (Hg.), Business History around the World, Cambridge u.a. 2010, S. 317–335, hier: S. 326.
55
Vgl. Schumpeter, Joseph A., The Creative Response in Economic History, in: The Journal of Economic History, 7/2, 1947, S. 149–159, hier: S. 153f.
56
Siehe dazu Lubinski, Christina u. Wadhwani, R. Daniel, Reinventing Entrepreneurial History, in: The Business
History Review, 91/4, 2017, S. 767–794.
57
Vgl. Spiekermann, Why Biographies?, S. 45.
14
➢ Das Zusammenspiel von kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Besonderheiten bei
deutschen Einwanderern führte zu der Herausbildung spezifischer Unternehmungen, welche als Antwort auf historische Opportunitäten zu verstehen sind.
1.5. Aufbau
Vor diesem konzeptionellen Hintergrund ist die Arbeit wie folgt aufgebaut. Im ersten Teil
nach der Einleitung wird ein Kapitel einen theoretischen Überblick über Begriffe und Theorien des Unternehmertums geben, der auch die ethnische Komponente des Unternehmertums beinhaltet. Das anschließende dritte Kapitel behandelt die Einwanderung der
Deutschen in Argentinien. Zunächst wird ein kurzer statistischer Überblick über die quantitativen und qualitativen Dimensionen der deutschen Einwanderer gegeben, der auch die
Motive der Einwanderung aus einer Makro-Perspektive miteinschließt. Darauf folgen zwei
Teile über die Kulturgeschichte der Deutschen in Argentinien, in dem die zeitgenössischen
Erwartungen und Vorstellungen von Deutschen in Argentinien analysiert werden und sich
eine Untersuchung des ‚Innenlebens‘ der deutschen Einwanderergemeinde anschließt. Kulturgeschichtliche Empfindungen, Erwartungen und Wünsche der Zeitgenossen sollen hier
herausgearbeitet werden. Im vierten Kapitel folgt die Untersuchung von Einwanderer-Unternehmen anhand zweier empirischer Case Studies. Dazu werden zwei deutschstämmige
Unternehmerfamilien ausgewählt, deren Geschichte von der Migration nach Argentinien
bis zum Aufbau von Großunternehmen aufgearbeitet wird. Die analysierten Unternehmen
sind beide im Handelssektor anzusiedeln, welcher den prosperierenden Sektor in der Wirtschaftsstruktur Argentiniens im Untersuchungszeitraum repräsentiert. Im anschließenden
fünften Kapitel sollen die Forschungsergebnisse aus den Case Studies verglichen, diskutiert
und mit den vorherigen Kapiteln verknüpft werden. Das Fazit fasst die Forschungsergebnisse abschließend zusammen und gibt Impulse für die weitere Forschung.
2. Theoretische Vorüberlegungen
2.1. Der Begriff des Unternehmertums
Grundlegend für die Entrepreneurship-Forschung ist die Annahme, dass Unternehmer relevante Akteure im wirtschaftlichen Prozess sind. Anders als in der orthodoxen Ökonomieforschung angenommen, sind Unternehmer und Unternehmen keine Blackbox, deren
Ergebnis lediglich eine gewisse Güterallokation ist. Vielmehr ist die historische Erfahrung,
15
dass soziale Strukturen und Institutionen relevante Elemente in der Festlegung von Spielregeln und Konventionen sind, mit denen Marktprozesse funktionieren. Der Unternehmer
spielt darin als strategischer Akteur eine entscheidende Rolle. SCHUMPETERS zentrales Argument liegt im Konstrukt der sogenannten kreativen Erneuerung. Diese entsteht immer
dann, wenn es einem Unternehmer gelingt, eine Innovation in einem Markt zu platzieren.
Diese Innovation besteht entweder in der Einführung von neuen Waren in einem spezifischen Markt, von Prozessinnovationen oder in der Entdeckung neuer Absatz- und Rohstoffmärkte. Durch die kreative Erneuerung erhält die wirtschaftliche Situation einen positiven
Schub, sodass Wachstum generiert wird. Das Auftreten einer kreativen Erneuerung hängt
maßgeblich vom verfügbaren unternehmerischen Potenzial der Gesellschaft ab, also vom
relativen Anteil von Personen mit unternehmerischen Qualitäten.58
Der Unternehmer versucht durch strategische Entscheidungen, positive Effekte für seinen
Profit herbeizuführen. Strategisches Handeln ist dabei nicht gleichzusetzen mit rationalem
Handeln. Wie Israel KIRZNER zeigt, ist das unternehmerische Element in der Entscheidungsfindung nicht als ein rein rechnerisches aufzufassen und der Unternehmer nicht als passiver
Ausführer eines durch exogene Faktoren determinierten Handlungsverlaufes. Laut KIRZNER
ist jede unternehmerische Entscheidung das Ergebnis einer logischen Abfolge, der ein Unternehmer durch Lernprozesse adaptiert.59
Volatilität, Unsicherheit und unvollständige Information sind ständige Begleiter bei unternehmerischen Entscheidungen. Strategien, wie persönliche Absicherungen, Lerneffekte sowie hybride Organisations- und Produktionsformen sind explizite Reaktionen auf diesen
Schleier der Ungewissheit. Anstatt von rationalen Entscheidungen zu sprechen, sollte unternehmerisches Handeln als pragmatische Lösung auf bestehende Probleme gesehen werden.60 Dies wird als ‚unternehmerische Findigkeit‘ bezeichnet, welche sich im Hinblick auf
Veränderungen im Markt entfaltet.61
KIRZNER unterscheidet darüber hinaus idealtypisch zwischen dem ‚Produzenten‘ und dem
‚reinen Unternehmer‘. Ein Produzent ist derjenige, der bereits über Ressourcen verfügt und
diese als Produkte verkauft. Er kann somit als Produzent betrachtet werden, der als
58
Vgl. Schumpeter, Creative Response, S. 150-153.
Vgl. Kirzner, Israel M., Wettbewerb und Unternehmertum, Tübingen 1978, S. 28f.
60
Vgl. Zeitlin, Jonathan, The Historical Alternatives Approach, in: Geoffrey Jones u. Jonathan Zeitlin (Hg.), The
Oxford Handbook of Business History, Oxford/ New York 2008, S. 120–140, hier: S. 131.
61
Vgl. Kirzner, Wettbewerb, S. 31f.
59
16
Preisnehmer seinen Profit maximiert, indem er mittels optimalen Faktoreinsatzes eine Produktionsfunktion maximiert. Möglicherweise werden allerdings Ressourcen, die für die
Produktion eines Gutes verwendet werden, nicht für die effizientere Produktion eines anderen Gutes verwendet, weil dies ein Schleier der Ungewissheit verhindert. Anders gesagt
könnte eine bessere Koordination von Ressourcen zu kostensenkenden Produktionen führen, sodass der gesamtwirtschaftliche Nutzen steigt. Hier setzt KIRZNER seinen zweiten Idealtyp ein, den reinen Unternehmer. Dieser Akteur ist mit der unternehmerischen Findigkeit
ausgestattet, über die reine Ressourcenallokation hinaus, nach dem Vorhandensein von
bislang unentdeckten Preisunterschieden zwischen Ressourceneinsatz und Produktionsausstoß zu suchen. Er besitzt, im Gegensatz zum Produzenten oder Kapitalisten, keine eigenen Mittel, sondern sucht nach ökonomischen Gelegenheiten.62 In plakativer Sicht
besteht Unternehmertum
„[…] nicht darin, nach einem freien Zehndollarschein zu greifen, den man bereits irgendwo
entdeckt hat, es besteht vielmehr darin, zu entdecken, dass es ihn gibt und dass er greifbar
ist.“63
Eine natürliche Person kann freilich reiner Unternehmer und sein eigener Finanzier oder
bereits Eigentümer von Ressourcen zugleich sein. Es besteht lediglich ein Unterschied in
der analytischen Betrachtungsweise. Es muss also identifizierbar sein, dass eine Entscheidung eine rein unternehmerische zum Ausnutzen einer Gelegenheit ist und nicht lediglich
eine optimale Ressourcenallokation.64
2.2. Die Entstehung von Unternehmertum
Der Unternehmer selbst ist definiert als eine Person. Dies führt zum Problem, dass andere
Akteure in der Entdeckung von Gelegenheiten nicht beachtet werden, sondern das Unternehmertum auf eine Person reduziert wird. Unternehmertum oder Entrepreneurship65
werden häufig als hoch individualistischer Prozess verstanden, obwohl der Prozess der
‚Kirznerischen Findigkeit‘ von Gelegenheiten stark von der Existenz und der Nutzung von
Netzwerken
abhängt. Ein
erfolgreicher
Unternehmer
muss
Schlüsselnetzwerke
62
Vgl. Kirzner, Wettbewerb, S. 35ff.
Zit. nach ebd., S. 38.
64
Vgl. ebd., S. 40.
65
Die Begriffe Unternehmertum und Entrepreneurship werden, je nach benutzter Sprache und Disziplin, in
der Forschung häufig äquivalent verwendet. Auch in dieser Arbeit wird Unternehmertum und Entrepreneurship als Umschreibung für das gleiche Phänomen verwendet.
63
17
identifizieren, in die er eintreten muss, um relevante Interessengruppen gezielt zu behandeln.66 In diesem Sinne ist Entrepreneurship nicht Output einer einzelnen Firma oder Person, sondern Resultat einer Unternehmensorganisation innerhalb einer Firma oder eines
Netzwerks zwischen verschieden Firmen und Akteuren. Dies führt zur Bezeichnung einer
innovativen Unternehmung.67
SHANE und VENKATARAMAN definieren Entrepreneurship als einen Prozess der Entdeckung,
Bewertung und Ausnutzung von Gelegenheiten, um neue Produkte oder Dienstleistungen
zu erbringen. Sie liegen also nah an KIRZNERS Verständnis von Unternehmertum. SHANE und
VENKATARAMAN gehen von einer Welt aus, in der gewisse Menschen Gelegenheiten ergreifen
und zwar abhängig von der Situation in der Umwelt, in der sie sich befinden. Sie gehen also
nicht von einer gleichgewichtigen Situation aus, in der gewisse persönliche Eigenschaften
zu Entrepreneurship führen, wie es etwa SCHUMPETER annimmt. Vielmehr begreifen die Autoren die Entstehung von Entrepreneurship als situationsspezifischen und transitorischen
Prozess, der sich aufgrund spezieller Rahmenbedingungen ergibt.68 Die ungleiche Verteilung von Entrepreneurship erklären SHANE und VENKATARAMAN mit zwei Faktoren. Erstens
führen Informationskorridore dazu, dass das Entdecken von Gelegenheiten nur einigen Personen oder Gruppen gelingt, weil diese auf einige Informationen spezialisiert sind. Zweitens sind kognitive Fähigkeiten wichtig, um Gelegenheiten nicht nur zu identifizieren,
sondern sie auch erfolgreich in ein Produkt umzuwandeln. Hier ist der Begriff des ‚unternehmerischen Elementes‘ wichtig, weil Gelegenheiten nur dann zu Innovationen werden,
wenn sie erfolgreich im Markt platziert werden.69 SHANE und VENKATARAMAN betrachten Gelegenheiten als objektive Phänomene, die aufgrund asymmetrischer Information nicht für
alle zur selben Zeit sichtbar sind.70 Diese Definition hat den Nachteil, dass lediglich ergriffene Gelegenheiten retrospektiv erklärt werden können und die individuelle Perspektive
des Entrepreneurs vernachlässigt wird.
66
Vgl. Casson, Mark, Networks in Economic and Business History. A Theoretical Perspective, in: Andreas
Gestrich u. Margrit Schulte-Beerbühl (Hg.), Cosmopolitan Networks in Commerce and Society, London 2011,
S. 17–49, hier: S. 46f.
67
Vgl. Lazonick, William, Understanding Innovative Enterprise. Toward the Integration of Economic Theory
and Business History, in: Franco Amatori u. Geoffrey Jones (Hg.), Business History around the World, Cambridge u.a. 2010, S. 31–61, hier: S. 33.
68
Vgl. Shane, Scott u. Venkataraman, Sankaran, The Promise of Entrepreneurship as a Field of Research, in:
Academy of Management Review, 25/1, 2000, S. 217–226, hier: S. 218f.
69
Vgl. ebd., S. 222.
70
Vgl. ebd., S. 220.
18
2.3. Die ethnische Determinante des Unternehmertums
Anders als die Neoklassik, zeigt die wirtschaftssoziologische Forschung, dass die Unternehmerfunktion keine Blackbox, sondern eine komplexe und beobachtbare Angelegenheit ist.
Die kulturelle Einbettung des Unternehmers ist dabei von zentraler Bedeutung, da alles
Wirtschaften einer kulturellen Variablen folgt, die durch Werte, Normen und Regeln determiniert ist.71 Die kulturelle Einbettung ist nicht als überhistorische, institutionell neutrale
Konstante zu sehen, sondern als sozial konstruierte historische Variable, deren Wirkung
eng verflochten ist mit der Art des Wirtschaftens.72 Insbesondere im Hinblick auf transnationales Unternehmertum ist die kulturelle Determinante von besonderer Bedeutung, weil
Unterschiede zwischen den Kulturen der Immigranten und der Einheimischen bestehen. So
können konkrete kulturelle Abgrenzungs- oder Assimilationsstrategien Ursache für den geschäftlichen Erfolg oder Misserfolg sein. Gerade im Hinblick auf SCHUMPETERS Betonung der
Funktion des Unternehmers als kreativer Erneuerer kann der Typus des migrantischen Unternehmers aufgrund seiner Nichtzugehörigkeit zum traditionellen Wertesystem besonders gut geeignet sein, um Neuerungen einzuführen und damit das kapitalistische System
anzutreiben.73
Die kulturelle Abgrenzung der ethnischen Minorität zur dominanten Kultur kann als spezifischer ethnischer Gruppenvorteil bewertet werden. Durch diese Form der Abgrenzung
sind Menschen nicht an die normative Werte der dominanten Kultur gebunden, sodass gewisse Attribute der ethnischen Gruppen helfen können, strukturelle Standortnachteile zu
überbrücken.74 Da die allgemeine Unternehmerfunktion kulturell eingebettet ist, definiert
transnationales Unternehmertum den
„Prozess der Identifizierung, Bewertung und Nutzung von Marktgelegenheiten, der wiederum von ethnischen Strategien, ethnischen Gruppenressourcen, Gelegenheitsstrukturen
sowie sozialräumlichen Aspekten urbaner Agglomerationen geformt wird“.75
71
Vgl. Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 156.
Vgl. ebd., S. 154.
73
Vgl. Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 151.
74
Vgl. Granovetter, Mark, The Economic Sociology of Firms and Entrepreneurs, in: Alejandro Portes (Hg.), The
Economic Sociology of Immigration. Essays on Networks, Ethnicity, and Entrepreneurship, New York 1995, S.
128–165, hier: S. 148.
75
Zit. nach Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 156.
72
19
Diese Definition von Immigrant Entrepreneurship von EBNER betont die Aspekte der ethnischen Konstante bei transnationalem Wirtschaften. Strategien, Strukturen und Gelegenheiten bilden dabei ein interdependentes Geflecht, das von WALDINGER u.a. in einem Modell
illustriert wird. Angelehnt an das Kirznersche Verständnis von Unternehmertum, wird zunächst von einem ungleichgewichtigen Markt mit geringen Eintrittsbarrieren ausgegangen.
Die Eintrittskosten sind gering, weil es zum Beispiel eine positive Nachfrage für spezielle
ethnische Konsumprodukte gibt, die noch nicht bedient wird oder es sich um einen peripheren Markt handelt, der bislang von Wettbewerbern gemieden wurde.76 Der Zugang zu
Marktchancen ist für potentielle Einwandererunternehmer dann gegeben, wenn ein relativ
geringer inländischer Wettbewerb herrscht und gleichzeitig ein schnelles Wirtschaftswachstum Spielräume für neue Branchen bietet.77
Das Modell zeigt ebenfalls wie diverse Gruppencharakteristika die Strategien der ethnischen Gruppe bedingen. Die spezielle geografische Niederlassung der Immigranten in Enklaven, eine selektiertes Einwanderungsregime sowie verschiedene individuelle Ansprüche
spiegeln sich in den Ausprägungen der Geschäftsstrategien wider. Handelt es sich bei den
Einwanderern um eine vom Land kulturell und linguistisch ferne Gruppe ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass durch die Selbstständigkeit Arbeit gefunden wird. Auch macht es einen
Unterschied, ob alleinstehende männliche Einwanderer ins Land kommen oder Familien
gemeinsam einwandern.78 Außerdem ist das Ausmaß an Ressourcenmobilisierung prägend. Je enger die Verbindungen zu Mitgliedern derselben ethnischen Gruppe, desto eher
werden zum Beispiel Kapitalressourcen aus diesem Milieu mobilisiert.79
3. Die Einwanderung der Deutschen nach Argentinien
Argentinien war ein Spätentwickler als Ziel europäischer Auswanderung. Bereits in der spanischen Kolonialzeit war das Vizekönigreich Río de la Plata ein spät eingegliedertes Gebiet
und in der Frühphase der Unabhängigkeit ein von Bürgerkriegen geplagtes Land, das für
76
Vgl. Waldinger, Roger; Aldrich, Howard u. Ward, Robin, Opportunities, Group Characteristics, and Strategies, in: Roger Waldinger, Howard Aldrich u. Robin Ward (Hg.), Ethnic Entrepreneurs. Immigrant Business in
Industrial Societies, Newbury Park u.a. 1990, S. 13–48, hier: S. 22-28.
77
Vgl. ebd., S. 28.
78
Vgl. ebd., S. 32f.
79
Vgl. ebd., S. 35-38.
20
viele Auswanderer zunächst unattraktiv erschien. Erst nach der Konsolidierung des Nationalstaats und der wirtschaftlichen Expansion Argentiniens setzte eine Massenmigration aus
Südeuropa nach Argentinien ein und eine Phase der Massenauswanderung aus Europa
ein.80 Neben Italienern und Spaniern gelangten auch Gruppen vieler anderer europäischer
Staaten nach Argentinien, darunter die Deutschen.
Die Forschung stellt eine große Auswahl an statistischem Material über die Einwanderung
zur Verfügung. Einschränkend zu den historischen Erfassungen ist zu bemerken, dass die
Statistiken aufgrund ihrer signifikanten Unterschiede nicht reliabel sind. Die Zahlen variieren zwischen deutschen und argentinischen Statistiken, da es unterschiedliche Messungen
und Zählungen von Nationalangehörigen gab. Alle quantitativen Aussagen zu Zeiten der
Massenmigration sind also mit Vorsicht zu betrachten.81 Eine alternative Quelle für die Forschung, auf Passagierlisten der Schifffahrtsgesellschaften zurückzugreifen, scheitert an der
Einschränkung, dass dort nur Passagiere der zweiten und dritten Klasse systematisch registriert wurden.
3.1. Statistischer Überblick
3.1.1. Die Entwicklung der Einwanderung bis 1930
Bevor die Massenauswanderung in die südamerikanischen Staaten in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts einsetzte, spielte die deutsche Auswanderung nach Argentinien quantitativ keine Rolle. Auch wenn die statistischen Belege für die Auswanderung im 19. Jahrhundert nur eingeschränkt vertrauenswürdig sind kann man davon ausgehen, dass bis 1880
lediglich etwa 0,1 % bis 0,2 % aller deutschen Auswanderer nach Argentinien gelangten.82
Die wenigen Deutschen in Argentinien bildeten jedoch eine Gruppe mit der höchsten Alphabetisierungsrate. Außerdem war diese Gruppe eher männlich und stark religiös protestantisch eingestellt.83
Die erste systematische Einwanderung von Deutschen nach Argentinien fiel in die sogenannte vierte allgemeine Auswanderungswelle der Deutschen im 19. Jahrhundert, die im
80
Vgl. Devoto, Fernando, Historia de la inmigración en la Argentina, Buenos Aires 2004, S. 249f.
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 237f; Kellenbenz, Hermann u. Schneider, Jürgen, La
emigración alemana a América Latina, 1821-1930, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, 13/1, 1976, S.
386–403, hier: S. 386.
82
Vgl. Kellenbenz u. Schneider, La emigración alemana, S. 388.
83
Vgl. Devoto, Historia de la inmigración, S. 218.
81
21
Jahre 1880 einsetzte und bis zum Jahr 1893 anhielt. Der größte Teil dieser Menschen verlies
Deutschland in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika. Argentinien erreichten vergleichsweise wenige Deutsche. In den großen Auswandererjahren, den 1880ern, wanderten etwas mehr als zehntausend Deutsche nach Argentinien aus.84 Diese Zahl bezieht sich
auf die sogenannte Nettoeinwanderung. Die Betrachtung von Einwanderersalden ist wichtig, weil Rückwanderungen aus Amerika nach Europa häufig auftraten. Der Hauptgrund für
dieses Phänomen in Argentinien ist mit Saisonarbeitern zu erklären, die nur für eine gewisse Periode ins Land kamen, um wieder zurückzukehren, sobald sie genügend Geld verdient hatten. Zwischen 1870 und 1910 wanderten 44 % der nach Argentinien
eingewanderten Deutschen wieder aus. Mit Ausnahme der Spanier lag die Gruppe der
Deutschen deutlich unter den Rückwanderungszahlen anderer Nationen.85 Zwischen 1885
und 1904 rangierte der Anteil von Argentinien als Auswanderungsziel der Deutschen bei
etwa 1,4 %.86 Trotz der vergleichsweise niedrigen Einwandererzahlen kann man im Falle
der Deutschen von einem Massenphänomen sprechen, da die Auswanderung nach Argentinien systematisch geplant und organisiert verlief, sodass im Saldo mehrere tausend Personen jährlich einwanderten.87
Die Auswanderung der Deutschen nach Argentinien fiel zeitlich mit der großen Einwanderungswelle von Europäern in Argentinien zusammen, die seit den 1880er Jahren stattfand
und langfristig bis 1929 anhielt.88 Der wichtigste Grund für den starken Anstieg der Einwanderung war die wirtschaftliche Prosperität des Landes und die einwandererfreundliche Politik zu dieser Zeit. So gab es in den 1880er Jahren staatliche Unterstützung wie die
Übernahme der Überfahrtskosten der Immigranten und die kostenlose Unterbringung,
Verpflegung und Transport zu Beginn des Aufenthaltes. In den 1890er Jahren kam es zu
einem Abschwung der Nettoeinwanderung in Argentinien, jedoch lag der Saldo der deutschen Migranten mit über 4.800 Personen noch über dem Saldo der 1870er Jahre. Die
84
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Die deutsche Migration, S. 24f.
Vgl. Balderas, J. Ulyses u. Greenwood, Michael J., From Europe to the Americas. A comparative panel-data
analysis of migration to Argentina, Brazil, and the United States, 1870-1910, in: Journal of Population Economics, 23/4, 2010, S. 1301–1318, hier: S. 1303. Zum Vergleich lagen die Rückwanderungsquoten bei: Spaniern (39 %), Italienern (55 %), Briten (57 %), Portugiesen (64 %).
86
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 249.
87
Vgl. ebd., S. 246.
88
Vgl. Maurizio, Roxana, Migraciones internacionales en Argentina. Un análisis de sus determinantes y de su
relación con el mercado de trabajo, in: http://www.mininterior.gov.ar/provincias/archivos_prv25/Migraciones_Argentina_Maurizio.pdf (abgerufen am 08.01.2019), S. 6.
85
22
Finanz- und Schuldenkrise in Argentinien im Jahre 1890 mit dem darauffolgenden wirtschaftlichen Abschwung ist hierbei der Hauptgrund für den Rückgang.89 Ab 1901 stiegen
die Zahlen der deutschen Einwanderer wieder deutlich und hielten bis 1914 an, auch wenn
die deutschen Einwanderersalden nicht wieder die Höhen aus den 1880ern erreichten. Der
Überschusssaldo lag bei rund 8.300 Personen.90
Insbesondere in der Phase vor dem Ersten Weltkrieg herrschte in Argentinien ein freundliches Klima gegenüber Einwanderern aus Nordeuropa, ganz im Gegensatz zu Einwanderern
aus Italien und Spanien, die den Großteil der Eingewanderten ausmachten. Die massenhafte Ankunft von Personen aus diesen beiden Ländern, zumeist mit niedriger oder minimaler schulischer Bildung, wurde von der argentinischen Öffentlichkeit sehr skeptisch
beäugt. Weiteren Rückenwind bekamen die Gegner der Masseneinwanderung aus Spanien
und Italien in Argentinien, als sozialistische und anarchistische Bewegungen aus der Einwandererszene die Arbeiterschaft in Argentinien erreichten und zu Streiks und Widerstand
gegen die Arbeitsbedingungen aufriefen.91
Die Entwicklung der Einwanderung der Deutschen in Argentinien nimmt nach dem Ersten
Weltkrieg einen neuen Verlauf. Nachdem während des Ersten Weltkrieges die Einwanderung aus allen europäischen Nationen nach Argentinien de facto zum Erliegen gekommen
war, setzte die Masseneinwanderung nach Argentinien in der Zwischenkriegszeit wieder
ein. In den ersten vier Jahren nach dem Krieg lag der Überschusssaldo bei jährlich rund
2.570 Personen, wobei das Jahr 1922 die meisten Nettoeinwanderer zählt.92 Die beiden
folgenden Jahre markierten einen radikalen Umschwung in der deutschen Einwanderung
nach Argentinien. In den Jahren 1923/24 erreichten über 26.400 Deutsche Argentinien und
der mittlere jährliche Saldo betrug 8.331. Dieser sehr starke Anstieg der deutschen Einwanderer lässt sich primär mit der Verschärfung der ökonomischen und politischen Lage im
Deutschen Reich erklären.93 Zugleich verschärften die USA in den Jahren 1921 und 1924
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 132; S. 252.
Vgl. ebd., S. 252.
91
Vgl. Halperín, Ideología y política inmigratoria, S. 473; Devoto, Historia de la inmigración, S. 252.
92
Vgl. Kellerbenz u. Schneider, S. 391; S. 400.
93
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Die deutsche Migration, S. 25; 87.
89
90
23
ihre Einwanderungsquoten, was der signifikante Anstieg des Migrationssaldos in Argentinien widerspiegelt.94
Insgesamt gewann Argentinien als Ziel deutscher Auswanderer im 20. Jahrhundert an Bedeutung. So wanderten zwischen 1885 und 1904 etwa nur 1,4 % aller Auswanderer aus
Deutschland nach Argentinien aus, zwischen 1905 und 1910 betrug dieser Anteil bereits
2,4 %. Nach dem Ersten Weltkrieg stieg Argentinien dann zu einem der wichtigeren Auswandererziele der Deutschen auf. Der Anteil variierte in den Nachkriegsjahren bis Anfang
der 1930er Jahre zwischen 5,1 % und 13,9 %.95
Im Hinblick auf die Anteile der Deutschen an allen Einwanderergruppen nach Argentinien,
nahm die quantitative Bedeutung der Deutschen im Verhältnis zu anderen Einwanderergruppen erheblich zu. Zwischen 1920 und 1930 belief sich der Anteil der deutschen Einwanderer auf durchschnittlich 6 %, ein Anteil, der deutlich größer war als vor dem Ersten
Weltkrieg.96 Neben den Erstankömmlingen war die Zahl der gesamten deutschstämmigen
Bevölkerung in Argentinien allerdings ungleich höher. Die gesamte deutschstämmige Bevölkerung in Argentinien umfasste neben den Erstankömmlingen auch die in Argentinien
Geborenen mit deutschen Vorfahren. Eine absolute Zahl der deutschsprachigen Gemeinde
in Argentinien ist jedoch schwierig zu bestimmen, da Neugeborene in der Regel die argentinische Nationalangehörigkeit erhielten und demnach de jure als Argentinier betrachtet
wurden. Zumindest die drei Zensus geben einen annähernden Aufschluss über die Anzahl
der Deutschen in Argentinien. So beziffert der Zensus von 1869 die Zahl auf 4 .89, der von
1895 auf 17.143 und 1914 werden 26.995 Deutsche gezählt.97
Die Betrachtung der Geschlechterverteilung macht deutlich, dass Männer einen viel größeren Anteil an den deutschen Einwanderern ausmachten als Frauen. Im Laufe der Zeit nahm
der ursprünglich sehr hohe Männeranteil aber ab. Im Jahre 1869 waren 73 % der deutschen
Einwanderer männlich und 1914 belief sich derselbe Anteil auf 64 %. Insbesondere in den
Jahren mit den meisten Einwanderern dominierten die Männer mit zeitweise 80 %.98 Dieser
94
Vgl. Solimano, Andrés, Development cycles, political regimes and international migration. Argentina in the
twentieth century, in: George Borjas u. Jeff Crisp (Hg.), Poverty, International Migration and Asylum, Hampshire/ New York 2005, S. 251–275, hier: S. 261.
95
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 249f.
96
Vgl. ebd., S. 250f.
97
Vgl. Bryce, German Buenos Aires, S. 16f; Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 279.
98
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 252, eigene Berechnung.
24
Trend setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg fort. Im Jahre 1923, dem stärksten Einwandererjahr der Deutschen, waren knapp 70 % der Einwanderer männlich und im Jahre 1930
waren es etwa 64 %.99 Es fällt statistisch auf, dass in den Jahren mit einer großen Zahl von
Einwanderern der Anteil der Frauen deutlich niedriger war und in den Jahren mit weniger
Einwanderern die Anteile der Frauen anstiegen. Auf der anderen Seite dokumentiert der
Zensus der Stadt Buenos Aires von 1936, dass die männliche Dominanz deutscher Einwanderer mit über 56 % nur einschränkend zurückging. Dies ist nicht anders als bei anderen
Einwanderergruppen in Argentinien. Auffällig ist dennoch, dass der Anteil männlicher deutscher Einwanderer in Argentinien mit 60 % signifikant höher war als bei anderen deutschen
Auswanderern in andere Länder mit durchschnittlich knapp 55 %.100
Ein Erklärungsansatz dafür könnten die prekären Umstände vieler Auswanderer sein. Gerade in Jahren mit vielen deutschen Auswanderern, waren die Push-Faktoren aus Deutschland besonders relevant, sodass auch die Überfahrt nicht sofort für die ganze Familie
bezahlt werden konnte und in Argentinien erst eine Beschäftigung gefunden werden
musste. Dies betraf vor allem die Zeit am Anfang der 1920er Jahre, als in Deutschland Massenarbeitslosigkeit und Hyperinflation herrschten.101 Zugleich wanderten in diesen Jahren
überdurchschnittlich viele unverheiratete junge Männer aus. Ein Auslandsratgeber empfahl insbesondere Unverheirateten, sich zunächst mit den Verhältnissen und der Sprache
vertraut zu machen und eine Beschäftigung zu suchen. Ebenso wurde generell empfohlen,
dass der Mann zunächst allein auswandert „und die Familie erst nachkommen lässt, wenn das
Heim einigermaßen eingerichtet ist“.102 Der Familie blieben damit die ersten schweren Zeiten,
in der der Mann noch mittellos war, erspart.
Die räumliche Niederlassung der Deutschen in Argentinien konzentrierte sich, wie bei allen
Einwanderern, in der Hauptstadt und größten Metropole des Landes, Buenos Aires. Laut
des Zensus von 1869, 1895 und 1914 lebte mehr als ein Drittel aller Deutschen in der Hauptstadt und dieser Anteil steigt auf die Hälfte aller Deutschen wenn man die Provinz Buenos
Aires hinzunimmt. Allerdings stieg der Anteil der Deutschen in den Provinzen von 4,4 % im
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 270.
Vgl. ebd.
101
Zur Vertiefung von Push- und Pullfaktoren als Determinanten der Migration siehe Bodvarsson, Örn B. u.
van den Berg, Hendrik, The Economics of Immigration. Theory and Policy, 2. Aufl., New York 2013, S. 5f; Cohn,
Raymond L., Mass Migration under Sail. European Immigration to the Antebellum United States, Cambridge
2009, S. 70-76.
102
Vgl. Martin, Carl u. Hauthal, Rudolf, Die deutsche Auswanderung nach Argentinien, Berlin 1920, S. 43f.
99
100
25
Jahr 1869 auf 12,6 % im Jahr 1910. Der starke Anstieg war vor allem in Santa Fé, Entre Ríos
und Córdoba zu verorten. Aber auch dort blieb die Mehrzahl der Deutschen eine urbane
Gemeinschaft, da die Mehrheit in den Provinzhauptstädten lebte. Ab dem 20. Jahrhundert
stieg zudem der Anteil an Siedlern in Agrarkolonien in der nordöstlichen Provinz Misiones
und in den südlichen Siedlerprovinzen Río Negro, Chubut und Santa Cruz.
3.1.2. Die Motive der Einwanderung
Es kann kein Zweifel an der vermeintlichen Attraktivität Argentiniens zu dieser Zeit als Einwanderungsland bestehen. Als Verfechter der nordeuropäischen Einwanderung schrieb
bereits der spätere Präsident Domingo F. SARMIENTO, dass die Deutschen sich als Einwanderer in Argentinien eigneten. Der Mangel an Bevölkerung und Arbeitskräften, das Überangebot an agrarischen Lebensmitteln, die gute Bezahlung der Arbeitskräfte sowie die
verfügbare Masse an Land böten den Deutschen hervorragende Aussichten auf Kolonisierung.103 Auf der statistischen Ebene stach Argentinien mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum
von
6%
des
mit
heutigen
Maßstäben
ermittelten
Bruttoinlandsproduktes (BIP) heraus. Auch mit 3 % Wachstum des BIPs pro Kopf lag Argentinien weltweit auf den vorderen Plätzen. Mit Einsetzen des Wirtschaftswachstums in den
1880er Jahren, überstieg das BIP pro Kopf Argentiniens jene von Italien und Spanien und
lag bis Mitte der 1920er Jahre etwa gleichauf mit dem von Frankreich.104
Gleichzeitig verzeichnete das Land einen hohen Zustrom an ausländischem Kapital. Das
gleichzeitige Auftreten von verfügbarem Land, dem Mangel an Arbeitskräften und Unternehmern sowie der Dynamik der landwirtschaftlichen Produktion schufen Potentiale für
wirtschaftliche Entwicklung und Prosperität.105 Die Gründe der Einwanderung sind dabei
auf die verfügbaren Arbeitsmöglichkeiten zurückzuführen. Die Lohndifferentiale spielten
eine fundamentale Rolle in der Entscheidung, nach Argentinien auszuwandern.106 Denn die
Möglichkeiten, in Argentinien ‚gutes Geld‘ zu verdienen waren keine bloßen zeitgenössischen Vorstellungen, die durch effektvolle Propaganda in den Köpfen der Auswanderer bestanden.
103
Vgl. Sarmiento, Domingo Faustino, Emigración Alemana al Río de la Plata, Göttingen/ Santiago 1851, S. 2.
Vgl. Maurizio, Migraciones internacionales, S. 9.
105
Vgl. Solimano, Development cycles, S. 252f; Devoto, Historia de la inmigración, S. 250.
106
Vgl. Maurizio, Migraciones internacionales, S. 30; Balderas u. Greenwood, Comparative panel-data análisis, S. 1310.
104
26
Wenn man die Lohndifferentiale zwischen Argentinien und Europa betrachtet, waren die
durchschnittlichen Löhne in Argentinien zwischen 1870 und 1914 um das Eineinhalb- bis
Dreifache höher als die Durchschnittslöhne in Italien, Spanien und Frankreich. Von saisonalen Schwankungen abgesehen, waren sie ungefähr mit dem Lohnniveau Großbritanniens
vergleichbar.107 Tatsächlich sagen die Durchschnittslöhne wie auch das BIP in diesen statistischen Untersuchungen nichts über die Verteilung des Reichtums in Argentinien aus. Die
Vermögensverteilung fiel sehr ungleich aus und darüber hinaus waren die Arbeitsbedingungen, aus dem Mangel an gewerkschaftlicher Organisation, lange Zeit ungünstiger als in
den Industrieländern. Aus einem zeitgenössischen Brief eines deutschen Siedlers geht zudem hervor, dass die hohen Lebenshaltungskosten, aufgrund hoher Inflation und Importe,
die höheren Löhne wieder ausglichen.108
Aus den wenigen vorhandenen zeitgenössischen Quellen aus dem 19. Jahrhundert über die
Motive, warum deutsche Auswanderer nach Argentinien emigrierten, lassen sich dennoch
ökonomische Gründe identifizieren. Einerseits gaben die schwierigen ökonomischen Situationen in Deutschland Anlass für die Auswanderung und andererseits eilte Argentinien sein
Ruf als prosperierendes Land voraus, in dem Arbeit leicht zu finden sei.109
Argentinien gewann als Auswanderungsland am Anfang des 20. Jahrhunderts an Bedeutung in Deutschland, was an der systematischen Organisation der Einwanderung nach Argentinien lag. Die rechtlichen Rahmenbedingungen mit einem bundesstaatlichen
Einwanderergesetz von 1876 wurden verbessert und staatlich beauftragte Agenten warben
bei Einwanderervereinen und Agenturen für eine Emigration nach Argentinien.110 Die
Agenten waren mit Werbemitteln und Publikationen ausgestattet, die sie zum Beispiel in
Auswanderervereinen in Deutschland auslegten.111 Broschüren, auf denen den Auswanderern vielversprechende Aussichten präsentiert wurden, waren wichtige Instrumente zur Visualisierung und Verbreitung von Wissen. So stellte man in den Broschüren das Eigenheim
mit Garten und Vieh für Siedler in Aussicht, das von der argentinischen Regierung an Neuankömmlinge vergeben würde.112 Nachdem die Vereine für Auswanderer in die USA ab
107
Vgl. Maurizio, Migraciones internacionales, S. 9.
Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 155.
109
Vgl. ebd., S. 39f; 55f; 68.
110
Vgl. Maurizio, Migraciones internacionales, S. 10.
111
Vgl. Comisión de Inmigración (Hg.), Informe de la Comisión de Inmigración, Buenos Aires 1869, S. 16f.
112
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d‘émigration, S. 220.
108
27
Mitte des 19. Jahrhunderts eine geringere Rolle spielten, konnten sie für die Auswanderer
nach Südamerika noch wichtige Anlaufstellen für Informationen, Vermittlungen und Reiseauskünfte sein.113 In erster Linie war es die Aufgabe der Agenten, Argentinien als Auswanderungsziel in Deutschland bekannt zu machen, um das Land insbesondere durch die
Ansiedlung von Ackerbau- und Siedlungsbetrieben zu erschließen. So beschrieb der Agent
Gustavo WALTHER in einem Bericht an die argentinische Einwanderungskommission von
1875, dass die Bauern in thüringischen Dörfern bei Jena zwar seit jeher auswanderungswillig waren, aber Argentinien als Land mit seinen Vorteilen für die Landwirtschaft bei den
Menschen weitgehend unbekannt war.114
Die Einrichtung von regelmäßigen Schifffahrtslinien ab Bremen und Hamburg nach Buenos
Aires sorgten für einen weiteren Bekanntheitsgrad von Argentinien. Die Institutionalisierung der Reiseverbindung nach Buenos Aires durch Hapag, Hamburg Süd, und der Norddeutschen Lloyd gab dem Wissen über Argentinien als Auswanderungsland einen neuen
Schub.115 Trotzdem bleibt hier einschränkend zu sagen, dass die meisten deutschen Einwanderer wohl keine detaillierten Kenntnisse über Argentinien hatten.
Erst im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs des Landes, gelangte eine größere Masse
an deutschen Einwanderern der mittleren sozialen Schichten nach Argentinien. Zeitgleich
integrierte sich Argentinien, welches sich lange Zeit in der wirtschaftlichen Peripherie befand, immer weiter in den Weltmarkt. Mit dem Zustrom an Einwanderern und Kapitalflüssen, kann eine Konvergenz der aggregierten Reallöhne und der wirtschaftlichen
Wachstumsraten zu den hochindustrialisierten Ländern Europas zwischen 1870 bis 1910
beobachtet werden.116 Anders gesagt schloss Argentinien wirtschaftlich zu den europäischen Ländern auf, sodass die Lohndifferenzen allein nicht mehr als rationale Auswanderungsmotive zu erklären sind.
Diese Überlegung adressiert auch die Befunde von Williamson und Taylor, die eine Konvergenz der Wirtschaftsleistung und der Löhne von der ‚Neuen Welt‘ zur ‚Alten Welt‘
113
Vgl. Bretting, Agnes u. Bickelmann, Hartmut, Auswanderungsagenturen und Auswanderungsvereine im
19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 84f.
114
Vgl. Walther, Gustavo, Informe sobre la emigración de Alemania, in: Comisario General de Inmigración
(Hg.), Informe Anual del Comisario General de Inmigración de la República Argentina. Año 1875, Buenos Aires
1875, S. 335–347, hier: S. 335.
115
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d‘émigration, S. 290.
116
Vgl. Taylor, Alan M. u. Williamson, Jeffrey G., Convergence in the Age of Mass Migration, in: European
Review of Economic History, 1/1, 1997, S. 27–63, hier: S. 32.
28
feststellen, die mit der atlantischen Massenmigration zu erklären sei. So führte die Massenauswanderung nach Amerika zu einem Teilgleichgewicht von Arbeitsnachfrage und angebot. Die Lohndifferenzen zwischen Argentinien und Europa wurden kleiner und trotzdem stiegen die Migrationszahlen der Deutschen nach Argentinien. Die hohen Ziffern deutscher Immigranten nach dem Ersten Weltkrieg lässt die Konvergenzthese nicht schlüssig
erscheinen. Die Ausgangslage für die Auswanderung aus Deutschland nach Argentinien
hatte sich nach dem Krieg aus wirtschaftlichen Aspekten verschlechtert. Die schwache
Mark, sowie die aus Friedensbedingungen resultierende fehlende deutsche Flotte machten
die Überfahrt nach Argentinien kostspielig und allein mit Ersparnissen war das Leben in
Argentinien schwer zu finanzieren. Der Auslandsratgeber, herausgeben vom Kulturpolitiker
Hugo Grothe, der gleichzeitig Leiter des Instituts für Auslandskunde und Auslanddeutschtum war, stellte aus diesem Grund fest, dass
„[w]er also nach Argentinien auswandert, wird dies weniger im Vertrauen auf seinen Geldbeutel tun dürfen, als im Vertrauen auf zwei kräftige Arme und einen hellen Kopf.“117
Wirtschaftliche Motive blieben dennoch weiterhin der wichtigste Antrieb für die Auswanderung nach Argentinien, auch für Deutsche. Die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland sowie die Hyperinflation und die akute Not sind in zeitgenössischen Berichten über die
Auswanderungsmotive zu finden.118 Jedoch lässt sich aus der wirtschaftlichen Situation im
Nachkriegsdeutschland argumentieren, dass die Motive der Deutschen zur Auswanderung
mehr bei Push-Faktoren des Deutschen Reiches als bei Pull-Faktoren von Argentinien zu
verorten sind, zumal die argentinische Wirtschaft am Anfang der zwanziger Jahre schwächelte.
3.2. Bilder und Perspektiven der deutschen Einwanderung in Argentinien
3.2.1. Das Bild Argentiniens unter Deutschen
Inwieweit das Wissen über die Situation in Argentinien in Deutschland verbreitet war, kann
über verschiedene Quellen erschlossen werden. Es gab im Deutschen Reich mehrere Informationsstellen, die über die Situation für Auswanderer in Argentinien berichteten. Vor
117
118
Zit. nach Martin u. Hauthal, Die deutsche Auswanderung, S. 3
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 209.
29
allem Einwanderervereine und Verbände, die sich aus unterschiedlichen Motiven für die
Auswanderung der Deutschen nach Südamerika einsetzten und auf Auswanderung spezialisierte Zeitungen und Zeitschriften, stellten Beratungs-, Informations- und Vermittlungsdienste zur Verfügung.119 In der Makroperspektive kann man die Anzahl an
deutschsprachigen zeitgenössischen Publikationen betrachten, die keine exakte Spiegel
zeitgenössischer Wahrnehmungen sind, aber dennoch einen gesellschaftlichen Diskurs tangieren.
Die Funktion Google Books Ngram Viewer bildet die relative Häufigkeit von bestimmten
Wörtern oder Phrasen innerhalb des Korpus aller gelisteten Bücher in Google Books ab. In
dem Diagramm über Publikationen mit dem Wort ‚Argentinien‘, erkennt man eine ansteigende Häufung des Begriffes ‚Argentinien‘ innerhalb des Korpus der deutschsprachigen
Publikationen im Laufe von sechs Jahrzehnten. Im Vergleich zum Auftreten des Wortes
‚Brasilien‘, als größtes Land Südamerikas, stellt man eine Annäherung des Wortes ‚Argentinien‘ fest und ab 1915 kommen beide Wörter gleich häufig im digitalisierten Korpus von
Google vor. Dieser kontinuierliche Anstieg spiegelt die wachsende Rolle des Wortes Argentinien in deutschsprachigen Publikationen wider. Nimmt man das Publikationsjahr als Ausgangszeitpunkt für die Verbreitung von Wissen, kommt Argentinien in deutschsprachigen
Büchern ebenfalls eine über Jahrzehnte wachsende Bedeutung zu.
Abbildung 1
Relative Häufigkeit des Auftretens der Wörter ‚Argentinien‘ (blauer Graph) und ‚Brasilien‘ (roter Graph) im
Google-Books Korpus aller deutschsprachigen Publikationen zwischen 1850 und 1930.
Quelle: Google Books (Hg.), Google Books Ngram Viewer.
119
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 145; 147.
30
Trotz der Anschaulichkeit und passendem historischen Kontext birgt der Google Ngram Viewer potenzielle Gefahren in der Interpretation. Erstens bleibt kritisch anzumerken, dass
nicht alle zeitgenössischen Wahrnehmungen auch in Schriftform abgebildet werden. Zweitens verfügt die Grundgesamtheit der Daten auf denen Ngram beruht zwar über eines der
weltweit größten Sammlungen von Büchern, dennoch kann es sein, dass gewisse Jahre oder Themenfelder über- oder unterrepräsentiert sind, da der Digitalisierungsprozess von
Google noch nicht abgeschlossen ist. Dieser Punkt bleibt hier allerdings unberührt, da lediglich ein Trend über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten gezeigt wird.
Der Befund der wachsenden Bedeutung Argentiniens im deutschsprachigen Raum findet
sich auch in zeitgenössischen Wahrnehmungen über Argentinien wieder. Denn auch die
Entwicklung der Anfragen nach Auskünften über Argentinien bei der Zentral-Auskunftsstelle für deutsche Auswanderer der Deutschen Kolonialgesellschaft zeigt rasant ansteigende Zahlen von 1906 bis 1913.120 Gestärkt durch die Auswandererlobby aus
Reichsverbänden, Vereinen und Initiativen in Deutschland, geriet Argentinien vor allem als
Siedlungs- und Kolonisationsland für Agrarkolonien zunehmend ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Maßgebend dafür war auch der in der breiten Öffentlichkeit bekannte Reichsverband
Deutscher Auswanderer, der bis in die 1920er Jahre eine mächtige propagandistische Stellung in Deutschland einnahm. Die vom Verband herausgegebene Allgemeine Deutsche Auswanderer Zeitung stand unter der Leitung eines Deutschbrasilianers und wurde zum
Sprachrohr aller auf die Förderung der Auswanderung nach Südamerika ausgerichteten Bestrebungen.121
Nach Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg erschien Argentinien an die Bedeutung,
die es unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg innehatte, anzuknüpfen. Der Nationalökonom
Otto KRAUSE schilderte im Jahre 1919, dass Argentinien, vor dem Hintergrund seiner Neutralität im Krieg, in dreierlei Hinsicht eines der wichtigsten Länder war.
„Erstens als unser Versorger mit einer Reihe der notwendigsten Rohstoffe, zweitens als Absatzgebiet für unsere Industrieerzeugnisse und drittens als geeignetes Ziel für unsere Auswanderung.“122
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 156.
Vgl. Bretting u. Bickelmann, Auswandereragenturen, S. 213.
122
Zit. nach Krause, Otto A., Argentiniens Wirtschaft während des Weltkrieges. Ihre Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft und Auswanderung, Berlin 1919, S. 125.
120
121
31
Elitegruppen versuchten das Bild Argentinien in Deutschland als Auswanderungsland aufzuwerten, was meist auch persönliche Interessen hatte, wie bei Alfred ARENT, deutscher
Oberst im Heer und seit 1900 Leiter der Kriegsakademie in Buenos Aires123. In der dritten
Auflage seiner Monografie über Argentinien schreibt er im Jahr 1913:
„Noch vor 10 Jahren war wenig über Argentinien in Europa und Deutschland bekannt. Nun
ist es auffallend, wieviel man sich, insbesondere in Deutschland, in den letzten Jahren mit
Argentinien beschäftigt hat.“124
ARENT begründete das zunehmende Interesse mit der militärischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Argentinien sowie mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes.
Argentinien entwickelte sich laut ihm bald zu einer Großmacht.125 Die Darstellung der
Hauptstadt Buenos Aires als moderne und europäische Metropole passte exakt in diese
Vorstellung einer fortschrittlichen Großmacht.
„[…] so glaubt man sich durchaus nach Paris oder einer anderen der europäischen Hauptstädte zurück[zu]versetzen. […] Das Hauptverkehrsleben auf der Avenida de Mayo und der
9 de Julio erinnern an Piccadilly und Regent Street.“126
Auch die Schilderung des massiven Aufbaus der Infrastruktur in Buenos Aires durch Elektrifizierung sowie der Ausbau des Eisenbahnnetztes trugen zu diesem positiven Bild einer
fortschrittlichen Nation bei.127 Zugleich wies der Autor auf die noch bestehenden Hürden
im Land hin, die eine größere Zahl an deutschen Einwanderern abschrecken würde. So sei
gerade das System der Landvergabe an Einwanderer nicht mit den Vorteilen in den USA zu
vergleichen, da freie Flächen durch Auktionen vergeben würden und die starke Bodenspekulation einfache Siedler verdrängte.128 An anderer Stelle hingegen würden Angestellte
und Handwerker, also Menschen der Mittelklasse, sogar dazu angeregt werden, ihre Ersparnisse in Immobilien und Boden gewinnbringend anzulegen.129 Außerdem warnte Arent
123
Die Escuela Superior de Guerra wurde 1900 im Rahmen der deutsch-argentinischen Militärbeziehungen
als Beratungs- und Ausbildungsstätte des argentinischen Militärs gegründet und von deutschen Militärangehörigen geleitet. Vgl. Gliech, Oliver, Die deutsch-argentinischen Militärbeziehungen (1900-1945), in: Peter
Birle (Hg.), Die Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien, Frankfurt am Main u.a. 2010, S. 75–95,
hier: S. 81.
124
Zit. nach Arent, Alfred, Argentinien ein Land der Zukunft, 3. Aufl., München 1913, S. 81.
125
Vgl. ebd.
126
Zit. nach ebd., S. 65-68.
127
Zit. nach ebd., S. 123f.
128
Vgl. ebd., S. 81.
129
Vgl. Backhaus, Alexander, Welche Aussichten bieten sich den Deutschen in Südamerika?, Berlin 1911, S. 4.
32
vor dem häufigen Auftreten von Heuschreckenplagen in den Pampas, die eine existentielle
Bedrohung für den Ackerbau darstellten.130
Doch in den untersuchten Schriften steht diesen negativen Aspekten eine große Zahl von
positiven Argumenten gegenüber, die für eine Migration von Deutschland nach Argentinien
sprachen. So wurde das Land für seinen Reichtum an natürlichen Ressourcen gepriesen und
die schier unbegrenzte Masse an verfügbaren Ackerbauland ließe Raum für Erschließung.131
Die fast schwärmerische Beschreibung der erfolgreichen Entwicklung Argentiniens seit
dem späten 19. Jahrhundert bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges ist ein Beleg für den
beeindruckten Erzähler von Argentinien. Es fehlte zudem nicht an Vergleichen mit der historischen Entwicklung der USA und der Prognose, Argentinien würde den gleichen Weg
nehmen. Zu diesem Selbstverständnis der Autoren über Argentinien hat auch die Inszenierung der Jahrhundertfeier zur Unabhängigkeit Argentiniens im Jahre 1910 beigetragen, in
der sich die Hauptstadt Buenos Aires als fortschrittliche und selbstbewusste Nation feierte.
Die Feier wurde international beachtet und wurde als Zeugnis für die positive Entwicklung
des Landes gewertet.132
Es ist weiterhin auffällig, wie eng das Schwärmen von Argentinien mit der Hervorhebung
der Fähigkeiten und Leistungen der Deutschen zusammenhängt. Besonders hervorstechend ist die Betonung der Rolle der deutschen Einwanderer für die Wirtschaft Argentiniens. Es fehlte nicht an Anekdoten, in denen von erfolgreichen deutschen Unternehmern in
die Rede ist. So befand sich im Jahr 1913 in der Zuckerindustrie als wichtiger Industriezweig
eine große Raffinerie in der Stadt Rosario unter deutscher Leitung. Auch die deutschen
Mühlen in der Hafenanlage von Puerto Madero dienten dem Fortschritt, da nun auch Mehl
anstatt nur unverarbeiteter Weizen exportiert werde. Schließlich sei das bekannte Gewerbe der Deutschen, das Brauereiwesen, eine prosperierende Branche mit großer Nachfrage.133 Es liegen zwar keine Quellen zur Widerlegung von ARENTS Beobachtungen vor,
dennoch fallen seine Analysen recht optimistisch aus. Denn unter den zwölf Bierhandlungen, die in den Mitteilungen des Deutsch-Argentinischen Centralvereins in Buenos Aires
130
Vgl. Arent, Argentinien, S. 190.
Vgl. ebd., S. 183-185; S. 198.
132
Vgl. Schuster, Adolf N., Argentinien. Land, Volk, Wirtschaftsleben und Kolonisation, Bd. 1, Diessen vor
München 1913, S. 92.
133
Vgl. Arent, Argentinien, S. 200-203.
131
33
1912 aufgeführt sind, waren nur vier von Deutschen geführt.134 ARENT führt weiter aus, dass
sich die Ackerbaukolonien Germania und Alemania in blühendem Zustand befänden.135 Der
Banco Alemán Transatlántico genieße zudem den allerbesten Ruf.136 Dass hinter all dem
Lob auch Eigeninteressen durch Netzwerkarbeit steckten, wird beim Aufruf des Vereins
zum Schutze germanischer Einwanderer deutlich. Dieser rät allen Neueingewanderten, das
„mitgebrachte Kapital dringendst einstweilen der Deutschen Ueberseeischen Bank anzuvertrauen“.137
Die positive Schilderung der Deutschen fällt mit einem abwertenden Motiv der Unfähigkeit
der anderen Einwanderergruppen oder Argentiniern zusammen. Teilweise sind diese Ausführungen nicht weit vom Rassismus zu verorten, der auch von argentinischer Seite betrieben wurde. Spanische und italienische Einwanderer als „geringwertige Volkselemente“ zu
bezeichnen gehört ebenso dazu, wie die erwünschte Einwanderung von „germanischen Elementen aus Gründen der allgemeinen Volksbildung und des Intellekts“.138 Diese Sichtweise war
allerdings nicht nur auf deutsche Beobachter beschränkt. Auch in Argentinien herrschte ein
wachsender Rassismus, der sich vor allem gegen die spanischen und italienischen Einwanderer richtete. Zugleich entstand eine Sehnsucht nach deutschen und anderen nordeuropäischen Einwanderern, denen ein „aufrichtiges, arbeitsames und friedliches“ Gemüt
nachgesagt wurde.139 Quellen geben an, dass Deutsche im Gegensatz zu Spaniern und Italienern überwiegend Kaufleute, Architekten, Techniker oder Gewerbetreibende waren und
in größtenteils wohlhabenden Verhältnissen lebten.140 Es ist schwierig, diese Aussagen
exakt zu überprüfen, da die Kennzeichnung der Berufsgruppe der Immigranten nicht für
alle Zeiträume verfügbar ist und auch nur die Berufe von Passagiere der zweiten und dritten
Klasse dokumentiert wurden.141 Die zeitgenössischen Beobachter hatten jedenfalls die
Gruppe der deutschen Elite vor Augen. Mit der Gründung des Deutschen Klubs wurde diese
soziale Gruppe aus mehrheitlich wohlhabenden Männern aus dem Handels- und
134
Vgl. Niederlein, Gustav, Das argentinische und fremde Geschäftsleben in Buenos Aires in seinen Beziehungen zum deutschen Export, in: Mitteilungen des Deutsch-Argentinischen Centralverbandes, 1/2, 1912, S. 41–
55, hier: S. 46.
135
Vgl. Arent, Argentinien, S. 56.
136
Vgl. ebd., S. 84.
137
Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 166.
138
Vgl. Martin u. Hauthal, Die deutsche Auswanderung, S. 5f.
139
Zit. nach Sarmiento, Emigración Alemana, S. 5.
140
Vgl. Arent, Argentinien, S. 56; Keiper, Wilhelm, Deutsche Kulturaufgaben in Argentinien. Vortrag, gehalten
am 30. Januar 1914 im Preußischen Abgeordnetenhause, Berlin 1914, S. 10.
141
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 263.
34
Industriegewerbe gesellschaftlich sichtbar und anerkannt, da sie enge Netzwerke zur argentinischen elitären Bevölkerung pflegte.
3.2.2. Die deutschen Auswanderer in ihrer ökonomischen Funktion
Die Auswanderung der Deutschen ist in der zeitgenössischen Literatur ebenso verbunden
mit dem Auftrag an die Auswanderer, Kulturarbeit für Deutschland in Argentinien zu leisten. In Ratgebern für Auswanderer werden Deutsche aufgefordert, nach Südamerika auszuwandern und das Ansehen der Deutschen im Ausland zu steigern. Wie bei Alexander
BACKHAUS zu lesen ist, war das Ziel, Argentinien als Absatzmarkt zu sichern.
„Die Erweiterung und Sicherung des Absatzmarktes in Südamerika ist für Deutschland nur
dadurch möglich, dass die Deutschen dort größeren Einfluss gewinnen und sich selbst energisch an der wirtschaftlichen [Er]schließung der dortigen Länder beteiligen. Jeder Landsmann, der sich dort vorübergehend oder dauernd niederlässt und als Landwirt oder als
Industrieller, Beamter oder Arbeiter, fleißig und sachverständig mitwirkt die großen Naturschätze auszubeuten, ist ein wirkungsvollerer Propagandist für deutsche Erzeugnisse, […]
umso mehr, als er selbst neue Absatzmöglichkeiten schafft […].“142
Die Auswanderung erscheint demnach als eine nationale Pflicht für Deutsche. Der Konsum
deutscher Produkte von Deutschen im Ausland gehörte zu diesen Aufgaben genauso, wie
das Bekanntmachen deutscher Produkte bei anderen Bevölkerungsgruppen im Ausland.143
Die Ausbreitung des ‚Deutschtums‘ sei erforderlich, um den deutschen Export zu fördern.
In diesem Kontext entstand eine Vielzahl von Lobby- und Interessenverbänden, die der Förderung der Wirtschaftsbeziehungen dienten.144
Illustrativ für diese historische Entwicklung stehen Werbeanzeigen deutscher Unternehmen und Geschäfte in Argentinien, die an eine transnationale deutsche Identität appellierten. Die Anzeigen, die in den Bundeskalendern in den 1920er Jahren zu finden sind, welche
vom Deutschen Volksbund für Argentinien herausgegeben wurden, richteten sich an potenziell deutsche oder deutschstämmige Kunden.
Der allergrößte Teil der Werbeanzeigen in den Bundeskalendern oder anderen Magazinen,
wie Auslandsführern, war in deutscher Sprache verfasst. Es wurden Produkte und Marken
142
Zit. nach Backhaus, Welche Aussichten, S. 3.
Vgl. ebd., S. 4; Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 15.
144
Etwa der Deutsch-Argentinische Zentralverband zur Förderung wirtschaftlicher Interessen oder die
Deutsch-Südamerikanische Gesellschaft, vgl. Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 18.
143
35
großer deutscher Unternehmen beworben, die häufig in Argentinien in Vertretergeschäften mit deutschen Eigentümern erworben werden konnten, wie etwa BMW Motorräder,
Stocker Schreibmaschinen oder Senking Haushaltsherde. Andere Großkonzerne wie Continental, Siemens und die AEG führten eigene argentinische Niederlassungen, die in den Anzeigen genannt wurden. Ebenso finden sich argentinische Unternehmen mit
deutschstämmigen Inhabern, die auf Deutsch für ihre Produkte werben, wie Staudt & Cía.,
die Maschinen und Geräte für den landwirtschaftlichen Betrieb vertrieben. Neben Werbung für Waren des Endverbrauchs, ist auch Werbung für Industriegüter zu finden, zum
Beispiel Erzeugnisse der Schwachstrom-Technik, Wassermesser und Produkte der Elektrochemie von Siemens & Halske sowie Eisen- und Stahlprodukte von Thyssen-Lametal oder
der Firma Mannesmann. Wenige Unternehmen verzichteten darauf, auf eine transnationale deutsche Identität hinzuweisen, obwohl die Inhaber deutscher Abstammung waren.
Dies war der Fall bei der Biermarke der gleichnamigen Brauerei Quilmes, eine vom deutschen Einwanderer Otto Bemberg 1888 gegründete Brauerei, die im schlichten Layout und
auf Spanisch im Bundeskalender wirbt.145 Diese sehr heterogene Auswahl an Unternehmen
zeigt, dass die Nähe zu Deutschen im Ausland für den Absatz gesucht wurde oder aber zumindest Präsenz als deutsches Unternehmen gezeigt wurde.
Mit dem Aufruf: „Landleute, kauft in deutschen und deutschfreundlichen Geschäften!“ über jeder Anzeigeseite wurde eine klare Botschaft übermittelt, die an die transnationale Pflicht
der Erhaltung und Förderung deutscher Interessen appellierte.146 Der Aufruf, in deutschen
oder deutschfreundlichen Geschäften zu kaufen, stand ganz im Zeichen der Zwischenkriegszeit, nachdem deutsche Produkte und Geschäfte im Ersten Weltkrieg weitestgehend
boykottiert wurden. Doch unabhängig von der Kriegserfahrung war der Konsum deutscher
Produkte ein spezifischer Ausdruck einer transnationalen Identität, die im Zeitalter des Imperialismus von politischer und wirtschaftlicher Seite propagiert wurde. Bereits vor dem
Ersten Weltkrieg lag die Forderung seitens der Industrie zum Konsum deutscher Produkte
im Ausland vor. Die nationale Aufgabe, das Deutschtum ins Ausland zu tragen, stand in
einer Zeit eines politischen und wirtschaftlichen Imperialismus vor und nach dem Ersten
Weltkrieg. Wie der Wettstreit über die auswärtige Kulturarbeit zwischen den Nationen,
145
Vgl. Deutscher Volksbund für Argentinien (Hg.), Bundeskalender 1929, Buenos Aires 1929, S. 168-206;
Lohausen, Karl, Führer durch Buenos Aires, 3. Aufl., Buenos Aires 1924, S. 58; 62; 70; 72. Ein Abdruck der
Werbeanzeigen befindet sich im Anhang.
146
Zit. nach Deutscher Volksbund für Argentinien, Bundeskalender 1929, S. 169.
36
standen auch die Exportmärkte unter starkem Wettbewerbsdruck. In Argentinien befand
Deutschland sich laut Wilhelm KEIPER, Vorsitzender des Deutschen Wissenschaftlichen Vereins, im Wettbewerb mit Frankreich und Nordamerika, wohingegen die Kulturen der größten Einwanderergruppen, Spanier und Italiener, keine Konkurrenz darstellten.147 Die
geopolitische Machtverteilung wurde hier also auf die wirtschafts- und kulturpolitischen
Machtstrukturen übertragen. Dem Auswanderer wurde damit eine wichtige Rolle zugetragen, da er im Ausland
„[…] dem Vaterlande einen größeren Dienst [erweist], als er dies zu Hause tun könnte, wo
Ersatzmänner genügend vorhanden sind.“148
Die wirtschaftlichen Aktivitäten von Deutschen waren im argentinischen Stadtbild deutlich
sichtbar. Obwohl die Gruppe der Deutschen zahlenmäßig zu jedem Zeitpunkt relativ gering
ausfiel, waren deutsche Geschäfte und Unternehmen in Lateinamerika sehr stark vertreten. Britische und amerikanische Wirtschaftsagenten, welche die Deutschen als ökonomische Konkurrenten sahen, erkannten die Fähigkeit der Deutschen, auf lokale Bedürfnisse
schnell und effektiv zu reagieren. Dies schafften sie dadurch, dass sie, anders als Amerikaner und viele Briten, häufig als junge Männer ins Land einwandern und sich dauerhaft niederließen.149 Da sie tendenziell eine bessere Schul- und Berufsbildung hatten als die
Mehrheit der anderen Einwanderer, konnten sie sich als Handwerker oder Einzelhändler
niederlassen und einen kompetitiven Vorteil ausspielen. Die ethnische Gruppe, aus der sie
stammten, war deutlich größer als die der Briten und Amerikaner, sodass die ethnische
Enklave ein lohnender Absatzmarkt war. Gleichzeitig gab der Mangel an Handwerkern und
die Nachfrage nach Konsumprodukten Möglichkeiten zur professionellen Berufsausübung
in der Selbstständigkeit.150
Die Unternehmungen der Deutschen beschränkten sich nicht nur auf die Bedienung der
eigenen ethnischen Gruppe. Deutsche Selbstständige hatten auch Kunden über die deutsche Enklave hinaus. Hierbei konnten sie ihren Vorteil des guten Rufs deutscher Qualitätsarbeit ausnutzen, der in der argentinischen Gesellschaft bekannt war.151 Die Beherrschung
147
Vgl. Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 15.
Zit. nach Backhaus, Welche Aussichten, S. 7.
149
Vgl. Penny, Material Connections, S. 524.
150
Als Vorsitzender des Deutsch-Argentinischen Vereins berichtete José Greger über den chronischen Mangel
an Schmieden, Schlosser, Mechanikern, Maschinisten, Monteuren und Ingenieuren sowie noch anderen Berufsgruppen. Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 154.
151
Vgl. Penny, Material Connections, S. 519.
148
37
der spanischen Sprache war hier von Vorteil. Im Informationsbericht des staatlichen Einwanderungskommissars Argentiniens von 1875 wurde die gute Schul- und Berufsausbildung, die zivilisierten Moralvorstellungen und der fortschrittliche Geist als Vorzüge der
Deutschen angeführt, die Argentinien bereicherten.152 Die Betonung des ‚Deutschseins‘ in
der Öffentlichkeit kann demnach als Strategie bewertet werden, um einerseits die ethnische Gruppe der Deutschen an das Geschäft zu binden und um andererseits durch die Betonung positiv deutscher Konnotationen, Qualitätssignale an argentinische Kunden zu
senden.
3.3. Die deutsche Einwanderergemeinde in Argentinien
Die deutsche Einwanderergemeinde grenzte sich in gleich mehrfacher Hinsicht stark von
anderen Einwanderergemeinden ab, insbesondere zu der spanisch- und italienischstämmigen Mehrheit in Argentinien.
Erstens blieben die Deutschen trotz stetig wachsender Zahlen ständig eine kleinere Minderheit. Das galt sowohl für die Ersteinwanderer als auch für deren Nachkommen, die als
Deutsch-Argentinier ebenfalls eine kleinere Gruppe bildeten.
Zweitens grenzte sich die Gruppe kulturell von der Mehrheitsgesellschaft sowie von anderen Immigrantengruppen ab. Sprachlich bestand bei Deutschen eine große Distanz zur spanischsprechenden Bevölkerung. Italiener wiederum fanden aufgrund der romanischen
Sprach- und Kulturfamilie einen engeren Bezug zu Argentiniern und sie konnten durch ihre
Anzahl selbst prägende kulturelle Akzente setzen.
Drittens fand durch religiöse Zugehörigkeit eine Abgrenzung statt. Die Mehrheit der deutschen Einwanderer entstammte der protestantischen Glaubensgemeinschaft, die in der katholisch geprägten Bevölkerung in der Minderheit war. Viertens lassen Merkmale der
Niederlassungs- und Siedlungsstruktur der deutschen Einwanderer einen Schwerpunkt in
urbanen Gebieten erkennen. Zwar gab es deutsch geprägte Ackerbaukolonien, im Vergleich zu den schweizerischen und deutsch-jüdischen Kolonien waren diese aber weniger
bedeutend, sodass Deutsche mehrheitlich Städter waren.
152
Vgl. Navarro, Samuel, Emigración, in: Comisario General de Inmigración (Hg.), Informe Anual del Comisario
General de Inmigración de la República Argentina. Año 1875, Buenos Aires 1875, S. 41–65, hier: S. 47.
38
3.3.1. Formierung einer Gemeinschaft
Als eine wichtige Konsequenz aus diesen Strukturen könnte eine starke Kohäsion innerhalb
der deutschsprachigen Gemeinde abgeleitet werden. In den zeitgenössischen Berichten
wird den deutschen Einwanderern ein sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl zugeschrieben, dass aufgrund der Minderheit ihrer Gruppe in Argentinien erst recht zur Blüte
käme. So beobachtete Wilhelm KEIPER, dass die Deutschen
„[…] sich immer mehr als eine Volkseinheit im fremden Lande [fühlen]. Von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt wuchs ihr Wohlstand, ihr Gemeinschaftsgefühl, ihre Bedeutung und die Achtung,
die sie in Argentinien genossen.“153
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, bedingt durch immer mehr
deutsche Einwanderer, ein organisiertes Gemeindeleben. Vor allem im Laufe der 1850er
Jahre gründeten sich Vereine, die zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der deutschen Einwanderer wurden. Die Gründung der Evangelischen Kirche zu Buenos Aires 1843
mit einer angrenzenden Schule war ein Meilenstein in der Formierung einer protestantischen Gemeinde.
Ein Wendepunkt in der Geschichte der Deutschen in Argentinien bedeutete das Jahr der
Deutschen Reichsgründung 1871. Der in Deutschland beginnende wirtschaftliche Aufschwung belebte den Handel und Auslandsinvestitionen in Argentinien, sodass der argentinische Markt mehr ins Zentrum von deutschen Unternehmen rückte. Die stärkere
Bindung Argentiniens an den deutschen Exportmarkt versetzte auch die deutsche Einwanderergemeinde ins Zentrum der Aufmerksamkeit der deutschen Industrie. Die meisten Niederlassungen deutscher Häuser schickten Führungspersonal aus Deutschland nach
Argentinien, während für mittlere und untergeordnete Angestellte vor allem deutschstämmige Argentinier eingestellt wurden.154
Die Reichsgründung bewirkte auch eine neue Dynamik in der Finanzierung von gesellschaftlichen Einrichtungen. Erstmalig bekam beispielsweise das Deutsche Hospital in Buenos
Aires neben privaten Spenden auch staatliche Zuschüsse aus Deutschland. Das deutsche
Krankenhaus war auf Initiative von deutschen Wohlhabenden, Geistlichen und Konsuls mit
dem Ziel gegründet worden, allen Deutschsprachigen eine allgemeine Krankenversorgung
153
154
Zit. nach Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 10.
Vgl. Lütge, Wilhelm u.a., Deutsche in Argentinien. 1520-1980, Buenos Aires 1980, S. 192.
39
zu ermöglichen, nach dem Vorbild der englischen, französischen und italienischen Krankenhäuser.155 Ein Neubau des Krankenhauses konnte nun mit den staatlichen Zuschüssen an
einem neuen Standort in Buenos Aires im Jahre 1878 errichtet werden.156 Ein eigenes Krankenhaus diente auch als Beleg für eine neue deutsche Stärke und Präsenz im Ausland und
stand ganz im Zeichen eines neuen imperialistischen Machtbewusstseins Deutschlands.157
Auch für die deutschen Einwanderer war es ein Zeichen für Anerkennung und Geltung über
ein eigenes Krankenhaus zu verfügen, wie der Bericht aus dem Deutsch-Argentinischen Kalender zeigt.158
Die deutschsprachige Presse erfuhr ab Ende der 1870er Jahre einen Aufschwung, indem
gleich zwei Journalisten es schafften, zwei auflagenstarke deutschsprachige Blätter zu etablieren. Die von Hermann Tjarks aus Hannover gegründete Deutsche La Plata Post fungierte
als nationaldeutsches Presseorgan, wohingegen das Zeitungsunternehmen des Schweizers
Johann Alemann mit dem Argentinischen Tageblatt sich den Interessen der deutschen Kolonisten verpflichtete und zugleich eine liberale Stimme war.159 Für die deutschsprachigen
Migranten stellten diese Blätter, neben anderen kleineren, wichtige Dienstleistungen zur
Verfügung. Durch Anzeigen und Werbung senkten sie erhebliche Transaktionskosten in der
Informationsbeschaffung für Deutschsprachige.160
Die deutsche Reichsgründung war insgesamt ein wichtiger Ausgangspunkt für eine stärkere
Bindung der Deutschen im Ausland ans Deutsche Reich. Das Bestehen transnationaler Netzwerke erlaubte mehr denn je einen Transfer von Konsum- und Kulturgütern, welche wichtige Faktoren in der Entstehung einer hybriden Identität als Deutsche in Argentinien
waren.161 Zur Zelebrierung einer transnationalen Identität zählten die Vereine hinzu, die
gerade in der Zeit der Masseneinwanderung in Argentinien essentielle Institutionen zur
Identitäts- und Kulturbildung waren.162 In den Jahren mit den meisten deutschen Neueingewanderten, den 1880er und 1920er Jahren, kam es zu einem starken Anstieg in der
155
Die Initiative kam hier mehrheitlich von der von Männern dominierten deutschen Oberschicht, allerdings
spielten Frauen eine wichtige Rolle im Fundraising von Spendengeldern. Vgl. Bryce, To Belong in Buenos Aires,
S. 37.
156
Vgl. Lütge u.a., Deutsche in Argentinien, S. 156f.
157
Vgl. Penny, Material Connections, S. 521.
158
Vgl. Nolte, Ernst, Deutsch-Argentinischer Kalender auf das Jahr 1878, Buenos Aires o. J., S. 70.
159
Vgl. Lütge u.a., Deutsche in Argentinien, S. 189.
160
Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 40.
161
Vgl. Penny, Material Connections, S. 521.
162
Vgl. Kramer, Einwanderervereine, S.33f.
40
Partizipation in den Vereinen.163 Für andere zeitgenössische Beobachter sind die zahlreichen Vereine ein Beleg für die Zersplitterung der deutschen Gemeinde im Ausland. Die fehlende Vernetzung unter den Vereinen sei ein Mangel an Organisationskraft der Deutschen,
welche aus dem „Particularismus der Deutschen im politischen Flickenteppich“ resultiere, der
auch nach der Reichsgründung nicht überwunden wurde.164
Im Adressbuch der Briefsammlung von José GREGER von 1904 sind in Buenos Aires dreiundvierzig deutschsprachige Vereine gelistet, dazu noch drei deutsche Logenvereinigungen.165
Diese Zahl stieg im Jahr 1925 auf etwa sechzig Vereine und 1931 auf siebenundachtzig
an.166 Darunter bildeten Sport- und Gesangsvereine die Mehrheit, des Weiteren gab es religiöse und gemeinnützige sowie Schul- bzw. Lehrervereine. Für Neueinwanderer gründeten sich spezielle Vereine, die Auskunfts- und Vermittlungsstellen innehatten. So gab es
den Deutschen Hilfsverein und den Verein zum Schutze Germanischer Einwanderer, die sich
in enger Nachbarschaft des Deutschen Generalkonsulats in der Nähe des Hafens befanden.167 Darüber hinaus schlossen sich Berufstätige zu Vereinen zusammen, wie der Deutsche Techniker-Verein, die Genossenschaft des Buchgewerbes, der Verein für HandlungsKommis und der Verein Deutscher Ingenieure. Der 1904 gegründete Deutsche Wissenschaftliche Verein veranstaltete Vorträge und gab eine Zeitschrift heraus, in der in Argentinien
tätige
Deutsche,
allen
voran
der
Ethnologe
Robert
Lehmann-Nitsche,
wissenschaftliche Aufsätze publizierten.168
Der Wissenschaftliche Verein entwickelte sich bis 1914 immer mehr zum Vorposten auslandsdeutscher Kulturpolitik und galt als elitäre Vereinigung. Mit der Gründung des Instituts zur Förderung der Deutschen Kultur mit dem Vorsitz von Hilmar Freiherr von dem
Bussche-Haddenhausen, Gesandter in Argentinien bis 1914, und der Finanzierung durch
deutsche Bankiers, bekam der Verein eine politisch-repräsentative Note. Der Verein wurde
zur Sammelstelle für sämtliche Argentinien betreffende wissenschaftliche Forschungen. Er
bot ebenso deutsche Sprachausbildungen für Ingenieure, Mediziner, Offiziere, Kaufleute
und Schüler an. Vorträge und Vortragsreihen über die deutsche Kultur wurden auf Spanisch
163
Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 33.
Zit. nach Nolte, Deutsch-Argentinischer Kalender, S. 64.
165
Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 166.
166
Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 34.
167
Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 19; 166.
168
Vgl. Lütge u.a., Deutsche in Argentinien, S. 239.
164
41
abgehalten.169 Der Verein bekam durch sein politisches und wirtschaftliches Netzwerk seiner Mitglieder eine wichtige Funktion zur Vermittlung auswärtiger deutscher Kultur-, Außen- und Wirtschaftspolitik. Er versuchte als integrative Organisation engere Beziehungen
zwischen Deutschland und Argentinien herzustellen, wobei die Deutsch-Argentinier hierbei
als essentielle Bindungskraft fungierten.
Das Vereinsleben war ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der Deutschsprachigen in Buenos Aires. Laut der Schätzung von BINDERNAGEL, erreichten die Vereine und
Klubs etwa ein Drittel der deutschsprachigen Einwohner in Buenos Aires. Durch personelle
und institutionelle Verflechtung ermöglichten sie eine Sphäre gemeinsamer Öffentlichkeit
und Kommunikation.170 Ein Beispiel dafür ist die gemeinsame Ausrichtung von Festen wie
etwa die Feierlichkeiten zur ‚Jahrhundertfeier zur Deutschen Erhebung 1813‘ in Buenos
Aires oder auch die Geburtstagsfeier und Thronjubiläum Kaiser Wilhelms.171 Am Anfang des
20. Jahrhunderts war die Begehung des Herrschergeburtstags als Nationalfeiertag durchaus üblich und unter Reichsdeutschen war der Herrscherkult um Wilhelm II. umso größer,
je problematischer die gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme waren.172 Diese Feiern
waren typischerweise Ereignisse der Mittelschicht, zu denen häufig Festschriften oder Erinnerungsfotos angefertigt wurden. Die Bindung zum Heimatland suggerierte die Illusion
eines geordneten Ständestaats, der auf die Situation in Argentinien übertragen wurde.173
Andere Feierlichkeiten hatten einen starken politischen-repräsentativen Charakter wie
etwa die Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag von Reichspräsident Hindenburg im Oktober
1927 belegen. Diese wurde im großen Opernhaus Teatro Colón vom Deutschen Volksbund
für Argentinien ausgerichtet und unter den Gästen fanden sich der argentinische Staatspräsident Alvear, Vertreter der argentinischen Regierung sowie deutsche Vertreter aus Diplomatie und Militär.174
169
Vgl. Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 24.
Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 34.
171
Vgl. o.V., Programm der Festlichkeiten zur Erinnerung an die Deutsche Erhebung 1813. Veranstaltet von
den Deutschen Vereinen in Buenos Aires, Buenos Aires 1913, S. 3.
172
Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 63.
173
Vgl. ebd., S. 32; Bryce, Pluralist Society, S. 9. Bryce zeigt wie traditionell paternalistisch das Verhältnis der
Oberschicht und des Rests der Gemeinschaft war. Vertreter der deutschen Oberschicht standen meist an
der Spitze von Institutionen wie Krankenhäusern oder Schulvereinigungen und waren deren selbsternannte
Führer, die ihre Vorstellungen und Ideen von einer ethnischen Gemeinschaft durchsetzten.
174
Vgl. Deutscher Volksbund für Argentinien (Hg.), Bundeskalender 1928, Buenos Aires 1928, S. 33.
170
42
3.3.2. Gesellschaftliches Engagement und soziale Institutionen
Als eine der wichtigen bindenden und integrativen Institutionen für die deutschen Einwanderer kann die Deutsche Evangelische Gemeinde zu Buenos Aires bezeichnet werden. Vor
ihrer Gründung 1843 unterstützte der Evangelische Ausschuss für deutsche Protestanten in
Nordamerika das Bestreben einer Gemeinde in Buenos Aires, um das wachsende Bedürfnis
nach einer protestantischen Kirche mit Gottesdiensten in deutscher Sprache zu bedienen.
Unmittelbar damit verbunden war die Einrichtung von deutschen Schulen in Argentinien,
die zunächst unter Obhut der Kirche standen. Die wachsende Zahl von deutschen Protestanten in Argentinien auch außerhalb von Buenos Aires in den Folgejahrzehnten rief
schließlich eine synodale Arbeit der Kirche hervor. Die sich selbst als ‚Diasporagemeinde‘
bezeichnende Evangelische Kirche zu Buenos Aires gab ab 1895 das Evangelische Gemeindeblatt für die Deutschredenden am La Plata heraus, welches ein Gefühl der Einheit unter
den deutschsprachigen Protestanten stärken sollte. Im Jahre 1900 wurde die La Plata Synode gegründet, nachdem sich bereits alle evangelischen Gemeinden in Argentinien der
preußischen Landeskirche angeschlossen hatten.175 Der Zusammenschluss der Gemeinden
hatte eine engere Bindung der Kirche nach Deutschland zur Folge. Dies führte auch zu einer
größeren Aufmerksamkeit der Auslandskirche in Deutschland.
Der Aufbau und die Unterstützung der La Plata Synode war nicht nur für Kirchenleute ein
wichtiges Projekt, sondern entwickelte sich immer mehr zu einer gesellschaftlichen Aufgabe der Deutschen in Argentinien. Pastor Bußmann konnte prominente Unterstützer für
die evangelische Kirchengemeinde gewinnen. Bußmann, seit 1894 im Amt als kirchlicher
Pfarrer in Buenos Aires, hatte sich bereits mit der Gründung des Deutschen Frauenheims
und des Deutschen Seemannsheims in der Wohltätigkeitsarbeit einen Namen gemacht und
war auch bei der Vereinigung der evangelischen Gemeinde eine treibende Kraft gewesen.176 Ihm gelang es, einen Arbeitsausschuss einzurichten, der Gelder aus Deutschland und
Argentinien mobilisierte, um die Gemeindearbeit besser zu finanzieren. Gustav Lahusen,
Vorstandsmitglied im Familienunternehmen Nordwolle aus Delmenhorst, das aus Argentinien Wolle importierte, gründete in Bremen den Evangelischen Verein für die La Plata Staaten in Deutschland und rief in vierhundert deutschen Zeitungen zur Unterstützung auf. Ein
175
Vgl. Schmidt, Hermann, Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde Buenos Aires. 1843-1943, Buenos Aires 1943, S. 20.
176
Vgl. ebd., S. 185f.
43
weiteres Familienmitglied der Lahusens, Heinrich, war Vorsitzender des Presbyteriums in
Buenos Aires. Ebenfalls war Hermann Tjarks, Gründer des Zeitungsunternehmens Deutsche
La Plata Post, Mitglied des Vertrauensmänner-Collegium der evangelischen Gemeinde.177
Aus dem Jahresbericht der Deutschen Evangelischen Kirche zu Buenos Aires aus dem Jahre
1898 geht hervor, dass sich die Kirche mit den angeschlossenen Schulen selbst als gesellschaftlicher Mittelpunkt des deutschen Lebens in Argentinien sah und als solcher wahrgenommen werden wollte. Die Kirche inszenierte sich als Verteidigerin des Deutschtums in
Argentinien und warnte zugleich vor einer Spaltung der deutschen Gemeinde, was eine
Schwächung des Deutschtums zur Folge hätte.178 Die Evangelische Kirche stand wie kaum
eine andere Institution für die deutsche Kulturarbeit im Ausland. Die Firmen der deutschen
Einwanderer in Argentinien unterstützten die Gemeinde, so etwa die Firma Eyhorn & Müller, welche einen Blumenschmuck für den Trauergottesdienst zu Ehren von Otto von Bismarck am 4. August 1898 spendete.179
Wichtiger für die Gemeinde waren die Einnahmen aus regelmäßigen Spenden und Mitgliederbeiträgen, an denen sich ansässige Firmen beteiligten. Unter den Geldgebern für die
Kirche und Schule finden sich nahezu alle prominenten Vertreter deutscher Herkunft in Argentinien sowie eine Vielzahl an Firmen mit deutschem Namen. Im Jahresbericht von 1898
finden sich als Privatspender für die Schule oder Kirche Adolf Bullrich,180 Gustav Frederking,181, Jacobo Peuser,182 die Familie Tjarks, Robert Lehmann-Nitsche und Hilmar Freiherr
von dem Bussche-Haddenhausen. Als Beispiele von großen Firmenspenden können Otto
Bemberg, Bunge & Born, Bankhaus Fuhrmann, Lahusen, Staudt, Tornquist und Weil Hermanos genannt werden. Außerdem traten noch als multinationale Konzerne die Deutsche
Bank und die Dampfschifffahrtsgesellschaften Hansa und Norddeutscher Lloyd als Spender
an die Evangelische Gemeinde auf.183 Die multinationalen Konzerne sind nicht nur in Gesellschaftsform in den Beitragslisten zu finden, auch die ersten vier Direktoren der Deutschen Ueberseeischen Bank, Georg Eduard Maschwitz, Gustav Frederking, August Schulze
177
Vgl. Schmidt, Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde, S. 206.
Vgl. Deutsche Evangelische Gemeinde zu Buenos Aires (Hg.), Jahres-Bericht der Deutschen Evangelischen
Gemeinde zu Buenos Aires. 1898, Buenos Aires 1899, S. 10.
179
Vgl. ebd., S. 14.
180
Besitzer eines Auktionshauses, Bankdirektor, Bürgermeister von Buenos Aires von 1898 bis 1902, außerdem Mitbegründer des Deutschen Turnvereins.
181
Privatbankier und Direktor der Deutschen Ueberseeischen Bank.
182
Verleger des gleichnamigen Verlages in Buenos Aires.
183
Vgl. Deutsche Evangelische Gemeinde, Jahres-Bericht, S. 27-35.
178
44
und Carl Lingenfelder, trugen mit größeren Privatspenden zur Förderung von Schulen und
Kirchen bei.184
Auch außerhalb der evangelischen Kirche wird deutlich, wie eng deutschstämmige Unternehmer mit der Gemeinde verbunden waren und sich für diese engagierten. Rudolf Lustig
war von 1923 bis 1935 Generalvertreter der zum Gutehoffnungshütte-Konzern gehörenden
Firma Ferrostaal für Südamerika. Er war maßgeblich beteiligt an der Vorbereitung des
deutsch-argentinischen Handelsvertrages, der 1934 unterzeichnet wurde. Im Jahre 1935
gründete er die South American Mining Company in Buenos Aires, eine Zweigstelle des
Hochschildt-Konzerns. Lustig unterstütze die deutsche Pestalozzi-Schule in Buenos Aires
und wurde im Jahre 1933 Mitbegründer des Hilfsvereins Deutschsprechender Juden. Ab
1937 war er auch als Präsident der jüdischen Kulturgemeinschaft tätig.185 Als Präsident und
finanzstärkster Unterstützer des Hilfsvereins betätigte sich der aus Mannheim stammende
Bankier Adolfo Hirsch und durch den Kauf großer Ländereien in der Provinz Río Negro versuchte er, geflüchteten deutschsprechenden Juden aus Europa eine neue Existenz zu geben.186
Neben den Institutionen mit religiösen Trägern bildeten auch andere Organisationen Orte
für gesellschaftliches Engagement für deutschstämmige Unternehmer. Der seit 1882 bestehende Verein zum Schutz Germanischer Einwanderer wurde von hochangesehenen Persönlichkeiten wie Francisco Seeber,187 Jacobo Peuser und Moritz Alemann und Hermann
Tjarks gegründet. Diese Organisation hatte das vorrangige Ziel, deutschsprechende Arbeiter in Arbeit zu bringen, vorrangig in die Betriebe von Deutschen. Der Verein wurde als eine
Art ‚Jobbörse‘ gesehen, der auch die Ausgaben anderer ethnischer Wohlfahrtseinrichtungen entlasten sollte. Die vermittelten Jobzahlen belegen, dass das Programm effektiv war
und insbesondere in der Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg die meisten Arbeiter
vermittelte. Dies lässt sich mit der starken Ausgrenzung von deutschen Arbeitern
184
Vgl. Deutsche Evangelische Gemeinde, Jahres-Bericht, S. 29; 31; 33.
Vgl. Scholl, Lars U., "Lustig, Rudolf", in: Neue Deutsche Biographie, 15, 1987, S. 537f.
186
Vgl. Newton, Ronald, Indifferent Sanctuary. German-Speaking Refugees and Exiles in Argentina, 19331945, in: Journal of Interamerican Studies and World Affairs, 24/4, 1982, S. 395–420, hier: S. 405; Avni, Ḥayim,
Argentina & the Jews. A history of Jewish immigration, Tuscaloosa 1991, S. 137.
187
Bürgermeister von Buenos Aires von 1889 bis 1890.
185
45
einerseits, und dem Boykott deutscher Firmen andererseits während des Ersten Weltkrieges erklären.188
Inwiefern das Engagement und das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der deutschen
Einwanderergemeinde wirklich so stark ausgeprägt war, wie es die zahlreichen Vereine und
die Deutsche Evangelische Gemeinde als Förderin einer deutschen Diasporakultur zunächst
nahelegen, bleibt kritisch zu hinterfragen. Während retrospektiv Institutionen die Zusammengehörigkeit verkörpern, zeigen zeitgenössische Berichte, dass die Realität oftmals anders aussah. Leopold SCHNABL, ein österreichisch-stämmiger Augenarzt, gibt in seinem Buch
über Argentinien Aufschluss über die Kehrseite der Medaille. Er prangert den im Charakter
der Deutschen auftretenden ‚Kastengeist‘ an, der die alte Krankheit des deutschen Geistes
sei.189
Dass sich die sozialen Gegensätze und Hierarchien der Industrialisierung in Deutschland auf
das gesellschaftliche Klima in der deutschen Einwanderergemeinde in Übersee übertrugen,
ist kaum verwunderlich. Die wohltätigen Vereine und Initiativen, die von Wohlhabenden
gegründet und gefördert wurden, waren Teil einer wichtigen Inszenierung der Oberklasse
zur Außendarstellung in Deutschland und Argentinien.190 So lässt sich die Spendenbereitschaft und das Ehrenamt bei den Vertretern der Oberschicht als gesellschaftliche Pflicht
ableiten. Wohlhabende deutsche Bürgerinnen und Bürger in Buenos Aires engagierten sich
in einer Vielzahl von sozialen Wohlfahrtsprogrammen, die auf ethnische Zugehörigkeit der
deutschen Immigranten ausgelegt waren und zugleich fehlende staatliche Einrichtungen
substituierten. Arme, Kranke, alleinstehende Frauen, Waisenkinder und Matrosen erhielten wohltätige Unterstützungen, nicht selten auch als Resultat von öffentlichkeitswirksamen Spendenaufrufen einzelner Wohlhabender. So wie im Frühjahr 1905, als auf Initiative
von über fünfzig wohlhabenden deutschstämmigen Männern das Deutsche Frauenhaus in
Buenos Aires eine beträchtliche finanzielle Summe an Spenden erhielt, in dem ausschließlich Frauen die Leitung hatten.191
Tatsächlich lässt sich die Spendenbereitschaft deutscher Unternehmer und Privatpersonen
aus gesellschaftlichen Pflichtmotiven erklären. Aber auch der Zeitgeist, den deutschen
188
Vgl. Bryce, Pluralist Society, S. 26ff.
Vgl. Schnabl, Leopold, Buenos Aires. Land und Leute am silbernen Strome mit besonderer Rücksicht auf
Europäische Einwanderung, Handel und Verkehr, Stuttgart 1890, S. 158.
190
Vgl. Bryce, Pluralist Society Aires, S. 29.
191
Vgl. ebd., S. 21; 39.
189
46
Imperialismus auch auf der kulturellen Ebene zu verteidigen, trug zu diesem Selbstverständnis der Spendenbereitschaft bei. Wohlhabende deutschsprechende Männer und
Frauen in Buenos Aires beschrieben diese Wohlfahrtsinstitutionen als Eckpfeiler ihrer Gemeinschaft. Sie sahen sich, fern ab vom staatlichen Schutz des Reiches, als die selbsternannten Schutzpatrone einer Diaspora.192
Gleiches galt für die deutschen Schulen in Argentinien. Als Kultureinrichtung zur Sicherung
des Deutschtums war die deutsche Schule als Förderin und Bewahrerin des deutschen Kultur- und Bildungsschatzes für die Auswanderer in Übersee.193 Die deutschen Schulen waren
jedoch, im Gegensatz zu anderen ethnischen Institutionen, keine ethnisch homogenen
Orte. Auch hatten die Schulen keine staatliche Bindung zum Reich, sondern waren bis zum
Ersten Weltkrieg Ergebnisse von Elternzusammenschlüssen auf Basis lokaler Bedürfnisse.194 Einen Aufwind bekamen sie erst in den 1920er Jahren, als sie erstmals von der
deutschen Regierung finanziell und personell unterstützt wurden. Nach den Jahren der Hyperinflation flossen sogar Subventionen aus dem Reich nach Argentinien, um die deutschen
Schulen zu unterstützen. Sie galten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg als wichtige
Werbeträger auswärtiger Kulturpolitik und sollten den Ruf Deutschlands in Argentinien
wiederherstellen. Durch Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse, den Erhalt kultureller
Identität, der Pflege von nationaler Identifikation mit Deutschland sowie durch Werbung
dienten sie zu nichts anderem als der langfristigen Sicherung deutscher Wirtschaftsinteressen in Argentinien.195
3.3.3. Externe Krisen und die Ängste vor Identitätsverlust
Die weiterführende Kritik an spezifisch deutschen kulturellen Praktiken betrifft deren Bindung und Identifikation als generationsübergreifendes Phänomen. Über die Möglichkeit einer generationenübergreifenden ‚Erhaltung des Deutschtums‘ in Argentinien gab es
kritische Stimmen, die den vielen euphorischen, argentinophilen Vertretern entgegentraten. So beklagt BACKHAUS im Auslandsratgeber für Argentinien, dass
192
Vgl. Bryce, Pluralist Society Aires, S. 21f.
Vgl. Gabert, Reinhold, Das deutsche Bildungswesen in Argentinien und seine Organisation, Berlin 1908, S.
13; Bryce, Pluralist Society, S. 92f.
194
Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 38.
195
Vgl. ebd., S. 38f.
193
47
„[deutsche Landsleute] schon in der zweiten Generation dem Aussaugungsprozess durch
das argentinische Volkstum wenig Widerstand mehr entgegensetzen. Das liegt daran, dass
es uns nicht gelungen war, in Argentinien in ähnlicher Weise wie in Brasilien und in Chile
Großsiedlungen zu schaffen. […] Hinzukommt, dass die Bemühungen der argentinischen
Regierung begreiflicherweise in umfassendem Maße darauf gerichtet sind, die alljährlich
am La Plata zusammenströmenden Hunderttausende, den verschiedensten Völkern entstammenden Menschen zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen.“196
Die Erhaltung des sogenannten ‚Deutschtums‘ in der zweiten Generation der Einwanderer
empfand man als außerordentlich schwierige Aufgabe. Dies lag an der inklusiven Integrationspolitik der argentinischen Regierung, die das Ziel hatte, einen starken Patriotismus unter den Einwanderern zu verbreiten. Dies war eine berechtigte Annahme, denn bereits
1881 galt in der argentinischen Einwanderungsbehörde die Devise, dass man ein Übergewicht von Einwanderern eines Landes oder Herkunft vermeiden wollte, um eine argentinische Identität nicht zu unterminieren.197 Reinhold GABERT, seit 1901 Rektor an der
Deutschen Schule in Rosario, argumentierte, dass es zwar viele Einrichtungen kultureller
und sozialer Art gäbe, die für die Erhaltung des Deutschtums in Argentinien einträten, aber
in erster Linie der ersten Generation dienten. Er hatte die deutschsprachige Presse, die La
Plata Synode, die Hilfsvereine, die deutschen Hospitäler in Buenos Aires und Rosario sowie
Vereine und Klubs vor Augen.198 Insbesondere die Schule und das Hospital waren allerdings
infrastrukturelle Einrichtungen, die nicht nur Deutschen zugutekamen. Beide waren auch
für nicht-deutschsprachige Menschen offen und waren als öffentliche Güter notwendige
Substitute für nicht oder nur unzureichend vorhandene staatliche Einrichtungen.
Möglicherweise hatten die Probleme der Bindung der zweiten Generation an die deutsche
Identität auch selbst verschuldete Ursachen. Dem Bemühen der argentinischen Regierung,
ein möglichst homogenes Nationalvolk aus vielen verschiedenen Einwanderernationen zu
formen, stand die zunehmend nationalistische Gesinnung der deutschen Öffentlichkeit vor
dem Ersten Weltkrieg gegenüber, die sich auf die Stimmungslage der Deutschen in Argentinien übertrug. So fanden auch in den deutschen Vereinen der deutsche Nationalismus
und die transnationale Bindung an das Deutsche Kaiserreich immer mehr Einklang, sodass
sich österreichische und schweizerdeutsche Einwanderer abspalteten und ihrerseits eigene
196
Zit. nach Martin u. Hauthal, Die deutsche Auswanderung, S. 25f.
Vgl. Navarro, Emigración, S. 47.
198
Vgl. Gabert, Das deutsche Bildungswesen, S. 13.
197
48
Vereine und Klubs gründeten. Die Zeiten der 1870er, als alle Deutschsprachigen unter einem Dach eines Klubs oder Vereins saßen, waren vorbei.199 Man hatte es also mit einer
zunehmenden Fragmentierung des gesellschaftlichen Lebens unter den Deutschsprachigen
zu tun, die zusätzlich durch das kontinuierliche Wachstum der Stadt Buenos Aires und auch
der Einwanderergemeinde in ihrer zentripetalen Wirkung verstärkt wurde. Die Fähigkeiten
der Institutionen als bindende und integrative Kraft zu wirken, schwanden zunehmend.
Den Zeitgenossen war dies durchaus bewusst, wie aus dem Jahresbericht der Evangelischen Kirche hervorgeht.
„Es wird stets schwerer bei der außerordentlich wachsenden Ausdehnung der Stadt [Buenos Aires] und der immer größeren Dezentralisierung der Gemeinde, dass die Einzelnen
aufgesucht und erreicht werden, um so bei allen die Gemeinschaft des Glaubens zu kräftigen […]. Umso dringender richten wir die Bitte an alle Glieder der Gemeinde, dass sie sich
treu zu Gottes Wort und Sakrament halten und die gute Sitte unseres Vaterlandes und die
feste Ordnung der Kirche für sich und die ihrigen nach Kräften befolgen.“200
Die Bedenken aus der Evangelischen Kirche adressierten eine allgemeine Entwicklung unter
den deutschen Einwanderern, sich mehr von der exklusiven Bindung an transnationale
deutsche Institutionen zu lösen.
Um diese These auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen, kann die gesprochene Sprache als
ein wichtiger Indikator zum Assimilierungsprozess dienen. In der ersten Einwanderergeneration dominierte Deutsch als gesprochene Sprache im sozialen Umfeld. In der zweiten und
dritten Generation änderte sich dieses Bild jedoch. Zwar blieb Deutsch weiterhin die dominante Sprache innerhalb der Familie, jedoch tendierten die Nachfolgegenerationen, insbesondere durch den Kontakt in Schulen und Arbeit zu anderen Gruppen, zum
Bilinguismus.201 In Briefen von neueingewanderten Deutschen findet sich immer wieder die
Wahrnehmung, dass das Erlernen von Spanisch eine schier überlebenswichtige Aufgabe für
Auswanderer sei, um beruflich erfolgreich zu sein.202 Die reellen Erfahrungen der Eingewanderten bezüglich des Deutschtums waren deutlich anders, als die der in Deutschland
199
Vgl. Lütge u.a., Deutsche in Argentinien, S. 239.
Zit. nach Deutsche Evangelische Gemeinde, Jahres-Bericht, S. 13.
201
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 300ff.
202
Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 16; 44.
200
49
ansässigen Kommentatoren. Den Vertretern der Sorgen um die Erhaltung des Deutschtums
brachte der in der Provinz Chubut niedergelassene Farmer Karl Barth entgegen:
„Man spricht so viel von Erhaltung des Deutschtums im Auslande, man empfindet es schmerzlich, dass der Deutsche so häufig als Kulturdünger für fremde Länder dient. Aber, was heißt
denn Erhaltung des Deutschtums […]? […] Besteht sie nicht vielmehr darin, dass man sich in der
neuen Heimat der Mutter Germania bewusst bleibt, sich dankbar alles dessen erinnert, was
man von drüben […] übernommen hat? Dass man sich bemüht, dem Deutschtum Ehre zu machen durch Tüchtigkeit, Arbeitsamkeit, geistige Regsamkeit, musterhaftes Familienleben, Fortkultivierung auch im jungen Lande aller der guten Eigenschaften, die als spezifisch deutsche
überall gepriesen werden?“203
Interessant ist hierbei, dass die Erhaltung des Deutschtums mit Charaktereigenschaften
gleichgesetzt werden und daraus eine Rechtfertigung für die Beibehaltung einer transnationalen Identität gelingt. Die spezifisch reellen Erfahrungen waren viel praxisorientierter als
es in Deutschland gesehen wurde. Ungeachtet kultureller Normen und Empfehlungen aus
Deutschland, wussten die Einwanderer in Argentinien wie sie mit praktischen Mitteln beruflich erfolgreich wurden.
Auch bei einem zweiten Indikator scheint die Bindungskraft von transnationalen Institutionen im Laufe der Zeit nachzulassen. Betrachtet man die Partnerwahl der deutschen Einwanderinnen und Einwanderer, fällt ein signifikanter Unterschied zwischen den
Generationen auf. Aus den Zensusdaten geht hervor, dass im Jahre 1887 noch 77 % der
deutschen Frauen einen deutschen Mann heirateten, im Zeitraum zwischen 1900 und 1909
waren es nur noch 62 %. Intraethnische Heiraten waren dabei bei Frauen deutlich häufiger
als bei Männern, die in den gleichen Zeiträumen zu 60 % (1887) bzw. 50 % (1900-’09) eine
deutsche Frau heirateten. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg waren intraethnische Heiraten nochmal deutlich erhöht und beliefen sich auf über 80 % in den 1920er Jahren.204
Dies lässt sich mit der starken Ausgrenzung der Deutschen aus dem öffentlichen Leben
während des Ersten Weltkrieges erklären. In den Statistiken sind jedoch lediglich die deutschen Staatsangehörigen als Deutsche aufgelistet, sodass sie keine Auskunft über generationenübergreifende Kontinuitäten oder Brüche im Hinblick auf das Heiratsverhalten
geben.
203
204
Zit. nach Greger, 100 Briefe, S. 24.
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 309f.
50
Die Zeit des Ersten Weltkrieges markierte aber nicht nur bei der Partnerwahl eine starke
Zäsur. Obwohl Argentinien offiziell die Neutralität hielt, zeigte die Bevölkerung aufgrund
der mehrheitlich italienischstämmigen und frankophilen Öffentlichkeit Sympathien für die
Entente, wohingegen die Mittelmächte und damit auch die Deutschen zunehmend in die
Defensive gerieten. Im uneingeschränkten U-Bootkrieg wurden auch zwei Schiffe unter argentinischer Flagge versenkt, sodass die feindselige Stimmung zum Ende des Krieges nochmal zunahm und deutsche Geschäfte und Pressehäuser Ziel von Vandalismus wurden. Bei
deutschen und österreichischen Beschäftigten in französischen oder englischen Unternehmen wurde der Krieg als Anlass zur Entlassung genommen und gegen deutsche Geschäfte
wurde über eine ‚Schwarze Liste‘ von 1916 bis 1919 zum Boykott aufgerufen.205
Die massiven Anfeindungen, denen die Deutschen während des Ersten Weltkrieges in Argentinien ausgesetzt waren, führten zu einer stärkeren Kohäsion der deutschen Gruppe
und zu einer überwiegend pro-kaiserlichen Haltung. Dieser neue Patriotismus und die Not
einzelner Deutscher durch Boykotte und Anfeindungen führten zur Gründung des Deutschen Volksbundes für Argentinien, der sich als eine Art Dachverband für alle in Argentinien
tätigen deutschen Organisationen sah. Die vormals durchaus gespaltene deutsche Einwanderergemeinde brachte der Krieg zusammen.206 Um sich gegen die ökonomischen Folgen
durch den Krieg zu schützen, gründeten Vertreter von einundzwanzig deutschen Unternehmen in Argentinien im Jahr 1916 die Deutsche Handelskammer. Zum Ende des Jahrzehnts
hatte sie rund 120 Mitglieder, informierte und beriet Unternehmen und fungierte als Vermittlerin zu argentinischen Behörden.207
4. Deutsche als Unternehmer – Zwei Case Studies
Wie entwickelten sich die wirtschaftlichen Unternehmungen der deutschen Einwanderer
konkret im historischen Kontext? Neben den zahlreichen multinationalen Unternehmen,
wie der Deutschen Bank, AEG, Philipp Holzmann und Thyssen, die Tochterunternehmen
gründeten, gab es auch von Einwanderern selbst gegründete Unternehmen. Die Untersuchung der Multinationalen tangiert zwar auch die Einwanderergemeinde, da diese als
Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 526f.
Vgl. ebd., S. 325.
207
Vgl. ebd., S. 531.
205
206
51
Zielgruppe gesehen wurde.208 Dennoch muss ihre Entwicklungsgeschichte als globalgeschichtlich betrachtet werden, da die Entscheidungsträger vor allem in Deutschland saßen
und ist daher in dieser Arbeit kein Untersuchungsgegenstand. Die biografische Betrachtung
individueller Migrantenunternehmer erlaubt hingegen, Rückschlüsse auf transnationales
Unternehmertum zu ziehen. Deutsche Immigranten hatten eine Sonderstellung in Argentinien, weil sie bessere Zugänge zu Ressourcen hatten, indem sie die kulturelle Nähe zu anderen Deutschen nutzen konnten und zu Deutschland Verbindungen aufrechterhielten. Die
Immigration führt aufgrund dieser Fähigkeit zur Ressourcenmobilisierung und auch zum
Transfer von Wissen, Fähigkeiten und Technologien. Durch die folgenden Case Studies werden zwei Familienunternehmer untersucht, um die Verflechtung von Einwanderung der
Deutschen mit der Entstehung von Unternehmen in Argentinien zu ergründen.
4.1. Hermann Weil
4.1.1. Die Anfänge in Argentinien
Hermann Weil, geboren 1868 in Steinsfurt (Baden), wuchs in einer kinderreichen Familie
auf, die in einfachen Verhältnissen lebte. Der Vater hatte einen kleinen Getreidehandelsbetrieb im Eigenheim, zu dem auch Stallungen und ein Garten zur Selbstversorgung gehörten. Die Familie lässt sich zum damaligen sogenannten Kleinbürgertum zählen. Ab 1883
begann Hermann eine Ausbildung im Getreide-
Abbildung 2
großhandel in Mannheim. Der Erfolg seiner Tätigkeit blieb ihm nicht lange verwehrt. Hermann
übernahm zügig leitende Positionen bei seiner
Ausbildungsfirma Isidor Weismann & Co. und unternahm geschäftliche Auslandsreisen in europäische Städte mit großen Getreidemärkten. Mit nur
18 Jahren wurde Hermann 1886 zum Prokuristen
ernannt und wurde nach zwei Jahren von der
Firma Mosce Z. Danon in Antwerpen abgeworben.
Dort wurde er nach einem halben Jahr von der
Firma nach Buenos Aires geschickt, um eine Filiale
für
208
Danon
zu
eröffnen,
welche
er
zur
Hermann Weil mit seiner Familie, Aufnahme von
1904. Quelle: Appenzeller, Hermann Weil, S. 21.
Vgl. Pohl, Manfred, Deutsche Bank Buenos Aires. 1887-1987, Mainz 1987, S. 28.
52
profitabelsten Filiale des Antwerpener Unternehmens machte. Kurze Zeit später ging
Danon nach einer gescheiterten Spekulation im Termingeschäft pleite, sodass Hermann zunächst arbeitslos wurde.
Er wanderte daraufhin zunächst in die USA aus, wo sich seit 1872 zwei ältere Brüder aus
der Familie Weil aufhielten und einen General Store in Alabama betrieben. In den USA
konnte er beruflich keine feste Stellung erreichen, weswegen er sich im Jahre 1888 zu einer
Emigration nach Argentinien entschloss, wo er durch seine Tätigkeit bei Danon bereits Geschäftskontakte hielt.209 Hermanns Brüder Sam und Ferdinand folgten ihm aus Alabama
nach Buenos Aires, wo sie 1898 die Getreidehandelsfirma Weil Hermanos & Cía. gründeten.
Mit dem Zusatz Getreideexportfirma (Sociedad Anónima de exportaciones de cereales)
hatte sie ihren Sitz im Geschäftszentrum von Buenos Aires.210 Mit 50 % behielt Hermann
den größten Anteil, die Brüder erhielten je 20 % und ein weiterer Geschäftspartner aus
Deutschland bekam 10 %.211 Die Firma exportierte Weizen, Leinsaat und Mais aus Argentinien.
In persönlicher Beziehung hielt Hermann die Verbindung zu seinem alten Arbeitgeber,
Isidor Weismann, aufrecht. Im Jahre 1898 heiratete er Isidor Weismanns Tochter Rosa und
bekam im selben Jahr in Buenos Aires sein erstes Kind, Felix, und 1901 wurde Hertha Anita
Alice in Frankfurt geboren. Sein Ehrgeiz und die kaufmännischen Fähigkeiten, die er bei
Danon unter Beweis gestellt hatte, katapultierten ihn nicht nur beruflich in kürzester Zeit
in neue Höhen, sondern erlaubten ihm auch einen sozialen Aufstieg in die Kreise der Großkaufleute.212
4.1.2. Wirtschaftlicher Kontext, 1860-1900
Argentiniens Wirtschaftsstruktur war im späten 19. Jahrhundert stark geprägt vom primären Sektor. Das bewirtschaftete Territorium des Landes wurde nach Ende des Bürgerkrieges graduell erweitert und die frontera, äquivalent zur nordamerikanischen frontier,
kontinuierlich nach Osten und Süden verschoben was nach der Vertreibung und Vernichtung von indianischen Stämmen möglich wurde. Es lässt sich ein enormer Anstieg der
209
Vgl. Appenzeller, Hans, Dr. h. c. Hermann Weil. Leben und Wirken, 1868-1927, Steinsfurt 2012, S. 16.
Vgl. Sociedad Rural Argentina (Hg.), La Rural. Guía General de Estancieros de la República Confeccionada
para los Miembros de las Sociedades Rurales Argentinas, Buenos Aires 1912, S. 448.
211
Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 32.
212
Vgl. ebd.; Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus, S. 14.
210
53
bewirtschafteten Fläche bis 1910 feststellen und ein weiterer Anstieg, aber mit langsameren Wachstumsraten, bis 1930. Die Anbaufläche betrug im Jahre 1930 mehr als das Elffache
als 1887. Insbesondere in den Jahren starker wirtschaftlicher Expansion, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert, wuchs die Anbaufläche sehr stark an. Einen Vorteil konnte Argentinien in der Größe der zusammenhängenden Flächen ausspielen. Trotz des Prinzips der
Realerbteilung, die eine Aufspaltung des landwirtschaftlichen Besitzes nach dem Tod des
Besitzers zur Folge hatte, waren die räumlichen Dimensionen deutlich größer als in Europa.
Zugleich war, aufgrund der guten klimatischen Verhältnisse und der Fruchtbarkeit der Böden, der Flächenertrag höher.213 Weizen war im betrachteten Zeitraum durchgängig das
wichtigste Anbauprodukt und wurde insbesondere in den Provinzen Buenos Aires, Santa
Fé, Córdoba, Pampa Central und Entre Ríos kultiviert.214 Die höchsten Steigerungsraten der
Anbaufläche von Weizen sind zwischen 1887 und 1910 zu verzeichnen. Ähnlich verhielt es
sich auch bei Mais und Leinsaat. Der Export von Weizen und Weizenmehl war ebenfalls ein
stetig wachsender Sektor, der insbesondere von 1887 bis 1900 einen rasanten Aufstieg verzeichnete und maßgeblicher Treiber für die Überwindung der wirtschaftlichen Krisenjahre
in den 1890ern war.215
Tabelle 1: Jährliche Anbauflächen und Exportmengen von landwirtschaftlichen Gütern in Argentinien
Anbauflächen:
Insgesamt
Davon Weizen
Davon Mais
Davon Leinsaat
Exporte:
Weizen und
Weizenmehl
Mais
Leinsaat
Wertanteil von
Getreide an
Gesamtausfuhr
Einheit
1887
1900
1910
1920
1930
1000 ha
1000 ha
1000 ha
1000 ha
2 459
815 (33%)
802 (33%)
121 (5%)
7 311
3 380 (46%)
1 255 (17%)
607 (8%)
20 367
6 253 (31%)
3 215 (16%)
1 504 (7%)
23 284
6 077 (26%)
3 274 (14%)
1 930 (8%)
27 219
8 613 (32%)
5 575 (20%)
3 040 (11%)
1000 t
243
1 981
1 999
5 187
2 317
1000 t
1000 t
%
362
81
25
713
223
47
2 660
605
47
4 475
1 063
62
4 670
1 170
48
Quelle: Eigene Darstellung. Die Zahlen beruhen auf amtlichen Statistiken, entnommen aus: Deutsche Ueberseeische Bank (Hg.), Deutsche Ueberseeische Bank. Aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens der Deutschen
Überseeischen Bank ihren Mitarbeitern und Freunden gewidmet, Berlin 1936, S. 138f.
213
Vgl. Arent, Argentinien, S. 409.
Vgl. Stichel, Bernhard, Argentinien, Hamburg 1919, S. 54.
215
Vgl. Cortés Conde, La Economía de Exportación, S. 48.
214
54
Die Arbeiter- und Sozialintellektuellenaufstände rund um die ‚Revolución del Parque‘ in
1890 ließ die Inflation in die Höhe stiegen und die Wechselkursentwertung ließ Exporte
deutlich verbilligen.216 Bei der Betrachtung des Wertanteils von Getreide am Gesamtwert
aller exportierten Güter, lässt sich ein bemerkenswerter Anteil feststellen, der 1887 noch
25 % und in 1900 und 1910 bereits 47 % betrug. Generell lässt sich schlussfolgern, dass der
Getreideanbau in Argentinien stark auf den Export ausgerichtet war, um die Nachfrageüberschüsse in Europa zu befriedigen. Die gesamte La Plata Region wurde auch als ‚Weltkornkammer‘ bezeichnet und exportierte neben Weizen und Mais auch Leinsamen. Der La
Plata-Export von Weizen machte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwischen 14 % und
21 % des weltweiten Weizenexportes aus, bei Mais und Lein lagen die Anteile gar über 50 %
bzw. 65 % der weltweiten Exporte.217 Insbesondere im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts stiegen die Leinsaatexporte aus Argentinien stark an. Mit Ausnahme des Jahres
1911 war Argentinien von 1900 bis 1913 der größte Leinsaatlieferant in Europa.218 Der hohe
Anteil Argentiniens am Welthandel bei diesen landwirtschaftlichen Gütern machte es als
‚Kornkammer‘ bekannt und zur zeitgenössischen Vorstellung einer landwirtschaftlichen Supermacht. Die wurde allerdings auch damals schon als übertrieben kritisiert, da die tonnenmäßige Produktion von Weizen vor 1914 nicht viel höher war als im Deutschen Reich
und der Unterschied nur darin bestand, dass Argentinien mehr exportierte.219 Für Argentinien war die starke Expansion von Anbauflächen und Produktionsvolumina von essentieller
Bedeutung, da es zwar viel exportierte aber die landwirtschaftlichen Waren die einzig nennenswerten Exportgüter waren. Die Kreditvergabe an argentinische Unternehmen und die
Anleihen an den Staat orientierten sich daher maßgeblich an den Ernten und Ernteaussichten, welche über steigende oder fallende Zinsen entschieden.220
216
Vgl. Weil, Hermann, Der Getreidehandel, in: Josef Hellauer (Hg.), Argentinien. Wirtschaft und Wirtschaftsgrundlagen, Berlin/ Leipzig 1921, S. 150–160, hier: S. 150.
217
Vgl. Boerger, Albert, Sieben La Plata-Jahre. Arbeitsbericht und wirtschaftspolitischer Ausblick auf die Weltkornkammer am Rio de La Plata, Berlin 1921, S. 411; 415f.
218
Vgl. Krause, Argentiniens Wirtschaft, S. 31.
219
Vgl. ebd., S. 418.
220
Vgl. Deutsch-Argentinischer Centralverband (Hg.), Neues und Wichtiges aus der Argentinischen Gesetzgebung. Wirtschaftsgeschichte und Geschäftslage in Argentinien während des ersten Halbjahres 1912 und Allgemeines, in: Mitteilungen des Deutsch-Argentinischen Centralverbandes, 1, 1912, S. 22–30, hier: S. 22.
55
4.1.3. Der Aufstieg eines Geschäftsmodells
In dieser Zeit eines hohen wirtschaftlichen Wachstums des Agrar- und speziell des Weizenanbaus in Argentinien stiegen Hermann Weil und seine Brüder in das Geschäft mit ein.
Durch die Geschäftsverbindungen nach Antwerpen und Mannheim aus früheren Tätigkeiten konnte die Firma Weil Hermanos & Cía. (spanisch für ‚Gebrüder Weil & Cie.‘) von dieser
Dynamik profitieren und expandierte schnell in kürzester Zeit. Bis 1914 wuchs die Firma
rasant und durch vertikale Integration des Warentransports entledigte sie sich der Abhängigkeit der Frachtfirmen. Zu Spitzenzeiten standen sechzig Schiffe auf dem Atlantik unter
der Flagge von Weil Hermanos, die Getreide nach Europa und Nordamerika exportierten.221
Durch ihr schnelles Wachstum gelang Weil Hermanos der Eintritt in einen Markt mit konzentriertem Wettbewerb, in welchem fünf große Unternehmen im Jahre 1914 über 75 %
der Marktanteile kontrollierten.222 Mit 10 % Marktanteil war Weil Hermanos das viertgrößte Unternehmen in diesem Kartell großer Handelsfirmen, die allesamt deutsche Verbindungen hatten und international stark vernetzt waren. Weil Hermanos war jedoch das
einzige Unternehmen mit Hauptsitz in Argentinien und formal ein inländisches Unternehmen.223
Die Firma beschäftigte in ihrer Blütezeit über 3.000 Mitarbeiter. Zu ihnen zählten auch Familienmitglieder, etwa Josef, Friedrich und Joseph Siegmund Weil, die in Buenos Aires angestellt waren. Ihren Hauptsitz hatte die Firma im Geschäftszentrum von Buenos Aires und
Niederlassungen gab es an allen wichtigen Orten der Getreidegegenden in Argentinien, allen voran der Häfen Buenos Aires, Rosario, Bahía Blanca und La Plata. Außerdem besaß die
Firma noch Niederlassungen in Europa, wo auch Familienmitglieder tätig waren, wie Friedrich Weil in der Antwerpener Filiale.224
Neben der Dynamik im internationalen Getreidehandel in der Vorkriegszeit war auch die
Wirtschaftsstruktur in Argentinien ein Spezifikum, das Hermann Weil geschäftsmäßig ausnutzte. Die Verhältnisse im Bodenbesitz waren geprägt vom spanisch-kolonialen Prinzip:
221
Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 32f.
Die vier weiteren Unternehmen waren: Bunge & Born, Louis Dreyfus, Huni & Wormser, General Mercantile
Company.
223
Vgl. Dehne, Phillip, The Resilience of Globalisation during the First World War. The Case of Bunge & Born
in Argentina, in: Christof Dejung u. Niels P. Petersson (Hg.), The Foundations of Worldwide Economic Integration. Power, Institutions, and Global Markets, 1850-1930, Cambridge 2013, S. 228–248, hier: S. 230f.
224
Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 33.
222
56
der Latifundien. Riesige Flächen, die vor der Unabhängigkeit als Eigentum der spanischen
Krone verpachtet wurden, gelangen in Privatbesitz. Der Besitz großer Landtitel blieb weiterhin prestigeträchtig, die Bewirtschaftung der Ländereien übernahmen Pächter. An Investitionen waren die Großgrundbesitzer nicht interessiert, da die Pachteinnahmen, meist
durch den Verkauf von Rindern und Schafen lukrativ blieben.225 Dabei wurden keine Anreize für Investitionen in den Getreidehandel geschaffen, weil die Pachtverträge keine langen Laufzeiten hatten. Vor dem Ersten Weltkrieg waren Drei- bis Vierjahresverträge üblich,
in den 1920ern nur noch zwei bis drei Jahre.226 Als Resultat gab es so gut wie keine Lagerhaltung in Silos von Getreide, sodass die Erzeugnisse gleich nach dem Erdrusch von den
Pachtbauern verkauft wurden. Die Lager-
Abbildung 3
häuser der Aufkäufer auf den Stationen und
der Exporthäuser waren bereits mit 20 %
der gesamten Ernte ausgelastet und dienten ausschließlich dem Transitverkehr. Da
die ungelagerte Ware schnell verderblich
war, mussten pro Woche circa 100.000
Tonnen Weizen auf Exportschiffe verfrachtet werden.
Die Gründer von Weil Hermanos: Samuel, Hermann, Ferdinand. Quelle: Appenzeller, Hermann Weil, S. 33.
Um das Potenzial der Getreideproduktion auszunutzen, musste Weil Hermanos die Mengen Getreide schnellstmöglich für den Weiterkauf abfertigen. Um dies zu garantieren, waren die Exportfirmen auf das Vorhandensein von Eisenbahnlinien angewiesen. Der Ausbau
der Schienenlänge wuchs bereits ab den 1870ern stark an, umfasste 1895 knapp 18.000
und 1915 bereits 35.000 Kilometer.227
Die weiten Strecken aus der Pampa und Santa Fé bis zur Küste überbrückte die Eisenbahn
mit großen Waggons, meist mit 30 Tonnen Frachtgewicht.228 Da nahezu alle Eisenbahnen
auf breiterer russischer Spurweite fuhren, konnte der Transport auf den flachen Ebenen
des Binnenlandes mit höherer Geschwindigkeit erfolgen. Die Eisenbahn war mit ihrer
225
Vgl. Brown, Jonathan C., A Socioeconomic History of Argentina, 1776-1860, Cambridge 1979, S. 146f.
Vgl. Pfannenschmidt, Ernst, Die Landwirtschaft Argentiniens, in: Josef Hellauer (Hg.), Argentinien. Wirtschaft und Wirtschaftsgrundlagen, Berlin/ Leipzig 1921, S. 134–149, hier: S. 142f.
227
Vgl. Schmidt, Ernst Wilhelm, Die agrarische Exportwirtschaft Argentiniens. Ihre Entwicklung und Bedeutung, Jena 1920, S. 78.
228
Vgl. Weil, Der Getreidehandel, S. 159.
226
57
Geschwindigkeit und ihrem Fassungsvermögen auf die Exportwirtschaft spezialisiert und
für Weil Hermanos ein wichtiger Baustein für das schnelle Wachstum der Firma.
Die fehlenden Lagermöglichkeiten für Getreide nutzte Weil Hermanos zu ihrem Vorteil aus,
da der unmittelbare Absatz von Getreide auf dem Weltmarkt in ein günstiges Zeitfenster
fiel. Die Druschzeit in Argentinien fiel auf Ende Januar und zur gleichen Zeit waren die Weizenausfuhren aus Nordamerika aufgrund der Vereisung der Seen und Kanäle gehemmt, sodass die antizyklische Erntezeit ein Wettbewerbsvorteil für die Firma in Argentinien war.229
Das auf persönliche Kontakte beruhende Handelsnetzwerk, vor allem der Zugang zu einem
der wichtigsten Getreideumschlagplätze Europas, der Mannheimer Hafen, verschafften
Weil Hermanos eine hervorragende Ausgangsposition.
Weil Hermanos handelte mit Weizensorten aus Saatzüchtungen verschiedener europäischen Sorten, welche das Ergebnis von jahrelangen experimentellen Studien waren, wie
etwa vom deutschen Wissenschaftler Albert Boerger in der Versuchsstation in Uruguay. Die
pflanzenzüchtigen Arbeiten im La Plata-Gebiet erzielten einen Mehrertrag in der Ernte von
ca. 30 – 40 %, Ziffern die deutlich höher sind als bei Zuchtversuchen in Deutschland, was
an den günstigen klimatischen Bedingungen und Bodenverhältnissen lag.230 Der La PlataWeizen war von sehr hoher Qualität mit „blütenweißer Farbe“ und „auch bei sehr wenig Kleie,
reichlich Kleber enthält“,231 was insbesondere beim Backen von Vorteil war.232
Um eine hohe Qualität des gekauften Weizens zu gewährleisten, bot Weil Hermanos den
Weizen nach seinem spezifischen Getreidegewicht an, eine in Argentinien bis dato unübliche Praxis. Bei der häufigsten Sorte Barletta lag das Naturalgewicht zwischen 78 und 80
Kilogramm pro Hektoliter. Durch den Vergleich von Stichproben mit Musterproben konnte
die Qualität der Waren festgestellt werden.233
Das Geschäftsmodell von Weil Hermanos, wie auch von allen anderen Exportfirmen, verstand sich als reine Handelsintermediation. Sie stellten Vertreter oder direkte Angestellte
ein, die in den Getreideanbaugebieten entweder direkt von den Bauern oder von
229
Vgl. Weil, Der Getreidehandel, S. 151.
Vgl. Boerger, Sieben La Plata-Jahre, S. 105.
231
Zit. nach Weil, Der Getreidehandel, S. 150.
232
Der Name La Plata-Weizen wurde zum inoffiziellen gebräuchlichen Markennamen für Weizen aus Argentinien und Uruguay in Deutschland.
233
Vgl. ebd., S. 156.
230
58
Zwischenhändlern, den sogenannte Acopiadores kauften. Die Acopiadores fungierten das
ganze Jahr über als Kreditgeber für die Bauern, die für Saat, Produktion und Ernte Kredite
benötigten.
Obwohl die Kurse der Terminbörsen in Rosario und Buenos Aires durch Telegrafie unmittelbar an allen Verladestationen verfügbar waren, waren die Farmer zumeist Preisnehmer.
Denn dieses System des ‚Rentenkapitalismus‘ gab den Acopiadores eine stärkere Verhandlungsposition.234 Meistens waren die Farmer auf ein Vorschussgeschäft angewiesen, da sie
nicht genügend liquide Mittel zur Zahlung der Erntekosten (direkte Kosten wie Löhne,
Transportkosten) besaßen. Vor dem Schnitt wurde daher ein Teil der Ernte bereits zu einem
Festpreis verkauft, oder ein Fijar-Precio-Kontrakt235 abgeschlossen, bei dem sich der Farmer zu einer gewissen Mengenabgabe verpflichtet, der Preis aber erst bei der Lieferung
festgesetzt wird und sich dann an den Terminbörsen orientiert. Bei der direkten Zahlung
erhält der Exporteur einen Risikoabschlag von 1 bis 2 % auf den Tagespreis, um sich vor
einem potentiellen Verlust der Ware durch Witterungsverhältnisse, Diebstahl oder Unterschlagung abzusichern.
Durch das Vorschussgeschäft deckte der Farmer zwar seine Kosten, allerdings hatte er
kaum Einfluss auf die Preissetzung. Zusätzlich hatten Exporteure wie Weil Hermanos ein
weiteres Druckmittel in der Hand, da Preisabzüge bei schlechter Qualität gemacht wurden,
die durch Stichproben festgestellt wurde. Da das Getreide nach der Drusch faktisch ungeschützt am Wegesrand in Jutesäcken gelagert wurde, konnten ungünstige Witterungsverhältnisse die Qualität der Ware häufig mindern.236 Dieses Machtgefälle in der Preissetzung
zwischen Exporteur bzw. Acopiador und Farmer führte dazu, dass Weil Hermanos einen
niedrigen Exportpreis anbieten konnte, der international wettbewerbsfähig war. Dieser
ging allerdings zu Lasten der Arbeitsbedingungen der Bauern und Erntehelfer, die häufig
selbst Einwanderer waren, allerdings italienischer Herkunft. Die Wettbewerbsfähigkeit von
Weil Hermanos und anderen gründete sich auf das Drücken der Ankaufpreise, da die
234
Der Begriff Rentenkapitalismus geht auf den Geographen Hans Bobek zurück und umschreibt die ständige
finanzielle Abhängigkeit der Pächter vom Großgrundbesitzer. Die Pachtverträge sind in einem solchen System
unvorteilhaft für die Pächter ausgelegt und gleichzeitig dienen Großgrundbesitzer als Kapitalgeber für Produktionsfaktoren, sodass ein dauerhaftes Schuldverhältnis besteht. Die Funktion der Großgrundbesitzer ist
in Argentinien auf die der Acopiadores übertragbar.
235
Zu tiefergehender Literatur über die Kontrakt- und Verkaufspraktiken im Getreidehandel siehe Pfannenschmidt, Die Landwirtschaft Argentiniens, S. 145ff und Schmidt, Die agrarische Exportwirtschaft, S. 164-173.
236
Vgl. Weil, Der Getreidehandel, S. 156f.
59
Produktionskosten relativ hoch waren. Beim Pächterstreik von 1912 forderten Pächter
niedrigere Pachten, niedrigere Frachtsätze der Eisenbahngesellschaften, geringere Preise
für Säcke und Steuerminderungen, da die hohen Lebenshaltungskosten für die Pächter untragbar geworden waren.237
4.1.4. Krankheit und Weltkrieg
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einschneidenden Erlebnissen für die Familie
Weil. Seit 1903 litt Hermann Weil an Syphilis. Um sich die Behandlung des renommierten
Arztes Professor Paul Ehrlich zu sichern, zog Familie Weil im Jahre 1907 nach Frankfurt am
Main. Zuvor hatte Hermann seinen neunjährigen Sohn Felix, gebürtiger Argentinier, auf
eine Schule in Frankfurt geschickt, da er die deutschen Schulen in Argentinien als nicht fortschrittlich genug empfand.
Die Firma Weil Hermanos wurde von nun an von zwei Zentren aus geführt. Samuel Weil
verantwortete weiterhin das Unternehmen in Buenos Aires und Ferdinand die Filiale in
Rotterdam. Zudem kamen mit Julius Flegenheimer und Sigismundo Edelstein zwei Teilhaber hinzu, die vorher in Argentinien als Prokuristen beschäftigt waren. Hermann hielt weiterhin im Hintergrund die Fäden in der Hand. Hermanns Ehefrau Rosa, ebenfalls seit Jahren
an Krebs erkrankt, starb im April 1912. Im selben Jahr machte es Hermanns zunehmend
schlechter Gesundheitszustand ihm unmöglich, die Geschäfte der Firma weiterzuführen.238
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges markierte den Beginn einer schwierigen Zeit für Weil
Hermanos in Argentinien. Die britische Regierung drängte Argentinien als neutrales Land
zur Suspendierung der Handelsbeziehungen zum Deutschen Reich. Der Export von Getreide
konnte von Weil Hermanos also keine deutschen Destinationen anlaufen. Allerdings kamen
zunächst weiterhin Getreidelieferungen über Umwege nach Deutschland, etwa über St.
Vincent oder die Kanarischen Inseln und dann über Dänemark, Schweden und die Niederlande.
Den Engländern war außerdem die Dominanz deutscher Unternehmer im Getreidemarkt
Argentiniens ein Dorn im Auge. Neben Weil Hermanos waren auch die Häuser Bunge &
Born
237
238
und
Hardy
&
Mühlenkamp
deutscher
Herkunft. Die
anderen
großen
Vgl. Deutsch-Argentinischer Centralverband, Mitteilungen 1/1912, S. 23.
Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 20; 23; 34.
60
Getreideexporteure hatten eine große Anzahl an deutschen Mitarbeitern oder Geschäftsbeziehungen nach Deutschland. Der Handel an den Terminbörsen in Rosario und Buenos
Aires wurde auch während des Krieges weiterhin maßgeblich von den deutschen Firmen
kontrolliert. Ihre aufgebauten Netzwerke und ihre jahrelang aufgebaute Größe und Präsenz
sorgten trotz britischen Widerstandes für einen weiterhin funktionierenden Exportmarkt,
wenn auch mit Einschränkungen.
Anfang 1916 hatte die Marktmacht der Deutschen im Getreidemarkt weiterhin Bestand.
Im Zuge der Einführung sogenannter ‚Schwarzer Listen‘ von der britischen Regierung, bekamen Weil Hermanos und auch alle anderen deutschen Firmen in Argentinien Schwierigkeiten. Auch wenn das britische Gesetz die ‚Schwarzen Listen‘ eigentlich nur auf deutsche
Firmen in feindlichen Territorien anwenden konnte, wurden auch deutsche Firmen in Lateinamerika Ziel dieser Listen. Die Begründung dafür war, dass die dort ansässigen deutschen Firmen angeblich die deutsche Marine in neutralen Gewässern unterstützten.239
Auch Weil Hermanos stand auf der ‚Schwarzen Liste‘, obwohl es zunächst keine Hinweise
auf kollaborative Arbeiten seitens der Unternehmen gab. Konkret setzten die Briten diese
Politik der ökonomischen Kriegsführung in Argentinien durch, indem sie Dampfschiffunternehmen drängten, keine Güter von deutschen Unternehmen mehr zu transportieren.
Der Verdacht liegt nahe, dass der Kriegszustand als Vorwand für die ökonomischen Interessen der britischen Wirtschaft diente, um beispielsweise das deutsche Handelsmonopol
im Getreidesektor zu durchbrechen. Weil Hermanos konnte zunächst weiter operieren, da
vor allem die USA und auch die argentinische Öffentlichkeit der britischen Position konträr
gegenüberstanden, auch wegen der Angst, dass Entente-Unternehmen zu neuen Monopolen drängten.
Mit dem Eintritt Italiens in den Krieg auf Seiten der Entente, änderte sich die Stimmung in
Argentinien zu Ungunsten der deutschen Unternehmen, da nun die italienisch-stämmige
Mehrheit im Land den Deutschen kritischer gegenüberstand und die italienisch-argentinischen Unternehmen ihre Chance zur Verdrängung der Deutschen witterten.240 Weil Hermanos traf die Durchsetzung der ‚Schwarzen Listen‘ hart, sodass der Getreidehandel
während des Krieges ausgesetzt werden musste. Ab Ende 1917 stand Weil Hermanos
239
240
Vgl. Gravil, Roger, The Anglo-Argentine Connection, 1900-1939, Boulder/ London 1985, S. 119.
Vgl. ebd., S. 120.
61
ebenfalls auf der U.S. Enemy Trading List, sodass der internationale Druck stärker wurde.
Dem Unternehmen gelang es trotzdem den Konkurs zu vermeiden, indem es die Verbindung der Familie Weil zwischen Buenos Aires und Frankfurt nutzte.
Trotz der Unterbrechung von Kommunikationsverbindungen zwischen Deutschland und
Argentinien konnte das Doppelunternehmen in Argentinien und Deutschland über heimliche Geschäftsabwicklung überleben. In Deutschland kaufte die Firma argentinische Staatsanleihen von Besitzern argentinischer Schuldtitel und schmuggelte die Dokumente in
holländischen Schiffen nach Argentinien, wo sie dann durch den günstigen Wechselkurs
gewinnbringend verkauft wurden.241
Die Aktivitäten im Untergrund verfolgten auch andere deutsche Unternehmen in Argentinien, um den drohenden Konkurs abzuwenden. Dabei ging es auch darum, alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Kriegseintritt Argentiniens zu verhindern, was eine
Beschlagnahmung der Vermögen deutscher Firmen wahrscheinlich gemacht hätte. Weil
Hermanos und andere Exporthäuser arbeiteten dabei eng mit der deutschen Auslandsspionage zusammen. Weil Hermanos und Bunge & Born kamen zu regelmäßigen, zeitweise
täglichen Geheimtreffen in Rosario mit dem deutschen Spion Juan Reuter zusammen.242
Man entwickelte geheime Strategien, um Einfluss auf politische, militärische und gesellschaftliche Führungspersönlichkeiten zu nehmen und damit einen Kriegseintritt zu verhindern. Weil Hermanos und Bunge & Born verfügten über eigene Agenten zur Animierung
von Streiks in anderen Betrieben, um eine wirtschaftliche Voraussetzung zum Kriegseintritt
zu erschweren. Es kam mehrmals zu Zahlungen der Streikenden durch die Deutsche Bank,
hinter denen der Auslandsnachrichtendienst des Deutschen Reichs steckte.243
Hermann Weil erlangte durch seine wirtschaftlichen Erfolge vor dem Krieg in Deutschland
in der politischen und wirtschaftlichen Elite hohe Anerkennung. Spätestens ab 1915, als
Hermann Weil seine Privatvilla in Frankfurt als Militärlazarett für deutsche Offiziere bereitstellte, war ihm die Anerkennung sicher. 244 Er stieg in die höchsten militärischen und politischen Kreise des Reichs auf und war als Berater für den Admiralstab der Marine für
wirtschaftliche Fragen des U-Boot Krieges tätig. Hermann Weil berichtete im Februar 1916
241
Vgl. Gravil, The Anglo-Argentine Connection, S. 121.
Vgl. Bisher, Jamie, The Intelligence War in Latin America, 1914-1922, Jefferson 2016, S. 195; 197.
243
Vgl. ebd., S. 201.
244
Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 55.
242
62
über die Getreideeinfuhr der Entente-Mächte und sah die Einfuhr weit unter dem Bedarf.
Daraus folgerte er, dass die tägliche Versenkung von ein bis zwei alliierten Schiffen eine
allgemeine Panik in England hervorrufen müsse und bereits nach drei Monaten die Alliierten ausgehungert seien. Um die argentinische Getreidezufuhr Großbritanniens zu unterbinden, schlug Weil vor, über Weil Hermanos eine große Menge von Weizen (200.000
Tonnen) in Argentinien aufzukaufen und einzulagern, was mit dem geheimen Wertpapiergeschäft abgewickelt werden sollte. Die Reichsregierung sollte an den laufenden Kosten
beteiligt werden. Da sich die Vorzeichen einer weltweiten Hungerkrise für 1917 verstärkten, trat Hermann Weil vehement für die Störung der Getreidezufuhr aus Argentinien nach
England ein, um den Siegfrieden zu erreichen, den er fürs Frühjahr 1917 voraussagte.245 Er
wollte mit allen Mitteln den Aufkauf argentinischen Getreides von Großbritannien verhindern. In der Denkschrift des Admiralstabs vom Dezember 1916, die letztendlich den uneingeschränkten U-Boot-Krieg erwirkte, fand sich Weil namentlich mit seinen Ratschlägen
wieder.246 Als Fachmann für Getreidefragen im Bericht erwähnt, sah Weil die Torpedierung
der Getreidezufuhr Großbritanniens als Erfolgsgarant für einen Siegfrieden. Hermann Weils
Analyse wog im Bericht stärker als die Kritik im Admiralstab über Weil, dessen Aussagen
der Admiralstab als maßlos überzogen zurückwies. Hermann Weils Eintreten für den UBoot-Krieg und der Optimismus zum Siegfrieden, sorgten schließlich für die Einladung ins
Große Hauptquartier in Bad Kreuznach zu Kaiser Wilhelm II.247
Trotz der Aufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges stoppte die Getreidelieferung
Argentiniens an die Entente nicht. Durch ein Regierungsabkommen sicherte sich die Entente fast 60 % der Weizenexporte aus dem Jahre 1917 „an Order“ und bezog insgesamt
77 % der argentinische Weizenausfuhren.248 In absoluten Zahlen war dies aber trotzdem
sehr gering im Vergleich zur Vorkriegszeit. Die argentinische Ökonomie war trotz der Neutralität des Landes zu einer Kriegsökonomie als Rohstofflieferant der Entente geworden. Im
Gegensatz zu Getreide, steigerte sich der Export von Fleisch und Ledermaterialien als
Kriegsgüter.249
245
Vgl. Stegemann, Bernd, Die Deutsche Marinepolitik 1916-1918, Berlin 1970, S. 54ff.
Vgl. ebd., S. 58.
247
Vgl. Erazo Heufelder, Der argentinsiche Krösus, S. 26.
248
Vgl. Krause, Argentiniens Wirtschaft, S. 72f.
249
Vgl. Gravil, The Anglo-Argentine Connection, S. 152.
246
63
4.1.5. Neuanfang und Niedergang
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wuchsen die Getreideexportmengen Argentiniens
nochmals stark an. Kriegs- und nachkriegsbedingte Ausfälle in Europa konnten durch Argentinien kompensiert werden, vor allem der Ausfall Russlands als weltweit größter Weizenproduzent hinterließ eine Lücke. Auch Weil Hermanos konnte diese Lücke ausnutzen
und das Getreidegeschäft wieder aufnehmen.
Britische Unternehmen hatten es nicht geschafft, die deutschen Unternehmen nachhaltig
zu verdrängen, was mit erheblichen Ernteeinbußen aus den Jahren 1913 und 1916, der Priorität auf Fleischexport sowie mit fehlenden Kapitalzuflüssen zusammenhing, die sämtliche
Investitionen unterbanden. Trotzdem konnte Weil Hermanos nicht mehr an die sehr erfolgreiche Zeit vor dem Krieg anknüpfen.
Dass die außerordentliche Expansion der Produktion und des Exportes von Getreide nach
dem Ersten Weltkrieg abzuflauen drohte, war einigen zeitgenössischen Beobachtern klar.
Professor BOERGER bemerkte im Jahre 1921, dass die Exportmöglichkeiten Argentiniens zukünftig nicht günstiger ausfielen, da die Preise fallen würden und Argentinien seine Stellung
als Weizenproduzent lediglich kriegsbedingt kurzzeitig hatte ausbauen können, aber im
Vergleich zu Kanada und den USA im Volumen abgeschlagen sei.250 Die Strukturkrise der
argentinischen Ackerbauwirtschaft war unübersehbar. Ein mangelhaftes Steuerwesen, geringe Produktivitätszuwächse sowie eine fehlende innovative Unternehmer-Mentalität,
aufgrund des Großgrundbesitzer-Pächter-Verhältnisses, wurden als strukturelle Nachteile
in Argentinien gesehen. Die zunehmend auftretenden Streiks der Ackerbauern in Argentinien waren ein zusätzliches Entwicklungshemmnis.251 Dazu kamen die fallenden Weltmarktpreise nach dem Krieg, als Resultat eines allgemeinen Überschusses an Weizen.
Eine ganz andere Sichtweise vertrat Hermann Weil. Er war noch 1921 von der außerordentlichen Leistungskraft des argentinischen Getreidemarktes überzeugt, wie er in einem
Beitrag eines wissenschaftlichen Sammelbandes von Professor Hellauer an der Universität
Frankfurt schrieb. Er beschrieb einen linearen Verlauf im Weizenexport Argentiniens, der
im Jahr 1890 begann und im Ersten Weltkrieg gar einen positiven Sprung erfuhr. Russland
sah er aufgrund der politischen Umwälzungen weiterhin nicht exportfähig und
250
251
Vgl. Boerger, Sieben La Plata-Jahre, S. 422.
Vgl. Krause, Argentiniens Wirtschaft, S. 93f.
64
Nordamerika könnte seinen eigenen Bedarf kaum mit der eigenen Produktion decken. Zuletzt ruhe die Hoffnung der Europäer nur auf Argentinien, das über zusätzliches Produktionspotenzial verfüge, sofern es den Mangel an Arbeitskräften kompensiere. 252
Unter den erschwerten Marktbedingungen war auch die Führung von Weil Hermanos in
schwierige Fahrwässer gelangt. Auf Wunsch von Hermann Weil sollte sein Sohn, Felix, die
Firma in Argentinien nach dem Krieg weiterführen. Felix kehrte 1920 nach Argentinien zurück und sollte Samuel Weil als Generaldirektor beerben. Jedoch fühlte er sich in der Rolle
des Geschäftsmannes nicht wohl. Felix hatte sich in der Universität Tübingen für das Fach
Nationalökonomie eingeschrieben und hielt Kontakte in sozialphilosophische Kreise um
Max Horkheimer und Friedrich Pollock, mit denen er später das Institut für Sozialforschung
in Frankfurt gründen sollte. Für den Posten als Generaldirektor fehlte ihm das unternehmerische Gespür. Im Deutschen Klub in Buenos Aires empörte man sich über den angeblich
unerzogenen und rauen Felix Weil, sodass er nicht viele freundschaftliche Verbindungen
zur deutschen Elite in Argentinien pflegte. Zudem führte Felix Weil ein Doppelleben, da er
unter dem Decknamen ‚Lucio‘ für den Chef der Kommunistischen Internationale als Analyst
tätig war.253 Da Felix auf eigenen Wunsch und mit Einverständnis des Vaters als Leiter des
Unternehmens ausfiel, führte Samuel das Unternehmen bis er 1922 verstarb. Interimschef
wurde Jorge Valois, der seit vielen Jahren die Filiale in Rosario leitete.
Die schwierigen Marktentwicklungen stellten für Weil Hermanos zunehmende Bedrohungen dar. Das globale Überangebot an Getreide ab Mitte der 1920er Jahre führte zu einem
Preisverfall. Gleichzeitig waren die Produktionskosten in Argentinien stark angestiegen,
was allerdings einen langfristigen Trend seit Anfang des Jahrhunderts darstellte. Im Vergleich lagen im Jahre 1921 die Produktionskosten doppelt so hoch wie 1896.254 Um wettbewerbsfähig zu bleiben, investierten die anderen großen Getreideexporteure in
Argentinien, Bunge & Born sowie Louis Dreyfus, in den Bau von großen Getreidesilos im
Hafen von Buenos Aires und in Getreidelager in den Provinzen, um die dringend benötigten
Lagerräume für Getreide zu schaffen. Dieses Firmen erkannten, dass durch Lagerhaltung
252
Vgl. Weil, Der Getreidehandel, S. 154.
Vgl. Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus, S. 35f.
254
Vgl. Pfannenschmidt, Die Landwirtschaft Argentiniens, S. 143.
253
65
die argentinische Getreideschwemme auf den Weltmarkt verlangsamt wurde und somit
der Preisverfall für das exportierte Getreide gebremst werden konnte.
Weil Hermanos verpasste diese Entwicklung vollkommen. Die Abwesenheit und schließlich
der Tod Hermann Weils im Jahre 1927, sowie die Tode beider anderen Gründer Samuel
(1922) und Ferdinand (1910), führten zu Führungskrisen im Unternehmen, die nicht nachhaltig gelöst wurden. Anders als Bunge & Born, verpasste es das Management von Weil
Hermanos zu diversifizieren.
Während Bunge & Born die nördlichen Quebrachowälder in der Region Chaco rodete und
Fabriken für die Lebensmittelproduktion errichtete, verharrte Hermanos Weil auf dem
noch lukrativen Weizenexport. Als sich der Interimschef Jorge Valois 1926 aus der Leitung
zurückzog, blieb der Chefsessel in Buenos Aires gar komplett leer und Felix Weil führte nur
halbherzig die Aufsicht über das Unternehmen von Frankfurt aus. 1928 wurde der Ausstieg
aus dem Getreidegeschäft eingeleitet und mit dem Firmenvermögen und den Anteilseignern aus der Familie Weil sowie den ehemaligen Prokuristen Julius Flegenheimer und Sigismundo Edelweiß eine neue Mischgesellschaft Sociedad Anónima Financiera y Comercial
(SAFICO) gegründet. 1930 wurde der Getreidehandel endgültig aufgegeben und im Zuge
der ISI investierte SAFICO in der Textil- und Chemiebranche und ins Immobiliengeschäft.
Alles Sektoren, die Importbeschränkungen unterlagen und in den 1930er Jahren einen Aufschwung erfuhren.255
Nach seinem Ausscheiden aus der Firma betätigte Felix Weil sich weiter wohltätig. Zwar ist
seine prominente Rolle als Finanzier des Instituts für Sozialforschung bekannt, dennoch
kehrte er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Argentinien zurück und
beteiligte sich finanziell an der Gründung der deutschsprachige Pestalozzi-Schule, die eine
Erziehung frei vom nationalsozialistischen Gedankengut anbot, ganz im Gegenteil zu den
anderen deutschen Schulen, die gleichgeschaltet wurden.256
255
Vgl. Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus, S. 98f.
Vgl. Rapoport, Mario, Bolchevique de salón. Vida de Félix J. Weil, el fundador argentino de la Escuela de
Frankfurt, Buenos Aires 2014, S. 16.
256
66
4.2. Die Familie Staudt
4.2.1. Die Anfänge in Argentinien
Geboren im Jahre 1852, wuchs Jakob Wilhelm Staudt als Sohn eines Kaufmannes in der
Eifel in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Er begann eine Ausbildung in einer Seidenweberei, die er bereits nach eineinhalb Jahren abschloss und kurz darauf übernahm er die
Leitungsposition des Fabrikpersonals in seinem Ausbildungsbetrieb. Nach fünf Jahren verließ Wilhelm die Weberei, um das väterliche Handelsgeschäft zu übernehmen.257
Die Auswanderung nach Südamerika war eher zufälligen Ereignissen geschuldet. Nachdem
die Familie und das Familienunternehmen finanzielle Engpässe erlebte und in Konkurs ging,
suchte Wilhelm eine Stelle im Exportgeschäft und fand 1877 eine Anstellung als Handlungskommis bei Hardt & Co., einem deutsch-amerikanischen Handelshaus. Das Unternehmen
schickte ihn auf eine freie Stelle im Bereich Textilhandel in der Unternehmensfiliale in Buenos Aires.258
Als Angestellter bei Hardt & Co. wurde Wilhelm Staudt bereits nach kurzer Zeit befördert.
Die Entwicklung eines Telegrafen-Schlüssels, der alle Codes zur telegraphischen Nachrichtenübermittlung standardisierte, brachte ihm 1879 eine lukrative Beförderung ein. Er
wurde zum Leiter des Importgeschäfts von Hardt & Co. in Buenos Aires, welches er als Prokurist in der Selbstständigkeit führte. Das steigende Gehalt erlaubten ihm mit seinem ehemaligen Mitstreiter die Herausgabe des Buches „Commerzieller Telegraphen-Schlüssel“,
um die Telegrafie-Codes auch außerhalb des Unternehmens nutzen zu können und zu vermarkten. Das Buch erschien ab 1882 bei Springer in Berlin.259
Als Einkaufschef von Hardt & Co. importierte Staudt europäische Stoffe und ließ sie in argentinischen Nähereien zu Kleidung für den lokalen Markt produzieren.260 Diese geschäftliche Tätigkeit des Textilhandels baute er in der folgenden Zeit weiter aus, indem er frühere
Kontakte nach Deutschland nutzte und Geschäftsreisen unternahm. Die in Monschau
257
Vgl. La Publicité Internationale (Hg.), Wilhelm Staudt, Berlin 1907. Der Autor dieser Quelle konnte nicht
ermittelt werden. Es handelt sich um eine Art Nachruf auf Wilhelm Staudt und erschien in einer kleinen Auflage von fünfzig Exemplaren beim Verlag La Publicité Internationale in Berlin.
258
Vgl. Staudt, Guillermo, Zum Tee mit dem Kaiser in Heringsdorf. Die Geschichte der Familie Staudt zwischen
1859 und 1918, 2. Aufl., Neubrandenburg 2011, S. 6; 8f; La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
259
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 9f; Staudt, Wilhelm u. Hundius, Otto, Telegraphen-Schlüssel,
Berlin 1882.
260
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 10.
67
ansässige Familie Scheibler, Inhaberin einer Tuchfabrik, kannte er von seiner ersten Stelle
in Deutschland und ins nahe gelegene belgische Verviers knüpfte er Verbindungen zu den
Textilfabriken der Familie Pelzer.261 Die in Argentinien von Staudt vorklassifizierten Wollwaren fanden in dem engen räumlichen Netzwerk in der grenzüberschreitenden Region
Eifel - Hohes Venn bei den Textilfabrikanten einen großen Absatz. Genauso verhielt es sich
bei den Häuten, die er an einen Kundenstamm in Prüm (Eifel) und Trier verkaufte.262
4.2.2. Gründung des Handelshauses und schnelle Expansion
Die steigenden Gewinne aus seinen Geschäftstätigkeiten veranlassten ihn gemeinsam mit
Carl Theodor Freisz und Peter Bauer im Jahre 1887 in Buenos Aires die Firma Staudt & Cía.
Import- und Export-Geschäft zu gründen.263 Freisz und Bauer waren wie Staudt ehemalige
Mitarbeiter von Hardt & Co. und in der deutschen Gemeinde in Buenos Aires verwurzelt.264
Weniger als einen Monat nach der Gründung der Firma in Argentinien, reiste Wilhelm nach
Berlin und beantragte die Eintragung der Firma ins deutsche Handelsregister.265 In den
Quellen finden sich unterschiedliche Bezeichnungen dafür, wo sich der Hauptsitz der Firma
nach der Doppelgründung befand. In der Festschrift des Unternehmens Staudt & Co. von
1937 wird Berlin als erster gesetzlicher Sitz genannt, in der spanischen Version derselben
Festschrift ist Berlin lediglich als Filiale genannt.266 Als sich das Unternehmen Staudt 1946
vor einem argentinischen Gericht gegen die Beschlagnahmung verteidigte, unterstrich der
verteidigende Anwalt, dass Staudt zweifelsfrei ein rein argentinisches Unternehmen sei.
„Die Unternehmensgruppe Staudt ist von jeher argentinisch, respektive ihrer Herkunft, ihres Kapitals sowie ihrer Führung“.267
261
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 12; La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 10.
263
Vgl. Staudt & Co. (Hg.), Staudt & Co. 1887-1937. Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Firma Staudt &
Co. Ihren Mitarbeitern und Freunden gewidmet, Berlin 1937, S. 5.
264
Peter Bauer findet sich als Privatspender der Evangelischen Kirche und Schule in Buenos Aires wieder und
als Unternehmensspende ist Freisz & Co. in den Beiträgen verzeichnet. Vgl. Deutsche Evangelische Gemeinde,
Jahres-Bericht, S. 27; 29.
265
Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 5.
266
Vgl. ebd.; Staudt & Cía (Hg.), La Casa Staudt y Cía. En ocasión de su cincuentenario, Buenos Aires 1937, S.
5.
267
Zit. nach Blousson, Silvestre H., El "Caso Staudt". Escrito presentado por el Dr. Silvestre H. Blousson ante
la Junta de Vigilancia y Disposición Final de la Propiedad Enemiga en defensa del Sr. D. Ricardo W. Staudt y
las compañías del llamado "Grupo Staudt", o.O. 1946, S. 5.
262
68
In Berlin stellte Wilhelm Staudt auch eine Verbindung zur Deutschen Bank her, die durch
die Deponierung des hohen Gegenwertes von einer Million Mark auf den 34-jährigen
Staudt aufmerksam wurde. Angeblich hinterließ seine bisherige Karriere beim damaligen
Direktor Paul Wallich einen nachhaltigen Eindruck, sodass die Deutsche Bank, die gerade
ihr Südamerikageschäft aufbaute, Staudt großzügig mit Krediten versorgte.268 Die auf
freundschaftliche Beziehungen beruhende geschäftliche Verbindung von Staudt und Deutscher Bank ging über Jahrzehnte weiter.269
Der Schwerpunkt der Geschäftstätigkeiten von Staudt & Cía. lag auf dem Import von textilen Fertigwaren in Argentinien, die durch die deutsche Niederlassung in Berlin gekauft wurden. Ab 1889 erweiterte sich der Import auf Nahrungs- und Genussmittel und sonstiger
kleinerer Waren, indem Staudt & Cía. das Importgeschäft der argentinischen Firma Mallmann & Cía. übernahm.270 Gleichzeitig wurden ab 1890 aus Argentinien Rohstoffe zur Textil- und Lederverarbeitung, vor allem Schafswolle und Leder, nach Deutschland
exportiert.271 Außerdem exportierte die Firma Quebracho-Holz, welches sie selbst in der
Chaco-Ebene bei Santiago del Estero abbaute.272 Strategischer Hintergrund dieses Warenaustausches von Im- und Exporten über die beiden Unternehmensniederlassungen war die
wirtschaftliche Risikominderung. Währungsschwankungen, die beispielsweise durch die
‚Revolución del Parque‘ 1890 in Argentinien ausgelöst wurden, sollten durch den Güterexport für Staudt abgefedert werden. Der Export von Rohstoffen machte die Importe aus
Deutschland günstiger, da ein steigender Wechselkurs des Pesos zur Mark durch die Devisenerwirtschaftung des Exports kompensiert wurde.
Gegen den makroökonomischen Trend in Argentinien der 1890er Jahre, konnte sich das
Unternehmen Staudt & Cía. in einem von einer schweren Wirtschaftskrise geplagten Land
behaupten. Auf die Eröffnung der ersten Zweigniederlassung in Argentinien in Rosario im
268
Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 5.
Wilhelm Sohn, Ricardo, war langjähriges Aufsichtsratsmitglied bei der Deutschen Ueberseeischen Bank.
Vgl. Pohl, Deutsche Bank, S. 86.
270
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 13.
271
Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 7; Cutolo, Vicente O., "Staudt, Guillermo Jacobo", in: Nuevo Diccionario
Biográfico Argentino (1750-1930), Bd. 7, Buenos Aires 1985, S. 210.
272
Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
Das besonders harte Quebrachoholz eignete sich sowohl als Energiequelle als auch für den Bau von Bahnschwellen und Zäunen, weil es extremer Witterung besonders lange standhielt. Vgl. Arent, Argentinien, S.
190ff.
269
69
Jahre 1889, folgte 1893 die Expansion nach Montevideo.273 Als Filialleiter setzte Staudt auf
die langjährigen Vertrauten und in Argentinien verwurzelten Mitarbeiter A.[?] Ifflinger in
Rosario und Peter Bauer in Montevideo.274 Wilhelm Staudt war den Großteil dieser Zeit in
Buenos Aires anwesend, pendelte aber regelmäßig zwischen Berlin und Buenos Aires und
war gleichzeitig in der Firma in Berlin und in Buenos Aires Mehrheitseigner. 1895 wurden
mit Genua und Manchester zwei Filialen eröffnet, die sich in den wichtigen Handelsplätzen
Europas befanden. Die Einrichtung von Zweigstellen in England (Bradford/1901, Nottingham/1907), den USA (Boston/1902), Belgien (Antwerpen/1905) und Deutschland (Hamburg/1906), machten die deutsch-argentinische Firma Staudt endgültig zu einem global
operierenden Handelsunternehmen.275 Mit der Eröffnung einer Niederlassung in Concordia, eine am Fluss Uruguay gelegene Handelsstadt, sicherte sich Staudt die Präsenz am
Umschlagplatz der Provinzen Entre Ríos und Corrientes, in denen sich die größte Wollproduktion des Landes vollzog. Das am Paraná-Fluss gelegene Rosario war einer der großen
Umschlagplätze für Wolle aus Entre Ríos und Corrientes und hatte den Vorteil, mit Ozeanschiffen erreicht zu werden.
Abbildung 4
Staudt & Cía. operierte mit einem eng gestrickten
Vertreternetz, das zum Aufkauf der Rohstoffe bei
den Produzenten in den Binnenprovinzen Argentiniens und zum Einkauf von Importwaren sowie
dem Absatz von Rohstoffen an den internationalen
Außenstellen diente. Im Jahre 1912 war Staudt &
Cía. in der Zeitschrift des Verbandes der Großgrundbesitzer Sociedad Rural Argentina in mehreren Branchen gelistet: Als Großhändler für
Lebensmittel und Getränke, als Transport-/ Lagerhaus, als Großexport- und importunternehmen sowie als Importeur von Weinen, unter anderem aus
dem Mosel- und Rheinhessengebiet.276
Verkaufsräume der Textilwaren in der Hauptverwaltung, Bartolomé Mitre 669, Quelle: La Publicité Internationale, Weilhelm Staudt.
273
Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 7.
Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
275
Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 7f.
276
Vgl. Sociedad Rural Argentina (Hg.), La Rural. Guía General de Estancieros de la República Confeccionada
para los Miembros de las Sociedades Rurales Argentinas, Buenos Aires 1912, S. 353; 360; 562; 625; 845.
274
70
1893 entstand ein moderner Prachtbau an der repräsentativen Straße Bartolomé Mitre,
der durch seine außergewöhnliche Konstruktion aus Eisen den Beinamen ‚Palacio de Fierro‘
bekam.277 Er diente als neue Firmenzentrale und zugleich als Verkaufshalle für Manufakturwaren und Lebensmittel für den Großhandel.278 Die Firma begann in den 1890er Jahre
mit der Erbauung eigener Depots, in der sie die Exportwaren lagerte, sortierte und für den
Überseeversand abfertigte. Auch in Rosario und Montevideo entstanden große Lagerhallen
für die Exportabteilung.279
Die jüngste Expansion in dem neuen Jahrhundert konnte Wilhelm Staudt bereits nicht mehr
miterleben. Er starb an einer Blinddarmentzündung am 1. April 1906 in Berlin. 280 Dass sein
Todestag auf den Eröffnungstag der Filiale
Abbildung 5
in Hamburg fiel, verlieh Wilhelm Staudts
Tod ein zusätzliches Pathos, der einen Mythos eines schier grenzenlosen und beispiellosen
Aufstiegs
des
Kaufmannes
begründete. Das Heldenepos einer klassischen Geschichte, vom ‚mittellosen Immigranten‘ zum ‚angesehenen Kapitalisten‘
war ein wichtiger Bestandteil im Gründungsmythos nicht nur eines Handelshau-
Lager- und Sortierräume der Häuteabteilung von Staudt &
Cía. Quelle: La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
ses, sondern auch für die Familie Staudt.
4.2.3. Wirtschaftlicher Kontext und das Plädoyer Staudts für einen ‚fairen‘ Handel
Der Warenaustausch, der innerhalb der beiden Gesellschaften von Staudt in Argentinien
und Deutschland abgewickelt wurde, stand exemplarisch für die globalisierte, arbeitsteilige
Welt vor dem Ersten Weltkrieg. Die Industrieländer in Europa und Nordamerika exportierten industriell gefertigte Waren an nicht-industrialisierte Länder oder Kolonien in Südamerika, Asien und Afrika und im Gegenzug waren Europa und Nordamerika Abnehmer von
Rohstoffen aus diesen Regionen. Der Nachruf auf Wilhelm Staudt des Verlagshauses La
Publicité Internationale sah die Entwicklung der Firma Staudt als „eines der bedeutendsten
277
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 25.
Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
279
Vgl. ebd.
280
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 25.
278
71
Exportfirmen Deutschlands“281 eng verknüpft mit der Entwicklung des europäischen Handels
mit Südamerika. Auch im Personenlexikon von 1985 wird Wilhelm Staudt als eine Person
genannt, der die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Europa und der La Plata-Region durch
seine Geschäfte förderte.282
Der Export von landwirtschaftlichen Gütern war für Argentinien die Grundlage des ‚Booms‘
ab 1880, der sich inmitten der ersten Globalisierungsphase der Welt vollzog. Von allen Produkten tierischen Ursprungs, stiegen die Exportmengen von Wolle am stärksten, welche
mit Abstand das wertvollste Exportgut in den 1880ern war.283 Den Aufschwung der argentinischen Wollproduktion ab Mitte des Jahrhunderts ist externen Effekten zuzuschreiben.
Durch den Ausfall der russischen Wollproduktion aufgrund des Krimkrieges ab 1853, kam
es zu einem internationalen Wollengpass, den die argentinische Wolle ausfüllte. Der amerikanische Bürgerkrieg ließ das Baumwollangebot rapide sinken, sodass Europäer in der
ersten Hälfte der 1860er Jahre verstärkt auf substituierende Wollimporte aus Argentinien
setzten.284 In den 1880er Jahren kam es zu einer Exportsteigerung von Wolle um 30 %, aber
auch zu signifikanten Preisminderungen. Das Angebot von Wolle war im Weltmarkt wieder
angestiegen, aber fallende Transportkosten machten argentinische Wolle zu einem wettbewerbsfähigen Massenexportprodukt.285
In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde Schafswolle zum wichtigsten
Exportgut Argentiniens. Die Verfügbarkeit von Arbeitskräften für dieses arbeitsintensive
Gewerbe war durch das Einsetzen der Massenimmigration gegeben und auch die Transportverbesserungen ließen die Produktion von großen Massen möglich und preiswert werden. Die Wollproduktion spielte auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in
Argentinien, jedoch kam es zu einer Verschiebung der Wertanteile der Exportgüter an der
Gesamtausfuhr. Vereinte der Wollexport 1891 noch 35 % der Anteile am Wert aller Exporte
auf sich, waren es 1901 nur noch knapp 26 %. Im Jahre 1906 stand Wolle bereits an zweiter
Stelle der wichtigsten Exportgüter, hinter Weizen und knapp vor Mais. Trotz steigender
Ausfuhrziffern bis 1914, verlor Wolle zunehmend an Bedeutung. 1920 und 1930 waren nur
281
Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
Vgl. Cutolo, “Staudt, Guillermo Jacobo”, S. 210.
283
Vgl. Cortés Conde, Roberto, La Economía de Exportación de Argentina, 1880-1920, in: Anuario IEHS, 13,
1998, S. 27–76, hier: S. 65.
284
Vgl. ebd., S. 34.
285
Vgl. ebd., S. 41.
282
72
noch 6,7 % aller Exportwerte Wollausfuhren und die Getreideausfuhren mit Abstand am
wichtigsten. Diese Verschiebung in der Komposition der Wertanteile am Export Argentiniens zeigt einen Strukturwandel innerhalb der Landwirtschaft, der sich im Laufe der Jahrzehnte von 1880 bis 1930 relativ linear vollzog.286
Auf der Importseite lässt sich im Laufe der Jahrzehnte von 1880 bis 1930 eine Veränderung
in der Komposition der Güter feststellen. Zwar waren im gesamten Zeitraum industrielle
Fertigwaren die wichtigsten Importgüter, jedoch gingen die Mengen von Lebensmitteln
und Genussmitteln zurück. Der Anteil an importieren Grundnahrungsmitteln ging von
22,5 % (1880) auf 8,6 % (1914) zurück. Die stark wachsende Bevölkerung in Argentinien und
steigende Reallöhne kurbelte das Bedürfnis nach Konsumgütern so stark an, dass lokale
Industrien wie die industrielle Lebensmittelherstellung, etwa Milchprodukte oder Konserven, und auch die Wein- und Bierindustrie einen Aufschwung erfuhr. Hierbei waren die
Immigrantengruppen gleichzeitig Nachfrager und Anbieter, etwa im Brauereiwesen (Deutsche) und in der Weinherstellung (Franzosen, Spanier). Darüber hinaus war die starke
Nachfrage nach Kleidung und Textilien sowie nach Möbeln und Einrichtungsgegenständen
ein Treiber für die Entstehung lokaler Manufakturen. Außerdem konnten Unternehmer lokale Standortvorteile für die Herstellung von Lebensmittel- und Genussmitteln (Zucker) sowie Haushaltsgütern (Waren aus Holz) ausnutzen, die durch die Erschließung der
nördlichen und zentralen Provinzen (Mendoza, Tucumán, Chaco) ermöglicht wurden.287
Das Entstehen lokaler Manufakturen als Antwort auf die lokale Bedürfnisbefriedigung ging
mit starken technologischen Verbesserungen der Industrien bis in die 1930er Jahre einher.
Als eine der großen lokalen Branchen verzeichnete die Textilindustrie einen enormen Zuwachs an Arbeitsproduktivität innerhalb von vierzig Jahren. Neben der quantitativen Expansion des Sektors von 36 gezählten Betrieben im Zensus von 1895 auf 4.727 im Zensus
von 1935, legte die Textilindustrie auch in qualitativen Kriterien zu. Die Arbeitsproduktivität, kontrolliert auf Geschlechter- und Altersunterschiede der Arbeiter im Laufe der Zeit,
zeigt starke Steigerungen. Der reale Bruttoproduktionswert pro Arbeiter stieg zwischen
1895 und 1935 um knapp 230 % und die reale Bruttowertschöpfung pro Arbeiter stieg um
286
287
Vgl. Cortes Conde, La Economía de Exportación, S. 73.
Vgl. ebd., S. 52f.
73
mehr als 180 %. Diese starken Wachstumsraten sind vor allem durch die Einführung neuer
Produktionsmethoden und niedriger Arbeitskosten zu erklären.
Unternehmer importierten moderne Textilverarbeitungsmaschinen, welche hocheffiziente
Arbeiten ermöglichten. Außerdem war der Textilsektor unter der Arbeiterschaft eine der
Branchen mit den meisten weiblichen Arbeitskräften, die deutlich schlechter gewerkschaftlich organisiert waren als die Männer und daher Arbeitnehmerrechte nicht so stark durchgesetzt wurden. Ein weiterer Faktor war die staatliche Subventionierung, die bereits in den
1920er Jahren im Zuge einer beginnenden ISI begann.288 Die argentinische Textilbranche
konnte somit, trotz ihrer kapitalintensiven Produktion, kompetitive Vorteile in Form der
niedrigen Löhne und der staatlichen Subventionierung ausnutzen, die vor allem dem Absatz
auf dem Binnenmarkt dienten.
Wilhelm Staudt machten die Entwicklungen in der Textilbranche ernsthafte Sorgen. So verfasste er im Jahre 1901 eine Denkschrift zur Struktur der deutschen Handelsverträge und
sah das darin enthaltene ‚Meistbegünstigungsprinzip‘ als die Wurzel einer für Deutschland
ungerechten Handelssituation. Das Meistbegünstigungsprinzip sieht vor, dass Handelsvorteile, die einem Land gewährt werden, automatisch auch allen anderen Handelspartnern
gewehrt werden müssen, sodass jeder Handelspartner auf Grundlage gleicher Einfuhrzölle
behandelt wird. Staudt sah dieses Prinzip als besonders ungünstig für Deutschland an, da
auf Einfuhren von Rohstoffen, auf die Deutschland für seine Industrie angewiesen war,
niedrige oder gar keine Zölle erhoben wurden, weil das rohstoffexportierende Land sich
auf die Meistbegünstigung berufen konnte.289
Auf der anderen Seite beobachtete Staudt viele Länder, vor allem die nicht-europäischen
rohstoffexportierenden Länder, welche eine Hochzollpolitik zu Gunsten der eigenen Industrie verfolgten. Dies mache der deutschen Industrie den Export in diese Länder besonders ungünstig. Die Gefahr sei, dass diese Länder selbst durch Schutzzölle ihre eigene
Industrie aufbauten, die in zunehmender Konkurrenz mit der deutschen stünde. Namentlich nannte Staudt unter anderem die La Plata-Länder, welche dieselbe Entwicklung nähmen wie die USA, die er als Beispiel einer erfolgreichen Handelsemanzipation nannte.290
288
Vgl. Pineda, Industrial Development, S. 21; 24; 27.
Vgl. Staudt, Wilhelm, Die Handelsverträge, deren Bedeutung und Wirkung für Deutschland, 3. Aufl., Berlin
1901, S. 11ff.
290
Vgl. Staudt, Handelsverträge, S. 14.
289
74
Seine Ausführungen zeugen von einer großen Überschätzung des Produktionsfaktors Boden, da er auch den vergleichsweise kleinen Kolonialbesitz Deutschlands als nachteilig
empfand und die Länder mit reichhaltigen Rohstoffvorkommen im natürlichen Vorteil sah.
Die Vermutung liegt nahe, dass er sich mit der Denkschrift politisches und gesellschaftliches
Gehör verschaffen wollte, um das eigene Exportgeschäft von Staudt & Co. zu stärken und
der importsubstituierenden Industrialisierung Argentiniens zu entgehen. Dabei überschätzte er allerdings die Wettbewerbskraft der argentinischen Unternehmen, die meist
nur auf dem lokalen Markt agierten und eine schwache eigene Innovationskraft besaßen.
Außerdem war Argentinien bis 1930 weiterhin auf große Importmengen angewiesen und
zwar von Unternehmen wie Staudt & Cía.291 Die Warnung, Argentinien würde zur neuen
USA, war populistischer Natur, um die deutsche Handelspolitik zu ändern. Er plädierte für
ein Prinzip der Gegenseitigkeit, das in der Folge die Einfuhrzölle in Argentinien massiv gesenkt hätte und daher vorteilhaft für den deutschen Export, also auch für Staudt & Cía.
gewesen wäre.292
4.2.4. Der soziale Aufstieg
Der geschäftliche Erfolg des Unternehmens Staudt in Argentinien und Berlin, erbrachte Wilhelm Staudt einen sozialen Aufstieg in gehobenere Gesellschaftsmilieus. Nachdem er im
Jahre 1885 Elisabeth Albrecht heiratete, die Tochter eines Metzgereibesitzers aus Berlin,
zog das Paar zunächst nach Buenos Aires und zwei Jahre später wieder nach Berlin, wo sie
in „gut bürgerlichen“ Verhältnissen lebten.293 Mit zunehmendem Geschäftserfolg des Unternehmens im Laufe der 1890er Jahre, wuchsen auch die Ansprüche der Familie Staudt,
die ihren Erstwohnsitz in Berlin wählte. 1898 wurde das ‚Palais Staudt‘ am Berliner Tiergarten errichtet, das von namhaften Architekten entworfen und von zahlreichen Dekorateuren ausgestattet wurde. Obwohl die Familie ihren Lebensmittelpunkt in Berlin hatte und
sich als deutsch bezeichnete, bekam das Anwesen der Staudts einen dekorativen Ausdruck
an Transnationalität. Zahlreiche Bildhauerarbeiten, wie die Figuren Europa und Amerika,
291
Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 30; Deutsche Ueberseeische Bank, Deutsche Ueberseeische Bank, S.
110.
292
Vgl. Staudt, Handelsverträge, S. 22f.
293
Zit. nach Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 14.
75
zeugten von der persönlichen und geschäftlichen Verbindung der Staudts zu den La PlataLändern.294
Elisabeth Staudt engagierte sich in Berlin als Besitzerin von Turnierpferden, die sie ausbilden und mit Gespannen im Berliner Tiergarten vorführen ließ.295 Nach Wilhelms Tod, behielt Elisabeth Staudt ihre hohe gesellschaftliche Stellung. Elisabeth Staudt agierte im
Unternehmen zwar im Hintergrund, hatte aber eine wichtige Entscheidungsfunktion, da sie
sich nach dem Tod Wilhelms gegen einen Verkauf der Firma entschied.296
Anders als im Geschäft, hatte Elisabeth eine gesellschaftliche Bühne, die sie zu nutzen
wusste. Nach Wilhelms Tod, führte Elisabeth die Idee ihres Mannes aus, einen Pensionsund Unterstützungsfonds für die Angestellten bei Staudt & Cía. einzurichten. Der Fonds
wurde mit 500.000 Mark angelegt und diente dem Zwecke der Arbeiterwohlfahrt für die
Niederlassungen in Argentinien und Deutschland.297 Insbe-
Abbildung 6
sondere in Argentinien, wo die Arbeitnehmerrechte noch
viel eingeschränkter waren als in Deutschland, waren
wohltätige Zwecke der Arbeitgeber wichtige soziale Maßnahmen. Auf gesellschaftlicher Ebene gelangten die
Staudts immer mehr in den inneren Zirkel der politischen
Elite. Tochter Auguste-Viktoria verlobte sich 1907 mit
Wilhelm von Kummer, Generalssohn und Patenkind Kaiser Wilhelm II. Zu ihrer Hochzeit, die im Palais Staudt gefeiert wurde, erschien auch Wilhelm II., welches ein sehr
ungewöhnliches Ereignis war, zumal die Familie Staudt
nicht aus adeligen Verhältnissen stammte und einfacher
Familie Staudt, 1905. Quelle: Staudt,
Geschichte der Familie Staudt, S. 17.
familiärer Herkunft war.298 Ihren gesellschaftlichen Aufstieg erreichte die Familie durch ihr
Handelsgeschäft in Argentinien, was im Deutschen Kaiserreich ein ungewöhnlicher Werdegang war, um in die adelige Verwandtschaft einheiraten zu können und gar eine Verbindung zum Kaiser zu erhalten. Das Verhältnis der Familie Staudt zu Kaiser Wilhelm II.
294
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 16ff.
Vgl. ebd., S. 24.
296
Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt; Eifert, Christiane, Deutsche Unternehmerinnen im 20.
Jahrhundert, München 2011, S. 163f.
297
Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
298
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 36.
295
76
vertiefte sich in der folgenden Zeit. Die Sommerresidenz der Staudts im Ostseebad Heringsdorf wurde zum jährlichen Treffpunkt des Kaisers mit Elisabeth Staudt zur Kieler Woche.299
So sehr Elisabeth Staudt die hohen gesellschaftlichen Kreise in Deutschland suchte, so sehr
verpönte sie diese in Argentinien. Zwar begleitete sie Wilhelm seit ihrer Heirat fast immer
zu dessen Aufenthalten in Argentinien und nahm als Vertreterin der deutschen Delegation
an der Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit Argentiniens im Jahre 1910 teil. Als ihr Sohn,
Richard Walter, ebenfalls Mitglied der deutschen Delegation, sich in Buenos Aires mit Jennie Paats verlobte, soll sie ihn zur sofortigen Auflösung der Verlobung gedrängt haben.300
Die Familie Paats war eine angesehene und wohlhabende Familie aus der deutschen Einwanderergemeinde in Buenos Aires, jedoch unter dem sozialen Status der Staudts in
Deutschland. Richard heiratete schließlich in Deutschland Elizabeth Koenigs, Tochter eines
in London lebenden Textilkaufmannes.301
Bis zu seiner Heirat verbrachte Richard seine Jugend und Ausbildungszeit in Europa, studierte Jura in Berlin und ging danach auf die technische Hochschule für Textilien in Verviers.302 Mit der Übernahme des Vorsitzes der Staudt & Cía. verlegten er und seine Frau
ihren Lebensmittelpunkt nach Buenos Aires und nahmen kurz darauf die argentinische
Staatsangehörigkeit an und gaben die deutsche ab. Als argentinischer Staatsangehöriger
wandelte er seinen Vornamen in die spanische Version Ricardo W. um und lebte sich stärker als sein Vater in das gesellschaftliche Leben in Buenos Aires ein.303 Zwar spendete
Staudt & Cía. unter der Leitung des Vaters bereits an die deutsche Kirche und Schule, aber
Wilhelm Staudt blieb Deutschland stets sehr verbunden.304 Ricardo W. Staudt hingegen betätigte sich, neben seiner Stellung als Geschäftsführer von Staudt & Cía., als Kunstsammler
und Genealoge in Argentinien. Er veröffentlichte einige Werke auf Deutsch und Spanisch
über genealogische Forschungen und hatte eine enge Verbindung zu Robert Lehmann-Nitsche, der lange Zeit als Museumsdirektor und Ethnologe in La Plata tätig war. 305 Seine
299
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 50.
Vgl. Guillermo Kraft Ltd. (Hg.), Art. "Staudt, Ricardo W.", in: Quién es quién en la Argentina. Biografías
contemporáneas, 5. Aufl., Buenos Aires 1950, S. 564.
301
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 46.
302
Vgl. ebd.
303
Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 53.
304
Vgl. Deutsche Evangelische Kirche, Jahres-Bericht, S. 34.
305
Siehe etwa Staudt, Ricardo W., The Huber-Hoover family of Aesch, Switzerland and Trippstadt, Palatinate.
With some accent on migration to Pennsylvania, Philadelphia 1935; Staudt, Ricardo W., Zur Geschichte der
300
77
Forschungen brachten ihm den Titel des Vizepräsidenten des Instituto Argentino de Ciencias Genealogicas und Positionen in anderen internationalen Forschungsinstituten ein.
Der Wohlstand seines Handelsunternehmens machte ihn zwischenzeitlich zu einem der
reichsten Männer Argentiniens. Die Mitgliedschaften in den Klubs Asociación de los Amigos
de la Ciudad und im wichtigen Eliteklub Jockey Club zeugen von einer hohen gesellschaftlichen Reputation.306 Dies ermöglichte ihm auch den Zugang zur politischen Führungsriege.
Die juristische Verteidigungsschrift gegen die Enteignung der Unternehmensgruppe Staudt
im Jahre 1946 zählte mehrere Präsidenten, Minister und Parlamentarier als dessen Freundeskreis auf.307 Die Schenkung des Familien-Palais in Berlin an den argentinischen Staat im
Jahre 1938 und die Gründung und Finanzierung einer Grundschule in Patagonien trugen
zum Selbstverständnis und der Wahrnehmung der Staudts als argentinische wohltätige Gesellschaftselite bei, die eng mit der Politik verbunden war.308
4.2.5. Die Unternehmensnachfolge in Zeiten des Weltkrieges
Der frühe Tod Wilhelms Staudts im Jahre 1906 hatte keine negativen Auswirkungen auf das
Unternehmen Staudt. Obwohl der Tod des Firmengründers und Mehrheitsgesellschafters
plötzlich eintrat, wurden die Geschäfte auf kurzer und langer Sicht erfolgreich weitergeführt. Dies lag an den Umständen, dass Wilhelm Hauptgesellschafter war und die strategischen Entscheidungen für das Doppelunternehmen in Berlin und Buenos Aires fällte, die
Geschäftsführung in Buenos Aires aber anderen unterlag. Carl August Weeber führte seit
1899 die Geschäftsführung, nachdem er als langjähriger Prokuristen bei Staudt tätig gewesen war. Die Anteile von Wilhelm wurden an alle vier Kinder Staudts vererbt und Ricardo
Staudt war sein designierter Nachfolger als Firmenchef.309 Das Testament sah vor, dass der
Hauptsitz der Firma in Buenos Aires blieb und Ricardo 50 % der Anteile sowie die Firmenleitung übernahm. Die beiden Staudt-Töchter sollten lediglich 17 % der Anteile und Elisabeth Staudt als stille Anteilseignerin eingesetzt werden. Da das argentinische Gesetz nur
die paritätische Vererbung vorsah, wurde das Testament nur in Deutschland erfüllt und in
Paravicini. Ein historisch-genealogischer Überblick, Zürich 1950 und den Briefwechsel von Staudt und Lehmann-Nitsche, verfügbar im Nachlass Robert Lehmann-Nitsche im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin.
306
Vgl. Guillermo Kraft, “Staudt, Ricardo W.“, S. 564.
307
Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 140.
308
Vgl. ebd., S. 142f.
309
Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 13; La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt.
78
Argentinien bekamen die Töchter gemeinsam 50 % der Anteile.310 Ricardo war im Jahre
1906 noch nicht volljährig, sodass seine Mutter Wilhelm Roland-Lücke als Testamentsvollstrecker einsetzte. Roland-Lücke, Mitglied im Vorstand der Deutschen Bank und mit Wilhelm Staudt befreundet, stand bis zu seinem Tod 1917 dem Direktorium in Berlin und
Buenos Aires vor.311 Die Verbindung von Staudt und der Deutschen Bank ging auch auf Wilhelm Staudts Sohn, Ricardo über. Ab 1919 wurde er in den Aufsichtsrat der Deutschen
Ueberseeischen Bank berufen, dem er bis zur vorläufigen Liquidation der Bank im Jahre
1943 angehörte.312
Der Aufschwung des Unternehmens ging trotz des Todes von Wilhelm Staudt bis zum Ersten Weltkrieg nahtlos weiter. Obwohl die Unternehmensnachfolge durch Ricardo nicht sofort eintrat, wurde aufgrund der klaren Verhältnisse im Testament Wilhelms‘ im Sinne der
Familie Staudt weitergeführt. Trotz der Anwesenheit von bis zu vier Mitgesellschaftern,
blieb die Familie Staudt Mehrheitseigentümerin des Unternehmens. Die Mitgründer des
Unternehmens, Peter Bauer und Carl Freisz schieden bereits 1899 als Eigentümer aus dem
Unternehmen aus und die sonstigen Anteilseigner waren nur für begrenzte Zeiträume am
Unternehmen beteiligt. Kurt Glaeser war mit 18 Jahren der längste Anteilseigner außerhalb
der Familienmitglieder. Glaeser wurde als langjähriger Vertrauter der Familie auch für ein
Jahr Interimspräsident der Firma in Buenos Aires von 1922 bis 1923.313
Obwohl es zu einem relativ zügigen Wechsel der übrigen Anteilseigner des Unternehmens
kam, verfolgte Staudt & Cía. eine Personalpolitik, die auf ein hohes Maß an persönlichen
Kontakten begründet war. Seit der Gründung holte Wilhelm Staudt ehemalige Mitarbeiter
von Hardt & Co. in die Firma und beförderte langgediente Mitarbeiter zu Filialleitern und
Anteilseignern. Die Familie Staudt blieb stets die Mehrheitseigentümerin und stellte die
ersten Geschäftsführer, bzw. den Testamentsvollstrecker in Vertretung. Ricardo übernahm
ab 1910 leitende Tätigkeiten bei Staudt & Cía., die mit der kontinuierlichen Erhöhung seiner
Unternehmensanteile einhergingen, zu Lasten der Anteile seiner Schwestern und dritter
Anteilseigner.314
310
Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 79.
Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 34.
312
Vgl. Pohl, Deutsche Bank, S. 86.
313
Eine Liste der Anteilseigner und Mitglieder des Direktoriums findet sich in Staudt & Co., Staudt & Co., S.
13; 15.
314
Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 5.
311
79
Der Erste Weltkrieg markierte eine starke Zäsur für Staudt. Als deutsches Unternehmen
konnten die Filialen in Europa und Nordamerika nicht weitergeführt werden. Auch die
Hamburger Filiale musste bereits 1914 ihren Dienst aufgrund der alliierten Seeblockade
aufgeben. Um das weltweit gestrickte Handelsnetz von Staudt trotzdem aufrecht erhalten
zu können, wurde Anfang 1915 in Stockholm die A/B Laplatakompaniet gegründet, welche
die Funktionen der Hamburger Filiale zwischenzeitlich übernahm und den Handel mit den
nordeuropäischen, neutralen Staaten ermöglichte.315
In Argentinien konnten die Geschäfte am Anfang des Krieges noch weitgehend fortgeführt
werden, auch wenn der Transport von und nach Europa deutlich eingeschränkt war. Im
Jahre 1916 wurde in Chile eine Filiale eröffnet und der interamerikanische Handel bekam
eine steigende Bedeutung für Staudt.316 Mit der Einführung der ‚Schwarzen Listen‘ der englischen Regierung ab 1916 und der U.S. Enemy Trading List, die im Dezember 1917 veröffentlicht wurde, stand auch Staudt & Cía. ganz im Zentrum der ökonomischen
Kriegsführung. Staudt gehörte zu jenen deutsch-geprägten Unternehmen in Argentinien,
die Gegenmaßnahmen unternahmen, um den Konkurs zu vermeiden. Mit der Herausgabe
der ‚Schwarzen Listen‘ wurde es für Staudt unmöglich, über legalem Weg Im- und Exportgeschäfte zu unternehmen. Mit dem Kriegseintritt der USA war auch der interamerikanische Handel behindert, da Staudt von den Alliierten als rein deutsches Unternehmen
gesehen wurde. 1916 war Staudt Mitbegründerin von Verbänden wie des Comité para la
Libertad de Comercio, der Liga de Equidad y Justicia und trat der Deutsch-Argentinischen
Handelskammer bei.317 Diese Organisationen hatten das Ziel, bei der argentinischen Regierung gegen einen Kriegseintritt zu werben und die Durchsetzung von alliierten Sanktionen
wie den Boykott von Unternehmen auf ‚Schwarzen Listen‘ zu verhindern. Außerdem waren
die Interessensverbände wichtige Bündelungen zur Organisation der Unterwanderung von
Sanktionen. Als eines der größten Exportunternehmen Argentiniens, war Staudt ein wichtiger Arbeitgeber in Argentinien, sodass ihre Geschäftsgrundlage auch die Interessen vieler
argentinischer Arbeiterinnen und Arbeiter tangierte.
Bereits vor Kriegseintritt der USA versuchten amerikanische Geheimdienste die verdeckten
Operationen von deutschen Unternehmen in Lateinamerika zu unterbinden, auch die von
315
Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 8.
Vgl. ebd., S. 9; 34.
317
Vgl. Bisher, Intelligence War, S. 67.
316
80
Staudt. Durch ein komplexes Bankennetzwerk, das bereits vor dem Krieg bestand, konnten
deutsche Unternehmen in Übersee Geschäftstransaktionen noch weitestgehend über
neutrale Länder, meist Skandinavien, weiterführen.318 Staudt hatte vor und auch während
des Krieges ein eigenes weit gesponnenes Netzwerk an Filialen und Agenturen auf dem
amerikanischen Kontinent, was die Zahlungsabwicklung erleichterte. Staudt war ein Unternehmen, das sehr stark von Gütern wie Vertrauen und Intuition abhing. Durch enge persönliche Netzwerke, die auf langjähriger Zusammenarbeit basierten, schaffte es Staudt, das
Geschäft durch den Weltkrieg zu führen, auch wenn es Einschränkungen gab.
4.2.6. Unternehmensaufspaltung und weitere Expansion nach dem Krieg
Nach dem Krieg versuchte Staudt die unterbrochenen Geschäftsverbindungen wieder
schnell aufzubauen. Als Ersatz für die geschlossene Antwerpener Filiale wurde 1919, gemeinsam mit deutschen Unternehmen aus der Eisenindustrie, die holländische Firma
Overbeek & Co. übernommen.319 Kurz darauf spaltete sich das deutsch-argentinische Doppelunternehmen in zwei rechtlich getrennte Gesellschaften auf. Mit der Neugründung der
Staudt & Cía. S.A.C. wurde das Unternehmen 1922 in Argentinien zu einer vollständig eigenständigen Gesellschaft.320 Die Mehrheit der Anteile lag bei Ricardo Staudt, der gleichzeitig ab 1923 als Präsident des Direktoriums fungierte. Das restliche Direktorium bestand
aus Deutschen oder Argentiniern mit deutschen Wurzeln, die bereits für Staudt gearbeitet
hatten.321 Die vererbten Anteile der argentinischen Firma an Ricardos Schwestern wurden
nach und nach komplett von Ricardo übernommen, sodass Ricardo zunehmend zum argentinischen Ableger der Familie Staudt wurde, wohingegen seine Mutter und Schwestern sich
aus Argentinien zurückzogen. Bis 1923 trat Elisabeth Staudt sämtliche direkten Beteiligungen in Argentinien an ihren Sohn ab und bis 1932 übernahm Ricardo die restlichen Anteile
von seinen Schwestern.322 Die eigenständige deutsche Firma Staudt & Co. gehörte mehrheitlich Ricardos Schwestern in Berlin sowie dritten Anteilseignern. Ricardo hatte nach der
Trennung keine rechtliche Verbindung mehr zur deutschen Firma.323
318
Vgl. Bisher, Intelligence War, S. 147.
Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 8.
320
Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 5. S.A.C. steht für die argentinische Rechtsform Sociedad Anónima Comercial, äquivalent zur deutschen GmbH.
321
Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 15; Blousson. El Caso Staudt, S. 33f.
322
Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 80f.
323
Vgl. ebd., S. 5.
319
81
Trotzdem war die Kooperation der namensgleichen Firmen aus Deutschland und Argentinien weiterhin eng. So übernahm Staudt & Cía. S.A.C. die Anteile an Overbeek & Co. und
auch die Aktienmehrheit der A/B Laplatakompaniet. Über das Unternehmensnetzwerk zwischen Argentinien und Europa, sicherte sich die argentinische Firma nach dem Krieg eine
gute Wettbewerbsposition, nachdem der transatlantische Textilhandel wieder aufgenommen wurde. Beispielsweise gelang es durch die Kontakte und Beteiligung an Overbeek &
Co. argentinische Wolle kurzfristig an die rheinischen Kammgarnspinnereien zu verkaufen.324 Dies vollzog sich in einer Marktsituation, in der der globale Handel noch weitestgehend zusammengebrochen war.
Die Industrialisierung Argentiniens in den 1920er Jahren ließ neue Geschäftsmöglichkeiten
aufkommen, sodass von der Staudt & Cía. S.A.C. im Jahre 1927 ein Tochterunternehmen
mit einem brasilianischen Unternehmen für technische Industriewaren gegründet wurde.
Die Tochterfirma unter dem Namen Bromberg, Staudt & Cía. war an mehreren Großprojekten in Argentinien mit der Belieferung von Maschinen beteiligt. Sie war im Aufbau der
Eisenbahnwerkstätten (gemeinsam mit dem deutschen Baukonsortium GEOPÉ) und in der
Einrichtung von Gefrier- und Kühlanlagen (mit Siemens) beteiligt.325 Die Lebensmittelabteilung lagerte Staudt & Cía. S.A.C. im Jahre 1928 an die Firma E. Pallavicini & Cía. gegen den
Bezug von Anteilen an der Firma aus.326
Auf dieser Grundlage von Unternehmenskooperationen und der Firmierung von einzelnen
und gemeinsamen Tochterunternehmen, entwickelte sich Staudt & Cía. S.A.C. zu einer großen Holding-Gesellschaft, die ihre globalen Geschäftsaktivitäten nach dem Krieg stark ausbaute. Staudts Kapitalzuwachs wurde so stark, dass Ricardo Staudt die Firma zu einer
großen Finanzgesellschaft machte, die über 20 Beteiligungen innehielt, an denen häufig
viele andere Investoren beteiligt waren.327 Es entstand ein enges Geflecht an Beteiligungen,
durch die natürlichen Personen der Staudts und der juristischen Personen der Gesellschaften, das global aufgestellt war.328
324
Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 102.
Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co, S. 48f.
326
Vgl. ebd., S. 8f.
327
Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 10.
328
Die enge und komplexe Verstrickung von Ricardo Staudt mit deutschen Unternehmen war ein wichtiger
Gegenstand in der späteren gerichtlichen Auseinandersetzung über die Enteignung des Unternehmens in Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg.
325
82
Neben den Beteiligungsunternehmen führte Staudt & Cía. auch das eigene Kerngeschäft,
den Wollexport, weiterhin aus. Die Baumwollanbaufläche und -produktion wuchs in den
1920er Jahren stark an und wurde aufgrund seiner intensiven Bewirtschaftung von kleinen
und mittleren Betrieben unterhalten. Da Staudt als Handelsunternehmen von den Bauern
die Rohbaumwolle aufkaufen musste, betrieb das Unternehmen in den Anbaugebieten eigene Aufbereitungsanlagen und Ölfabriken, in denen die Baumwolle entkörnt und die Samen zu Speiseöl gepresst wurden.329
Der interamerikanische Handel wurde für das zweite Kerngeschäft, den Textilhandel immer
wichtiger, sodass Filialen in Süd- und Mittelamerika eröffneten. Die Industrialisierung der
Textilwirtschaft in Argentinien in den 1920er Jahren machte den Import von Textilwaren
für Staudt zunehmend unattraktiv. Von Buenos Aires aus wurde daher ein Handelsnetz
nach Peru, Ecuador, Kolumbien, Venezuela, Kuba und mittelamerikanischen Ländern gesponnen, die in ihrer industriellen Entwicklung im Textilsektor noch nicht so weit fortgeschritten waren und Abnehmer für importierte Textilprodukte aus Deutschland waren.330
Eine Werbeanzeige im Bundeskalender 1929 zeigt, dass Staudt auch Haushaltgüter vertrieb, die auf Deutsch für die deutsche Enklave in Argentinien beworben wurden. Es handelte sich um textile Möbel und Einrichtungsgegenstände sowie Kunststoff-Böden.
Insbesondere Möbel und Einrichtungsgegenstände waren bereits keine importierten Güter
mehr, sondern wurden in Argentinien produziert und von Staudt an den Konsumenten verkauft.331
Außerdem ging das Unternehmen Kooperationen mit deutschen Global Playern ein. Am
Anfang der 1920er Jahre gründete Staudt & Cía. mit der Siemens & Halske AG ein Waffenimportunternehmen mit dem unscheinbaren Namen Compañía Argentina de Comercio
(Coarico), um den steigenden Bedarf an Waffen und Militärgeräten des argentinischen Militärs zu bedienen. In Berlin wurde Coarico durch Siemens vertreten, in Buenos Aires durch
Staudt. Ricardo Staudt verfügte über ein weitreichendes Netzwerk an Geschäftspartnern in
Argentinien, sodass deutsche Firmen ihre Geschäfte über Coarico abwickelten, wie im Jahre
1924, als mehrere zivile und militärische Junkers-Flugzeuge an die argentinische Regierung
329
Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co, S. 34.
Vgl. ebd.
331
Siehe eine Werbeanzeige von Staudt & Cía. S.A.C. im Anhang.
330
83
geliefert wurden.332 Die engen Kontakte von Ricardo Staudt zu Unternehmern und auch
Politikern in Argentinien nutzte Siemens und berief Staudt in den Aufsichts- und Verwaltungsrat der Siemens-Tochter in Argentinien. Obwohl nach einiger Zeit die Geschäftsführung von Siemens mit Ricardo Staudt im Aufsichtsrat unzufrieden war, beharrte die Leitung
in Berlin auf die Beibehaltung Staudts in den Kontrollgremien, weil Siemens in Argentinien
unbedingt prominente argentinische Persönlichkeiten wie Staudt im Unternehmen halten
wollte.333
Die engen Verbindungen und Beteiligungen von Ricardo Staudt und von Staudt & Cía. S.A.C.
zu deutschen Unternehmen gingen auch während der Zeit des Nationalsozialismus weiter.
Dies wurde Ricardo Staudt zum Verhängnis, als es im Jahre 1946 zur Anklage der Person
und des Unternehmens Staudt vor einem argentinischen Gericht kam, das über eine Enteignung des Unternehmens urteilen sollte, was durch die argentinische Kriegserklärung an
das Deutsche Reich im März 1945 möglich wurde. In der Gerichtsverhandlung ging es primär um die Frage, ob Staudt als ein deutsches oder argentinisches Unternehmen betrachtet werden sollte und inwiefern Beteiligungen von Staudt zu deutschen und
kriegsbeteiligten Industrien bestanden. Darüber hinaus wurde über ein mögliches nationalsozialistisches Gedankengut bei Ricardo Staudt debattiert, weil es um die Frage ging, ob
Ricardo Staudt als ein ‚deutscher Volksgenosse‘ galt oder nicht. Seine beruflichen Tätigkeiten als Generalkonsul für Österreich bis 1938 und seine Teilnahme an der größten Massenveranstaltung der Nationalsozialisten im Ausland im Luna Park in Buenos Aires am 10. April
1938 waren zentrale Argumente der Anklage. Am Ende wurde Staudt in den Punkten freigesprochen und der Verteidigung Recht gegeben, die auch sehr auf die Bedeutung Staudts
für die argentinische Wirtschaft hingewiesen hatte.334
Darüber hinaus unterstütze Ricardo Staudt die nationalsozialistische Wohlfahrtsorganisation ‚Winterhilfswerk‘ mit größeren Spenden. Im Verlauf des Krieges distanzierte er sich
öffentlich vom Nationalsozialismus. Als Finanzierer des Wahlkampfes von Juan Domingo
Perón bekam er zudem einen engen Draht zum späteren Präsidenten und spielte möglicherweise eine wichtige Rolle in der Finanzierung und Organisation der Fluchtrouten von
332
Vgl. Schuler, Friedrich E., Secret Wars and Secret Policies in the Americas, 1842-1929, Albuquerque 2015,
S. 404; Rennicke, Stefan, Siemens in Argentinien. Die Unternehmensentwicklung vom Markteintritt bis zur
Enteignung 1945, Berlin 2004, hier: S. 162.
333
Vgl. Rennicke, Siemens in Argentinien, S. 163.
334
Zur gerichtlichen Debatte im Fall Staudt siehe: Blousson, El Caso Staudt.
84
ehemaligen Nationalsozialisten, den sogenannten ‚Rattenlinien‘, was bislang allerdings
nicht umfassend erforscht ist.335
5. Diskussion und kritische Würdigung
Die frappierende Gemeinsamkeit der zwei Fallbeispiele aus dem vorangegangenen Kapitel
ist die Nähe zu Kaiser Wilhelm II. Verständlicherweise ist dieser Befund eher zufälliger Natur, jedoch steht er exemplarisch für eine neue deutsche Wirtschaftselite, die durch eigenen wirtschaftlichen Erfolg Zugang zur politischen Führungsriege erhielt. Obwohl die
Familien Weil und Staudt beide eher mittelklassiger Herkunft waren, gelang es bereits der
ersten Generation der Einwanderer in Argentinien neue Geschäftsmöglichkeiten zu entdecken und durch schnellen wirtschaftlichen Erfolg in höhere Gesellschaftskreise in Deutschland aufzusteigen. Dieser Nexus von im Ausland erwirtschaftetem Erfolg und
gesellschaftlicher Reputation in Deutschland steht exemplarisch für die erste Einwanderergeneration der Deutschen in Argentinien. Sie orientierte sich stark am Heimatland Deutschland und unterhielt dort auch die engsten internationalen Geschäftsverbindungen. In
beiden Fällen gründeten und hielten die Unternehmer Staudt und Weil ihr Geschäft in Argentinien und erwirtschafteten dort den größten Wohlstand. Sie selbst allerdings sahen
sich weiterhin als Deutsche und reisten wegen geschäftlicher Tätigkeiten oder zur Gründung einer Familie regelmäßig nach Deutschland.
In beiden Case Studies wurde deutlich, dass die Hauptakteure zumindest zeitweise sehr
deutschnational eingestellt waren. Bei Hermann Weil wurde dies bereits in seiner Jugendzeit in Deutschland sichtbar und äußerte sich nochmals in der Funktion als Kriegsberater.
Auch Wilhelm Staudt zeigte sich als Verfechter von deutschen Wirtschaftsinteressen und
sein Sohn sympathisierte mit den Nationalsozialisten. Obwohl Ricardo Staudt die Nationalsozialisten möglicherweise stärker als andere Wirtschaftsvertreter unterstützte, lässt sich
sowohl bei ihm als auch bei der Familie Weil ein Generationenunterschied feststellen, was
auf die transnationale Identität hinweist. So sahen sich Ricardo Staudt und Felix Weil in
erster Linie als Argentinier. Nicht nur die Staatsbürgerschaft nahmen sie an, auch kulturell
335
Zu den Verstrickungen deutsch-argentinischer Wirtschaftseliten in den Nationalsozialismus, wo auch Ricardo Staudt eine Erwähnung findet, siehe: McGaha, Richard, The Politics of Espionage. Nazi Diplomats and
Spies in Argentina, 1933-1945, Athens 2009.
85
identifizierten sie sich mit Argentinien. Ihren Lebensmittelpunkt hatten sie in Buenos Aires
und erlangten eine stärkere Bindung zur argentinischen Öffentlichkeit als ihre Väter. Ihre
Muttersprachen waren sowohl Deutsch als auch Spanisch und sie benutzten ihre Vornamen
in der spanischen Variante. Bei den Ehepartnern lief es in beiden Fällen jedoch auf Frauen
aus Deutschland hinaus, wobei sich die Familien als argentinisch bezeichneten und die Kinder spanische Vornamen trugen. Elizabeth und Ricardo Staudt nannten ihren ersten Sohn
Guillermo, die spanische Variante von Wilhelm und der gleiche Name wie Ricardos Vater.
Dieser Fall ist ein besonders gutes Beispiel für transnationale Namensgebung, welche die
Verbundenheit der Familie mit beiden Ländern zum Ausdruck bringt. Die transnationale
Identifikation der zweiten Generation steht im Kontrast zu den Befürchtungen von Kulturideologen aus Deutschland, die vor dem ‚Untergang des Deutschtums‘ im Ausland durch
Assimilation warnten. Der Blick der ausgewanderten Deutschen in Argentinien war insbesondere in der zweiten Generation deutlich moderater, da beide Identitäten gemeinsam
erlebt wurden. Die Verbindung nach Deutschland verblieb nicht nur im geschäftlichen
Sinne, sondern äußerte sich auch in der Beibehaltung von Sprachen und dem sozialen Umfeld. Die Spenden an die deutsche Gemeinde in Argentinien sowie an Organisationen in
Deutschland sind Belege für den Ausdruck der Verbundenheit mit Deutschland und den
Deutschen in Argentinien an sich.
Die beiden untersuchten Fallbeispiele repräsentieren auch das Janusgesicht des wirtschaftlichen Lebenszyklus einer Firma. Im Falle von Weil Hermanos sieht man, wie ein Unternehmen große wirtschaftliche Erfolge feierte und zugleich die Anpassung an ein verändertes
Marktumfeld verpasste. Zwar reichte das angehäufte Vermögen aus, damit der Erbe Felix
Weil als Mäzen der Frankfurter Schule tätig wurde, allerdings scheiterte das Exportunternehmen der Familie Weil in Argentinien am Ende der 1920er Jahre. Das Unternehmen entstand in einer historischen Extremsituation, in der ganz Argentinien durch den Export von
Getreide aufblühte und ging am Ende dieser einmaligen Situation mit dem sogenannten
Agrar-Export-Modell zu Grunde. Argentinien hatte wie das Unternehmen Weil Hermanos
großen Reichtum durch den Handel in fünf Jahrzehnten erwirtschaftet und musste ab 1929
ein neues Geschäftsmodell finden. Durch gescheiterte Nachfolgepolitik im Unternehmen
Weil wurde der Wandel nicht vollzogen, auch wenn die Familie selbst nicht vom Bankrott
betroffen war.
86
Ganz im Gegensatz zu den Weils gelang es den Staudts, eine wirtschaftlich langfristige Erfolgsgeschichte in Argentinien zu schreiben. Ebenfalls wie Hermann Weil war Wilhelm
Staudt mit dem Export von landwirtschaftlichen Gütern, hier allerdings vor allem von Häuten und Wolle, zu schnellem und großem Wohlstand gekommen. Allerdings verstand es
Staudt bereits früh den Volatilitäten der argentinischen Wirtschaft durch Diversifizierung
zu entgehen. Durch ein weit gesponnenes Netzwerk an Beteiligungen und Gründungen von
Subunternehmen gelang es der Unternehmensgruppe Staudt kurz- und mittelfristigen
Wirtschaftskrisen in Argentinien zu entgehen. Die schnelle Anpassungsfähigkeit durch dynamische Geschäftsentscheidungen gaben Staudt große kompetitive Vorteile in Argentinien und erbrachten der Unternehmensgruppe erheblichen politischen Einfluss. Anders als
bei Weil gelang bei Staudt die Kontinuität als Familienunternehmen, sodass wirtschaftliche
Expansion mit gesellschaftlichem Aufstieg einherging.
Die Bedeutung der ethnischen Komponente bei beiden Unternehmen lässt sich auf zwei
Arten beantworten. Einerseits über kompetitive Vorteile in der Produktionsfunktion und
andererseits über jene in der Absatzfunktion der Firmen. Die deutschen Einwandererunternehmer hatten einerseits aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit einen privilegierten
Zugang zu den Produktionsfaktoren in Argentinien. Der Faktor Arbeit wurde durch Co-ethnische Beschäftigen erbracht, was Teil einer vertrauensbildenden Maßnahme war. Die Firmen Weil und Staudt operierten beide in einem engen Vertreternetz und setzten
langjährige Vertraute, meist Deutsch-Argentinier, im Management ein. Vertrauen gehörte
somit zu einem wichtigen Gut in der Einsetzung des Produktionsfaktors Arbeit.
Der Faktor Kapital wurde auch über die deutsch-ethnische Gruppe generiert. Die global
agierenden deutschen Banken waren für die Finanzierung von Handelsgeschäften von ausgewanderten Deutschen von großer Bedeutung. Die Deutsche Bank spielte in der Finanzierung des Geschäfts von Staudt eine wichtige Rolle und das Einsetzen der Staudts in
Aufsichtsratsgremien zeigt die sehr enge Verbindung der Häuser. Auch hier waren Vertrauen und langjährige Zusammenarbeit wichtige Güter, die zur Abwicklung von Geschäften in Argentinien genutzt wurden. Der dritte Produktionsfaktor Boden wiederum ergibt
sich aus den historischen Opportunitäten und hat keinen direkten ethnischen Bezug.
Die deutschen Einwandererunternehmer hatten einen privilegierten Zugang zum Absatzmarkt. Als kleine Einwanderergemeinde konnten sie einerseits auf wirtschaftliche Vorteile
87
in einer Enklavenökonomie zurückgreifen, weil durch sprachliche und kulturelle Nähe das
Produktangebot besser auf speziell ethnische Konsumwünsche angepasst werden konnte.
Andererseits reichte die kleine Gruppe der Deutschen nicht als Absatzmarkt für größere
Produktmengen oder gar Massengüter aus, sodass über die Gemeinde hinaus nach Absatzmärkten gesucht wurde. Dies galt insbesondere dann, wenn keine Konsumprodukte verkauft wurden – wie im Falle von Weil und für den größten Teil des Geschäfts von Staudt.
Für die Exportfirmen war Deutschland dabei ein wichtiger Abnehmer von Waren. Im Zuge
der Industrialisierung Deutschlands bekamen die Rohstoffe aus Argentinien eine wichtige
Bedeutung. Angebot und Nachfrage trafen sich in einer historischen Situation, in welcher
deutsche Einwanderer in Argentinien durch ihre Verbindungen und Netzwerke nach
Deutschland einen vorteilhaften Marktzugang hatten. Ihre kaufmännischen Ausbildungen,
Praxiserfahrungen und die Kontakte in Deutschland spielten eine fundamentale Rolle für
den Zugang zu Warenabnehmern.
Kann man nun von einer ‚Erfolgsgeschichte‘ von deutschen Unternehmern in Argentinien
sprechen? Sind die Familien Staudt und Weil sogenannte Kirznerische ‚reine Unternehmer‘,
die den „Zehndollarschein nicht nur ergreifen, sondern auch neu entdecken“?336 Betrachtet man die Case Studies lässt sich der Erfolg der beiden Unternehmer nicht bestreiten.
Eine zeitgenössische Empfindung, welche auf die speziellen Charaktereigenschaften der
Deutschen abzielt, also Fleiß, Geschäftssinn und Disziplin, war dabei aber weniger wichtig,
als die historischen Strukturen selbst.337 Im weiteren Sinne führten die Unternehmer Staudt
und Weil ein Ungleichgewicht im Weltmarkt wieder ins natürliche Gleichgewicht, in dem
ihr Angebot aus Argentinien eine neue Angebotsquelle schaffte.
Ob Staudt und Weil hier als Typen ‚Kirznerscher Unternehmer‘ genannt werden sollten,
kann nicht abschließend bewertet werden. Zweifellos konnten sie Geschäftsmöglichkeiten
identifizieren und Gelegenheiten profitabel ausnutzen, allerdings waren sie nicht die jeweils einzigen oder ersten Unternehmer in ihrer Branche in Argentinien. Von gar einer
schöpferischen Zerstörungskraft kann man bei beiden Unternehmern nicht sprechen, jedoch verstanden sie es in einer speziellen historischen Situation durch ihre unternehmerische Findigkeit Gelegenheiten zu nutzen. Insbesondere ihre Fähigkeiten, Informationen zu
336
337
Zit. nach Kirzner, Wettbewerb, S. 38.
Vgl. Penny, Material Connections, S. 524f.
88
bewerten und notwendige wirtschaftliche Initiative zu ergreifen, half den Erfolg ihrer Unternehmen zu sichern. In einigen Fällen leisteten sie mit ihren Unternehmen in Argentinien
Pionierarbeiten und besaßen dadurch eine gewisse Innovationskraft.
Insgesamt betrachtet müssen weniger die Unternehmer selbst, als die Aggregation der
deutschen Einwanderergemeinde samt all ihren Unternehmungen als ethnisch-unternehmerischer Prozess verstanden werden. Denn wie die in der Einleitung gestellte These unterstellte, führte das Zusammenspiel von kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen
Besonderheiten bei deutschen Einwanderern zur Herausbildung spezifischer Unternehmungen, welche als Antwort auf historische Opportunitäten zu verstehen sind.
Obwohl Staudt und Weil im Groß- und vor allem Außenhandel tätig waren und nicht an den
Endkonsumenten verkauften, gibt es Belege für eine Identifikation mit der deutschen Gemeinde in Argentinien. Die Spenden an die evangelische Gemeinde, wie auch die Teilhabe
an deutsch-ethnischen Vereinsleben, Feierlichkeiten und Wohltätigkeitsorganisationen,
spiegeln eine gewisse Verbundenheit mit der deutschen Öffentlichkeit in Argentinien wider. Die Bedeutung der deutsch-ethnischen Organisationen in Argentinien für die Herausbildung eines Unternehmertums ließ im Laufe der Generationen allerdings nach. Sowohl
die Makroperspektive auf die deutsche Einwanderergemeine, als auch die Mikroperspektive der Case Studies zeigen, dass die Bindekraft von ethnischen Organisationen bereits in
der zweiten Einwanderergeneration nachließ und die argentinische Identität stärker erlebt
wurde, ohne ganz auf die deutsche Herkunft zu verzichten. Andererseits war die wirtschaftliche Bindung zu deutschen Unternehmen und Banken weiterhin groß und spielte eine
wichtige Rolle in der Ressourcenmobilisierung.
Die beiden Case Studies stehen freilich nicht beispielhaft für die gesamte Bandbreite an
Unternehmen der Deutschen in Argentinien. Vielmehr handelt es sich um eine Auswahl von
Elitegruppen. Der Großteil der Einwandererunternehmer war indes im kleineren Maßstab
unternehmerisch tätig. Insbesondere bei dieser Gruppe spielte der transitorische Charakter
der ethnischen Enklave eine wichtige Rolle. Die ethnische Enklave schaffte durch die räumliche und soziale Nähe einer gemeinsamen Sprache, Kulturnormen und einer dualen Identität komparative Vorteile, sodass man von Klubgütern sprechen kann. Aus dieser Enklave
entstanden weitere Kleinunternehmer wie zum Beispiel Handwerksbetriebe und
89
Einzelhändler. Insbesondere im Bereich der Konsumgüterindustrie, sind Vertreterbetriebe
globaler Markenprodukte ein weiteres Beispiel.
6. Fazit und Ausblick
Diese Arbeit hatte das Ziel einen Gegenentwurf zur institutionellen Wirtschaftsgeschichte
Lateinamerikas aufzuzeigen, deren prominente Vertreter ein weitestgehend finsteres Bild
der wirtschaftlichen Entwicklung zeichnen. Die Unternehmens- und Sozialstruktur vieler lateinamerikanischer Länder ist bis heute geprägt von europäischen Migranten, die am Aufbau und der Entwicklung der Wirtschaftsarchitektur teilhatten. Das Beispiel der deutschen
Einwanderer in Argentinien zeigt, wie eine quantitativ kleine Einwanderergruppe zu qualitativ großer Bedeutung im Aufbau von Wirtschaftsunternehmen kam. Durch die Verbindung von unternehmens- und kulturgeschichtlichen Elementen hat diese Arbeit einen
Perspektivwechsel vollzogen, der das komplexe Zusammenspiel von unternehmerischen
Handlungen mit den Kulturen und Strukturen der Einwanderergemeinde verknüpft, ohne
den institutionellen Kontext zu vernachlässigen.
Die Einnahme von drei Perspektiven diente zur Erklärung einer komplexen historische Situation. Dies erfolgte mikroperspektivisch in Form von individuellen Handlungen, makroperspektivisch in Form des institutionellen Kontextes und mesoperspektivisch in Form von
zeitgenössischen lokalen Gelegenheitsstrukturen. Der Untersuchungszeitraum bildete einen historischen Rahmen zwischen circa 1880 und 1930, welche als Extremjahre des Wirtschaftswachstums für Argentinien gelten. Das sogenannte Agrar-Export-Modell verhalf
Handelsunternehmen in Argentinien hochprofitabel zu werden und zugleich begünstigten
Pull-Faktoren einen massenhaften Zustrom europäischer Immigranten als Arbeitskräfte
und Unternehmer. Der historische Zeitraum schließt die Zeit des wirtschaftlichen und politischen Imperialismus ein, der von Europa und Nordamerika als erste Globalisierungswelle
nach Lateinamerika und Argentinien übergriff. Diese Situation ergab beispiellose ökonomische Gelegenheiten, die von Eingewanderten in Argentinien profitabel genutzt werden
konnten. Das Beispiel der Deutschen zeigte, dass die kulturellen Erwartungen und Sichtweisen, die sozialen Strukturen der Einwanderergemeinde und wirtschaftlich komparative
Vorteile auf Basis ethnischer Merkmale zur Herausbildung spezieller Unternehmungen
führte.
90
Die Befunde dieser Arbeit zeigen überwiegend Männer als relevante Akteure bei Einwandererunternehmen. Zwar ist die Dominanz der Männer in der Wirtschaft den historischen
Strukturen und der männlich dominierten Situation in Argentinien geschuldet. Jedoch hat
die Case Study zu Staudt gezeigt, dass auch die Ehefrauen eine wichtige, wenn auch verdeckte Funktion in Unternehmen hatten. Sie waren Anteilseignerinnen und führten auch
strategische Entscheidungen aus, was in dieser Arbeit aber nur ansatzweise gezeigt werden
konnte. Auch ihre Funktion in der betrieblichen Wohltätigkeit und sozialen Fürsorge als
Ehefrauen von Unternehmern ist insbesondere in Argentinien als ein Land mit anfangs geringerer staatlicher Wohlfahrt interessant und gilt es in anderen Arbeiten weiter zu untersuchen.
Darüber hinaus wäre eine noch stärkere Auseinandersetzung der Einwandererunternehmer in Argentinien über den in dieser Arbeit betrachteten Untersuchungszeitraum hinweg
von Interesse. Die importsubstituierende Industrialisierung, die in den 1930er Jahren und
in den Folgejahrzehnten in Argentinien voranschritt, wäre ein weiterer wichtiger Untersuchungsgegenstand, da sich die Rahmenbedingungen für Unternehmer in der Militärdiktatur und mit staatlich gelenkter Industriepolitik stark veränderten. Die Verflechtung der
Unternehmer mit autoritären Staatsstrukturen wäre auch im Kontext des Nationalsozialismus relevant. Weitere Forschungsansätze könnten zeigen, inwiefern etwa Ricardo Staudt
für die politische und gesellschaftliche Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie in
Argentinien verantwortlich war und ob seine Unternehmensgruppe mit dem ‚Dritten Reich‘
kollaborierte. Die Verstrickungen der deutschstämmigen Argentinier mit dem Nationalsozialismus ist insbesondere vor dem Hintergrund der Fluchtrouten zahlreicher Vertreter des
nationalsozialistischen Regimes nach Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg von hoher
wissenschaftlicher Relevanz.
91
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1: Relative Häufigkeit des Auftretens der Wörter ‚Argentinien‘ und ‚Brasilien‘
im Google-Books Korpus aller deutschsprachigen Publikationen zwischen 1850 und 1930………………………30
Abbildung 2: Hermann Weil mit seiner Familie, Aufnahme von 1904………………………………………………..……..52
Abbildung 3: Die Gründer von Weil Hermanos: Samuel, Hermann, Ferdinand.………………………………………..57
Abbildung 4: Verkaufsräume der Textilwaren in der Haupt-verwaltung, Bartolomé Mitre 669…………………70
Abbildung 5: Lager- und Sortierräume der Häuteabteilung von Staudt & Cía.…………………………………………..71
Abbildung 6: Familie Staudt, 1905…………………………………………………………………………………………………………….76
Tabelle 1: Jährliche Anbauflächen und Exportmengen von landwirtschaftlichen Gütern in Argentinien……54
92
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Anhang
I) Werbeanzeigen deutsch-argentinischer und deutscher Firmen in deutschsprachigen
Magazinen, entnommen aus: Deutscher Volksbund für Argentinien, Bundeskalender
1929, S. 168-206 und Lohausen, Führer durch Buenos Aires, S. 58; 62; 70; 72.
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Erklärung zur wissenschaftlichen Praxis
Hiermit erkläre ich rechtsverbindlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig angefertigt, keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt und die Stellen der Arbeit, die
im Wortlaut (zitiert) oder wesentlichen Inhalt (paraphrasiert) aus anderen Werken übernommen wurden, mit genauer Quellenangabe kenntlich gemacht habe.
Zugleich erkläre ich, dass ich die Broschüre „Regeln und Tipps. Hinweise für die Anfertigung
schriftlicher Arbeiten“ des Institutes für Wirtschafts- und Sozialgeschichte vor dem Verfassen der Arbeit gelesen habe und die darin gemachten Vorgaben kenne.
Mir ist bekannt, dass Plagiate, zu denen auch ungekennzeichnete Kopien aus dem Internet
gehören, nicht nur wissenschaftlich unredlich sind und den Richtlinien der Georg-AugustUniversität Göttingen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis vom 5. Juni 2002 widersprechen, sondern auch erhebliche rechtliche Folgen bis hin zum Ausschluss von der
Universität haben können. Ich erkläre mich mit der Prüfung dieser Arbeit durch ein Plagiatsprüfungsprogramm einverstanden.
Ich versichere, dass die elektronische und die gedruckte Fassung dieser Arbeit übereinstimmen.
Göttingen, den 17.01.2019
Unterschrift
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