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Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte IMMIGRATION UND ENTREPRENEURSHIP IN ARGENTINIEN Kulturelle, soziale und wirtschaftliche Determinanten am Beispiel der deutschen Einwanderer, 1880 – 1930 20-wöchige Abschlussarbeit im Rahmen der Prüfung im Studiengang M.A. Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Göttingen Gutachter: Prof. Dr. Hartmut Berghoff und PD Dr. Jan Logemann vorgelegt am: 17.01.2019 von: Simon Gerards Iglesias geboren in: Viersen Matrikelnummer: 11602713 1 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ........................................................................................................... 4 1.1. Motivation ....................................................................................................................... 4 1.2. Forschungsstand.............................................................................................................. 6 1.3. Untersuchungsgegenstand ............................................................................................ 10 1.4. Methodik und Forschungsfragen .................................................................................. 12 1.5. Aufbau ........................................................................................................................... 15 2. Theoretische Vorüberlegungen ......................................................................... 15 2.1. Der Begriff des Unternehmertums ................................................................................ 15 2.2. Die Entstehung von Unternehmertum .......................................................................... 17 2.3. Die ethnische Determinante des Unternehmertums .................................................... 19 3. Die Einwanderung der Deutschen nach Argentinien .......................................... 20 3.1. Statistischer Überblick .......................................................................................... 21 3.1.1. Die Entwicklung der Einwanderung bis 1930 ..................................................... 21 3.1.2. Die Motive der Einwanderung............................................................................ 26 3.2. Bilder und Perspektiven der deutschen Einwanderung in Argentinien .................... 29 3.2.1. Das Bild Argentiniens unter Deutschen.............................................................. 29 3.2.2. Die deutschen Auswanderer in ihrer ökonomischen Funktion .......................... 35 3.3. Die deutsche Einwanderergemeinde in Argentinien ............................................... 38 3.3.1. Formierung einer Gemeinschaft ........................................................................ 39 3.3.2. Gesellschaftliches Engagement und soziale Institutionen ................................. 43 3.3.3. Externe Krisen und die Ängste vor Identitätsverlust .......................................... 47 4. Deutsche als Unternehmer – Zwei Case Studies ................................................ 51 4.1. Hermann Weil ...................................................................................................... 52 4.1.1. Die Anfänge in Argentinien ................................................................................ 52 4.1.2. Wirtschaftlicher Kontext, 1860-1900 ................................................................. 53 4.1.3. Der Aufstieg eines Geschäftsmodells ................................................................. 56 2 4.1.4. Krankheit und Weltkrieg .................................................................................... 60 4.1.5. Neuanfang und Niedergang ............................................................................... 64 4.2. Die Familie Staudt................................................................................................. 67 4.2.1. Die Anfänge in Argentinien ................................................................................ 67 4.2.2. Gründung des Handelshauses und schnelle Expansion ..................................... 68 4.2.3. Wirtschaftlicher Kontext und das Plädoyer Staudts für einen ‚fairen‘ Handel .. 71 4.2.4. Der soziale Aufstieg ............................................................................................ 75 4.2.5. Die Unternehmensnachfolge in Zeiten des Weltkrieges .................................... 78 4.2.6. Unternehmensaufspaltung und weitere Expansion nach dem Krieg ................. 81 5. Diskussion und kritische Würdigung.................................................................. 85 6. Fazit und Ausblick ............................................................................................. 90 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis .......................................................................... 92 Quellenverzeichnis ..................................................................................................... 93 Literaturverzeichnis .................................................................................................... 95 Anhang ....................................................................................................................... 99 3 „Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu begünstigen; sie darf in keiner Weise den Eintritt in das argentinische Gebiet von Fremden, welche in der Absicht kommen, das Land zu bebauen, die Gewerbe zu verbessern und Wissenschaften und Künste einzuführen und zu lehren, beschränken und mit Abgaben belasten.“ 1 „Sie wissen ja, dass deutsche Handwerker jeglicher Art jederzeit Anstellung sofort finden können. Überhaupt sind jetzt die Arbeitsverhältnisse in Argentinien sehr günstig […].“ 2 „Diese Ähren hier, das ist unsere Armee! Damit kämpfen wir!“ 3 1. Einleitung 1.1. Motivation In jüngerer Zeit findet in der argentinischen Gesellschaft ein Wandel im Nationalbewusstsein statt, dem ein neues Geschichtsverständnis zu Grunde liegt. Politik und Gesellschaft hingen jahrzehntelang der Idee eines homogenen Nationalvolks hinterher. Nach neuerem Verständnis versucht man die Einwanderergruppen aufzuwerten, die gemeinsam und durch ihre Diversität die argentinische Nation verkörpern.4 Die ehemalige Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner bezeichnete Argentinien als ein „Land der Einwanderer“, welches einem „Schmelztiegel von Einwanderern jeglicher Natur“ gleiche.5 Museen in Argentinien dokumentieren historische Zeugnisse über die Migration und heben die Bedeutung der europäischen Einwanderung für die Entwicklung des Landes hervor. 6 Medien erinnern an Jahrestage, wie an das einhundertzwanzigste Jubiläum der Ankunft der ersten deutschen Juden im Jahre 1889. Volksfeste, wie die Fiesta Nacional del Inmigrante unterstreichen den gesellschaftlichen Wert der historischen Einwanderung in Argentinien.7 Das 1 Zit. nach Ministerio de Justicia y Derechos Humanos - Presidencia de la Nación (Hg.), Artículo 25 de la Constitución de la Nación Argentina, in: http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/04999/804/norma.htm (abgerufen am 08.01.2019). 2 K.[?] D.[?], ein deutscher Einwanderer, zit. nach Greger, José M., 100 Briefe. Von nach Argentinien (Südamerika) ausgewanderten Familien und einzelnen Personen, 2. Aufl., Freising vor München 1913, S. 146. 3 Hermann Weil, zit. nach Erazo Heufelder, Jeanette, Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule, Berlin 2017, S. 12. 4 Vgl. Bindernagel, Franka, Deutschsprachige Migranten in Buenos Aires. Geteilte Erinnerungen und umkämpfte Geschichtsbilder 1910–1932, Paderborn 2014, S. 234. 5 Zit. nach Casa Rosada (Hg.), Palabras de la Presidenta de la Nación, Cristina Fernández de Kirchner, en el acto central del día del Veterano, in: https://www.casarosada.gob.ar/informacion/archivo/28517-palabrasde-la-presidenta-de-la-nacion-cristina-fernandez-de-kirchner-en-el-acto-central-del-dia-del-veterano-y-delos-caidos-en-la-guerra-de-malvinas-en-ushuaia-provincia-de-tierra-del-fuego-antartida-e-islas-del-atlantico-sur (abgerufen am 08.01.2019). 6 Zum Beispiel wurde das Museo de la Inmigración im Jahre 2013 neu eröffnet und zeigt die verschiedenen Facetten der Einwanderer und von Argentinien als Aufnahmeland von Europäern. 7 Vgl. o.V., La llegada de los judíos a la Argentina, a 120 años, in: https://www.lanacion.com.ar/1162441-lallegada-de-los-judios-a-la-argentina-a-120-anos (abgerufen am 08.01.2019). 4 Erbe der europäischen Einwanderer in Argentinien ist ein wichtiger Baustein im kontemporären kollektiven Nationalbewusstsein. Mehr als in anderen Staaten des spanischsprachigen Amerika galt im politischen Diskurs Argentiniens im 19. und frühen 20. Jahrhundert die europäische Einwanderung als essentieller Bestandteil einer modernen Gesellschaft.8 Neben der gesellschaftlichen Debatte zeigt auch die Wissenschaft in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse an Einwanderern und ihren Beiträgen zur wirtschaftlichen Entwicklung in Lateinamerika. Das Interesse an regionalen Strukturen und Akteuren führte zu einer stärkeren Akzentuierung von Unternehmern, welche nicht selten einen Migrationshintergrund hatten und erfolgreiche Geschäftsmodelle entwickelten.9 In der Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas wird jedoch prominenten Vertretern der Institutionentheorien, die häufig ein Bild von gescheiterten lateinamerikanischen Nationen zeichnen, viel Aufmerksamkeit geschenkt. David LANDES oder Kenneth SOKOLOFF und Stanley ENGERMAN sehen beispielsweise das Erbe spanischer Kolonialherrschaft als Ursache für eine wirtschaftliche ‚Unterentwicklung‘ Lateinamerikas.10 Diese globale, makroökonomische Perspektive sollte nicht für sich allein beanspruchen, eine Wirtschaftsgeschichte für Lateinamerika zu schreiben. Hier kann die Unternehmensgeschichte ansetzen und durch den Fokus auf regionale Perspektiven und Akteure eine alternative Sichtweise vortragen. Der Zusammenhang von Migration und Entrepreneurship ist dabei ein wichtiges Forschungsfeld, das positive Beispiele der Unternehmensentwicklung in Lateinamerika aufzeigt. Empirische Untersuchungen haben bestätigt, dass die europäische Masseneinwanderung in Argentinien im 19. und 20. Jahrhundert eine positive Kraft für die Wirtschaft war und durch Kapitalzuflüsse Reallöhne und Produktivität gesteigert wurden. Der hohe Kapitalzufluss nach Argentinien vor dem Ersten Weltkrieg wäre ohne Einwanderung nicht erfolgt. Die Einwanderer haben sich in dieser Zeit auch als Unternehmer betätigt und trugen so zur wirtschaftlichen Entwicklung maßgeblich bei, unter anderem, weil sie 8 Vgl. Halperín Donghi, Tulio, ¿Para qué la inmigración? Ideología y política inmigratoria y aceleración del proceso modernizador. El caso argentino (1810-1914), in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, 13/1, 1976, S. 437–449, hier: S. 437. 9 Vgl. Dávila, Carlos, Entrepreneurship and Cultural Values in Latin America, 1850-2000. From Modernization, National Values and Dependency, in: José L. Garcia-Ruiz u. Pier Angelo Toninelli (Hg.), The Determinants of Entrepreneurship. Leadership, Culture, Institutions, London 2010, S. 143–160, hier: S. 155. 10 Vgl. ebd. , S. 153f; siehe dazu auch Engerman, Stanley u. Sokoloff, Kenneth, Factor Endowments, Inequality, and Paths of Development Among New World Economics, in: Economía, 3/1, 2002, S. 41–109; Landes, David S., The Wealth and Poverty of Nations. Why some are so rich and some so poor, New York 1998. 5 durch Netzwerke besseren Zugang zu ausländischen Kapitalgebern, Know-how und Technologie hatten.11 1.2. Forschungsstand Die neuere Forschung über den Zusammenhang von Einwanderung und Entrepreneurship ist interdisziplinär aufgestellt. Es dominieren Ansätze der Ökonomik und der Soziologie, bei denen die Neue Institutionenökonomik als paradigmatische Grundlage dient.12 In der Forschung hat sich der Begriff Immigrant Entrepreneurship als Umschreibung des Phänomens etabliert. Als Vertreter für die ökonomische Entrepreneurship-Forschung kann beispielhaft der Beitrag von GALBRAITH u.a. genannt werden. Sie verstehen ethnische Netzwerke als Klubgüter, deren Nutzung durch ethnische Zugehörigkeit bestimmt ist.13 Die wirtschaftssoziologischen Ansätze sind als Antwort auf neoklassische Ökonomiemodelle zu verstehen, indem sie das Wirtschaften in den sozialen Kontext einbetten und über die Rationalitätsannahmen moderner Ökonomieforschung hinausgehen.14 Diese Perspektive tendiert wiederum dazu, den institutionellen Kontext zu vernachlässigen, sodass eine Art gemischte Einbettung sinnvoll erscheint. Die Entscheidung des Migranten, ein Unternehmer zu werden, hängt sowohl von den zur Verfügung stehenden Ressourcen als auch von den gegebenen Marktstrukturen ab, die konkret zeitlich und lokal spezifisch sind.15 Die Geschichtswissenschaft kann den Forschungsansatz der gemischten Einbettung durch eine historische Betrachtungsweise bereichern, um die komplexen Handlungsmuster und Verlaufsformen von Immigrant Entrepreneurship grundlegend zu verstehen.16 Geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zu Immigrant Entrepreneurship wenden Case Studies an, um zeitliche oder lokale Dynamiken und Kontinuitäten zu erfassen. Der historische 11 Vgl. Taylor, Alan M., Peopling the Pampa. On the Impact of Mass Migration to the River Plate, 1870-1914, in: Explorations in Economic History, 34/1, 1997, S. 100–132, hier: S. 125ff; Pineda, Yovanna, Industrial Development in a Frontier Economy. The Industrialization of Argentina, 1890-1930, Stanford 2009, S. 66; Pineda, Yovanna, Sources of Finance and Reputation. Mechant Finance Groups in Argentina Industrialization, 18901930, in: Latin American Research Review, 41/2, 2006, S. 3–30, hier: S. 9. 12 Vgl. Ebner, Alexander, Transnationales Unternehmertum. Wirtschaftssoziologische und institutionenökonomische Perspektiven, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 58/2, 2013, S. 149–162, hier: S. 155. 13 Vgl. Galbraith, Craig S.; Rodriguez, Carlos L. u. Stiles, Curt H., Ethnic economies, social capital and the economic theory of clubs, in: Leo Paul Dana (Hg.), Handbook of Research on Ethnic Minority Entrepreneurship. A Co-evolutionary View on Resource Management, Cheltenham 2007, S. 16–29, hier: S. 16. 14 Vgl. Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 155. 15 Vgl. Kloosterman, Robert, Matching opportunities with resources. A framework for analysing (migrant) entrepreneurship from a mixed embeddedness perspective, in: Entrepreneurship & Regional Development, 22/1, 2010, S. 25–45, hier: S. 26. 16 Vgl. Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 162. 6 Vergleich ist dafür ein methodischer Ansatz, der Akteure in verschiedenen geographischen Räumen untersucht. GODLEY vergleicht jüdische Immigrant Entrepreneurs in London und New York und erforscht die verschiedenen kulturellen Einflüsse der Mehrheitsgesellschaft in den Zielländern im Hinblick auf Assimilierung und wirtschaftliche Tätigkeiten der jüdischen Einwanderer.17 MINOGLU und STAVROS nutzen den Vergleich, um den Grad der Organisation griechischer Handelsfirmen in der russischen Schwarzmeerregion mit der von westlichen Handelsunternehmen zu vergleichen.18 Die qualitative Case Study-Methode ist ein Ansatz, um maximal zu Kontextualisieren und Eigenlogiken zu identifizieren. Case Studies untersuchen einen Akteur, der eine soziale Gruppe repräsentieren kann, aber im hohen Maße individuelle Faktoren aufweist. Geschäftsmöglichkeiten ergeben sich spezifisch für eine soziale Gruppe, zum Beispiel für eine ethnische Gruppe, weil diese über einen spezifischen Zugang zu Netzwerken und Ressourcen verfügt.19 Im Kontext der transatlantischen Migration gibt der Band von BERGHOFF und SPIEKERMANN einen umfassenden Überblick über deutschstämmige Entrepreneure in den USA. Insbesondere die historische Biografie von Eliteimmigranten dient hier zur differenzierten Analyse eines Musters von deutschen Einwanderern, ihren Familien und der Entstehung von ihren Unternehmen in den USA.20 Im Kontext von Lateinamerika untersuchten bereits Studien in den 1970er Jahren den Zusammenhang von Migranten und Entrepreneurship. Eine der ersten Pionierarbeiten mit der Case Study-Methode ist FLEMINGS Untersuchung über Entrepreneurship im argentinischen Weinanbau. Diese Arbeit macht deutlich, dass die kulturgeschichtliche Einbettung in der modernen Entrepreneurship-Forschung unabdingbar ist, obwohl die Forschung diesen Aspekt lange vernachlässigt hat.21 Die Case Study unterstreicht die Wertschöpfung der Migrantenunternehmer und die innovative 17 Siehe dazu Godley, Andrew, Jewish Immigrant Entrepreneurship in New York and London, 1880-1914. Enterprise and Culture, New York 2001. 18 Siehe dazu Pepelasē Minoglu, Iōanna u. Stavros, Ioannides, Diaspora Entrepreneurship between History and Theory, in: Youssef Cassis u. Iōanna Pepelasē Minoglu (Hg.), Entrepreneurship in Theory and History, New York 2005, S. 163–189. 19 Vgl. Razin, Eran, The economic context, embeddedness and immigrant entrepreneurs, in: International Journal of Entrepreneurial Behavior & Research, 8/1/2, 2002, S. 162–167, hier: S. 162. 20 Siehe dazu Berghoff, Hartmut u. Spiekermann, Uwe (Hg.), Immigrant Entrepreneurship. The German-American Experience since 1700, Washington 2016. 21 Vgl. Fleming, William J., The Cultural Determinants of Entrepreneurship and Economic Development. A Case Study of Mendoza Province, Argentina, 1861-1914, in: The Journal of Economic History, 39/1, 1979, S. 211– 224, hier: S. 211. 7 Zerstörungskraft im traditionellen Wertesystem Argentiniens am Beispiel spanischer und französischer Einwanderer in Mendoza.22 Auf FLEMINGS Arbeit aufbauend ergaben sich eine Reihe von Untersuchungen, hinsichtlich der verschiedenen Branchen und der unterschiedlichen ethnischen Herkünfte von Einwandererunternehmern.23 Dabei kam den ausländischen Akteuren mit Direktinvestitionen eine tragende Rolle zu. Befunde zeigen eine meist positiv konnotierte Rolle ausländischer Kapitalgeber oder Unternehmer in Argentinien und Mexiko in der fortschreitenden Industrialisierung. Mit den Forschungsbefunden bekamen ausländische Kapitalunternehmen in der Entwicklung der Eisenbahnen, der Banken und der Fleischverpackungsindustrie, vorrangig aus Großbritannien, einen prominenten Platz in der Erzählung einer argentinischen Wirtschaftsgeschichte.24 Allerdings wurden andere Formen des Immigrant Entrepreneurship, wie die Rolle von dauerhaft eingewanderten Migranten, ausgeklammert. Die Untersuchung von BUCHENAU kann für die noch lückenhaft aufgestellte Forschung bezüglich der deutschen Einwanderer in Lateinamerika genannt werden. BUCHENAU schließt neben der kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise auch den politisch-wirtschaftlichen Wandel als wichtigen Faktor für die Entwicklung von Entrepreneurship in einer deutschen Auswandererfamilie in Mexiko ein. Die sogenannte Transkulturalität der Deutschen, ständig zwischen zwei Ländern zu stehen, spielt eine wichtige Rolle in der Entstehung von Immigrant Entrepreneurship.25 Über Entrepreneurship hinaus gibt es im internationalen wissenschaftlichen Umfeld in jüngerer Zeit ein bemerkenswert verstärktes Forschungsinteresse an deutschen Einwanderern in Argentinien, welches die Identitäten und Einflüsse der Deutsch-Argentinier in der Formierung der argentinischen Gesellschaft thematisiert. Damit stehen diese Untersuchungen in enger Tradition zur globalen Forschungsrichtung der Migrationsgeschichte, welche Fleming argumentiert, dass ein Grund für das ‚Scheitern‘ Argentiniens beim Aufstieg zur hochentwickelten Industrienation in dem Fehlen einer Unternehmerelite bestünde, die im Gegensatz zur traditionellen kreolischen Bevölkerung Profite anstatt Status erlangen wolle. Vgl. Fleming, Cultural Determinants, S. 213. 23 Vgl. Dávila, Entreprenreurship and Cultural Values, S. 155. 24 Vgl. ebd., S. 153-155. 25 Vgl. Buchenau, Jürgen, Tools of progress. A German merchant family in Mexico City, 1865 - present, Albuquerque 2004, S. 9f. 22 8 zunehmend Fragen der Transnationalität und Transkulturalität behandelt, häufig in Form von Biografien.26 BINDERNAGEL schreibt über Erinnerungskulturen der deutschen Einwanderergemeinde, insbesondere mit der Auswirkung des Ersten Weltkrieges auf die Polarisierung der Gesellschaft.27 Eine kulturgeschichtliche Perspektive der ethnischen Identitätsstiftung liefert das Werk von BRYCE, welches sich mit den sozio-kulturellen Austauschprozessen zwischen den Einwanderergemeinden in Buenos Aires beschäftigt.28 BRYCE erweitert den Ansatz von NEWTON, der den Wandel und die Resistenz der deutschen Einwanderergemeinde im Zuge des demographischen Wachstums und aufkommenden Nationalismus in Argentinien untersucht.29 Den Einfluss deutscher Einwanderer auf die Entstehung des politischen argentinischen Sozialismus behandeln GAIDO und POY.30 KRAMER untersucht die Strukturen der Einwanderervereine unter deutschen Einwanderern.31 Schließlich erforscht noch SAUVEURHENN mit einen quantitativen Blick die deutsch-sprachigen Einwanderer.32 Die deutsche Einwanderung in Argentinien ist auch im Rahmen der Genderstudies von Interesse wie die Untersuchungen von Frauenbiografien von HOCK und CHA u.a. zeigen.33 AZZI und TITTO ergründen Biografien, unter anderem zu deutschen Pionieren in der Industrialisierung Argentiniens, welche die individuellen Werdegänge der Unternehmer in einen speziellen historischen Kontext setzen.34 Die Biografien zeigen, dass fast alle Unternehmer europäische Wurzeln hatten und ihre Unternehmen in einem historisch günstigen Moment gründeten.35 Die Untersuchung betont allerdings sehr die Charaktereigenschaften der 26 Vgl. Logemann, Jan, Transnationale Karrieren und transnationale Leben. Zum Verhältnis von Migrantenbiographien und transnationaler Geschichte, in: BIOS: Zeitschrift für Biographieforschung, oral history und Lebensverlaufsanalysen, 28/1/2, 2015, S. 80–101, hier: S. 86. 27 Siehe dazu Bindernagel, Deutschsprachige Migranten. 28 Siehe dazu Bryce, Benjamin, To Belong in Buenos Aires. Germans, Argentines, and the Rise of a Pluralist Society, Stanford 2018. 29 Siehe dazu Newton, Ronald, German Buenos Aires. Social Change and Cultural Crisis, Austin 1977. 30 Siehe dazu Gaido, Daniel u. Poy, Lucas, Los inmigrantes alemanes y la ‘prehistoria’ del socialismo argentino (1888-1894), in: Antíteses, 4/7, 2010, S. 81–98. 31 Siehe dazu Kramer, Valentin, Zwischen den Heimaten. Deutsch-argentinische Einwanderervereine in Rosario und Esperanza 1856-1933, Bielefeld 2016. 32 Siehe dazu Saint Sauveur-Henn, Anne, Un siècle d'émigration allemande vers l'Argentine. 1853-1945, Köln 1995. 33 Siehe dazu Hock, Beate, In zwei Welten. Frauenbiografien zwischen Europa und Argentinien. Deutschsprachige Emigration und Exil im 20. Jahrhundert, Berlin 2016. 34 Siehe dazu Azzi, María Susana u. Titto, Ricardo Julio de, Pioneros de la industria argentina, Buenos Aires 2008. 35 Vgl. Baudino, Verónica, Azzi, M. S. y Titto, R., Pioneros de la industria argentina, in: Estudios Económicos, 25/50, 2008, S. 125–132, hier: S. 126f. 9 Unternehmer, sodass der Eindruck von ‚Heldenepen‘ entsteht, weil nicht detailliert historisiert wird. Der Versuch, die Entwicklung der Unternehmen und der Wirtschaftsstruktur Argentiniens nur mit individuellem Handeln von Personen zu erklären, greift aus wirtschaftshistorischer Sicht zu kurz. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die Forschungslücke zwischen kulturhistorischen und unternehmensgeschichtlichen Arbeiten zu schließen. Bislang fehlt eine Form der Unternehmensgeschichte, die das komplexe Zusammenspiel von individuellen unternehmerischen Ambitionen und Fähigkeiten mit der Einwanderergemeinde verknüpft und in einen institutionellen Rahmen setzt, sodass dem linearen Narrativ eines Heldenepos entgangen wird. 1.3. Untersuchungsgegenstand Diese Arbeit gliedert sich in das steigende Interesse an den eingewanderten Minderheitengruppen in Argentinien ein und verbindet dies mit der Entrepreneurship-Forschung, deren Beiträge seit den 1980ern verstärkt Einwanderer betrachten. Das Beispiel der deutschen Immigranten in Argentinien kann dabei ein fruchtbarer Untersuchungsgegenstand sein. Die quantitativ kleine Einwanderungsgruppe hatte eine qualitativ weitaus größere Bedeutung als die reine Anzahl an Deutschstämmigen in Argentinien vermuten lässt. Die durchschnittlich besser ausgebildeten Deutschen, genossen aufgrund der positiven Konnotation mit der ‚deutschen Qualitätsarbeit‘, bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen exzellenten Ruf.36 Deutsche Einwanderer und Unternehmer hatten einen prägenden Anteil in der Transformierung der Wirtschaft zur Industrialisierung und auch im Bereich der Konsumkultur.37 Unter den großen Familienunternehmen im 20. Jahrhundert finden sich überproportional viele, die durch deutsche Einwanderer gegründet wurden.38 Einige ihnen entwickelten sich zu argentinischen Großunternehmen und Global Playern. Die kapitalstärkste Gesellschaft im Jahre 1924 mit deutscher Verbindung war das Textilhandelsunternehmen Staudt & Cía. Auch im Jahre 1930 war das Unternehmen kapitalkräftiger als Ableger der multinationalen 36 Vgl. Penny, H. Glenn, Material Connections. German Schools, Things, and Soft Power in Argentina and Chile from the 1880s through the Interwar Period, in: Comparative Studies in Society and History, 59/3, 2017, S. 519–549, hier: S. 519. 37 Vgl. ebd., S. 519f. 38 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Anne, Die deutsche Migration nach Argentinien (1870-1945), in: Peter Birle (Hg.), Die Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien, Frankfurt am Main u.a. 2010, S. 21–52, hier: S. 32. 10 Großkonzerne aus Deutschland in Argentinien.39 Diese expandierten am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert nach Südamerika und siedelten nicht selten ihre ersten Filialen im aufstrebenden Buenos Aires an, welches als Brückenkopf für Südamerika galt. Darunter finden sich Niederlassungen und Tochterunternehmen der Deutschen Bank, von Philipp Holzmann und der AEG.40 Die multinationalen Unternehmen setzten bei ihrem Auslandsengagement auf die Beschäftigung von Deutschen und gingen Kooperationen mit argentinischen Unternehmen ein.41 Wenn man von ausgewanderten Deutschen spricht, besteht ein gewisser Dissens über die Begrifflichkeit. Der in älterer Forschung geläufige Begriff ‚Auslandsdeutsche‘ wird in dieser Arbeit vermieden, da dieser Begriff den Bezug zum Reich zu stark suggeriert. Im Gegensatz dazu ist ‚Deutschsprachige‘ ein Quellenbegriff, der alle Deutschsprechenden, unabhängig von Grenzen und Staatsangehörigkeiten umfasst. Deutsche Einwanderer oder deutsche Migranten hingegen sind analytische Begriffe und lassen die Verbindung der Geschichte mit der Migrationsforschung zu.42 Der untersuchte Zeitraum beginnt 1880 mit dem Einsetzen der Masseneinwanderung in Argentinien. Parallel dazu befand sich Argentinien in einem beispiellosen Wirtschaftsboom, der sich zwar als krisenanfällig herausstellte, aber in einer langen Linie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bestehen blieb. Weil sich mehrere historische Zäsuren um 1930 feststellen lassen, endet der Untersuchungszeitraum in diesem Jahr. Aufgrund der Kontraktion des Welthandels und der Weltwirtschaftskrise brach am Ende der 1920er Jahre in Argentinien das Wirtschaftswachstum massiv ein. Das bisherige Wirtschaftsmodell des Agrar-Exports wurde von einer staatlich gelenkten importsubstituierenden-Industrialisierung (ISI) abgelöst. Die Ära der großen Masseneinwanderung endete ebenfalls in diesen Jahren und 39 Vgl. Lanciotti, Norma u. Lluch, Andrea, Empresas Extranjeras en Argentina / Foreign Companies in Argentina Database, in: http://empexargentina.com/en/ (abgerufen am 08.01.2019). → Ranking (TOP 100) → Ranking 1923/4 ; Ranking → 1930 40 Vgl. Hertner, Peter, Globale Elektrifizierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Beispiel der DeutschUeberseeischen Electricitäts-Gesellschaft in Buenos Aires, 1898-1920, in: Hartmut Berghoff, Jürgen Kocka u. Dieter Ziegler (Hg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Deutschlands und Österreichs. Im Gedenken an Gerald D. Feldman, München 2010, S. 47–80, hier: S. 60f; Pohl, Manfred, Philipp Holzmann. Geschichte eines Bauunternehmens, 1849 - 1999, München 1999, S. 117. 41 Zum Beispiel setzte die Deutsche Bank für ihr Tochterunternehmen Deutsche Ueberseebank 1887 als ihren ersten Direktor Georg Eduard Maschwitz ein, der zuvor als Banker in Argentinien gearbeitet hatte und laut Geschäftsbericht mit den dortigen Verhältnissen vertraut sei. Vgl. Deutsche Uebersee-Bank (Hg.), Erster Geschäfts-Bericht der Direction der Deutschen Uebersee-Bank, Berlin 1887, S. 2. 42 Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 223. 11 erlebte in ihren Ausmaßen nicht mehr die Zahlen vom Anfang des Jahrhunderts. Schließlich führte der Militärputsch im Jahre 1930 einen politischen Regimewechsel herbei und beendete damit die Zeit einer relativ liberalen demokratischen Phase.43 1.4. Methodik und Forschungsfragen Der analytische Rahmen dieser Untersuchung orientiert sich am Modell der ‚gemischten Einbettung‘ von KLOOSTERMAN und RATH, das aus den drei Ebenen, der Mikro-, der Makround der Mesoebene besteht.44 Die Mikroebene ist dabei das Herzstück dieser Arbeit. Hierbei ist die biografische Case Study das analytische Werkzeug, das einen qualitativen Einblick in die individuellen Wertvorstellungen und Erwartungshaltungen der Akteure liefert.45 Das abstrakte Phänomen des Immigrant Entrepreneurship soll durch die Analyse von Biografien einen konkreten Bezugspunkt bekommen und durch individuelle Betrachtungen über eine bloße statistische Aggregation hinausgehen.46 In der Forschung gibt es ein wachsendes Interesse an biografischen Untersuchungen sogenannter Elitegruppen wie Geschäftsleute, Intellektuelle und Professionals, was an der meist leichter zugänglichen Quellenlage liegt.47 Auch diese Arbeit wird sich in den Case Studies mit zwei Vertretern der Elitegruppe auseinandersetzen. Dazu wird eine breite Quellenbasis untersucht, die aus zeitgenössischen Publikationen, Unternehmensfestschriften und diversen Sekundärquellen besteht. Die Biografien werden eingebettet in das zweite Level, die Mesoebene. Hiermit sind lokale ökonomische Gelegenheitsstrukturen gemeint, die zwischen den Individuen mit ihren Ressourcen und dem institutionellen Kontext liegen.48 Die Mesoebene ist vor allem erforderlich, um der methodologischen Gefahr eines linearen Narrativ oder Heldenepos zu 43 Vgl. Sánchez-Albornoz, Nicolás, Population, in: Leslie Bethell (Hg.), Latin America. Economy and Society, 1870-1930, Cambridge 1989, S. 83–114, hier: S. 89f; Thorp, Rosemary, Economy, 1914-1929, in: Leslie Bethell (Hg.), Latin America. Economy and Society, 1870-1930, Cambridge 1989, S. 57–82, hier: S. 79f. 44 Vgl. Kloosterman, Matching opportunities, S. 27f; Kloosterman, Robert u. Rath, Jan, Introduction, in: Robert Kloosterman u. Jan Rath (Hg.), Immigrant entrepreneurs. Venturing abroad in the age of globalization, Oxford 2003, S. 1–16, hier: S. 9. 45 Vgl. Faist, Thomas, The Volume and Dynamics of International Migration and Transnational Social Spaces, 2. Aufl., Oxford 2004, S. 31. 46 Vgl. Berghoff, Hartmut, The Immigrant Entrepreneurship Project. Rationale, Design, and Outcome, in: Hartmut Berghoff u. Uwe Spiekermann (Hg.), Immigrant Entrepreneurship. The German-American Experience since 1700, Washington 2016, S. 53–68, hier: S. 53. 47 Vgl. Logemann, Migrantenbiographien, S. 86. 48 Vgl. Kloosterman, Matching Opportunities, S. 27f. 12 entgehen.49 Sowohl verschiedene Formen der Netzwerkbildung innerhalb der deutschen Gemeinde im Ausland als auch die transatlantischen Verbindungen nach Deutschland sind Beispiele für solche Gelegenheitsstrukturen, denn soziale Beziehungen und Kontakte können zur Mobilisierung von Ressourcen dienen und Geschäftschancen eröffnen. Da die Mesoebene die Zwischenräume von Individuen und kollektiven Gruppen erfasst, werden damit auch aggregierte Kräfte von Entrepreneurship erforscht, die jenseits von individuellem Handeln und institutionellen Strukturen liegen.50 Konkret fallen darunter alle sozialen Interaktionen und bewusste und subtile Wahrnehmungen und Handlungen, die sich aus der historischen, lokalen Situation ergeben. Dazu dienen soziale und gesellschaftliche Einrichtungen wie Klubs, Vereine oder Kirchengemeinden als Quellenorte. GLENN PENNY sieht die Unterscheidung von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Formen von Einflüssen als wichtige Voraussetzung für die Analyse von Prozessen und spezifischen historischen Situationen an.51 Mit der Mesoebene deckt diese Arbeit die Analyse jener ‚weicher‘ Formen des Immigrant Entrepreneurship ab. Da Mikro- und Mesoebene eher auf die individualhistorische Situation abzielen, ist die Betrachtung struktureller Bedingungen des gesamten institutionellen Kontextes notwendig, um sich von der Beobachtung einer Art historischen Experimentes unter der Glashaube zu lösen. Die Kontextualisierung durch die Makroperspektive ist bei Biografien ein wichtiges Werkzeug, um die Entscheidungssituation der Entrepreneure in ein bestimmtes institutionelles Setting zu setzen.52 Die Akteure bewegen sich ständig in diesem Setting und die Umweltbedingungen sind stets im Zusammenspiel aller anderen Faktoren präsent.53 Dazu wird in beiden Case Studies ein Kapitel über den Kontext bereitgestellt, das die individuellen Handlungen historisch nachvollziehbar macht. Die Kontextualisierung geht aber über den retrospektiven Zustand der Ökonomie hinaus und berücksichtigt auch eine allgemeine zeitgenössischen Wahrnehmung der Situation in Argentinien, die im Verlauf der Kapitel 49 Vgl. Pertilla, Atiba u. Spiekermann, Uwe, Living the American Dream? The Challenge of Writing Biographies of German-American Immigrant Entrepreneurs, in: Bulletin of the German Historical Institute, 55, 2014, S. 77–90, hier: S. 78; Spiekermann, Uwe, Why Biographies? Actors, Agencies, and the Analysis of Immigrant Entrepreneurship, in: Hartmut Berghoff u. Uwe Spiekermann (Hg.), Immigrant Entrepreneurship. The German-American Experience since 1700, Washington 2016, S. 37–51, hier: S. 43. 50 Vgl. Faist, International Migration, S. 33. 51 Vgl. Penny, Material Connections, S. 521. 52 Vgl. Spiekermann, Why Biographies?, S. 45. 53 Vgl. Dávila, Entrepreneurship and Cultural Values, S.158f. 13 erörtert wird. Reise- und Länderberichte sowie Auslandsführer dienen hier als wichtige Quellen. Der Einbezug von theoretischen Ansätzen soll in dieser Arbeit die empirischen Ergebnisse deduktiv einordbar machen. Vom Standpunkt klassischer Unternehmertheorien mit ethnischen Aspekten werden die empirischen Ergebnisse systematisch betrachtet, um empirische Beispiele für theoretische Überlegungen zu schaffen. Dies knüpft auch an aktuelle Forschungstrends zur Entrepreneurship-Forschung in Lateinamerika an, die eine Theoretisierung lange Zeit hat vermissen lassen.54 Dabei ist zu bemerken, dass eine reine Zuordnung des empirischen Befundes zu einem theoretischen Unternehmerbegriff häufig nicht möglich ist. Schon SCHUMPETER verweist auf die lokalen, temporären oder generellen Ausprägungen von Entrepreneurship.55 Eine Einordnung in die Kategorie ‚Variety of Entrepreneurship‘, wie er im Ansatz der Neuen Unternehmensgeschichte zu finden ist, erscheint somit als notwendig.56 Im Verständnis dieses Forschungsansatzes erfassen Biografien die Prozesse, in welchen individuelle oder kollektive Akteure die Entwicklung von Gütern und Märkten verfolgen. In diesem Prozess sind nicht nur Märkte, Industrien und Kapitalismusformen als unveränderbares institutionelles Setting zu verstehen, sondern die Akteure selbst transformieren durch ihre Entscheidungen die Institutionen.57 Diese Arbeit soll einerseits die historische Evidenz zum länderspezifischen Fall der Deutschen in Argentinien bereitstellen und andererseits durch eine theoretische Fundierung versuchen, bestehende Entrepreneurship-Theorien mit empirischem Material zu unterfüttern. Vor diesem Hintergrund kann die Forschungsfrage, die dieser Arbeit zu Grunde liegt, wie folgt formuliert werden. ➢ Unter welchen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten gründet sich unter deutschen Einwanderern in Argentinien ein Unternehmertum, im Hinblick auf den historischen Zeitraum zwischen 1880 und 1930? Aus dieser Frage wird gleichzeitig die These deutlich, die dieser Arbeit vorangestellt wird. 54 Vgl. Barbero, María Inés, Business History in Latin America. Issues and Debates, in: Franco Amatori u. Geoffrey Jones (Hg.), Business History around the World, Cambridge u.a. 2010, S. 317–335, hier: S. 326. 55 Vgl. Schumpeter, Joseph A., The Creative Response in Economic History, in: The Journal of Economic History, 7/2, 1947, S. 149–159, hier: S. 153f. 56 Siehe dazu Lubinski, Christina u. Wadhwani, R. Daniel, Reinventing Entrepreneurial History, in: The Business History Review, 91/4, 2017, S. 767–794. 57 Vgl. Spiekermann, Why Biographies?, S. 45. 14 ➢ Das Zusammenspiel von kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Besonderheiten bei deutschen Einwanderern führte zu der Herausbildung spezifischer Unternehmungen, welche als Antwort auf historische Opportunitäten zu verstehen sind. 1.5. Aufbau Vor diesem konzeptionellen Hintergrund ist die Arbeit wie folgt aufgebaut. Im ersten Teil nach der Einleitung wird ein Kapitel einen theoretischen Überblick über Begriffe und Theorien des Unternehmertums geben, der auch die ethnische Komponente des Unternehmertums beinhaltet. Das anschließende dritte Kapitel behandelt die Einwanderung der Deutschen in Argentinien. Zunächst wird ein kurzer statistischer Überblick über die quantitativen und qualitativen Dimensionen der deutschen Einwanderer gegeben, der auch die Motive der Einwanderung aus einer Makro-Perspektive miteinschließt. Darauf folgen zwei Teile über die Kulturgeschichte der Deutschen in Argentinien, in dem die zeitgenössischen Erwartungen und Vorstellungen von Deutschen in Argentinien analysiert werden und sich eine Untersuchung des ‚Innenlebens‘ der deutschen Einwanderergemeinde anschließt. Kulturgeschichtliche Empfindungen, Erwartungen und Wünsche der Zeitgenossen sollen hier herausgearbeitet werden. Im vierten Kapitel folgt die Untersuchung von Einwanderer-Unternehmen anhand zweier empirischer Case Studies. Dazu werden zwei deutschstämmige Unternehmerfamilien ausgewählt, deren Geschichte von der Migration nach Argentinien bis zum Aufbau von Großunternehmen aufgearbeitet wird. Die analysierten Unternehmen sind beide im Handelssektor anzusiedeln, welcher den prosperierenden Sektor in der Wirtschaftsstruktur Argentiniens im Untersuchungszeitraum repräsentiert. Im anschließenden fünften Kapitel sollen die Forschungsergebnisse aus den Case Studies verglichen, diskutiert und mit den vorherigen Kapiteln verknüpft werden. Das Fazit fasst die Forschungsergebnisse abschließend zusammen und gibt Impulse für die weitere Forschung. 2. Theoretische Vorüberlegungen 2.1. Der Begriff des Unternehmertums Grundlegend für die Entrepreneurship-Forschung ist die Annahme, dass Unternehmer relevante Akteure im wirtschaftlichen Prozess sind. Anders als in der orthodoxen Ökonomieforschung angenommen, sind Unternehmer und Unternehmen keine Blackbox, deren Ergebnis lediglich eine gewisse Güterallokation ist. Vielmehr ist die historische Erfahrung, 15 dass soziale Strukturen und Institutionen relevante Elemente in der Festlegung von Spielregeln und Konventionen sind, mit denen Marktprozesse funktionieren. Der Unternehmer spielt darin als strategischer Akteur eine entscheidende Rolle. SCHUMPETERS zentrales Argument liegt im Konstrukt der sogenannten kreativen Erneuerung. Diese entsteht immer dann, wenn es einem Unternehmer gelingt, eine Innovation in einem Markt zu platzieren. Diese Innovation besteht entweder in der Einführung von neuen Waren in einem spezifischen Markt, von Prozessinnovationen oder in der Entdeckung neuer Absatz- und Rohstoffmärkte. Durch die kreative Erneuerung erhält die wirtschaftliche Situation einen positiven Schub, sodass Wachstum generiert wird. Das Auftreten einer kreativen Erneuerung hängt maßgeblich vom verfügbaren unternehmerischen Potenzial der Gesellschaft ab, also vom relativen Anteil von Personen mit unternehmerischen Qualitäten.58 Der Unternehmer versucht durch strategische Entscheidungen, positive Effekte für seinen Profit herbeizuführen. Strategisches Handeln ist dabei nicht gleichzusetzen mit rationalem Handeln. Wie Israel KIRZNER zeigt, ist das unternehmerische Element in der Entscheidungsfindung nicht als ein rein rechnerisches aufzufassen und der Unternehmer nicht als passiver Ausführer eines durch exogene Faktoren determinierten Handlungsverlaufes. Laut KIRZNER ist jede unternehmerische Entscheidung das Ergebnis einer logischen Abfolge, der ein Unternehmer durch Lernprozesse adaptiert.59 Volatilität, Unsicherheit und unvollständige Information sind ständige Begleiter bei unternehmerischen Entscheidungen. Strategien, wie persönliche Absicherungen, Lerneffekte sowie hybride Organisations- und Produktionsformen sind explizite Reaktionen auf diesen Schleier der Ungewissheit. Anstatt von rationalen Entscheidungen zu sprechen, sollte unternehmerisches Handeln als pragmatische Lösung auf bestehende Probleme gesehen werden.60 Dies wird als ‚unternehmerische Findigkeit‘ bezeichnet, welche sich im Hinblick auf Veränderungen im Markt entfaltet.61 KIRZNER unterscheidet darüber hinaus idealtypisch zwischen dem ‚Produzenten‘ und dem ‚reinen Unternehmer‘. Ein Produzent ist derjenige, der bereits über Ressourcen verfügt und diese als Produkte verkauft. Er kann somit als Produzent betrachtet werden, der als 58 Vgl. Schumpeter, Creative Response, S. 150-153. Vgl. Kirzner, Israel M., Wettbewerb und Unternehmertum, Tübingen 1978, S. 28f. 60 Vgl. Zeitlin, Jonathan, The Historical Alternatives Approach, in: Geoffrey Jones u. Jonathan Zeitlin (Hg.), The Oxford Handbook of Business History, Oxford/ New York 2008, S. 120–140, hier: S. 131. 61 Vgl. Kirzner, Wettbewerb, S. 31f. 59 16 Preisnehmer seinen Profit maximiert, indem er mittels optimalen Faktoreinsatzes eine Produktionsfunktion maximiert. Möglicherweise werden allerdings Ressourcen, die für die Produktion eines Gutes verwendet werden, nicht für die effizientere Produktion eines anderen Gutes verwendet, weil dies ein Schleier der Ungewissheit verhindert. Anders gesagt könnte eine bessere Koordination von Ressourcen zu kostensenkenden Produktionen führen, sodass der gesamtwirtschaftliche Nutzen steigt. Hier setzt KIRZNER seinen zweiten Idealtyp ein, den reinen Unternehmer. Dieser Akteur ist mit der unternehmerischen Findigkeit ausgestattet, über die reine Ressourcenallokation hinaus, nach dem Vorhandensein von bislang unentdeckten Preisunterschieden zwischen Ressourceneinsatz und Produktionsausstoß zu suchen. Er besitzt, im Gegensatz zum Produzenten oder Kapitalisten, keine eigenen Mittel, sondern sucht nach ökonomischen Gelegenheiten.62 In plakativer Sicht besteht Unternehmertum „[…] nicht darin, nach einem freien Zehndollarschein zu greifen, den man bereits irgendwo entdeckt hat, es besteht vielmehr darin, zu entdecken, dass es ihn gibt und dass er greifbar ist.“63 Eine natürliche Person kann freilich reiner Unternehmer und sein eigener Finanzier oder bereits Eigentümer von Ressourcen zugleich sein. Es besteht lediglich ein Unterschied in der analytischen Betrachtungsweise. Es muss also identifizierbar sein, dass eine Entscheidung eine rein unternehmerische zum Ausnutzen einer Gelegenheit ist und nicht lediglich eine optimale Ressourcenallokation.64 2.2. Die Entstehung von Unternehmertum Der Unternehmer selbst ist definiert als eine Person. Dies führt zum Problem, dass andere Akteure in der Entdeckung von Gelegenheiten nicht beachtet werden, sondern das Unternehmertum auf eine Person reduziert wird. Unternehmertum oder Entrepreneurship65 werden häufig als hoch individualistischer Prozess verstanden, obwohl der Prozess der ‚Kirznerischen Findigkeit‘ von Gelegenheiten stark von der Existenz und der Nutzung von Netzwerken abhängt. Ein erfolgreicher Unternehmer muss Schlüsselnetzwerke 62 Vgl. Kirzner, Wettbewerb, S. 35ff. Zit. nach ebd., S. 38. 64 Vgl. ebd., S. 40. 65 Die Begriffe Unternehmertum und Entrepreneurship werden, je nach benutzter Sprache und Disziplin, in der Forschung häufig äquivalent verwendet. Auch in dieser Arbeit wird Unternehmertum und Entrepreneurship als Umschreibung für das gleiche Phänomen verwendet. 63 17 identifizieren, in die er eintreten muss, um relevante Interessengruppen gezielt zu behandeln.66 In diesem Sinne ist Entrepreneurship nicht Output einer einzelnen Firma oder Person, sondern Resultat einer Unternehmensorganisation innerhalb einer Firma oder eines Netzwerks zwischen verschieden Firmen und Akteuren. Dies führt zur Bezeichnung einer innovativen Unternehmung.67 SHANE und VENKATARAMAN definieren Entrepreneurship als einen Prozess der Entdeckung, Bewertung und Ausnutzung von Gelegenheiten, um neue Produkte oder Dienstleistungen zu erbringen. Sie liegen also nah an KIRZNERS Verständnis von Unternehmertum. SHANE und VENKATARAMAN gehen von einer Welt aus, in der gewisse Menschen Gelegenheiten ergreifen und zwar abhängig von der Situation in der Umwelt, in der sie sich befinden. Sie gehen also nicht von einer gleichgewichtigen Situation aus, in der gewisse persönliche Eigenschaften zu Entrepreneurship führen, wie es etwa SCHUMPETER annimmt. Vielmehr begreifen die Autoren die Entstehung von Entrepreneurship als situationsspezifischen und transitorischen Prozess, der sich aufgrund spezieller Rahmenbedingungen ergibt.68 Die ungleiche Verteilung von Entrepreneurship erklären SHANE und VENKATARAMAN mit zwei Faktoren. Erstens führen Informationskorridore dazu, dass das Entdecken von Gelegenheiten nur einigen Personen oder Gruppen gelingt, weil diese auf einige Informationen spezialisiert sind. Zweitens sind kognitive Fähigkeiten wichtig, um Gelegenheiten nicht nur zu identifizieren, sondern sie auch erfolgreich in ein Produkt umzuwandeln. Hier ist der Begriff des ‚unternehmerischen Elementes‘ wichtig, weil Gelegenheiten nur dann zu Innovationen werden, wenn sie erfolgreich im Markt platziert werden.69 SHANE und VENKATARAMAN betrachten Gelegenheiten als objektive Phänomene, die aufgrund asymmetrischer Information nicht für alle zur selben Zeit sichtbar sind.70 Diese Definition hat den Nachteil, dass lediglich ergriffene Gelegenheiten retrospektiv erklärt werden können und die individuelle Perspektive des Entrepreneurs vernachlässigt wird. 66 Vgl. Casson, Mark, Networks in Economic and Business History. A Theoretical Perspective, in: Andreas Gestrich u. Margrit Schulte-Beerbühl (Hg.), Cosmopolitan Networks in Commerce and Society, London 2011, S. 17–49, hier: S. 46f. 67 Vgl. Lazonick, William, Understanding Innovative Enterprise. Toward the Integration of Economic Theory and Business History, in: Franco Amatori u. Geoffrey Jones (Hg.), Business History around the World, Cambridge u.a. 2010, S. 31–61, hier: S. 33. 68 Vgl. Shane, Scott u. Venkataraman, Sankaran, The Promise of Entrepreneurship as a Field of Research, in: Academy of Management Review, 25/1, 2000, S. 217–226, hier: S. 218f. 69 Vgl. ebd., S. 222. 70 Vgl. ebd., S. 220. 18 2.3. Die ethnische Determinante des Unternehmertums Anders als die Neoklassik, zeigt die wirtschaftssoziologische Forschung, dass die Unternehmerfunktion keine Blackbox, sondern eine komplexe und beobachtbare Angelegenheit ist. Die kulturelle Einbettung des Unternehmers ist dabei von zentraler Bedeutung, da alles Wirtschaften einer kulturellen Variablen folgt, die durch Werte, Normen und Regeln determiniert ist.71 Die kulturelle Einbettung ist nicht als überhistorische, institutionell neutrale Konstante zu sehen, sondern als sozial konstruierte historische Variable, deren Wirkung eng verflochten ist mit der Art des Wirtschaftens.72 Insbesondere im Hinblick auf transnationales Unternehmertum ist die kulturelle Determinante von besonderer Bedeutung, weil Unterschiede zwischen den Kulturen der Immigranten und der Einheimischen bestehen. So können konkrete kulturelle Abgrenzungs- oder Assimilationsstrategien Ursache für den geschäftlichen Erfolg oder Misserfolg sein. Gerade im Hinblick auf SCHUMPETERS Betonung der Funktion des Unternehmers als kreativer Erneuerer kann der Typus des migrantischen Unternehmers aufgrund seiner Nichtzugehörigkeit zum traditionellen Wertesystem besonders gut geeignet sein, um Neuerungen einzuführen und damit das kapitalistische System anzutreiben.73 Die kulturelle Abgrenzung der ethnischen Minorität zur dominanten Kultur kann als spezifischer ethnischer Gruppenvorteil bewertet werden. Durch diese Form der Abgrenzung sind Menschen nicht an die normative Werte der dominanten Kultur gebunden, sodass gewisse Attribute der ethnischen Gruppen helfen können, strukturelle Standortnachteile zu überbrücken.74 Da die allgemeine Unternehmerfunktion kulturell eingebettet ist, definiert transnationales Unternehmertum den „Prozess der Identifizierung, Bewertung und Nutzung von Marktgelegenheiten, der wiederum von ethnischen Strategien, ethnischen Gruppenressourcen, Gelegenheitsstrukturen sowie sozialräumlichen Aspekten urbaner Agglomerationen geformt wird“.75 71 Vgl. Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 156. Vgl. ebd., S. 154. 73 Vgl. Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 151. 74 Vgl. Granovetter, Mark, The Economic Sociology of Firms and Entrepreneurs, in: Alejandro Portes (Hg.), The Economic Sociology of Immigration. Essays on Networks, Ethnicity, and Entrepreneurship, New York 1995, S. 128–165, hier: S. 148. 75 Zit. nach Ebner, Transnationales Unternehmertum, S. 156. 72 19 Diese Definition von Immigrant Entrepreneurship von EBNER betont die Aspekte der ethnischen Konstante bei transnationalem Wirtschaften. Strategien, Strukturen und Gelegenheiten bilden dabei ein interdependentes Geflecht, das von WALDINGER u.a. in einem Modell illustriert wird. Angelehnt an das Kirznersche Verständnis von Unternehmertum, wird zunächst von einem ungleichgewichtigen Markt mit geringen Eintrittsbarrieren ausgegangen. Die Eintrittskosten sind gering, weil es zum Beispiel eine positive Nachfrage für spezielle ethnische Konsumprodukte gibt, die noch nicht bedient wird oder es sich um einen peripheren Markt handelt, der bislang von Wettbewerbern gemieden wurde.76 Der Zugang zu Marktchancen ist für potentielle Einwandererunternehmer dann gegeben, wenn ein relativ geringer inländischer Wettbewerb herrscht und gleichzeitig ein schnelles Wirtschaftswachstum Spielräume für neue Branchen bietet.77 Das Modell zeigt ebenfalls wie diverse Gruppencharakteristika die Strategien der ethnischen Gruppe bedingen. Die spezielle geografische Niederlassung der Immigranten in Enklaven, eine selektiertes Einwanderungsregime sowie verschiedene individuelle Ansprüche spiegeln sich in den Ausprägungen der Geschäftsstrategien wider. Handelt es sich bei den Einwanderern um eine vom Land kulturell und linguistisch ferne Gruppe ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass durch die Selbstständigkeit Arbeit gefunden wird. Auch macht es einen Unterschied, ob alleinstehende männliche Einwanderer ins Land kommen oder Familien gemeinsam einwandern.78 Außerdem ist das Ausmaß an Ressourcenmobilisierung prägend. Je enger die Verbindungen zu Mitgliedern derselben ethnischen Gruppe, desto eher werden zum Beispiel Kapitalressourcen aus diesem Milieu mobilisiert.79 3. Die Einwanderung der Deutschen nach Argentinien Argentinien war ein Spätentwickler als Ziel europäischer Auswanderung. Bereits in der spanischen Kolonialzeit war das Vizekönigreich Río de la Plata ein spät eingegliedertes Gebiet und in der Frühphase der Unabhängigkeit ein von Bürgerkriegen geplagtes Land, das für 76 Vgl. Waldinger, Roger; Aldrich, Howard u. Ward, Robin, Opportunities, Group Characteristics, and Strategies, in: Roger Waldinger, Howard Aldrich u. Robin Ward (Hg.), Ethnic Entrepreneurs. Immigrant Business in Industrial Societies, Newbury Park u.a. 1990, S. 13–48, hier: S. 22-28. 77 Vgl. ebd., S. 28. 78 Vgl. ebd., S. 32f. 79 Vgl. ebd., S. 35-38. 20 viele Auswanderer zunächst unattraktiv erschien. Erst nach der Konsolidierung des Nationalstaats und der wirtschaftlichen Expansion Argentiniens setzte eine Massenmigration aus Südeuropa nach Argentinien ein und eine Phase der Massenauswanderung aus Europa ein.80 Neben Italienern und Spaniern gelangten auch Gruppen vieler anderer europäischer Staaten nach Argentinien, darunter die Deutschen. Die Forschung stellt eine große Auswahl an statistischem Material über die Einwanderung zur Verfügung. Einschränkend zu den historischen Erfassungen ist zu bemerken, dass die Statistiken aufgrund ihrer signifikanten Unterschiede nicht reliabel sind. Die Zahlen variieren zwischen deutschen und argentinischen Statistiken, da es unterschiedliche Messungen und Zählungen von Nationalangehörigen gab. Alle quantitativen Aussagen zu Zeiten der Massenmigration sind also mit Vorsicht zu betrachten.81 Eine alternative Quelle für die Forschung, auf Passagierlisten der Schifffahrtsgesellschaften zurückzugreifen, scheitert an der Einschränkung, dass dort nur Passagiere der zweiten und dritten Klasse systematisch registriert wurden. 3.1. Statistischer Überblick 3.1.1. Die Entwicklung der Einwanderung bis 1930 Bevor die Massenauswanderung in die südamerikanischen Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte, spielte die deutsche Auswanderung nach Argentinien quantitativ keine Rolle. Auch wenn die statistischen Belege für die Auswanderung im 19. Jahrhundert nur eingeschränkt vertrauenswürdig sind kann man davon ausgehen, dass bis 1880 lediglich etwa 0,1 % bis 0,2 % aller deutschen Auswanderer nach Argentinien gelangten.82 Die wenigen Deutschen in Argentinien bildeten jedoch eine Gruppe mit der höchsten Alphabetisierungsrate. Außerdem war diese Gruppe eher männlich und stark religiös protestantisch eingestellt.83 Die erste systematische Einwanderung von Deutschen nach Argentinien fiel in die sogenannte vierte allgemeine Auswanderungswelle der Deutschen im 19. Jahrhundert, die im 80 Vgl. Devoto, Fernando, Historia de la inmigración en la Argentina, Buenos Aires 2004, S. 249f. Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 237f; Kellenbenz, Hermann u. Schneider, Jürgen, La emigración alemana a América Latina, 1821-1930, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, 13/1, 1976, S. 386–403, hier: S. 386. 82 Vgl. Kellenbenz u. Schneider, La emigración alemana, S. 388. 83 Vgl. Devoto, Historia de la inmigración, S. 218. 81 21 Jahre 1880 einsetzte und bis zum Jahr 1893 anhielt. Der größte Teil dieser Menschen verlies Deutschland in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika. Argentinien erreichten vergleichsweise wenige Deutsche. In den großen Auswandererjahren, den 1880ern, wanderten etwas mehr als zehntausend Deutsche nach Argentinien aus.84 Diese Zahl bezieht sich auf die sogenannte Nettoeinwanderung. Die Betrachtung von Einwanderersalden ist wichtig, weil Rückwanderungen aus Amerika nach Europa häufig auftraten. Der Hauptgrund für dieses Phänomen in Argentinien ist mit Saisonarbeitern zu erklären, die nur für eine gewisse Periode ins Land kamen, um wieder zurückzukehren, sobald sie genügend Geld verdient hatten. Zwischen 1870 und 1910 wanderten 44 % der nach Argentinien eingewanderten Deutschen wieder aus. Mit Ausnahme der Spanier lag die Gruppe der Deutschen deutlich unter den Rückwanderungszahlen anderer Nationen.85 Zwischen 1885 und 1904 rangierte der Anteil von Argentinien als Auswanderungsziel der Deutschen bei etwa 1,4 %.86 Trotz der vergleichsweise niedrigen Einwandererzahlen kann man im Falle der Deutschen von einem Massenphänomen sprechen, da die Auswanderung nach Argentinien systematisch geplant und organisiert verlief, sodass im Saldo mehrere tausend Personen jährlich einwanderten.87 Die Auswanderung der Deutschen nach Argentinien fiel zeitlich mit der großen Einwanderungswelle von Europäern in Argentinien zusammen, die seit den 1880er Jahren stattfand und langfristig bis 1929 anhielt.88 Der wichtigste Grund für den starken Anstieg der Einwanderung war die wirtschaftliche Prosperität des Landes und die einwandererfreundliche Politik zu dieser Zeit. So gab es in den 1880er Jahren staatliche Unterstützung wie die Übernahme der Überfahrtskosten der Immigranten und die kostenlose Unterbringung, Verpflegung und Transport zu Beginn des Aufenthaltes. In den 1890er Jahren kam es zu einem Abschwung der Nettoeinwanderung in Argentinien, jedoch lag der Saldo der deutschen Migranten mit über 4.800 Personen noch über dem Saldo der 1870er Jahre. Die 84 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Die deutsche Migration, S. 24f. Vgl. Balderas, J. Ulyses u. Greenwood, Michael J., From Europe to the Americas. A comparative panel-data analysis of migration to Argentina, Brazil, and the United States, 1870-1910, in: Journal of Population Economics, 23/4, 2010, S. 1301–1318, hier: S. 1303. Zum Vergleich lagen die Rückwanderungsquoten bei: Spaniern (39 %), Italienern (55 %), Briten (57 %), Portugiesen (64 %). 86 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 249. 87 Vgl. ebd., S. 246. 88 Vgl. Maurizio, Roxana, Migraciones internacionales en Argentina. Un análisis de sus determinantes y de su relación con el mercado de trabajo, in: http://www.mininterior.gov.ar/provincias/archivos_prv25/Migraciones_Argentina_Maurizio.pdf (abgerufen am 08.01.2019), S. 6. 85 22 Finanz- und Schuldenkrise in Argentinien im Jahre 1890 mit dem darauffolgenden wirtschaftlichen Abschwung ist hierbei der Hauptgrund für den Rückgang.89 Ab 1901 stiegen die Zahlen der deutschen Einwanderer wieder deutlich und hielten bis 1914 an, auch wenn die deutschen Einwanderersalden nicht wieder die Höhen aus den 1880ern erreichten. Der Überschusssaldo lag bei rund 8.300 Personen.90 Insbesondere in der Phase vor dem Ersten Weltkrieg herrschte in Argentinien ein freundliches Klima gegenüber Einwanderern aus Nordeuropa, ganz im Gegensatz zu Einwanderern aus Italien und Spanien, die den Großteil der Eingewanderten ausmachten. Die massenhafte Ankunft von Personen aus diesen beiden Ländern, zumeist mit niedriger oder minimaler schulischer Bildung, wurde von der argentinischen Öffentlichkeit sehr skeptisch beäugt. Weiteren Rückenwind bekamen die Gegner der Masseneinwanderung aus Spanien und Italien in Argentinien, als sozialistische und anarchistische Bewegungen aus der Einwandererszene die Arbeiterschaft in Argentinien erreichten und zu Streiks und Widerstand gegen die Arbeitsbedingungen aufriefen.91 Die Entwicklung der Einwanderung der Deutschen in Argentinien nimmt nach dem Ersten Weltkrieg einen neuen Verlauf. Nachdem während des Ersten Weltkrieges die Einwanderung aus allen europäischen Nationen nach Argentinien de facto zum Erliegen gekommen war, setzte die Masseneinwanderung nach Argentinien in der Zwischenkriegszeit wieder ein. In den ersten vier Jahren nach dem Krieg lag der Überschusssaldo bei jährlich rund 2.570 Personen, wobei das Jahr 1922 die meisten Nettoeinwanderer zählt.92 Die beiden folgenden Jahre markierten einen radikalen Umschwung in der deutschen Einwanderung nach Argentinien. In den Jahren 1923/24 erreichten über 26.400 Deutsche Argentinien und der mittlere jährliche Saldo betrug 8.331. Dieser sehr starke Anstieg der deutschen Einwanderer lässt sich primär mit der Verschärfung der ökonomischen und politischen Lage im Deutschen Reich erklären.93 Zugleich verschärften die USA in den Jahren 1921 und 1924 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 132; S. 252. Vgl. ebd., S. 252. 91 Vgl. Halperín, Ideología y política inmigratoria, S. 473; Devoto, Historia de la inmigración, S. 252. 92 Vgl. Kellerbenz u. Schneider, S. 391; S. 400. 93 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Die deutsche Migration, S. 25; 87. 89 90 23 ihre Einwanderungsquoten, was der signifikante Anstieg des Migrationssaldos in Argentinien widerspiegelt.94 Insgesamt gewann Argentinien als Ziel deutscher Auswanderer im 20. Jahrhundert an Bedeutung. So wanderten zwischen 1885 und 1904 etwa nur 1,4 % aller Auswanderer aus Deutschland nach Argentinien aus, zwischen 1905 und 1910 betrug dieser Anteil bereits 2,4 %. Nach dem Ersten Weltkrieg stieg Argentinien dann zu einem der wichtigeren Auswandererziele der Deutschen auf. Der Anteil variierte in den Nachkriegsjahren bis Anfang der 1930er Jahre zwischen 5,1 % und 13,9 %.95 Im Hinblick auf die Anteile der Deutschen an allen Einwanderergruppen nach Argentinien, nahm die quantitative Bedeutung der Deutschen im Verhältnis zu anderen Einwanderergruppen erheblich zu. Zwischen 1920 und 1930 belief sich der Anteil der deutschen Einwanderer auf durchschnittlich 6 %, ein Anteil, der deutlich größer war als vor dem Ersten Weltkrieg.96 Neben den Erstankömmlingen war die Zahl der gesamten deutschstämmigen Bevölkerung in Argentinien allerdings ungleich höher. Die gesamte deutschstämmige Bevölkerung in Argentinien umfasste neben den Erstankömmlingen auch die in Argentinien Geborenen mit deutschen Vorfahren. Eine absolute Zahl der deutschsprachigen Gemeinde in Argentinien ist jedoch schwierig zu bestimmen, da Neugeborene in der Regel die argentinische Nationalangehörigkeit erhielten und demnach de jure als Argentinier betrachtet wurden. Zumindest die drei Zensus geben einen annähernden Aufschluss über die Anzahl der Deutschen in Argentinien. So beziffert der Zensus von 1869 die Zahl auf 4 .89, der von 1895 auf 17.143 und 1914 werden 26.995 Deutsche gezählt.97 Die Betrachtung der Geschlechterverteilung macht deutlich, dass Männer einen viel größeren Anteil an den deutschen Einwanderern ausmachten als Frauen. Im Laufe der Zeit nahm der ursprünglich sehr hohe Männeranteil aber ab. Im Jahre 1869 waren 73 % der deutschen Einwanderer männlich und 1914 belief sich derselbe Anteil auf 64 %. Insbesondere in den Jahren mit den meisten Einwanderern dominierten die Männer mit zeitweise 80 %.98 Dieser 94 Vgl. Solimano, Andrés, Development cycles, political regimes and international migration. Argentina in the twentieth century, in: George Borjas u. Jeff Crisp (Hg.), Poverty, International Migration and Asylum, Hampshire/ New York 2005, S. 251–275, hier: S. 261. 95 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 249f. 96 Vgl. ebd., S. 250f. 97 Vgl. Bryce, German Buenos Aires, S. 16f; Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 279. 98 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 252, eigene Berechnung. 24 Trend setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg fort. Im Jahre 1923, dem stärksten Einwandererjahr der Deutschen, waren knapp 70 % der Einwanderer männlich und im Jahre 1930 waren es etwa 64 %.99 Es fällt statistisch auf, dass in den Jahren mit einer großen Zahl von Einwanderern der Anteil der Frauen deutlich niedriger war und in den Jahren mit weniger Einwanderern die Anteile der Frauen anstiegen. Auf der anderen Seite dokumentiert der Zensus der Stadt Buenos Aires von 1936, dass die männliche Dominanz deutscher Einwanderer mit über 56 % nur einschränkend zurückging. Dies ist nicht anders als bei anderen Einwanderergruppen in Argentinien. Auffällig ist dennoch, dass der Anteil männlicher deutscher Einwanderer in Argentinien mit 60 % signifikant höher war als bei anderen deutschen Auswanderern in andere Länder mit durchschnittlich knapp 55 %.100 Ein Erklärungsansatz dafür könnten die prekären Umstände vieler Auswanderer sein. Gerade in Jahren mit vielen deutschen Auswanderern, waren die Push-Faktoren aus Deutschland besonders relevant, sodass auch die Überfahrt nicht sofort für die ganze Familie bezahlt werden konnte und in Argentinien erst eine Beschäftigung gefunden werden musste. Dies betraf vor allem die Zeit am Anfang der 1920er Jahre, als in Deutschland Massenarbeitslosigkeit und Hyperinflation herrschten.101 Zugleich wanderten in diesen Jahren überdurchschnittlich viele unverheiratete junge Männer aus. Ein Auslandsratgeber empfahl insbesondere Unverheirateten, sich zunächst mit den Verhältnissen und der Sprache vertraut zu machen und eine Beschäftigung zu suchen. Ebenso wurde generell empfohlen, dass der Mann zunächst allein auswandert „und die Familie erst nachkommen lässt, wenn das Heim einigermaßen eingerichtet ist“.102 Der Familie blieben damit die ersten schweren Zeiten, in der der Mann noch mittellos war, erspart. Die räumliche Niederlassung der Deutschen in Argentinien konzentrierte sich, wie bei allen Einwanderern, in der Hauptstadt und größten Metropole des Landes, Buenos Aires. Laut des Zensus von 1869, 1895 und 1914 lebte mehr als ein Drittel aller Deutschen in der Hauptstadt und dieser Anteil steigt auf die Hälfte aller Deutschen wenn man die Provinz Buenos Aires hinzunimmt. Allerdings stieg der Anteil der Deutschen in den Provinzen von 4,4 % im Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 270. Vgl. ebd. 101 Zur Vertiefung von Push- und Pullfaktoren als Determinanten der Migration siehe Bodvarsson, Örn B. u. van den Berg, Hendrik, The Economics of Immigration. Theory and Policy, 2. Aufl., New York 2013, S. 5f; Cohn, Raymond L., Mass Migration under Sail. European Immigration to the Antebellum United States, Cambridge 2009, S. 70-76. 102 Vgl. Martin, Carl u. Hauthal, Rudolf, Die deutsche Auswanderung nach Argentinien, Berlin 1920, S. 43f. 99 100 25 Jahr 1869 auf 12,6 % im Jahr 1910. Der starke Anstieg war vor allem in Santa Fé, Entre Ríos und Córdoba zu verorten. Aber auch dort blieb die Mehrzahl der Deutschen eine urbane Gemeinschaft, da die Mehrheit in den Provinzhauptstädten lebte. Ab dem 20. Jahrhundert stieg zudem der Anteil an Siedlern in Agrarkolonien in der nordöstlichen Provinz Misiones und in den südlichen Siedlerprovinzen Río Negro, Chubut und Santa Cruz. 3.1.2. Die Motive der Einwanderung Es kann kein Zweifel an der vermeintlichen Attraktivität Argentiniens zu dieser Zeit als Einwanderungsland bestehen. Als Verfechter der nordeuropäischen Einwanderung schrieb bereits der spätere Präsident Domingo F. SARMIENTO, dass die Deutschen sich als Einwanderer in Argentinien eigneten. Der Mangel an Bevölkerung und Arbeitskräften, das Überangebot an agrarischen Lebensmitteln, die gute Bezahlung der Arbeitskräfte sowie die verfügbare Masse an Land böten den Deutschen hervorragende Aussichten auf Kolonisierung.103 Auf der statistischen Ebene stach Argentinien mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 6% des mit heutigen Maßstäben ermittelten Bruttoinlandsproduktes (BIP) heraus. Auch mit 3 % Wachstum des BIPs pro Kopf lag Argentinien weltweit auf den vorderen Plätzen. Mit Einsetzen des Wirtschaftswachstums in den 1880er Jahren, überstieg das BIP pro Kopf Argentiniens jene von Italien und Spanien und lag bis Mitte der 1920er Jahre etwa gleichauf mit dem von Frankreich.104 Gleichzeitig verzeichnete das Land einen hohen Zustrom an ausländischem Kapital. Das gleichzeitige Auftreten von verfügbarem Land, dem Mangel an Arbeitskräften und Unternehmern sowie der Dynamik der landwirtschaftlichen Produktion schufen Potentiale für wirtschaftliche Entwicklung und Prosperität.105 Die Gründe der Einwanderung sind dabei auf die verfügbaren Arbeitsmöglichkeiten zurückzuführen. Die Lohndifferentiale spielten eine fundamentale Rolle in der Entscheidung, nach Argentinien auszuwandern.106 Denn die Möglichkeiten, in Argentinien ‚gutes Geld‘ zu verdienen waren keine bloßen zeitgenössischen Vorstellungen, die durch effektvolle Propaganda in den Köpfen der Auswanderer bestanden. 103 Vgl. Sarmiento, Domingo Faustino, Emigración Alemana al Río de la Plata, Göttingen/ Santiago 1851, S. 2. Vgl. Maurizio, Migraciones internacionales, S. 9. 105 Vgl. Solimano, Development cycles, S. 252f; Devoto, Historia de la inmigración, S. 250. 106 Vgl. Maurizio, Migraciones internacionales, S. 30; Balderas u. Greenwood, Comparative panel-data análisis, S. 1310. 104 26 Wenn man die Lohndifferentiale zwischen Argentinien und Europa betrachtet, waren die durchschnittlichen Löhne in Argentinien zwischen 1870 und 1914 um das Eineinhalb- bis Dreifache höher als die Durchschnittslöhne in Italien, Spanien und Frankreich. Von saisonalen Schwankungen abgesehen, waren sie ungefähr mit dem Lohnniveau Großbritanniens vergleichbar.107 Tatsächlich sagen die Durchschnittslöhne wie auch das BIP in diesen statistischen Untersuchungen nichts über die Verteilung des Reichtums in Argentinien aus. Die Vermögensverteilung fiel sehr ungleich aus und darüber hinaus waren die Arbeitsbedingungen, aus dem Mangel an gewerkschaftlicher Organisation, lange Zeit ungünstiger als in den Industrieländern. Aus einem zeitgenössischen Brief eines deutschen Siedlers geht zudem hervor, dass die hohen Lebenshaltungskosten, aufgrund hoher Inflation und Importe, die höheren Löhne wieder ausglichen.108 Aus den wenigen vorhandenen zeitgenössischen Quellen aus dem 19. Jahrhundert über die Motive, warum deutsche Auswanderer nach Argentinien emigrierten, lassen sich dennoch ökonomische Gründe identifizieren. Einerseits gaben die schwierigen ökonomischen Situationen in Deutschland Anlass für die Auswanderung und andererseits eilte Argentinien sein Ruf als prosperierendes Land voraus, in dem Arbeit leicht zu finden sei.109 Argentinien gewann als Auswanderungsland am Anfang des 20. Jahrhunderts an Bedeutung in Deutschland, was an der systematischen Organisation der Einwanderung nach Argentinien lag. Die rechtlichen Rahmenbedingungen mit einem bundesstaatlichen Einwanderergesetz von 1876 wurden verbessert und staatlich beauftragte Agenten warben bei Einwanderervereinen und Agenturen für eine Emigration nach Argentinien.110 Die Agenten waren mit Werbemitteln und Publikationen ausgestattet, die sie zum Beispiel in Auswanderervereinen in Deutschland auslegten.111 Broschüren, auf denen den Auswanderern vielversprechende Aussichten präsentiert wurden, waren wichtige Instrumente zur Visualisierung und Verbreitung von Wissen. So stellte man in den Broschüren das Eigenheim mit Garten und Vieh für Siedler in Aussicht, das von der argentinischen Regierung an Neuankömmlinge vergeben würde.112 Nachdem die Vereine für Auswanderer in die USA ab 107 Vgl. Maurizio, Migraciones internacionales, S. 9. Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 155. 109 Vgl. ebd., S. 39f; 55f; 68. 110 Vgl. Maurizio, Migraciones internacionales, S. 10. 111 Vgl. Comisión de Inmigración (Hg.), Informe de la Comisión de Inmigración, Buenos Aires 1869, S. 16f. 112 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d‘émigration, S. 220. 108 27 Mitte des 19. Jahrhunderts eine geringere Rolle spielten, konnten sie für die Auswanderer nach Südamerika noch wichtige Anlaufstellen für Informationen, Vermittlungen und Reiseauskünfte sein.113 In erster Linie war es die Aufgabe der Agenten, Argentinien als Auswanderungsziel in Deutschland bekannt zu machen, um das Land insbesondere durch die Ansiedlung von Ackerbau- und Siedlungsbetrieben zu erschließen. So beschrieb der Agent Gustavo WALTHER in einem Bericht an die argentinische Einwanderungskommission von 1875, dass die Bauern in thüringischen Dörfern bei Jena zwar seit jeher auswanderungswillig waren, aber Argentinien als Land mit seinen Vorteilen für die Landwirtschaft bei den Menschen weitgehend unbekannt war.114 Die Einrichtung von regelmäßigen Schifffahrtslinien ab Bremen und Hamburg nach Buenos Aires sorgten für einen weiteren Bekanntheitsgrad von Argentinien. Die Institutionalisierung der Reiseverbindung nach Buenos Aires durch Hapag, Hamburg Süd, und der Norddeutschen Lloyd gab dem Wissen über Argentinien als Auswanderungsland einen neuen Schub.115 Trotzdem bleibt hier einschränkend zu sagen, dass die meisten deutschen Einwanderer wohl keine detaillierten Kenntnisse über Argentinien hatten. Erst im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs des Landes, gelangte eine größere Masse an deutschen Einwanderern der mittleren sozialen Schichten nach Argentinien. Zeitgleich integrierte sich Argentinien, welches sich lange Zeit in der wirtschaftlichen Peripherie befand, immer weiter in den Weltmarkt. Mit dem Zustrom an Einwanderern und Kapitalflüssen, kann eine Konvergenz der aggregierten Reallöhne und der wirtschaftlichen Wachstumsraten zu den hochindustrialisierten Ländern Europas zwischen 1870 bis 1910 beobachtet werden.116 Anders gesagt schloss Argentinien wirtschaftlich zu den europäischen Ländern auf, sodass die Lohndifferenzen allein nicht mehr als rationale Auswanderungsmotive zu erklären sind. Diese Überlegung adressiert auch die Befunde von Williamson und Taylor, die eine Konvergenz der Wirtschaftsleistung und der Löhne von der ‚Neuen Welt‘ zur ‚Alten Welt‘ 113 Vgl. Bretting, Agnes u. Bickelmann, Hartmut, Auswanderungsagenturen und Auswanderungsvereine im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 84f. 114 Vgl. Walther, Gustavo, Informe sobre la emigración de Alemania, in: Comisario General de Inmigración (Hg.), Informe Anual del Comisario General de Inmigración de la República Argentina. Año 1875, Buenos Aires 1875, S. 335–347, hier: S. 335. 115 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d‘émigration, S. 290. 116 Vgl. Taylor, Alan M. u. Williamson, Jeffrey G., Convergence in the Age of Mass Migration, in: European Review of Economic History, 1/1, 1997, S. 27–63, hier: S. 32. 28 feststellen, die mit der atlantischen Massenmigration zu erklären sei. So führte die Massenauswanderung nach Amerika zu einem Teilgleichgewicht von Arbeitsnachfrage und angebot. Die Lohndifferenzen zwischen Argentinien und Europa wurden kleiner und trotzdem stiegen die Migrationszahlen der Deutschen nach Argentinien. Die hohen Ziffern deutscher Immigranten nach dem Ersten Weltkrieg lässt die Konvergenzthese nicht schlüssig erscheinen. Die Ausgangslage für die Auswanderung aus Deutschland nach Argentinien hatte sich nach dem Krieg aus wirtschaftlichen Aspekten verschlechtert. Die schwache Mark, sowie die aus Friedensbedingungen resultierende fehlende deutsche Flotte machten die Überfahrt nach Argentinien kostspielig und allein mit Ersparnissen war das Leben in Argentinien schwer zu finanzieren. Der Auslandsratgeber, herausgeben vom Kulturpolitiker Hugo Grothe, der gleichzeitig Leiter des Instituts für Auslandskunde und Auslanddeutschtum war, stellte aus diesem Grund fest, dass „[w]er also nach Argentinien auswandert, wird dies weniger im Vertrauen auf seinen Geldbeutel tun dürfen, als im Vertrauen auf zwei kräftige Arme und einen hellen Kopf.“117 Wirtschaftliche Motive blieben dennoch weiterhin der wichtigste Antrieb für die Auswanderung nach Argentinien, auch für Deutsche. Die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland sowie die Hyperinflation und die akute Not sind in zeitgenössischen Berichten über die Auswanderungsmotive zu finden.118 Jedoch lässt sich aus der wirtschaftlichen Situation im Nachkriegsdeutschland argumentieren, dass die Motive der Deutschen zur Auswanderung mehr bei Push-Faktoren des Deutschen Reiches als bei Pull-Faktoren von Argentinien zu verorten sind, zumal die argentinische Wirtschaft am Anfang der zwanziger Jahre schwächelte. 3.2. Bilder und Perspektiven der deutschen Einwanderung in Argentinien 3.2.1. Das Bild Argentiniens unter Deutschen Inwieweit das Wissen über die Situation in Argentinien in Deutschland verbreitet war, kann über verschiedene Quellen erschlossen werden. Es gab im Deutschen Reich mehrere Informationsstellen, die über die Situation für Auswanderer in Argentinien berichteten. Vor 117 118 Zit. nach Martin u. Hauthal, Die deutsche Auswanderung, S. 3 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 209. 29 allem Einwanderervereine und Verbände, die sich aus unterschiedlichen Motiven für die Auswanderung der Deutschen nach Südamerika einsetzten und auf Auswanderung spezialisierte Zeitungen und Zeitschriften, stellten Beratungs-, Informations- und Vermittlungsdienste zur Verfügung.119 In der Makroperspektive kann man die Anzahl an deutschsprachigen zeitgenössischen Publikationen betrachten, die keine exakte Spiegel zeitgenössischer Wahrnehmungen sind, aber dennoch einen gesellschaftlichen Diskurs tangieren. Die Funktion Google Books Ngram Viewer bildet die relative Häufigkeit von bestimmten Wörtern oder Phrasen innerhalb des Korpus aller gelisteten Bücher in Google Books ab. In dem Diagramm über Publikationen mit dem Wort ‚Argentinien‘, erkennt man eine ansteigende Häufung des Begriffes ‚Argentinien‘ innerhalb des Korpus der deutschsprachigen Publikationen im Laufe von sechs Jahrzehnten. Im Vergleich zum Auftreten des Wortes ‚Brasilien‘, als größtes Land Südamerikas, stellt man eine Annäherung des Wortes ‚Argentinien‘ fest und ab 1915 kommen beide Wörter gleich häufig im digitalisierten Korpus von Google vor. Dieser kontinuierliche Anstieg spiegelt die wachsende Rolle des Wortes Argentinien in deutschsprachigen Publikationen wider. Nimmt man das Publikationsjahr als Ausgangszeitpunkt für die Verbreitung von Wissen, kommt Argentinien in deutschsprachigen Büchern ebenfalls eine über Jahrzehnte wachsende Bedeutung zu. Abbildung 1 Relative Häufigkeit des Auftretens der Wörter ‚Argentinien‘ (blauer Graph) und ‚Brasilien‘ (roter Graph) im Google-Books Korpus aller deutschsprachigen Publikationen zwischen 1850 und 1930. Quelle: Google Books (Hg.), Google Books Ngram Viewer. 119 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 145; 147. 30 Trotz der Anschaulichkeit und passendem historischen Kontext birgt der Google Ngram Viewer potenzielle Gefahren in der Interpretation. Erstens bleibt kritisch anzumerken, dass nicht alle zeitgenössischen Wahrnehmungen auch in Schriftform abgebildet werden. Zweitens verfügt die Grundgesamtheit der Daten auf denen Ngram beruht zwar über eines der weltweit größten Sammlungen von Büchern, dennoch kann es sein, dass gewisse Jahre oder Themenfelder über- oder unterrepräsentiert sind, da der Digitalisierungsprozess von Google noch nicht abgeschlossen ist. Dieser Punkt bleibt hier allerdings unberührt, da lediglich ein Trend über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten gezeigt wird. Der Befund der wachsenden Bedeutung Argentiniens im deutschsprachigen Raum findet sich auch in zeitgenössischen Wahrnehmungen über Argentinien wieder. Denn auch die Entwicklung der Anfragen nach Auskünften über Argentinien bei der Zentral-Auskunftsstelle für deutsche Auswanderer der Deutschen Kolonialgesellschaft zeigt rasant ansteigende Zahlen von 1906 bis 1913.120 Gestärkt durch die Auswandererlobby aus Reichsverbänden, Vereinen und Initiativen in Deutschland, geriet Argentinien vor allem als Siedlungs- und Kolonisationsland für Agrarkolonien zunehmend ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Maßgebend dafür war auch der in der breiten Öffentlichkeit bekannte Reichsverband Deutscher Auswanderer, der bis in die 1920er Jahre eine mächtige propagandistische Stellung in Deutschland einnahm. Die vom Verband herausgegebene Allgemeine Deutsche Auswanderer Zeitung stand unter der Leitung eines Deutschbrasilianers und wurde zum Sprachrohr aller auf die Förderung der Auswanderung nach Südamerika ausgerichteten Bestrebungen.121 Nach Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg erschien Argentinien an die Bedeutung, die es unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg innehatte, anzuknüpfen. Der Nationalökonom Otto KRAUSE schilderte im Jahre 1919, dass Argentinien, vor dem Hintergrund seiner Neutralität im Krieg, in dreierlei Hinsicht eines der wichtigsten Länder war. „Erstens als unser Versorger mit einer Reihe der notwendigsten Rohstoffe, zweitens als Absatzgebiet für unsere Industrieerzeugnisse und drittens als geeignetes Ziel für unsere Auswanderung.“122 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 156. Vgl. Bretting u. Bickelmann, Auswandereragenturen, S. 213. 122 Zit. nach Krause, Otto A., Argentiniens Wirtschaft während des Weltkrieges. Ihre Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft und Auswanderung, Berlin 1919, S. 125. 120 121 31 Elitegruppen versuchten das Bild Argentinien in Deutschland als Auswanderungsland aufzuwerten, was meist auch persönliche Interessen hatte, wie bei Alfred ARENT, deutscher Oberst im Heer und seit 1900 Leiter der Kriegsakademie in Buenos Aires123. In der dritten Auflage seiner Monografie über Argentinien schreibt er im Jahr 1913: „Noch vor 10 Jahren war wenig über Argentinien in Europa und Deutschland bekannt. Nun ist es auffallend, wieviel man sich, insbesondere in Deutschland, in den letzten Jahren mit Argentinien beschäftigt hat.“124 ARENT begründete das zunehmende Interesse mit der militärischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Argentinien sowie mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes. Argentinien entwickelte sich laut ihm bald zu einer Großmacht.125 Die Darstellung der Hauptstadt Buenos Aires als moderne und europäische Metropole passte exakt in diese Vorstellung einer fortschrittlichen Großmacht. „[…] so glaubt man sich durchaus nach Paris oder einer anderen der europäischen Hauptstädte zurück[zu]versetzen. […] Das Hauptverkehrsleben auf der Avenida de Mayo und der 9 de Julio erinnern an Piccadilly und Regent Street.“126 Auch die Schilderung des massiven Aufbaus der Infrastruktur in Buenos Aires durch Elektrifizierung sowie der Ausbau des Eisenbahnnetztes trugen zu diesem positiven Bild einer fortschrittlichen Nation bei.127 Zugleich wies der Autor auf die noch bestehenden Hürden im Land hin, die eine größere Zahl an deutschen Einwanderern abschrecken würde. So sei gerade das System der Landvergabe an Einwanderer nicht mit den Vorteilen in den USA zu vergleichen, da freie Flächen durch Auktionen vergeben würden und die starke Bodenspekulation einfache Siedler verdrängte.128 An anderer Stelle hingegen würden Angestellte und Handwerker, also Menschen der Mittelklasse, sogar dazu angeregt werden, ihre Ersparnisse in Immobilien und Boden gewinnbringend anzulegen.129 Außerdem warnte Arent 123 Die Escuela Superior de Guerra wurde 1900 im Rahmen der deutsch-argentinischen Militärbeziehungen als Beratungs- und Ausbildungsstätte des argentinischen Militärs gegründet und von deutschen Militärangehörigen geleitet. Vgl. Gliech, Oliver, Die deutsch-argentinischen Militärbeziehungen (1900-1945), in: Peter Birle (Hg.), Die Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien, Frankfurt am Main u.a. 2010, S. 75–95, hier: S. 81. 124 Zit. nach Arent, Alfred, Argentinien ein Land der Zukunft, 3. Aufl., München 1913, S. 81. 125 Vgl. ebd. 126 Zit. nach ebd., S. 65-68. 127 Zit. nach ebd., S. 123f. 128 Vgl. ebd., S. 81. 129 Vgl. Backhaus, Alexander, Welche Aussichten bieten sich den Deutschen in Südamerika?, Berlin 1911, S. 4. 32 vor dem häufigen Auftreten von Heuschreckenplagen in den Pampas, die eine existentielle Bedrohung für den Ackerbau darstellten.130 Doch in den untersuchten Schriften steht diesen negativen Aspekten eine große Zahl von positiven Argumenten gegenüber, die für eine Migration von Deutschland nach Argentinien sprachen. So wurde das Land für seinen Reichtum an natürlichen Ressourcen gepriesen und die schier unbegrenzte Masse an verfügbaren Ackerbauland ließe Raum für Erschließung.131 Die fast schwärmerische Beschreibung der erfolgreichen Entwicklung Argentiniens seit dem späten 19. Jahrhundert bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges ist ein Beleg für den beeindruckten Erzähler von Argentinien. Es fehlte zudem nicht an Vergleichen mit der historischen Entwicklung der USA und der Prognose, Argentinien würde den gleichen Weg nehmen. Zu diesem Selbstverständnis der Autoren über Argentinien hat auch die Inszenierung der Jahrhundertfeier zur Unabhängigkeit Argentiniens im Jahre 1910 beigetragen, in der sich die Hauptstadt Buenos Aires als fortschrittliche und selbstbewusste Nation feierte. Die Feier wurde international beachtet und wurde als Zeugnis für die positive Entwicklung des Landes gewertet.132 Es ist weiterhin auffällig, wie eng das Schwärmen von Argentinien mit der Hervorhebung der Fähigkeiten und Leistungen der Deutschen zusammenhängt. Besonders hervorstechend ist die Betonung der Rolle der deutschen Einwanderer für die Wirtschaft Argentiniens. Es fehlte nicht an Anekdoten, in denen von erfolgreichen deutschen Unternehmern in die Rede ist. So befand sich im Jahr 1913 in der Zuckerindustrie als wichtiger Industriezweig eine große Raffinerie in der Stadt Rosario unter deutscher Leitung. Auch die deutschen Mühlen in der Hafenanlage von Puerto Madero dienten dem Fortschritt, da nun auch Mehl anstatt nur unverarbeiteter Weizen exportiert werde. Schließlich sei das bekannte Gewerbe der Deutschen, das Brauereiwesen, eine prosperierende Branche mit großer Nachfrage.133 Es liegen zwar keine Quellen zur Widerlegung von ARENTS Beobachtungen vor, dennoch fallen seine Analysen recht optimistisch aus. Denn unter den zwölf Bierhandlungen, die in den Mitteilungen des Deutsch-Argentinischen Centralvereins in Buenos Aires 130 Vgl. Arent, Argentinien, S. 190. Vgl. ebd., S. 183-185; S. 198. 132 Vgl. Schuster, Adolf N., Argentinien. Land, Volk, Wirtschaftsleben und Kolonisation, Bd. 1, Diessen vor München 1913, S. 92. 133 Vgl. Arent, Argentinien, S. 200-203. 131 33 1912 aufgeführt sind, waren nur vier von Deutschen geführt.134 ARENT führt weiter aus, dass sich die Ackerbaukolonien Germania und Alemania in blühendem Zustand befänden.135 Der Banco Alemán Transatlántico genieße zudem den allerbesten Ruf.136 Dass hinter all dem Lob auch Eigeninteressen durch Netzwerkarbeit steckten, wird beim Aufruf des Vereins zum Schutze germanischer Einwanderer deutlich. Dieser rät allen Neueingewanderten, das „mitgebrachte Kapital dringendst einstweilen der Deutschen Ueberseeischen Bank anzuvertrauen“.137 Die positive Schilderung der Deutschen fällt mit einem abwertenden Motiv der Unfähigkeit der anderen Einwanderergruppen oder Argentiniern zusammen. Teilweise sind diese Ausführungen nicht weit vom Rassismus zu verorten, der auch von argentinischer Seite betrieben wurde. Spanische und italienische Einwanderer als „geringwertige Volkselemente“ zu bezeichnen gehört ebenso dazu, wie die erwünschte Einwanderung von „germanischen Elementen aus Gründen der allgemeinen Volksbildung und des Intellekts“.138 Diese Sichtweise war allerdings nicht nur auf deutsche Beobachter beschränkt. Auch in Argentinien herrschte ein wachsender Rassismus, der sich vor allem gegen die spanischen und italienischen Einwanderer richtete. Zugleich entstand eine Sehnsucht nach deutschen und anderen nordeuropäischen Einwanderern, denen ein „aufrichtiges, arbeitsames und friedliches“ Gemüt nachgesagt wurde.139 Quellen geben an, dass Deutsche im Gegensatz zu Spaniern und Italienern überwiegend Kaufleute, Architekten, Techniker oder Gewerbetreibende waren und in größtenteils wohlhabenden Verhältnissen lebten.140 Es ist schwierig, diese Aussagen exakt zu überprüfen, da die Kennzeichnung der Berufsgruppe der Immigranten nicht für alle Zeiträume verfügbar ist und auch nur die Berufe von Passagiere der zweiten und dritten Klasse dokumentiert wurden.141 Die zeitgenössischen Beobachter hatten jedenfalls die Gruppe der deutschen Elite vor Augen. Mit der Gründung des Deutschen Klubs wurde diese soziale Gruppe aus mehrheitlich wohlhabenden Männern aus dem Handels- und 134 Vgl. Niederlein, Gustav, Das argentinische und fremde Geschäftsleben in Buenos Aires in seinen Beziehungen zum deutschen Export, in: Mitteilungen des Deutsch-Argentinischen Centralverbandes, 1/2, 1912, S. 41– 55, hier: S. 46. 135 Vgl. Arent, Argentinien, S. 56. 136 Vgl. ebd., S. 84. 137 Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 166. 138 Vgl. Martin u. Hauthal, Die deutsche Auswanderung, S. 5f. 139 Zit. nach Sarmiento, Emigración Alemana, S. 5. 140 Vgl. Arent, Argentinien, S. 56; Keiper, Wilhelm, Deutsche Kulturaufgaben in Argentinien. Vortrag, gehalten am 30. Januar 1914 im Preußischen Abgeordnetenhause, Berlin 1914, S. 10. 141 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 263. 34 Industriegewerbe gesellschaftlich sichtbar und anerkannt, da sie enge Netzwerke zur argentinischen elitären Bevölkerung pflegte. 3.2.2. Die deutschen Auswanderer in ihrer ökonomischen Funktion Die Auswanderung der Deutschen ist in der zeitgenössischen Literatur ebenso verbunden mit dem Auftrag an die Auswanderer, Kulturarbeit für Deutschland in Argentinien zu leisten. In Ratgebern für Auswanderer werden Deutsche aufgefordert, nach Südamerika auszuwandern und das Ansehen der Deutschen im Ausland zu steigern. Wie bei Alexander BACKHAUS zu lesen ist, war das Ziel, Argentinien als Absatzmarkt zu sichern. „Die Erweiterung und Sicherung des Absatzmarktes in Südamerika ist für Deutschland nur dadurch möglich, dass die Deutschen dort größeren Einfluss gewinnen und sich selbst energisch an der wirtschaftlichen [Er]schließung der dortigen Länder beteiligen. Jeder Landsmann, der sich dort vorübergehend oder dauernd niederlässt und als Landwirt oder als Industrieller, Beamter oder Arbeiter, fleißig und sachverständig mitwirkt die großen Naturschätze auszubeuten, ist ein wirkungsvollerer Propagandist für deutsche Erzeugnisse, […] umso mehr, als er selbst neue Absatzmöglichkeiten schafft […].“142 Die Auswanderung erscheint demnach als eine nationale Pflicht für Deutsche. Der Konsum deutscher Produkte von Deutschen im Ausland gehörte zu diesen Aufgaben genauso, wie das Bekanntmachen deutscher Produkte bei anderen Bevölkerungsgruppen im Ausland.143 Die Ausbreitung des ‚Deutschtums‘ sei erforderlich, um den deutschen Export zu fördern. In diesem Kontext entstand eine Vielzahl von Lobby- und Interessenverbänden, die der Förderung der Wirtschaftsbeziehungen dienten.144 Illustrativ für diese historische Entwicklung stehen Werbeanzeigen deutscher Unternehmen und Geschäfte in Argentinien, die an eine transnationale deutsche Identität appellierten. Die Anzeigen, die in den Bundeskalendern in den 1920er Jahren zu finden sind, welche vom Deutschen Volksbund für Argentinien herausgegeben wurden, richteten sich an potenziell deutsche oder deutschstämmige Kunden. Der allergrößte Teil der Werbeanzeigen in den Bundeskalendern oder anderen Magazinen, wie Auslandsführern, war in deutscher Sprache verfasst. Es wurden Produkte und Marken 142 Zit. nach Backhaus, Welche Aussichten, S. 3. Vgl. ebd., S. 4; Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 15. 144 Etwa der Deutsch-Argentinische Zentralverband zur Förderung wirtschaftlicher Interessen oder die Deutsch-Südamerikanische Gesellschaft, vgl. Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 18. 143 35 großer deutscher Unternehmen beworben, die häufig in Argentinien in Vertretergeschäften mit deutschen Eigentümern erworben werden konnten, wie etwa BMW Motorräder, Stocker Schreibmaschinen oder Senking Haushaltsherde. Andere Großkonzerne wie Continental, Siemens und die AEG führten eigene argentinische Niederlassungen, die in den Anzeigen genannt wurden. Ebenso finden sich argentinische Unternehmen mit deutschstämmigen Inhabern, die auf Deutsch für ihre Produkte werben, wie Staudt & Cía., die Maschinen und Geräte für den landwirtschaftlichen Betrieb vertrieben. Neben Werbung für Waren des Endverbrauchs, ist auch Werbung für Industriegüter zu finden, zum Beispiel Erzeugnisse der Schwachstrom-Technik, Wassermesser und Produkte der Elektrochemie von Siemens & Halske sowie Eisen- und Stahlprodukte von Thyssen-Lametal oder der Firma Mannesmann. Wenige Unternehmen verzichteten darauf, auf eine transnationale deutsche Identität hinzuweisen, obwohl die Inhaber deutscher Abstammung waren. Dies war der Fall bei der Biermarke der gleichnamigen Brauerei Quilmes, eine vom deutschen Einwanderer Otto Bemberg 1888 gegründete Brauerei, die im schlichten Layout und auf Spanisch im Bundeskalender wirbt.145 Diese sehr heterogene Auswahl an Unternehmen zeigt, dass die Nähe zu Deutschen im Ausland für den Absatz gesucht wurde oder aber zumindest Präsenz als deutsches Unternehmen gezeigt wurde. Mit dem Aufruf: „Landleute, kauft in deutschen und deutschfreundlichen Geschäften!“ über jeder Anzeigeseite wurde eine klare Botschaft übermittelt, die an die transnationale Pflicht der Erhaltung und Förderung deutscher Interessen appellierte.146 Der Aufruf, in deutschen oder deutschfreundlichen Geschäften zu kaufen, stand ganz im Zeichen der Zwischenkriegszeit, nachdem deutsche Produkte und Geschäfte im Ersten Weltkrieg weitestgehend boykottiert wurden. Doch unabhängig von der Kriegserfahrung war der Konsum deutscher Produkte ein spezifischer Ausdruck einer transnationalen Identität, die im Zeitalter des Imperialismus von politischer und wirtschaftlicher Seite propagiert wurde. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg lag die Forderung seitens der Industrie zum Konsum deutscher Produkte im Ausland vor. Die nationale Aufgabe, das Deutschtum ins Ausland zu tragen, stand in einer Zeit eines politischen und wirtschaftlichen Imperialismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Wie der Wettstreit über die auswärtige Kulturarbeit zwischen den Nationen, 145 Vgl. Deutscher Volksbund für Argentinien (Hg.), Bundeskalender 1929, Buenos Aires 1929, S. 168-206; Lohausen, Karl, Führer durch Buenos Aires, 3. Aufl., Buenos Aires 1924, S. 58; 62; 70; 72. Ein Abdruck der Werbeanzeigen befindet sich im Anhang. 146 Zit. nach Deutscher Volksbund für Argentinien, Bundeskalender 1929, S. 169. 36 standen auch die Exportmärkte unter starkem Wettbewerbsdruck. In Argentinien befand Deutschland sich laut Wilhelm KEIPER, Vorsitzender des Deutschen Wissenschaftlichen Vereins, im Wettbewerb mit Frankreich und Nordamerika, wohingegen die Kulturen der größten Einwanderergruppen, Spanier und Italiener, keine Konkurrenz darstellten.147 Die geopolitische Machtverteilung wurde hier also auf die wirtschafts- und kulturpolitischen Machtstrukturen übertragen. Dem Auswanderer wurde damit eine wichtige Rolle zugetragen, da er im Ausland „[…] dem Vaterlande einen größeren Dienst [erweist], als er dies zu Hause tun könnte, wo Ersatzmänner genügend vorhanden sind.“148 Die wirtschaftlichen Aktivitäten von Deutschen waren im argentinischen Stadtbild deutlich sichtbar. Obwohl die Gruppe der Deutschen zahlenmäßig zu jedem Zeitpunkt relativ gering ausfiel, waren deutsche Geschäfte und Unternehmen in Lateinamerika sehr stark vertreten. Britische und amerikanische Wirtschaftsagenten, welche die Deutschen als ökonomische Konkurrenten sahen, erkannten die Fähigkeit der Deutschen, auf lokale Bedürfnisse schnell und effektiv zu reagieren. Dies schafften sie dadurch, dass sie, anders als Amerikaner und viele Briten, häufig als junge Männer ins Land einwandern und sich dauerhaft niederließen.149 Da sie tendenziell eine bessere Schul- und Berufsbildung hatten als die Mehrheit der anderen Einwanderer, konnten sie sich als Handwerker oder Einzelhändler niederlassen und einen kompetitiven Vorteil ausspielen. Die ethnische Gruppe, aus der sie stammten, war deutlich größer als die der Briten und Amerikaner, sodass die ethnische Enklave ein lohnender Absatzmarkt war. Gleichzeitig gab der Mangel an Handwerkern und die Nachfrage nach Konsumprodukten Möglichkeiten zur professionellen Berufsausübung in der Selbstständigkeit.150 Die Unternehmungen der Deutschen beschränkten sich nicht nur auf die Bedienung der eigenen ethnischen Gruppe. Deutsche Selbstständige hatten auch Kunden über die deutsche Enklave hinaus. Hierbei konnten sie ihren Vorteil des guten Rufs deutscher Qualitätsarbeit ausnutzen, der in der argentinischen Gesellschaft bekannt war.151 Die Beherrschung 147 Vgl. Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 15. Zit. nach Backhaus, Welche Aussichten, S. 7. 149 Vgl. Penny, Material Connections, S. 524. 150 Als Vorsitzender des Deutsch-Argentinischen Vereins berichtete José Greger über den chronischen Mangel an Schmieden, Schlosser, Mechanikern, Maschinisten, Monteuren und Ingenieuren sowie noch anderen Berufsgruppen. Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 154. 151 Vgl. Penny, Material Connections, S. 519. 148 37 der spanischen Sprache war hier von Vorteil. Im Informationsbericht des staatlichen Einwanderungskommissars Argentiniens von 1875 wurde die gute Schul- und Berufsausbildung, die zivilisierten Moralvorstellungen und der fortschrittliche Geist als Vorzüge der Deutschen angeführt, die Argentinien bereicherten.152 Die Betonung des ‚Deutschseins‘ in der Öffentlichkeit kann demnach als Strategie bewertet werden, um einerseits die ethnische Gruppe der Deutschen an das Geschäft zu binden und um andererseits durch die Betonung positiv deutscher Konnotationen, Qualitätssignale an argentinische Kunden zu senden. 3.3. Die deutsche Einwanderergemeinde in Argentinien Die deutsche Einwanderergemeinde grenzte sich in gleich mehrfacher Hinsicht stark von anderen Einwanderergemeinden ab, insbesondere zu der spanisch- und italienischstämmigen Mehrheit in Argentinien. Erstens blieben die Deutschen trotz stetig wachsender Zahlen ständig eine kleinere Minderheit. Das galt sowohl für die Ersteinwanderer als auch für deren Nachkommen, die als Deutsch-Argentinier ebenfalls eine kleinere Gruppe bildeten. Zweitens grenzte sich die Gruppe kulturell von der Mehrheitsgesellschaft sowie von anderen Immigrantengruppen ab. Sprachlich bestand bei Deutschen eine große Distanz zur spanischsprechenden Bevölkerung. Italiener wiederum fanden aufgrund der romanischen Sprach- und Kulturfamilie einen engeren Bezug zu Argentiniern und sie konnten durch ihre Anzahl selbst prägende kulturelle Akzente setzen. Drittens fand durch religiöse Zugehörigkeit eine Abgrenzung statt. Die Mehrheit der deutschen Einwanderer entstammte der protestantischen Glaubensgemeinschaft, die in der katholisch geprägten Bevölkerung in der Minderheit war. Viertens lassen Merkmale der Niederlassungs- und Siedlungsstruktur der deutschen Einwanderer einen Schwerpunkt in urbanen Gebieten erkennen. Zwar gab es deutsch geprägte Ackerbaukolonien, im Vergleich zu den schweizerischen und deutsch-jüdischen Kolonien waren diese aber weniger bedeutend, sodass Deutsche mehrheitlich Städter waren. 152 Vgl. Navarro, Samuel, Emigración, in: Comisario General de Inmigración (Hg.), Informe Anual del Comisario General de Inmigración de la República Argentina. Año 1875, Buenos Aires 1875, S. 41–65, hier: S. 47. 38 3.3.1. Formierung einer Gemeinschaft Als eine wichtige Konsequenz aus diesen Strukturen könnte eine starke Kohäsion innerhalb der deutschsprachigen Gemeinde abgeleitet werden. In den zeitgenössischen Berichten wird den deutschen Einwanderern ein sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl zugeschrieben, dass aufgrund der Minderheit ihrer Gruppe in Argentinien erst recht zur Blüte käme. So beobachtete Wilhelm KEIPER, dass die Deutschen „[…] sich immer mehr als eine Volkseinheit im fremden Lande [fühlen]. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wuchs ihr Wohlstand, ihr Gemeinschaftsgefühl, ihre Bedeutung und die Achtung, die sie in Argentinien genossen.“153 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, bedingt durch immer mehr deutsche Einwanderer, ein organisiertes Gemeindeleben. Vor allem im Laufe der 1850er Jahre gründeten sich Vereine, die zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der deutschen Einwanderer wurden. Die Gründung der Evangelischen Kirche zu Buenos Aires 1843 mit einer angrenzenden Schule war ein Meilenstein in der Formierung einer protestantischen Gemeinde. Ein Wendepunkt in der Geschichte der Deutschen in Argentinien bedeutete das Jahr der Deutschen Reichsgründung 1871. Der in Deutschland beginnende wirtschaftliche Aufschwung belebte den Handel und Auslandsinvestitionen in Argentinien, sodass der argentinische Markt mehr ins Zentrum von deutschen Unternehmen rückte. Die stärkere Bindung Argentiniens an den deutschen Exportmarkt versetzte auch die deutsche Einwanderergemeinde ins Zentrum der Aufmerksamkeit der deutschen Industrie. Die meisten Niederlassungen deutscher Häuser schickten Führungspersonal aus Deutschland nach Argentinien, während für mittlere und untergeordnete Angestellte vor allem deutschstämmige Argentinier eingestellt wurden.154 Die Reichsgründung bewirkte auch eine neue Dynamik in der Finanzierung von gesellschaftlichen Einrichtungen. Erstmalig bekam beispielsweise das Deutsche Hospital in Buenos Aires neben privaten Spenden auch staatliche Zuschüsse aus Deutschland. Das deutsche Krankenhaus war auf Initiative von deutschen Wohlhabenden, Geistlichen und Konsuls mit dem Ziel gegründet worden, allen Deutschsprachigen eine allgemeine Krankenversorgung 153 154 Zit. nach Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 10. Vgl. Lütge, Wilhelm u.a., Deutsche in Argentinien. 1520-1980, Buenos Aires 1980, S. 192. 39 zu ermöglichen, nach dem Vorbild der englischen, französischen und italienischen Krankenhäuser.155 Ein Neubau des Krankenhauses konnte nun mit den staatlichen Zuschüssen an einem neuen Standort in Buenos Aires im Jahre 1878 errichtet werden.156 Ein eigenes Krankenhaus diente auch als Beleg für eine neue deutsche Stärke und Präsenz im Ausland und stand ganz im Zeichen eines neuen imperialistischen Machtbewusstseins Deutschlands.157 Auch für die deutschen Einwanderer war es ein Zeichen für Anerkennung und Geltung über ein eigenes Krankenhaus zu verfügen, wie der Bericht aus dem Deutsch-Argentinischen Kalender zeigt.158 Die deutschsprachige Presse erfuhr ab Ende der 1870er Jahre einen Aufschwung, indem gleich zwei Journalisten es schafften, zwei auflagenstarke deutschsprachige Blätter zu etablieren. Die von Hermann Tjarks aus Hannover gegründete Deutsche La Plata Post fungierte als nationaldeutsches Presseorgan, wohingegen das Zeitungsunternehmen des Schweizers Johann Alemann mit dem Argentinischen Tageblatt sich den Interessen der deutschen Kolonisten verpflichtete und zugleich eine liberale Stimme war.159 Für die deutschsprachigen Migranten stellten diese Blätter, neben anderen kleineren, wichtige Dienstleistungen zur Verfügung. Durch Anzeigen und Werbung senkten sie erhebliche Transaktionskosten in der Informationsbeschaffung für Deutschsprachige.160 Die deutsche Reichsgründung war insgesamt ein wichtiger Ausgangspunkt für eine stärkere Bindung der Deutschen im Ausland ans Deutsche Reich. Das Bestehen transnationaler Netzwerke erlaubte mehr denn je einen Transfer von Konsum- und Kulturgütern, welche wichtige Faktoren in der Entstehung einer hybriden Identität als Deutsche in Argentinien waren.161 Zur Zelebrierung einer transnationalen Identität zählten die Vereine hinzu, die gerade in der Zeit der Masseneinwanderung in Argentinien essentielle Institutionen zur Identitäts- und Kulturbildung waren.162 In den Jahren mit den meisten deutschen Neueingewanderten, den 1880er und 1920er Jahren, kam es zu einem starken Anstieg in der 155 Die Initiative kam hier mehrheitlich von der von Männern dominierten deutschen Oberschicht, allerdings spielten Frauen eine wichtige Rolle im Fundraising von Spendengeldern. Vgl. Bryce, To Belong in Buenos Aires, S. 37. 156 Vgl. Lütge u.a., Deutsche in Argentinien, S. 156f. 157 Vgl. Penny, Material Connections, S. 521. 158 Vgl. Nolte, Ernst, Deutsch-Argentinischer Kalender auf das Jahr 1878, Buenos Aires o. J., S. 70. 159 Vgl. Lütge u.a., Deutsche in Argentinien, S. 189. 160 Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 40. 161 Vgl. Penny, Material Connections, S. 521. 162 Vgl. Kramer, Einwanderervereine, S.33f. 40 Partizipation in den Vereinen.163 Für andere zeitgenössische Beobachter sind die zahlreichen Vereine ein Beleg für die Zersplitterung der deutschen Gemeinde im Ausland. Die fehlende Vernetzung unter den Vereinen sei ein Mangel an Organisationskraft der Deutschen, welche aus dem „Particularismus der Deutschen im politischen Flickenteppich“ resultiere, der auch nach der Reichsgründung nicht überwunden wurde.164 Im Adressbuch der Briefsammlung von José GREGER von 1904 sind in Buenos Aires dreiundvierzig deutschsprachige Vereine gelistet, dazu noch drei deutsche Logenvereinigungen.165 Diese Zahl stieg im Jahr 1925 auf etwa sechzig Vereine und 1931 auf siebenundachtzig an.166 Darunter bildeten Sport- und Gesangsvereine die Mehrheit, des Weiteren gab es religiöse und gemeinnützige sowie Schul- bzw. Lehrervereine. Für Neueinwanderer gründeten sich spezielle Vereine, die Auskunfts- und Vermittlungsstellen innehatten. So gab es den Deutschen Hilfsverein und den Verein zum Schutze Germanischer Einwanderer, die sich in enger Nachbarschaft des Deutschen Generalkonsulats in der Nähe des Hafens befanden.167 Darüber hinaus schlossen sich Berufstätige zu Vereinen zusammen, wie der Deutsche Techniker-Verein, die Genossenschaft des Buchgewerbes, der Verein für HandlungsKommis und der Verein Deutscher Ingenieure. Der 1904 gegründete Deutsche Wissenschaftliche Verein veranstaltete Vorträge und gab eine Zeitschrift heraus, in der in Argentinien tätige Deutsche, allen voran der Ethnologe Robert Lehmann-Nitsche, wissenschaftliche Aufsätze publizierten.168 Der Wissenschaftliche Verein entwickelte sich bis 1914 immer mehr zum Vorposten auslandsdeutscher Kulturpolitik und galt als elitäre Vereinigung. Mit der Gründung des Instituts zur Förderung der Deutschen Kultur mit dem Vorsitz von Hilmar Freiherr von dem Bussche-Haddenhausen, Gesandter in Argentinien bis 1914, und der Finanzierung durch deutsche Bankiers, bekam der Verein eine politisch-repräsentative Note. Der Verein wurde zur Sammelstelle für sämtliche Argentinien betreffende wissenschaftliche Forschungen. Er bot ebenso deutsche Sprachausbildungen für Ingenieure, Mediziner, Offiziere, Kaufleute und Schüler an. Vorträge und Vortragsreihen über die deutsche Kultur wurden auf Spanisch 163 Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 33. Zit. nach Nolte, Deutsch-Argentinischer Kalender, S. 64. 165 Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 166. 166 Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 34. 167 Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 19; 166. 168 Vgl. Lütge u.a., Deutsche in Argentinien, S. 239. 164 41 abgehalten.169 Der Verein bekam durch sein politisches und wirtschaftliches Netzwerk seiner Mitglieder eine wichtige Funktion zur Vermittlung auswärtiger deutscher Kultur-, Außen- und Wirtschaftspolitik. Er versuchte als integrative Organisation engere Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien herzustellen, wobei die Deutsch-Argentinier hierbei als essentielle Bindungskraft fungierten. Das Vereinsleben war ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der Deutschsprachigen in Buenos Aires. Laut der Schätzung von BINDERNAGEL, erreichten die Vereine und Klubs etwa ein Drittel der deutschsprachigen Einwohner in Buenos Aires. Durch personelle und institutionelle Verflechtung ermöglichten sie eine Sphäre gemeinsamer Öffentlichkeit und Kommunikation.170 Ein Beispiel dafür ist die gemeinsame Ausrichtung von Festen wie etwa die Feierlichkeiten zur ‚Jahrhundertfeier zur Deutschen Erhebung 1813‘ in Buenos Aires oder auch die Geburtstagsfeier und Thronjubiläum Kaiser Wilhelms.171 Am Anfang des 20. Jahrhunderts war die Begehung des Herrschergeburtstags als Nationalfeiertag durchaus üblich und unter Reichsdeutschen war der Herrscherkult um Wilhelm II. umso größer, je problematischer die gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme waren.172 Diese Feiern waren typischerweise Ereignisse der Mittelschicht, zu denen häufig Festschriften oder Erinnerungsfotos angefertigt wurden. Die Bindung zum Heimatland suggerierte die Illusion eines geordneten Ständestaats, der auf die Situation in Argentinien übertragen wurde.173 Andere Feierlichkeiten hatten einen starken politischen-repräsentativen Charakter wie etwa die Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag von Reichspräsident Hindenburg im Oktober 1927 belegen. Diese wurde im großen Opernhaus Teatro Colón vom Deutschen Volksbund für Argentinien ausgerichtet und unter den Gästen fanden sich der argentinische Staatspräsident Alvear, Vertreter der argentinischen Regierung sowie deutsche Vertreter aus Diplomatie und Militär.174 169 Vgl. Keiper, Deutsche Kulturaufgaben, S. 24. Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 34. 171 Vgl. o.V., Programm der Festlichkeiten zur Erinnerung an die Deutsche Erhebung 1813. Veranstaltet von den Deutschen Vereinen in Buenos Aires, Buenos Aires 1913, S. 3. 172 Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 63. 173 Vgl. ebd., S. 32; Bryce, Pluralist Society, S. 9. Bryce zeigt wie traditionell paternalistisch das Verhältnis der Oberschicht und des Rests der Gemeinschaft war. Vertreter der deutschen Oberschicht standen meist an der Spitze von Institutionen wie Krankenhäusern oder Schulvereinigungen und waren deren selbsternannte Führer, die ihre Vorstellungen und Ideen von einer ethnischen Gemeinschaft durchsetzten. 174 Vgl. Deutscher Volksbund für Argentinien (Hg.), Bundeskalender 1928, Buenos Aires 1928, S. 33. 170 42 3.3.2. Gesellschaftliches Engagement und soziale Institutionen Als eine der wichtigen bindenden und integrativen Institutionen für die deutschen Einwanderer kann die Deutsche Evangelische Gemeinde zu Buenos Aires bezeichnet werden. Vor ihrer Gründung 1843 unterstützte der Evangelische Ausschuss für deutsche Protestanten in Nordamerika das Bestreben einer Gemeinde in Buenos Aires, um das wachsende Bedürfnis nach einer protestantischen Kirche mit Gottesdiensten in deutscher Sprache zu bedienen. Unmittelbar damit verbunden war die Einrichtung von deutschen Schulen in Argentinien, die zunächst unter Obhut der Kirche standen. Die wachsende Zahl von deutschen Protestanten in Argentinien auch außerhalb von Buenos Aires in den Folgejahrzehnten rief schließlich eine synodale Arbeit der Kirche hervor. Die sich selbst als ‚Diasporagemeinde‘ bezeichnende Evangelische Kirche zu Buenos Aires gab ab 1895 das Evangelische Gemeindeblatt für die Deutschredenden am La Plata heraus, welches ein Gefühl der Einheit unter den deutschsprachigen Protestanten stärken sollte. Im Jahre 1900 wurde die La Plata Synode gegründet, nachdem sich bereits alle evangelischen Gemeinden in Argentinien der preußischen Landeskirche angeschlossen hatten.175 Der Zusammenschluss der Gemeinden hatte eine engere Bindung der Kirche nach Deutschland zur Folge. Dies führte auch zu einer größeren Aufmerksamkeit der Auslandskirche in Deutschland. Der Aufbau und die Unterstützung der La Plata Synode war nicht nur für Kirchenleute ein wichtiges Projekt, sondern entwickelte sich immer mehr zu einer gesellschaftlichen Aufgabe der Deutschen in Argentinien. Pastor Bußmann konnte prominente Unterstützer für die evangelische Kirchengemeinde gewinnen. Bußmann, seit 1894 im Amt als kirchlicher Pfarrer in Buenos Aires, hatte sich bereits mit der Gründung des Deutschen Frauenheims und des Deutschen Seemannsheims in der Wohltätigkeitsarbeit einen Namen gemacht und war auch bei der Vereinigung der evangelischen Gemeinde eine treibende Kraft gewesen.176 Ihm gelang es, einen Arbeitsausschuss einzurichten, der Gelder aus Deutschland und Argentinien mobilisierte, um die Gemeindearbeit besser zu finanzieren. Gustav Lahusen, Vorstandsmitglied im Familienunternehmen Nordwolle aus Delmenhorst, das aus Argentinien Wolle importierte, gründete in Bremen den Evangelischen Verein für die La Plata Staaten in Deutschland und rief in vierhundert deutschen Zeitungen zur Unterstützung auf. Ein 175 Vgl. Schmidt, Hermann, Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde Buenos Aires. 1843-1943, Buenos Aires 1943, S. 20. 176 Vgl. ebd., S. 185f. 43 weiteres Familienmitglied der Lahusens, Heinrich, war Vorsitzender des Presbyteriums in Buenos Aires. Ebenfalls war Hermann Tjarks, Gründer des Zeitungsunternehmens Deutsche La Plata Post, Mitglied des Vertrauensmänner-Collegium der evangelischen Gemeinde.177 Aus dem Jahresbericht der Deutschen Evangelischen Kirche zu Buenos Aires aus dem Jahre 1898 geht hervor, dass sich die Kirche mit den angeschlossenen Schulen selbst als gesellschaftlicher Mittelpunkt des deutschen Lebens in Argentinien sah und als solcher wahrgenommen werden wollte. Die Kirche inszenierte sich als Verteidigerin des Deutschtums in Argentinien und warnte zugleich vor einer Spaltung der deutschen Gemeinde, was eine Schwächung des Deutschtums zur Folge hätte.178 Die Evangelische Kirche stand wie kaum eine andere Institution für die deutsche Kulturarbeit im Ausland. Die Firmen der deutschen Einwanderer in Argentinien unterstützten die Gemeinde, so etwa die Firma Eyhorn & Müller, welche einen Blumenschmuck für den Trauergottesdienst zu Ehren von Otto von Bismarck am 4. August 1898 spendete.179 Wichtiger für die Gemeinde waren die Einnahmen aus regelmäßigen Spenden und Mitgliederbeiträgen, an denen sich ansässige Firmen beteiligten. Unter den Geldgebern für die Kirche und Schule finden sich nahezu alle prominenten Vertreter deutscher Herkunft in Argentinien sowie eine Vielzahl an Firmen mit deutschem Namen. Im Jahresbericht von 1898 finden sich als Privatspender für die Schule oder Kirche Adolf Bullrich,180 Gustav Frederking,181, Jacobo Peuser,182 die Familie Tjarks, Robert Lehmann-Nitsche und Hilmar Freiherr von dem Bussche-Haddenhausen. Als Beispiele von großen Firmenspenden können Otto Bemberg, Bunge & Born, Bankhaus Fuhrmann, Lahusen, Staudt, Tornquist und Weil Hermanos genannt werden. Außerdem traten noch als multinationale Konzerne die Deutsche Bank und die Dampfschifffahrtsgesellschaften Hansa und Norddeutscher Lloyd als Spender an die Evangelische Gemeinde auf.183 Die multinationalen Konzerne sind nicht nur in Gesellschaftsform in den Beitragslisten zu finden, auch die ersten vier Direktoren der Deutschen Ueberseeischen Bank, Georg Eduard Maschwitz, Gustav Frederking, August Schulze 177 Vgl. Schmidt, Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde, S. 206. Vgl. Deutsche Evangelische Gemeinde zu Buenos Aires (Hg.), Jahres-Bericht der Deutschen Evangelischen Gemeinde zu Buenos Aires. 1898, Buenos Aires 1899, S. 10. 179 Vgl. ebd., S. 14. 180 Besitzer eines Auktionshauses, Bankdirektor, Bürgermeister von Buenos Aires von 1898 bis 1902, außerdem Mitbegründer des Deutschen Turnvereins. 181 Privatbankier und Direktor der Deutschen Ueberseeischen Bank. 182 Verleger des gleichnamigen Verlages in Buenos Aires. 183 Vgl. Deutsche Evangelische Gemeinde, Jahres-Bericht, S. 27-35. 178 44 und Carl Lingenfelder, trugen mit größeren Privatspenden zur Förderung von Schulen und Kirchen bei.184 Auch außerhalb der evangelischen Kirche wird deutlich, wie eng deutschstämmige Unternehmer mit der Gemeinde verbunden waren und sich für diese engagierten. Rudolf Lustig war von 1923 bis 1935 Generalvertreter der zum Gutehoffnungshütte-Konzern gehörenden Firma Ferrostaal für Südamerika. Er war maßgeblich beteiligt an der Vorbereitung des deutsch-argentinischen Handelsvertrages, der 1934 unterzeichnet wurde. Im Jahre 1935 gründete er die South American Mining Company in Buenos Aires, eine Zweigstelle des Hochschildt-Konzerns. Lustig unterstütze die deutsche Pestalozzi-Schule in Buenos Aires und wurde im Jahre 1933 Mitbegründer des Hilfsvereins Deutschsprechender Juden. Ab 1937 war er auch als Präsident der jüdischen Kulturgemeinschaft tätig.185 Als Präsident und finanzstärkster Unterstützer des Hilfsvereins betätigte sich der aus Mannheim stammende Bankier Adolfo Hirsch und durch den Kauf großer Ländereien in der Provinz Río Negro versuchte er, geflüchteten deutschsprechenden Juden aus Europa eine neue Existenz zu geben.186 Neben den Institutionen mit religiösen Trägern bildeten auch andere Organisationen Orte für gesellschaftliches Engagement für deutschstämmige Unternehmer. Der seit 1882 bestehende Verein zum Schutz Germanischer Einwanderer wurde von hochangesehenen Persönlichkeiten wie Francisco Seeber,187 Jacobo Peuser und Moritz Alemann und Hermann Tjarks gegründet. Diese Organisation hatte das vorrangige Ziel, deutschsprechende Arbeiter in Arbeit zu bringen, vorrangig in die Betriebe von Deutschen. Der Verein wurde als eine Art ‚Jobbörse‘ gesehen, der auch die Ausgaben anderer ethnischer Wohlfahrtseinrichtungen entlasten sollte. Die vermittelten Jobzahlen belegen, dass das Programm effektiv war und insbesondere in der Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg die meisten Arbeiter vermittelte. Dies lässt sich mit der starken Ausgrenzung von deutschen Arbeitern 184 Vgl. Deutsche Evangelische Gemeinde, Jahres-Bericht, S. 29; 31; 33. Vgl. Scholl, Lars U., "Lustig, Rudolf", in: Neue Deutsche Biographie, 15, 1987, S. 537f. 186 Vgl. Newton, Ronald, Indifferent Sanctuary. German-Speaking Refugees and Exiles in Argentina, 19331945, in: Journal of Interamerican Studies and World Affairs, 24/4, 1982, S. 395–420, hier: S. 405; Avni, Ḥayim, Argentina & the Jews. A history of Jewish immigration, Tuscaloosa 1991, S. 137. 187 Bürgermeister von Buenos Aires von 1889 bis 1890. 185 45 einerseits, und dem Boykott deutscher Firmen andererseits während des Ersten Weltkrieges erklären.188 Inwiefern das Engagement und das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der deutschen Einwanderergemeinde wirklich so stark ausgeprägt war, wie es die zahlreichen Vereine und die Deutsche Evangelische Gemeinde als Förderin einer deutschen Diasporakultur zunächst nahelegen, bleibt kritisch zu hinterfragen. Während retrospektiv Institutionen die Zusammengehörigkeit verkörpern, zeigen zeitgenössische Berichte, dass die Realität oftmals anders aussah. Leopold SCHNABL, ein österreichisch-stämmiger Augenarzt, gibt in seinem Buch über Argentinien Aufschluss über die Kehrseite der Medaille. Er prangert den im Charakter der Deutschen auftretenden ‚Kastengeist‘ an, der die alte Krankheit des deutschen Geistes sei.189 Dass sich die sozialen Gegensätze und Hierarchien der Industrialisierung in Deutschland auf das gesellschaftliche Klima in der deutschen Einwanderergemeinde in Übersee übertrugen, ist kaum verwunderlich. Die wohltätigen Vereine und Initiativen, die von Wohlhabenden gegründet und gefördert wurden, waren Teil einer wichtigen Inszenierung der Oberklasse zur Außendarstellung in Deutschland und Argentinien.190 So lässt sich die Spendenbereitschaft und das Ehrenamt bei den Vertretern der Oberschicht als gesellschaftliche Pflicht ableiten. Wohlhabende deutsche Bürgerinnen und Bürger in Buenos Aires engagierten sich in einer Vielzahl von sozialen Wohlfahrtsprogrammen, die auf ethnische Zugehörigkeit der deutschen Immigranten ausgelegt waren und zugleich fehlende staatliche Einrichtungen substituierten. Arme, Kranke, alleinstehende Frauen, Waisenkinder und Matrosen erhielten wohltätige Unterstützungen, nicht selten auch als Resultat von öffentlichkeitswirksamen Spendenaufrufen einzelner Wohlhabender. So wie im Frühjahr 1905, als auf Initiative von über fünfzig wohlhabenden deutschstämmigen Männern das Deutsche Frauenhaus in Buenos Aires eine beträchtliche finanzielle Summe an Spenden erhielt, in dem ausschließlich Frauen die Leitung hatten.191 Tatsächlich lässt sich die Spendenbereitschaft deutscher Unternehmer und Privatpersonen aus gesellschaftlichen Pflichtmotiven erklären. Aber auch der Zeitgeist, den deutschen 188 Vgl. Bryce, Pluralist Society, S. 26ff. Vgl. Schnabl, Leopold, Buenos Aires. Land und Leute am silbernen Strome mit besonderer Rücksicht auf Europäische Einwanderung, Handel und Verkehr, Stuttgart 1890, S. 158. 190 Vgl. Bryce, Pluralist Society Aires, S. 29. 191 Vgl. ebd., S. 21; 39. 189 46 Imperialismus auch auf der kulturellen Ebene zu verteidigen, trug zu diesem Selbstverständnis der Spendenbereitschaft bei. Wohlhabende deutschsprechende Männer und Frauen in Buenos Aires beschrieben diese Wohlfahrtsinstitutionen als Eckpfeiler ihrer Gemeinschaft. Sie sahen sich, fern ab vom staatlichen Schutz des Reiches, als die selbsternannten Schutzpatrone einer Diaspora.192 Gleiches galt für die deutschen Schulen in Argentinien. Als Kultureinrichtung zur Sicherung des Deutschtums war die deutsche Schule als Förderin und Bewahrerin des deutschen Kultur- und Bildungsschatzes für die Auswanderer in Übersee.193 Die deutschen Schulen waren jedoch, im Gegensatz zu anderen ethnischen Institutionen, keine ethnisch homogenen Orte. Auch hatten die Schulen keine staatliche Bindung zum Reich, sondern waren bis zum Ersten Weltkrieg Ergebnisse von Elternzusammenschlüssen auf Basis lokaler Bedürfnisse.194 Einen Aufwind bekamen sie erst in den 1920er Jahren, als sie erstmals von der deutschen Regierung finanziell und personell unterstützt wurden. Nach den Jahren der Hyperinflation flossen sogar Subventionen aus dem Reich nach Argentinien, um die deutschen Schulen zu unterstützen. Sie galten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg als wichtige Werbeträger auswärtiger Kulturpolitik und sollten den Ruf Deutschlands in Argentinien wiederherstellen. Durch Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse, den Erhalt kultureller Identität, der Pflege von nationaler Identifikation mit Deutschland sowie durch Werbung dienten sie zu nichts anderem als der langfristigen Sicherung deutscher Wirtschaftsinteressen in Argentinien.195 3.3.3. Externe Krisen und die Ängste vor Identitätsverlust Die weiterführende Kritik an spezifisch deutschen kulturellen Praktiken betrifft deren Bindung und Identifikation als generationsübergreifendes Phänomen. Über die Möglichkeit einer generationenübergreifenden ‚Erhaltung des Deutschtums‘ in Argentinien gab es kritische Stimmen, die den vielen euphorischen, argentinophilen Vertretern entgegentraten. So beklagt BACKHAUS im Auslandsratgeber für Argentinien, dass 192 Vgl. Bryce, Pluralist Society Aires, S. 21f. Vgl. Gabert, Reinhold, Das deutsche Bildungswesen in Argentinien und seine Organisation, Berlin 1908, S. 13; Bryce, Pluralist Society, S. 92f. 194 Vgl. Bindernagel, Deutschsprachige Migranten, S. 38. 195 Vgl. ebd., S. 38f. 193 47 „[deutsche Landsleute] schon in der zweiten Generation dem Aussaugungsprozess durch das argentinische Volkstum wenig Widerstand mehr entgegensetzen. Das liegt daran, dass es uns nicht gelungen war, in Argentinien in ähnlicher Weise wie in Brasilien und in Chile Großsiedlungen zu schaffen. […] Hinzukommt, dass die Bemühungen der argentinischen Regierung begreiflicherweise in umfassendem Maße darauf gerichtet sind, die alljährlich am La Plata zusammenströmenden Hunderttausende, den verschiedensten Völkern entstammenden Menschen zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen.“196 Die Erhaltung des sogenannten ‚Deutschtums‘ in der zweiten Generation der Einwanderer empfand man als außerordentlich schwierige Aufgabe. Dies lag an der inklusiven Integrationspolitik der argentinischen Regierung, die das Ziel hatte, einen starken Patriotismus unter den Einwanderern zu verbreiten. Dies war eine berechtigte Annahme, denn bereits 1881 galt in der argentinischen Einwanderungsbehörde die Devise, dass man ein Übergewicht von Einwanderern eines Landes oder Herkunft vermeiden wollte, um eine argentinische Identität nicht zu unterminieren.197 Reinhold GABERT, seit 1901 Rektor an der Deutschen Schule in Rosario, argumentierte, dass es zwar viele Einrichtungen kultureller und sozialer Art gäbe, die für die Erhaltung des Deutschtums in Argentinien einträten, aber in erster Linie der ersten Generation dienten. Er hatte die deutschsprachige Presse, die La Plata Synode, die Hilfsvereine, die deutschen Hospitäler in Buenos Aires und Rosario sowie Vereine und Klubs vor Augen.198 Insbesondere die Schule und das Hospital waren allerdings infrastrukturelle Einrichtungen, die nicht nur Deutschen zugutekamen. Beide waren auch für nicht-deutschsprachige Menschen offen und waren als öffentliche Güter notwendige Substitute für nicht oder nur unzureichend vorhandene staatliche Einrichtungen. Möglicherweise hatten die Probleme der Bindung der zweiten Generation an die deutsche Identität auch selbst verschuldete Ursachen. Dem Bemühen der argentinischen Regierung, ein möglichst homogenes Nationalvolk aus vielen verschiedenen Einwanderernationen zu formen, stand die zunehmend nationalistische Gesinnung der deutschen Öffentlichkeit vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber, die sich auf die Stimmungslage der Deutschen in Argentinien übertrug. So fanden auch in den deutschen Vereinen der deutsche Nationalismus und die transnationale Bindung an das Deutsche Kaiserreich immer mehr Einklang, sodass sich österreichische und schweizerdeutsche Einwanderer abspalteten und ihrerseits eigene 196 Zit. nach Martin u. Hauthal, Die deutsche Auswanderung, S. 25f. Vgl. Navarro, Emigración, S. 47. 198 Vgl. Gabert, Das deutsche Bildungswesen, S. 13. 197 48 Vereine und Klubs gründeten. Die Zeiten der 1870er, als alle Deutschsprachigen unter einem Dach eines Klubs oder Vereins saßen, waren vorbei.199 Man hatte es also mit einer zunehmenden Fragmentierung des gesellschaftlichen Lebens unter den Deutschsprachigen zu tun, die zusätzlich durch das kontinuierliche Wachstum der Stadt Buenos Aires und auch der Einwanderergemeinde in ihrer zentripetalen Wirkung verstärkt wurde. Die Fähigkeiten der Institutionen als bindende und integrative Kraft zu wirken, schwanden zunehmend. Den Zeitgenossen war dies durchaus bewusst, wie aus dem Jahresbericht der Evangelischen Kirche hervorgeht. „Es wird stets schwerer bei der außerordentlich wachsenden Ausdehnung der Stadt [Buenos Aires] und der immer größeren Dezentralisierung der Gemeinde, dass die Einzelnen aufgesucht und erreicht werden, um so bei allen die Gemeinschaft des Glaubens zu kräftigen […]. Umso dringender richten wir die Bitte an alle Glieder der Gemeinde, dass sie sich treu zu Gottes Wort und Sakrament halten und die gute Sitte unseres Vaterlandes und die feste Ordnung der Kirche für sich und die ihrigen nach Kräften befolgen.“200 Die Bedenken aus der Evangelischen Kirche adressierten eine allgemeine Entwicklung unter den deutschen Einwanderern, sich mehr von der exklusiven Bindung an transnationale deutsche Institutionen zu lösen. Um diese These auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen, kann die gesprochene Sprache als ein wichtiger Indikator zum Assimilierungsprozess dienen. In der ersten Einwanderergeneration dominierte Deutsch als gesprochene Sprache im sozialen Umfeld. In der zweiten und dritten Generation änderte sich dieses Bild jedoch. Zwar blieb Deutsch weiterhin die dominante Sprache innerhalb der Familie, jedoch tendierten die Nachfolgegenerationen, insbesondere durch den Kontakt in Schulen und Arbeit zu anderen Gruppen, zum Bilinguismus.201 In Briefen von neueingewanderten Deutschen findet sich immer wieder die Wahrnehmung, dass das Erlernen von Spanisch eine schier überlebenswichtige Aufgabe für Auswanderer sei, um beruflich erfolgreich zu sein.202 Die reellen Erfahrungen der Eingewanderten bezüglich des Deutschtums waren deutlich anders, als die der in Deutschland 199 Vgl. Lütge u.a., Deutsche in Argentinien, S. 239. Zit. nach Deutsche Evangelische Gemeinde, Jahres-Bericht, S. 13. 201 Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 300ff. 202 Vgl. Greger, 100 Briefe, S. 16; 44. 200 49 ansässigen Kommentatoren. Den Vertretern der Sorgen um die Erhaltung des Deutschtums brachte der in der Provinz Chubut niedergelassene Farmer Karl Barth entgegen: „Man spricht so viel von Erhaltung des Deutschtums im Auslande, man empfindet es schmerzlich, dass der Deutsche so häufig als Kulturdünger für fremde Länder dient. Aber, was heißt denn Erhaltung des Deutschtums […]? […] Besteht sie nicht vielmehr darin, dass man sich in der neuen Heimat der Mutter Germania bewusst bleibt, sich dankbar alles dessen erinnert, was man von drüben […] übernommen hat? Dass man sich bemüht, dem Deutschtum Ehre zu machen durch Tüchtigkeit, Arbeitsamkeit, geistige Regsamkeit, musterhaftes Familienleben, Fortkultivierung auch im jungen Lande aller der guten Eigenschaften, die als spezifisch deutsche überall gepriesen werden?“203 Interessant ist hierbei, dass die Erhaltung des Deutschtums mit Charaktereigenschaften gleichgesetzt werden und daraus eine Rechtfertigung für die Beibehaltung einer transnationalen Identität gelingt. Die spezifisch reellen Erfahrungen waren viel praxisorientierter als es in Deutschland gesehen wurde. Ungeachtet kultureller Normen und Empfehlungen aus Deutschland, wussten die Einwanderer in Argentinien wie sie mit praktischen Mitteln beruflich erfolgreich wurden. Auch bei einem zweiten Indikator scheint die Bindungskraft von transnationalen Institutionen im Laufe der Zeit nachzulassen. Betrachtet man die Partnerwahl der deutschen Einwanderinnen und Einwanderer, fällt ein signifikanter Unterschied zwischen den Generationen auf. Aus den Zensusdaten geht hervor, dass im Jahre 1887 noch 77 % der deutschen Frauen einen deutschen Mann heirateten, im Zeitraum zwischen 1900 und 1909 waren es nur noch 62 %. Intraethnische Heiraten waren dabei bei Frauen deutlich häufiger als bei Männern, die in den gleichen Zeiträumen zu 60 % (1887) bzw. 50 % (1900-’09) eine deutsche Frau heirateten. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg waren intraethnische Heiraten nochmal deutlich erhöht und beliefen sich auf über 80 % in den 1920er Jahren.204 Dies lässt sich mit der starken Ausgrenzung der Deutschen aus dem öffentlichen Leben während des Ersten Weltkrieges erklären. In den Statistiken sind jedoch lediglich die deutschen Staatsangehörigen als Deutsche aufgelistet, sodass sie keine Auskunft über generationenübergreifende Kontinuitäten oder Brüche im Hinblick auf das Heiratsverhalten geben. 203 204 Zit. nach Greger, 100 Briefe, S. 24. Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 309f. 50 Die Zeit des Ersten Weltkrieges markierte aber nicht nur bei der Partnerwahl eine starke Zäsur. Obwohl Argentinien offiziell die Neutralität hielt, zeigte die Bevölkerung aufgrund der mehrheitlich italienischstämmigen und frankophilen Öffentlichkeit Sympathien für die Entente, wohingegen die Mittelmächte und damit auch die Deutschen zunehmend in die Defensive gerieten. Im uneingeschränkten U-Bootkrieg wurden auch zwei Schiffe unter argentinischer Flagge versenkt, sodass die feindselige Stimmung zum Ende des Krieges nochmal zunahm und deutsche Geschäfte und Pressehäuser Ziel von Vandalismus wurden. Bei deutschen und österreichischen Beschäftigten in französischen oder englischen Unternehmen wurde der Krieg als Anlass zur Entlassung genommen und gegen deutsche Geschäfte wurde über eine ‚Schwarze Liste‘ von 1916 bis 1919 zum Boykott aufgerufen.205 Die massiven Anfeindungen, denen die Deutschen während des Ersten Weltkrieges in Argentinien ausgesetzt waren, führten zu einer stärkeren Kohäsion der deutschen Gruppe und zu einer überwiegend pro-kaiserlichen Haltung. Dieser neue Patriotismus und die Not einzelner Deutscher durch Boykotte und Anfeindungen führten zur Gründung des Deutschen Volksbundes für Argentinien, der sich als eine Art Dachverband für alle in Argentinien tätigen deutschen Organisationen sah. Die vormals durchaus gespaltene deutsche Einwanderergemeinde brachte der Krieg zusammen.206 Um sich gegen die ökonomischen Folgen durch den Krieg zu schützen, gründeten Vertreter von einundzwanzig deutschen Unternehmen in Argentinien im Jahr 1916 die Deutsche Handelskammer. Zum Ende des Jahrzehnts hatte sie rund 120 Mitglieder, informierte und beriet Unternehmen und fungierte als Vermittlerin zu argentinischen Behörden.207 4. Deutsche als Unternehmer – Zwei Case Studies Wie entwickelten sich die wirtschaftlichen Unternehmungen der deutschen Einwanderer konkret im historischen Kontext? Neben den zahlreichen multinationalen Unternehmen, wie der Deutschen Bank, AEG, Philipp Holzmann und Thyssen, die Tochterunternehmen gründeten, gab es auch von Einwanderern selbst gegründete Unternehmen. Die Untersuchung der Multinationalen tangiert zwar auch die Einwanderergemeinde, da diese als Vgl. Saint Sauveur-Henn, Un siècle d’émigration, S. 526f. Vgl. ebd., S. 325. 207 Vgl. ebd., S. 531. 205 206 51 Zielgruppe gesehen wurde.208 Dennoch muss ihre Entwicklungsgeschichte als globalgeschichtlich betrachtet werden, da die Entscheidungsträger vor allem in Deutschland saßen und ist daher in dieser Arbeit kein Untersuchungsgegenstand. Die biografische Betrachtung individueller Migrantenunternehmer erlaubt hingegen, Rückschlüsse auf transnationales Unternehmertum zu ziehen. Deutsche Immigranten hatten eine Sonderstellung in Argentinien, weil sie bessere Zugänge zu Ressourcen hatten, indem sie die kulturelle Nähe zu anderen Deutschen nutzen konnten und zu Deutschland Verbindungen aufrechterhielten. Die Immigration führt aufgrund dieser Fähigkeit zur Ressourcenmobilisierung und auch zum Transfer von Wissen, Fähigkeiten und Technologien. Durch die folgenden Case Studies werden zwei Familienunternehmer untersucht, um die Verflechtung von Einwanderung der Deutschen mit der Entstehung von Unternehmen in Argentinien zu ergründen. 4.1. Hermann Weil 4.1.1. Die Anfänge in Argentinien Hermann Weil, geboren 1868 in Steinsfurt (Baden), wuchs in einer kinderreichen Familie auf, die in einfachen Verhältnissen lebte. Der Vater hatte einen kleinen Getreidehandelsbetrieb im Eigenheim, zu dem auch Stallungen und ein Garten zur Selbstversorgung gehörten. Die Familie lässt sich zum damaligen sogenannten Kleinbürgertum zählen. Ab 1883 begann Hermann eine Ausbildung im Getreide- Abbildung 2 großhandel in Mannheim. Der Erfolg seiner Tätigkeit blieb ihm nicht lange verwehrt. Hermann übernahm zügig leitende Positionen bei seiner Ausbildungsfirma Isidor Weismann & Co. und unternahm geschäftliche Auslandsreisen in europäische Städte mit großen Getreidemärkten. Mit nur 18 Jahren wurde Hermann 1886 zum Prokuristen ernannt und wurde nach zwei Jahren von der Firma Mosce Z. Danon in Antwerpen abgeworben. Dort wurde er nach einem halben Jahr von der Firma nach Buenos Aires geschickt, um eine Filiale für 208 Danon zu eröffnen, welche er zur Hermann Weil mit seiner Familie, Aufnahme von 1904. Quelle: Appenzeller, Hermann Weil, S. 21. Vgl. Pohl, Manfred, Deutsche Bank Buenos Aires. 1887-1987, Mainz 1987, S. 28. 52 profitabelsten Filiale des Antwerpener Unternehmens machte. Kurze Zeit später ging Danon nach einer gescheiterten Spekulation im Termingeschäft pleite, sodass Hermann zunächst arbeitslos wurde. Er wanderte daraufhin zunächst in die USA aus, wo sich seit 1872 zwei ältere Brüder aus der Familie Weil aufhielten und einen General Store in Alabama betrieben. In den USA konnte er beruflich keine feste Stellung erreichen, weswegen er sich im Jahre 1888 zu einer Emigration nach Argentinien entschloss, wo er durch seine Tätigkeit bei Danon bereits Geschäftskontakte hielt.209 Hermanns Brüder Sam und Ferdinand folgten ihm aus Alabama nach Buenos Aires, wo sie 1898 die Getreidehandelsfirma Weil Hermanos & Cía. gründeten. Mit dem Zusatz Getreideexportfirma (Sociedad Anónima de exportaciones de cereales) hatte sie ihren Sitz im Geschäftszentrum von Buenos Aires.210 Mit 50 % behielt Hermann den größten Anteil, die Brüder erhielten je 20 % und ein weiterer Geschäftspartner aus Deutschland bekam 10 %.211 Die Firma exportierte Weizen, Leinsaat und Mais aus Argentinien. In persönlicher Beziehung hielt Hermann die Verbindung zu seinem alten Arbeitgeber, Isidor Weismann, aufrecht. Im Jahre 1898 heiratete er Isidor Weismanns Tochter Rosa und bekam im selben Jahr in Buenos Aires sein erstes Kind, Felix, und 1901 wurde Hertha Anita Alice in Frankfurt geboren. Sein Ehrgeiz und die kaufmännischen Fähigkeiten, die er bei Danon unter Beweis gestellt hatte, katapultierten ihn nicht nur beruflich in kürzester Zeit in neue Höhen, sondern erlaubten ihm auch einen sozialen Aufstieg in die Kreise der Großkaufleute.212 4.1.2. Wirtschaftlicher Kontext, 1860-1900 Argentiniens Wirtschaftsstruktur war im späten 19. Jahrhundert stark geprägt vom primären Sektor. Das bewirtschaftete Territorium des Landes wurde nach Ende des Bürgerkrieges graduell erweitert und die frontera, äquivalent zur nordamerikanischen frontier, kontinuierlich nach Osten und Süden verschoben was nach der Vertreibung und Vernichtung von indianischen Stämmen möglich wurde. Es lässt sich ein enormer Anstieg der 209 Vgl. Appenzeller, Hans, Dr. h. c. Hermann Weil. Leben und Wirken, 1868-1927, Steinsfurt 2012, S. 16. Vgl. Sociedad Rural Argentina (Hg.), La Rural. Guía General de Estancieros de la República Confeccionada para los Miembros de las Sociedades Rurales Argentinas, Buenos Aires 1912, S. 448. 211 Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 32. 212 Vgl. ebd.; Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus, S. 14. 210 53 bewirtschafteten Fläche bis 1910 feststellen und ein weiterer Anstieg, aber mit langsameren Wachstumsraten, bis 1930. Die Anbaufläche betrug im Jahre 1930 mehr als das Elffache als 1887. Insbesondere in den Jahren starker wirtschaftlicher Expansion, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert, wuchs die Anbaufläche sehr stark an. Einen Vorteil konnte Argentinien in der Größe der zusammenhängenden Flächen ausspielen. Trotz des Prinzips der Realerbteilung, die eine Aufspaltung des landwirtschaftlichen Besitzes nach dem Tod des Besitzers zur Folge hatte, waren die räumlichen Dimensionen deutlich größer als in Europa. Zugleich war, aufgrund der guten klimatischen Verhältnisse und der Fruchtbarkeit der Böden, der Flächenertrag höher.213 Weizen war im betrachteten Zeitraum durchgängig das wichtigste Anbauprodukt und wurde insbesondere in den Provinzen Buenos Aires, Santa Fé, Córdoba, Pampa Central und Entre Ríos kultiviert.214 Die höchsten Steigerungsraten der Anbaufläche von Weizen sind zwischen 1887 und 1910 zu verzeichnen. Ähnlich verhielt es sich auch bei Mais und Leinsaat. Der Export von Weizen und Weizenmehl war ebenfalls ein stetig wachsender Sektor, der insbesondere von 1887 bis 1900 einen rasanten Aufstieg verzeichnete und maßgeblicher Treiber für die Überwindung der wirtschaftlichen Krisenjahre in den 1890ern war.215 Tabelle 1: Jährliche Anbauflächen und Exportmengen von landwirtschaftlichen Gütern in Argentinien Anbauflächen: Insgesamt Davon Weizen Davon Mais Davon Leinsaat Exporte: Weizen und Weizenmehl Mais Leinsaat Wertanteil von Getreide an Gesamtausfuhr Einheit 1887 1900 1910 1920 1930 1000 ha 1000 ha 1000 ha 1000 ha 2 459 815 (33%) 802 (33%) 121 (5%) 7 311 3 380 (46%) 1 255 (17%) 607 (8%) 20 367 6 253 (31%) 3 215 (16%) 1 504 (7%) 23 284 6 077 (26%) 3 274 (14%) 1 930 (8%) 27 219 8 613 (32%) 5 575 (20%) 3 040 (11%) 1000 t 243 1 981 1 999 5 187 2 317 1000 t 1000 t % 362 81 25 713 223 47 2 660 605 47 4 475 1 063 62 4 670 1 170 48 Quelle: Eigene Darstellung. Die Zahlen beruhen auf amtlichen Statistiken, entnommen aus: Deutsche Ueberseeische Bank (Hg.), Deutsche Ueberseeische Bank. Aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens der Deutschen Überseeischen Bank ihren Mitarbeitern und Freunden gewidmet, Berlin 1936, S. 138f. 213 Vgl. Arent, Argentinien, S. 409. Vgl. Stichel, Bernhard, Argentinien, Hamburg 1919, S. 54. 215 Vgl. Cortés Conde, La Economía de Exportación, S. 48. 214 54 Die Arbeiter- und Sozialintellektuellenaufstände rund um die ‚Revolución del Parque‘ in 1890 ließ die Inflation in die Höhe stiegen und die Wechselkursentwertung ließ Exporte deutlich verbilligen.216 Bei der Betrachtung des Wertanteils von Getreide am Gesamtwert aller exportierten Güter, lässt sich ein bemerkenswerter Anteil feststellen, der 1887 noch 25 % und in 1900 und 1910 bereits 47 % betrug. Generell lässt sich schlussfolgern, dass der Getreideanbau in Argentinien stark auf den Export ausgerichtet war, um die Nachfrageüberschüsse in Europa zu befriedigen. Die gesamte La Plata Region wurde auch als ‚Weltkornkammer‘ bezeichnet und exportierte neben Weizen und Mais auch Leinsamen. Der La Plata-Export von Weizen machte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwischen 14 % und 21 % des weltweiten Weizenexportes aus, bei Mais und Lein lagen die Anteile gar über 50 % bzw. 65 % der weltweiten Exporte.217 Insbesondere im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts stiegen die Leinsaatexporte aus Argentinien stark an. Mit Ausnahme des Jahres 1911 war Argentinien von 1900 bis 1913 der größte Leinsaatlieferant in Europa.218 Der hohe Anteil Argentiniens am Welthandel bei diesen landwirtschaftlichen Gütern machte es als ‚Kornkammer‘ bekannt und zur zeitgenössischen Vorstellung einer landwirtschaftlichen Supermacht. Die wurde allerdings auch damals schon als übertrieben kritisiert, da die tonnenmäßige Produktion von Weizen vor 1914 nicht viel höher war als im Deutschen Reich und der Unterschied nur darin bestand, dass Argentinien mehr exportierte.219 Für Argentinien war die starke Expansion von Anbauflächen und Produktionsvolumina von essentieller Bedeutung, da es zwar viel exportierte aber die landwirtschaftlichen Waren die einzig nennenswerten Exportgüter waren. Die Kreditvergabe an argentinische Unternehmen und die Anleihen an den Staat orientierten sich daher maßgeblich an den Ernten und Ernteaussichten, welche über steigende oder fallende Zinsen entschieden.220 216 Vgl. Weil, Hermann, Der Getreidehandel, in: Josef Hellauer (Hg.), Argentinien. Wirtschaft und Wirtschaftsgrundlagen, Berlin/ Leipzig 1921, S. 150–160, hier: S. 150. 217 Vgl. Boerger, Albert, Sieben La Plata-Jahre. Arbeitsbericht und wirtschaftspolitischer Ausblick auf die Weltkornkammer am Rio de La Plata, Berlin 1921, S. 411; 415f. 218 Vgl. Krause, Argentiniens Wirtschaft, S. 31. 219 Vgl. ebd., S. 418. 220 Vgl. Deutsch-Argentinischer Centralverband (Hg.), Neues und Wichtiges aus der Argentinischen Gesetzgebung. Wirtschaftsgeschichte und Geschäftslage in Argentinien während des ersten Halbjahres 1912 und Allgemeines, in: Mitteilungen des Deutsch-Argentinischen Centralverbandes, 1, 1912, S. 22–30, hier: S. 22. 55 4.1.3. Der Aufstieg eines Geschäftsmodells In dieser Zeit eines hohen wirtschaftlichen Wachstums des Agrar- und speziell des Weizenanbaus in Argentinien stiegen Hermann Weil und seine Brüder in das Geschäft mit ein. Durch die Geschäftsverbindungen nach Antwerpen und Mannheim aus früheren Tätigkeiten konnte die Firma Weil Hermanos & Cía. (spanisch für ‚Gebrüder Weil & Cie.‘) von dieser Dynamik profitieren und expandierte schnell in kürzester Zeit. Bis 1914 wuchs die Firma rasant und durch vertikale Integration des Warentransports entledigte sie sich der Abhängigkeit der Frachtfirmen. Zu Spitzenzeiten standen sechzig Schiffe auf dem Atlantik unter der Flagge von Weil Hermanos, die Getreide nach Europa und Nordamerika exportierten.221 Durch ihr schnelles Wachstum gelang Weil Hermanos der Eintritt in einen Markt mit konzentriertem Wettbewerb, in welchem fünf große Unternehmen im Jahre 1914 über 75 % der Marktanteile kontrollierten.222 Mit 10 % Marktanteil war Weil Hermanos das viertgrößte Unternehmen in diesem Kartell großer Handelsfirmen, die allesamt deutsche Verbindungen hatten und international stark vernetzt waren. Weil Hermanos war jedoch das einzige Unternehmen mit Hauptsitz in Argentinien und formal ein inländisches Unternehmen.223 Die Firma beschäftigte in ihrer Blütezeit über 3.000 Mitarbeiter. Zu ihnen zählten auch Familienmitglieder, etwa Josef, Friedrich und Joseph Siegmund Weil, die in Buenos Aires angestellt waren. Ihren Hauptsitz hatte die Firma im Geschäftszentrum von Buenos Aires und Niederlassungen gab es an allen wichtigen Orten der Getreidegegenden in Argentinien, allen voran der Häfen Buenos Aires, Rosario, Bahía Blanca und La Plata. Außerdem besaß die Firma noch Niederlassungen in Europa, wo auch Familienmitglieder tätig waren, wie Friedrich Weil in der Antwerpener Filiale.224 Neben der Dynamik im internationalen Getreidehandel in der Vorkriegszeit war auch die Wirtschaftsstruktur in Argentinien ein Spezifikum, das Hermann Weil geschäftsmäßig ausnutzte. Die Verhältnisse im Bodenbesitz waren geprägt vom spanisch-kolonialen Prinzip: 221 Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 32f. Die vier weiteren Unternehmen waren: Bunge & Born, Louis Dreyfus, Huni & Wormser, General Mercantile Company. 223 Vgl. Dehne, Phillip, The Resilience of Globalisation during the First World War. The Case of Bunge & Born in Argentina, in: Christof Dejung u. Niels P. Petersson (Hg.), The Foundations of Worldwide Economic Integration. Power, Institutions, and Global Markets, 1850-1930, Cambridge 2013, S. 228–248, hier: S. 230f. 224 Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 33. 222 56 der Latifundien. Riesige Flächen, die vor der Unabhängigkeit als Eigentum der spanischen Krone verpachtet wurden, gelangen in Privatbesitz. Der Besitz großer Landtitel blieb weiterhin prestigeträchtig, die Bewirtschaftung der Ländereien übernahmen Pächter. An Investitionen waren die Großgrundbesitzer nicht interessiert, da die Pachteinnahmen, meist durch den Verkauf von Rindern und Schafen lukrativ blieben.225 Dabei wurden keine Anreize für Investitionen in den Getreidehandel geschaffen, weil die Pachtverträge keine langen Laufzeiten hatten. Vor dem Ersten Weltkrieg waren Drei- bis Vierjahresverträge üblich, in den 1920ern nur noch zwei bis drei Jahre.226 Als Resultat gab es so gut wie keine Lagerhaltung in Silos von Getreide, sodass die Erzeugnisse gleich nach dem Erdrusch von den Pachtbauern verkauft wurden. Die Lager- Abbildung 3 häuser der Aufkäufer auf den Stationen und der Exporthäuser waren bereits mit 20 % der gesamten Ernte ausgelastet und dienten ausschließlich dem Transitverkehr. Da die ungelagerte Ware schnell verderblich war, mussten pro Woche circa 100.000 Tonnen Weizen auf Exportschiffe verfrachtet werden. Die Gründer von Weil Hermanos: Samuel, Hermann, Ferdinand. Quelle: Appenzeller, Hermann Weil, S. 33. Um das Potenzial der Getreideproduktion auszunutzen, musste Weil Hermanos die Mengen Getreide schnellstmöglich für den Weiterkauf abfertigen. Um dies zu garantieren, waren die Exportfirmen auf das Vorhandensein von Eisenbahnlinien angewiesen. Der Ausbau der Schienenlänge wuchs bereits ab den 1870ern stark an, umfasste 1895 knapp 18.000 und 1915 bereits 35.000 Kilometer.227 Die weiten Strecken aus der Pampa und Santa Fé bis zur Küste überbrückte die Eisenbahn mit großen Waggons, meist mit 30 Tonnen Frachtgewicht.228 Da nahezu alle Eisenbahnen auf breiterer russischer Spurweite fuhren, konnte der Transport auf den flachen Ebenen des Binnenlandes mit höherer Geschwindigkeit erfolgen. Die Eisenbahn war mit ihrer 225 Vgl. Brown, Jonathan C., A Socioeconomic History of Argentina, 1776-1860, Cambridge 1979, S. 146f. Vgl. Pfannenschmidt, Ernst, Die Landwirtschaft Argentiniens, in: Josef Hellauer (Hg.), Argentinien. Wirtschaft und Wirtschaftsgrundlagen, Berlin/ Leipzig 1921, S. 134–149, hier: S. 142f. 227 Vgl. Schmidt, Ernst Wilhelm, Die agrarische Exportwirtschaft Argentiniens. Ihre Entwicklung und Bedeutung, Jena 1920, S. 78. 228 Vgl. Weil, Der Getreidehandel, S. 159. 226 57 Geschwindigkeit und ihrem Fassungsvermögen auf die Exportwirtschaft spezialisiert und für Weil Hermanos ein wichtiger Baustein für das schnelle Wachstum der Firma. Die fehlenden Lagermöglichkeiten für Getreide nutzte Weil Hermanos zu ihrem Vorteil aus, da der unmittelbare Absatz von Getreide auf dem Weltmarkt in ein günstiges Zeitfenster fiel. Die Druschzeit in Argentinien fiel auf Ende Januar und zur gleichen Zeit waren die Weizenausfuhren aus Nordamerika aufgrund der Vereisung der Seen und Kanäle gehemmt, sodass die antizyklische Erntezeit ein Wettbewerbsvorteil für die Firma in Argentinien war.229 Das auf persönliche Kontakte beruhende Handelsnetzwerk, vor allem der Zugang zu einem der wichtigsten Getreideumschlagplätze Europas, der Mannheimer Hafen, verschafften Weil Hermanos eine hervorragende Ausgangsposition. Weil Hermanos handelte mit Weizensorten aus Saatzüchtungen verschiedener europäischen Sorten, welche das Ergebnis von jahrelangen experimentellen Studien waren, wie etwa vom deutschen Wissenschaftler Albert Boerger in der Versuchsstation in Uruguay. Die pflanzenzüchtigen Arbeiten im La Plata-Gebiet erzielten einen Mehrertrag in der Ernte von ca. 30 – 40 %, Ziffern die deutlich höher sind als bei Zuchtversuchen in Deutschland, was an den günstigen klimatischen Bedingungen und Bodenverhältnissen lag.230 Der La PlataWeizen war von sehr hoher Qualität mit „blütenweißer Farbe“ und „auch bei sehr wenig Kleie, reichlich Kleber enthält“,231 was insbesondere beim Backen von Vorteil war.232 Um eine hohe Qualität des gekauften Weizens zu gewährleisten, bot Weil Hermanos den Weizen nach seinem spezifischen Getreidegewicht an, eine in Argentinien bis dato unübliche Praxis. Bei der häufigsten Sorte Barletta lag das Naturalgewicht zwischen 78 und 80 Kilogramm pro Hektoliter. Durch den Vergleich von Stichproben mit Musterproben konnte die Qualität der Waren festgestellt werden.233 Das Geschäftsmodell von Weil Hermanos, wie auch von allen anderen Exportfirmen, verstand sich als reine Handelsintermediation. Sie stellten Vertreter oder direkte Angestellte ein, die in den Getreideanbaugebieten entweder direkt von den Bauern oder von 229 Vgl. Weil, Der Getreidehandel, S. 151. Vgl. Boerger, Sieben La Plata-Jahre, S. 105. 231 Zit. nach Weil, Der Getreidehandel, S. 150. 232 Der Name La Plata-Weizen wurde zum inoffiziellen gebräuchlichen Markennamen für Weizen aus Argentinien und Uruguay in Deutschland. 233 Vgl. ebd., S. 156. 230 58 Zwischenhändlern, den sogenannte Acopiadores kauften. Die Acopiadores fungierten das ganze Jahr über als Kreditgeber für die Bauern, die für Saat, Produktion und Ernte Kredite benötigten. Obwohl die Kurse der Terminbörsen in Rosario und Buenos Aires durch Telegrafie unmittelbar an allen Verladestationen verfügbar waren, waren die Farmer zumeist Preisnehmer. Denn dieses System des ‚Rentenkapitalismus‘ gab den Acopiadores eine stärkere Verhandlungsposition.234 Meistens waren die Farmer auf ein Vorschussgeschäft angewiesen, da sie nicht genügend liquide Mittel zur Zahlung der Erntekosten (direkte Kosten wie Löhne, Transportkosten) besaßen. Vor dem Schnitt wurde daher ein Teil der Ernte bereits zu einem Festpreis verkauft, oder ein Fijar-Precio-Kontrakt235 abgeschlossen, bei dem sich der Farmer zu einer gewissen Mengenabgabe verpflichtet, der Preis aber erst bei der Lieferung festgesetzt wird und sich dann an den Terminbörsen orientiert. Bei der direkten Zahlung erhält der Exporteur einen Risikoabschlag von 1 bis 2 % auf den Tagespreis, um sich vor einem potentiellen Verlust der Ware durch Witterungsverhältnisse, Diebstahl oder Unterschlagung abzusichern. Durch das Vorschussgeschäft deckte der Farmer zwar seine Kosten, allerdings hatte er kaum Einfluss auf die Preissetzung. Zusätzlich hatten Exporteure wie Weil Hermanos ein weiteres Druckmittel in der Hand, da Preisabzüge bei schlechter Qualität gemacht wurden, die durch Stichproben festgestellt wurde. Da das Getreide nach der Drusch faktisch ungeschützt am Wegesrand in Jutesäcken gelagert wurde, konnten ungünstige Witterungsverhältnisse die Qualität der Ware häufig mindern.236 Dieses Machtgefälle in der Preissetzung zwischen Exporteur bzw. Acopiador und Farmer führte dazu, dass Weil Hermanos einen niedrigen Exportpreis anbieten konnte, der international wettbewerbsfähig war. Dieser ging allerdings zu Lasten der Arbeitsbedingungen der Bauern und Erntehelfer, die häufig selbst Einwanderer waren, allerdings italienischer Herkunft. Die Wettbewerbsfähigkeit von Weil Hermanos und anderen gründete sich auf das Drücken der Ankaufpreise, da die 234 Der Begriff Rentenkapitalismus geht auf den Geographen Hans Bobek zurück und umschreibt die ständige finanzielle Abhängigkeit der Pächter vom Großgrundbesitzer. Die Pachtverträge sind in einem solchen System unvorteilhaft für die Pächter ausgelegt und gleichzeitig dienen Großgrundbesitzer als Kapitalgeber für Produktionsfaktoren, sodass ein dauerhaftes Schuldverhältnis besteht. Die Funktion der Großgrundbesitzer ist in Argentinien auf die der Acopiadores übertragbar. 235 Zu tiefergehender Literatur über die Kontrakt- und Verkaufspraktiken im Getreidehandel siehe Pfannenschmidt, Die Landwirtschaft Argentiniens, S. 145ff und Schmidt, Die agrarische Exportwirtschaft, S. 164-173. 236 Vgl. Weil, Der Getreidehandel, S. 156f. 59 Produktionskosten relativ hoch waren. Beim Pächterstreik von 1912 forderten Pächter niedrigere Pachten, niedrigere Frachtsätze der Eisenbahngesellschaften, geringere Preise für Säcke und Steuerminderungen, da die hohen Lebenshaltungskosten für die Pächter untragbar geworden waren.237 4.1.4. Krankheit und Weltkrieg Mit Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einschneidenden Erlebnissen für die Familie Weil. Seit 1903 litt Hermann Weil an Syphilis. Um sich die Behandlung des renommierten Arztes Professor Paul Ehrlich zu sichern, zog Familie Weil im Jahre 1907 nach Frankfurt am Main. Zuvor hatte Hermann seinen neunjährigen Sohn Felix, gebürtiger Argentinier, auf eine Schule in Frankfurt geschickt, da er die deutschen Schulen in Argentinien als nicht fortschrittlich genug empfand. Die Firma Weil Hermanos wurde von nun an von zwei Zentren aus geführt. Samuel Weil verantwortete weiterhin das Unternehmen in Buenos Aires und Ferdinand die Filiale in Rotterdam. Zudem kamen mit Julius Flegenheimer und Sigismundo Edelstein zwei Teilhaber hinzu, die vorher in Argentinien als Prokuristen beschäftigt waren. Hermann hielt weiterhin im Hintergrund die Fäden in der Hand. Hermanns Ehefrau Rosa, ebenfalls seit Jahren an Krebs erkrankt, starb im April 1912. Im selben Jahr machte es Hermanns zunehmend schlechter Gesundheitszustand ihm unmöglich, die Geschäfte der Firma weiterzuführen.238 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges markierte den Beginn einer schwierigen Zeit für Weil Hermanos in Argentinien. Die britische Regierung drängte Argentinien als neutrales Land zur Suspendierung der Handelsbeziehungen zum Deutschen Reich. Der Export von Getreide konnte von Weil Hermanos also keine deutschen Destinationen anlaufen. Allerdings kamen zunächst weiterhin Getreidelieferungen über Umwege nach Deutschland, etwa über St. Vincent oder die Kanarischen Inseln und dann über Dänemark, Schweden und die Niederlande. Den Engländern war außerdem die Dominanz deutscher Unternehmer im Getreidemarkt Argentiniens ein Dorn im Auge. Neben Weil Hermanos waren auch die Häuser Bunge & Born 237 238 und Hardy & Mühlenkamp deutscher Herkunft. Die anderen großen Vgl. Deutsch-Argentinischer Centralverband, Mitteilungen 1/1912, S. 23. Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 20; 23; 34. 60 Getreideexporteure hatten eine große Anzahl an deutschen Mitarbeitern oder Geschäftsbeziehungen nach Deutschland. Der Handel an den Terminbörsen in Rosario und Buenos Aires wurde auch während des Krieges weiterhin maßgeblich von den deutschen Firmen kontrolliert. Ihre aufgebauten Netzwerke und ihre jahrelang aufgebaute Größe und Präsenz sorgten trotz britischen Widerstandes für einen weiterhin funktionierenden Exportmarkt, wenn auch mit Einschränkungen. Anfang 1916 hatte die Marktmacht der Deutschen im Getreidemarkt weiterhin Bestand. Im Zuge der Einführung sogenannter ‚Schwarzer Listen‘ von der britischen Regierung, bekamen Weil Hermanos und auch alle anderen deutschen Firmen in Argentinien Schwierigkeiten. Auch wenn das britische Gesetz die ‚Schwarzen Listen‘ eigentlich nur auf deutsche Firmen in feindlichen Territorien anwenden konnte, wurden auch deutsche Firmen in Lateinamerika Ziel dieser Listen. Die Begründung dafür war, dass die dort ansässigen deutschen Firmen angeblich die deutsche Marine in neutralen Gewässern unterstützten.239 Auch Weil Hermanos stand auf der ‚Schwarzen Liste‘, obwohl es zunächst keine Hinweise auf kollaborative Arbeiten seitens der Unternehmen gab. Konkret setzten die Briten diese Politik der ökonomischen Kriegsführung in Argentinien durch, indem sie Dampfschiffunternehmen drängten, keine Güter von deutschen Unternehmen mehr zu transportieren. Der Verdacht liegt nahe, dass der Kriegszustand als Vorwand für die ökonomischen Interessen der britischen Wirtschaft diente, um beispielsweise das deutsche Handelsmonopol im Getreidesektor zu durchbrechen. Weil Hermanos konnte zunächst weiter operieren, da vor allem die USA und auch die argentinische Öffentlichkeit der britischen Position konträr gegenüberstanden, auch wegen der Angst, dass Entente-Unternehmen zu neuen Monopolen drängten. Mit dem Eintritt Italiens in den Krieg auf Seiten der Entente, änderte sich die Stimmung in Argentinien zu Ungunsten der deutschen Unternehmen, da nun die italienisch-stämmige Mehrheit im Land den Deutschen kritischer gegenüberstand und die italienisch-argentinischen Unternehmen ihre Chance zur Verdrängung der Deutschen witterten.240 Weil Hermanos traf die Durchsetzung der ‚Schwarzen Listen‘ hart, sodass der Getreidehandel während des Krieges ausgesetzt werden musste. Ab Ende 1917 stand Weil Hermanos 239 240 Vgl. Gravil, Roger, The Anglo-Argentine Connection, 1900-1939, Boulder/ London 1985, S. 119. Vgl. ebd., S. 120. 61 ebenfalls auf der U.S. Enemy Trading List, sodass der internationale Druck stärker wurde. Dem Unternehmen gelang es trotzdem den Konkurs zu vermeiden, indem es die Verbindung der Familie Weil zwischen Buenos Aires und Frankfurt nutzte. Trotz der Unterbrechung von Kommunikationsverbindungen zwischen Deutschland und Argentinien konnte das Doppelunternehmen in Argentinien und Deutschland über heimliche Geschäftsabwicklung überleben. In Deutschland kaufte die Firma argentinische Staatsanleihen von Besitzern argentinischer Schuldtitel und schmuggelte die Dokumente in holländischen Schiffen nach Argentinien, wo sie dann durch den günstigen Wechselkurs gewinnbringend verkauft wurden.241 Die Aktivitäten im Untergrund verfolgten auch andere deutsche Unternehmen in Argentinien, um den drohenden Konkurs abzuwenden. Dabei ging es auch darum, alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Kriegseintritt Argentiniens zu verhindern, was eine Beschlagnahmung der Vermögen deutscher Firmen wahrscheinlich gemacht hätte. Weil Hermanos und andere Exporthäuser arbeiteten dabei eng mit der deutschen Auslandsspionage zusammen. Weil Hermanos und Bunge & Born kamen zu regelmäßigen, zeitweise täglichen Geheimtreffen in Rosario mit dem deutschen Spion Juan Reuter zusammen.242 Man entwickelte geheime Strategien, um Einfluss auf politische, militärische und gesellschaftliche Führungspersönlichkeiten zu nehmen und damit einen Kriegseintritt zu verhindern. Weil Hermanos und Bunge & Born verfügten über eigene Agenten zur Animierung von Streiks in anderen Betrieben, um eine wirtschaftliche Voraussetzung zum Kriegseintritt zu erschweren. Es kam mehrmals zu Zahlungen der Streikenden durch die Deutsche Bank, hinter denen der Auslandsnachrichtendienst des Deutschen Reichs steckte.243 Hermann Weil erlangte durch seine wirtschaftlichen Erfolge vor dem Krieg in Deutschland in der politischen und wirtschaftlichen Elite hohe Anerkennung. Spätestens ab 1915, als Hermann Weil seine Privatvilla in Frankfurt als Militärlazarett für deutsche Offiziere bereitstellte, war ihm die Anerkennung sicher. 244 Er stieg in die höchsten militärischen und politischen Kreise des Reichs auf und war als Berater für den Admiralstab der Marine für wirtschaftliche Fragen des U-Boot Krieges tätig. Hermann Weil berichtete im Februar 1916 241 Vgl. Gravil, The Anglo-Argentine Connection, S. 121. Vgl. Bisher, Jamie, The Intelligence War in Latin America, 1914-1922, Jefferson 2016, S. 195; 197. 243 Vgl. ebd., S. 201. 244 Vgl. Appenzeller, Hermann Weil, S. 55. 242 62 über die Getreideeinfuhr der Entente-Mächte und sah die Einfuhr weit unter dem Bedarf. Daraus folgerte er, dass die tägliche Versenkung von ein bis zwei alliierten Schiffen eine allgemeine Panik in England hervorrufen müsse und bereits nach drei Monaten die Alliierten ausgehungert seien. Um die argentinische Getreidezufuhr Großbritanniens zu unterbinden, schlug Weil vor, über Weil Hermanos eine große Menge von Weizen (200.000 Tonnen) in Argentinien aufzukaufen und einzulagern, was mit dem geheimen Wertpapiergeschäft abgewickelt werden sollte. Die Reichsregierung sollte an den laufenden Kosten beteiligt werden. Da sich die Vorzeichen einer weltweiten Hungerkrise für 1917 verstärkten, trat Hermann Weil vehement für die Störung der Getreidezufuhr aus Argentinien nach England ein, um den Siegfrieden zu erreichen, den er fürs Frühjahr 1917 voraussagte.245 Er wollte mit allen Mitteln den Aufkauf argentinischen Getreides von Großbritannien verhindern. In der Denkschrift des Admiralstabs vom Dezember 1916, die letztendlich den uneingeschränkten U-Boot-Krieg erwirkte, fand sich Weil namentlich mit seinen Ratschlägen wieder.246 Als Fachmann für Getreidefragen im Bericht erwähnt, sah Weil die Torpedierung der Getreidezufuhr Großbritanniens als Erfolgsgarant für einen Siegfrieden. Hermann Weils Analyse wog im Bericht stärker als die Kritik im Admiralstab über Weil, dessen Aussagen der Admiralstab als maßlos überzogen zurückwies. Hermann Weils Eintreten für den UBoot-Krieg und der Optimismus zum Siegfrieden, sorgten schließlich für die Einladung ins Große Hauptquartier in Bad Kreuznach zu Kaiser Wilhelm II.247 Trotz der Aufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges stoppte die Getreidelieferung Argentiniens an die Entente nicht. Durch ein Regierungsabkommen sicherte sich die Entente fast 60 % der Weizenexporte aus dem Jahre 1917 „an Order“ und bezog insgesamt 77 % der argentinische Weizenausfuhren.248 In absoluten Zahlen war dies aber trotzdem sehr gering im Vergleich zur Vorkriegszeit. Die argentinische Ökonomie war trotz der Neutralität des Landes zu einer Kriegsökonomie als Rohstofflieferant der Entente geworden. Im Gegensatz zu Getreide, steigerte sich der Export von Fleisch und Ledermaterialien als Kriegsgüter.249 245 Vgl. Stegemann, Bernd, Die Deutsche Marinepolitik 1916-1918, Berlin 1970, S. 54ff. Vgl. ebd., S. 58. 247 Vgl. Erazo Heufelder, Der argentinsiche Krösus, S. 26. 248 Vgl. Krause, Argentiniens Wirtschaft, S. 72f. 249 Vgl. Gravil, The Anglo-Argentine Connection, S. 152. 246 63 4.1.5. Neuanfang und Niedergang Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wuchsen die Getreideexportmengen Argentiniens nochmals stark an. Kriegs- und nachkriegsbedingte Ausfälle in Europa konnten durch Argentinien kompensiert werden, vor allem der Ausfall Russlands als weltweit größter Weizenproduzent hinterließ eine Lücke. Auch Weil Hermanos konnte diese Lücke ausnutzen und das Getreidegeschäft wieder aufnehmen. Britische Unternehmen hatten es nicht geschafft, die deutschen Unternehmen nachhaltig zu verdrängen, was mit erheblichen Ernteeinbußen aus den Jahren 1913 und 1916, der Priorität auf Fleischexport sowie mit fehlenden Kapitalzuflüssen zusammenhing, die sämtliche Investitionen unterbanden. Trotzdem konnte Weil Hermanos nicht mehr an die sehr erfolgreiche Zeit vor dem Krieg anknüpfen. Dass die außerordentliche Expansion der Produktion und des Exportes von Getreide nach dem Ersten Weltkrieg abzuflauen drohte, war einigen zeitgenössischen Beobachtern klar. Professor BOERGER bemerkte im Jahre 1921, dass die Exportmöglichkeiten Argentiniens zukünftig nicht günstiger ausfielen, da die Preise fallen würden und Argentinien seine Stellung als Weizenproduzent lediglich kriegsbedingt kurzzeitig hatte ausbauen können, aber im Vergleich zu Kanada und den USA im Volumen abgeschlagen sei.250 Die Strukturkrise der argentinischen Ackerbauwirtschaft war unübersehbar. Ein mangelhaftes Steuerwesen, geringe Produktivitätszuwächse sowie eine fehlende innovative Unternehmer-Mentalität, aufgrund des Großgrundbesitzer-Pächter-Verhältnisses, wurden als strukturelle Nachteile in Argentinien gesehen. Die zunehmend auftretenden Streiks der Ackerbauern in Argentinien waren ein zusätzliches Entwicklungshemmnis.251 Dazu kamen die fallenden Weltmarktpreise nach dem Krieg, als Resultat eines allgemeinen Überschusses an Weizen. Eine ganz andere Sichtweise vertrat Hermann Weil. Er war noch 1921 von der außerordentlichen Leistungskraft des argentinischen Getreidemarktes überzeugt, wie er in einem Beitrag eines wissenschaftlichen Sammelbandes von Professor Hellauer an der Universität Frankfurt schrieb. Er beschrieb einen linearen Verlauf im Weizenexport Argentiniens, der im Jahr 1890 begann und im Ersten Weltkrieg gar einen positiven Sprung erfuhr. Russland sah er aufgrund der politischen Umwälzungen weiterhin nicht exportfähig und 250 251 Vgl. Boerger, Sieben La Plata-Jahre, S. 422. Vgl. Krause, Argentiniens Wirtschaft, S. 93f. 64 Nordamerika könnte seinen eigenen Bedarf kaum mit der eigenen Produktion decken. Zuletzt ruhe die Hoffnung der Europäer nur auf Argentinien, das über zusätzliches Produktionspotenzial verfüge, sofern es den Mangel an Arbeitskräften kompensiere. 252 Unter den erschwerten Marktbedingungen war auch die Führung von Weil Hermanos in schwierige Fahrwässer gelangt. Auf Wunsch von Hermann Weil sollte sein Sohn, Felix, die Firma in Argentinien nach dem Krieg weiterführen. Felix kehrte 1920 nach Argentinien zurück und sollte Samuel Weil als Generaldirektor beerben. Jedoch fühlte er sich in der Rolle des Geschäftsmannes nicht wohl. Felix hatte sich in der Universität Tübingen für das Fach Nationalökonomie eingeschrieben und hielt Kontakte in sozialphilosophische Kreise um Max Horkheimer und Friedrich Pollock, mit denen er später das Institut für Sozialforschung in Frankfurt gründen sollte. Für den Posten als Generaldirektor fehlte ihm das unternehmerische Gespür. Im Deutschen Klub in Buenos Aires empörte man sich über den angeblich unerzogenen und rauen Felix Weil, sodass er nicht viele freundschaftliche Verbindungen zur deutschen Elite in Argentinien pflegte. Zudem führte Felix Weil ein Doppelleben, da er unter dem Decknamen ‚Lucio‘ für den Chef der Kommunistischen Internationale als Analyst tätig war.253 Da Felix auf eigenen Wunsch und mit Einverständnis des Vaters als Leiter des Unternehmens ausfiel, führte Samuel das Unternehmen bis er 1922 verstarb. Interimschef wurde Jorge Valois, der seit vielen Jahren die Filiale in Rosario leitete. Die schwierigen Marktentwicklungen stellten für Weil Hermanos zunehmende Bedrohungen dar. Das globale Überangebot an Getreide ab Mitte der 1920er Jahre führte zu einem Preisverfall. Gleichzeitig waren die Produktionskosten in Argentinien stark angestiegen, was allerdings einen langfristigen Trend seit Anfang des Jahrhunderts darstellte. Im Vergleich lagen im Jahre 1921 die Produktionskosten doppelt so hoch wie 1896.254 Um wettbewerbsfähig zu bleiben, investierten die anderen großen Getreideexporteure in Argentinien, Bunge & Born sowie Louis Dreyfus, in den Bau von großen Getreidesilos im Hafen von Buenos Aires und in Getreidelager in den Provinzen, um die dringend benötigten Lagerräume für Getreide zu schaffen. Dieses Firmen erkannten, dass durch Lagerhaltung 252 Vgl. Weil, Der Getreidehandel, S. 154. Vgl. Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus, S. 35f. 254 Vgl. Pfannenschmidt, Die Landwirtschaft Argentiniens, S. 143. 253 65 die argentinische Getreideschwemme auf den Weltmarkt verlangsamt wurde und somit der Preisverfall für das exportierte Getreide gebremst werden konnte. Weil Hermanos verpasste diese Entwicklung vollkommen. Die Abwesenheit und schließlich der Tod Hermann Weils im Jahre 1927, sowie die Tode beider anderen Gründer Samuel (1922) und Ferdinand (1910), führten zu Führungskrisen im Unternehmen, die nicht nachhaltig gelöst wurden. Anders als Bunge & Born, verpasste es das Management von Weil Hermanos zu diversifizieren. Während Bunge & Born die nördlichen Quebrachowälder in der Region Chaco rodete und Fabriken für die Lebensmittelproduktion errichtete, verharrte Hermanos Weil auf dem noch lukrativen Weizenexport. Als sich der Interimschef Jorge Valois 1926 aus der Leitung zurückzog, blieb der Chefsessel in Buenos Aires gar komplett leer und Felix Weil führte nur halbherzig die Aufsicht über das Unternehmen von Frankfurt aus. 1928 wurde der Ausstieg aus dem Getreidegeschäft eingeleitet und mit dem Firmenvermögen und den Anteilseignern aus der Familie Weil sowie den ehemaligen Prokuristen Julius Flegenheimer und Sigismundo Edelweiß eine neue Mischgesellschaft Sociedad Anónima Financiera y Comercial (SAFICO) gegründet. 1930 wurde der Getreidehandel endgültig aufgegeben und im Zuge der ISI investierte SAFICO in der Textil- und Chemiebranche und ins Immobiliengeschäft. Alles Sektoren, die Importbeschränkungen unterlagen und in den 1930er Jahren einen Aufschwung erfuhren.255 Nach seinem Ausscheiden aus der Firma betätigte Felix Weil sich weiter wohltätig. Zwar ist seine prominente Rolle als Finanzier des Instituts für Sozialforschung bekannt, dennoch kehrte er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Argentinien zurück und beteiligte sich finanziell an der Gründung der deutschsprachige Pestalozzi-Schule, die eine Erziehung frei vom nationalsozialistischen Gedankengut anbot, ganz im Gegenteil zu den anderen deutschen Schulen, die gleichgeschaltet wurden.256 255 Vgl. Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus, S. 98f. Vgl. Rapoport, Mario, Bolchevique de salón. Vida de Félix J. Weil, el fundador argentino de la Escuela de Frankfurt, Buenos Aires 2014, S. 16. 256 66 4.2. Die Familie Staudt 4.2.1. Die Anfänge in Argentinien Geboren im Jahre 1852, wuchs Jakob Wilhelm Staudt als Sohn eines Kaufmannes in der Eifel in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Er begann eine Ausbildung in einer Seidenweberei, die er bereits nach eineinhalb Jahren abschloss und kurz darauf übernahm er die Leitungsposition des Fabrikpersonals in seinem Ausbildungsbetrieb. Nach fünf Jahren verließ Wilhelm die Weberei, um das väterliche Handelsgeschäft zu übernehmen.257 Die Auswanderung nach Südamerika war eher zufälligen Ereignissen geschuldet. Nachdem die Familie und das Familienunternehmen finanzielle Engpässe erlebte und in Konkurs ging, suchte Wilhelm eine Stelle im Exportgeschäft und fand 1877 eine Anstellung als Handlungskommis bei Hardt & Co., einem deutsch-amerikanischen Handelshaus. Das Unternehmen schickte ihn auf eine freie Stelle im Bereich Textilhandel in der Unternehmensfiliale in Buenos Aires.258 Als Angestellter bei Hardt & Co. wurde Wilhelm Staudt bereits nach kurzer Zeit befördert. Die Entwicklung eines Telegrafen-Schlüssels, der alle Codes zur telegraphischen Nachrichtenübermittlung standardisierte, brachte ihm 1879 eine lukrative Beförderung ein. Er wurde zum Leiter des Importgeschäfts von Hardt & Co. in Buenos Aires, welches er als Prokurist in der Selbstständigkeit führte. Das steigende Gehalt erlaubten ihm mit seinem ehemaligen Mitstreiter die Herausgabe des Buches „Commerzieller Telegraphen-Schlüssel“, um die Telegrafie-Codes auch außerhalb des Unternehmens nutzen zu können und zu vermarkten. Das Buch erschien ab 1882 bei Springer in Berlin.259 Als Einkaufschef von Hardt & Co. importierte Staudt europäische Stoffe und ließ sie in argentinischen Nähereien zu Kleidung für den lokalen Markt produzieren.260 Diese geschäftliche Tätigkeit des Textilhandels baute er in der folgenden Zeit weiter aus, indem er frühere Kontakte nach Deutschland nutzte und Geschäftsreisen unternahm. Die in Monschau 257 Vgl. La Publicité Internationale (Hg.), Wilhelm Staudt, Berlin 1907. Der Autor dieser Quelle konnte nicht ermittelt werden. Es handelt sich um eine Art Nachruf auf Wilhelm Staudt und erschien in einer kleinen Auflage von fünfzig Exemplaren beim Verlag La Publicité Internationale in Berlin. 258 Vgl. Staudt, Guillermo, Zum Tee mit dem Kaiser in Heringsdorf. Die Geschichte der Familie Staudt zwischen 1859 und 1918, 2. Aufl., Neubrandenburg 2011, S. 6; 8f; La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. 259 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 9f; Staudt, Wilhelm u. Hundius, Otto, Telegraphen-Schlüssel, Berlin 1882. 260 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 10. 67 ansässige Familie Scheibler, Inhaberin einer Tuchfabrik, kannte er von seiner ersten Stelle in Deutschland und ins nahe gelegene belgische Verviers knüpfte er Verbindungen zu den Textilfabriken der Familie Pelzer.261 Die in Argentinien von Staudt vorklassifizierten Wollwaren fanden in dem engen räumlichen Netzwerk in der grenzüberschreitenden Region Eifel - Hohes Venn bei den Textilfabrikanten einen großen Absatz. Genauso verhielt es sich bei den Häuten, die er an einen Kundenstamm in Prüm (Eifel) und Trier verkaufte.262 4.2.2. Gründung des Handelshauses und schnelle Expansion Die steigenden Gewinne aus seinen Geschäftstätigkeiten veranlassten ihn gemeinsam mit Carl Theodor Freisz und Peter Bauer im Jahre 1887 in Buenos Aires die Firma Staudt & Cía. Import- und Export-Geschäft zu gründen.263 Freisz und Bauer waren wie Staudt ehemalige Mitarbeiter von Hardt & Co. und in der deutschen Gemeinde in Buenos Aires verwurzelt.264 Weniger als einen Monat nach der Gründung der Firma in Argentinien, reiste Wilhelm nach Berlin und beantragte die Eintragung der Firma ins deutsche Handelsregister.265 In den Quellen finden sich unterschiedliche Bezeichnungen dafür, wo sich der Hauptsitz der Firma nach der Doppelgründung befand. In der Festschrift des Unternehmens Staudt & Co. von 1937 wird Berlin als erster gesetzlicher Sitz genannt, in der spanischen Version derselben Festschrift ist Berlin lediglich als Filiale genannt.266 Als sich das Unternehmen Staudt 1946 vor einem argentinischen Gericht gegen die Beschlagnahmung verteidigte, unterstrich der verteidigende Anwalt, dass Staudt zweifelsfrei ein rein argentinisches Unternehmen sei. „Die Unternehmensgruppe Staudt ist von jeher argentinisch, respektive ihrer Herkunft, ihres Kapitals sowie ihrer Führung“.267 261 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 12; La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 10. 263 Vgl. Staudt & Co. (Hg.), Staudt & Co. 1887-1937. Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Firma Staudt & Co. Ihren Mitarbeitern und Freunden gewidmet, Berlin 1937, S. 5. 264 Peter Bauer findet sich als Privatspender der Evangelischen Kirche und Schule in Buenos Aires wieder und als Unternehmensspende ist Freisz & Co. in den Beiträgen verzeichnet. Vgl. Deutsche Evangelische Gemeinde, Jahres-Bericht, S. 27; 29. 265 Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 5. 266 Vgl. ebd.; Staudt & Cía (Hg.), La Casa Staudt y Cía. En ocasión de su cincuentenario, Buenos Aires 1937, S. 5. 267 Zit. nach Blousson, Silvestre H., El "Caso Staudt". Escrito presentado por el Dr. Silvestre H. Blousson ante la Junta de Vigilancia y Disposición Final de la Propiedad Enemiga en defensa del Sr. D. Ricardo W. Staudt y las compañías del llamado "Grupo Staudt", o.O. 1946, S. 5. 262 68 In Berlin stellte Wilhelm Staudt auch eine Verbindung zur Deutschen Bank her, die durch die Deponierung des hohen Gegenwertes von einer Million Mark auf den 34-jährigen Staudt aufmerksam wurde. Angeblich hinterließ seine bisherige Karriere beim damaligen Direktor Paul Wallich einen nachhaltigen Eindruck, sodass die Deutsche Bank, die gerade ihr Südamerikageschäft aufbaute, Staudt großzügig mit Krediten versorgte.268 Die auf freundschaftliche Beziehungen beruhende geschäftliche Verbindung von Staudt und Deutscher Bank ging über Jahrzehnte weiter.269 Der Schwerpunkt der Geschäftstätigkeiten von Staudt & Cía. lag auf dem Import von textilen Fertigwaren in Argentinien, die durch die deutsche Niederlassung in Berlin gekauft wurden. Ab 1889 erweiterte sich der Import auf Nahrungs- und Genussmittel und sonstiger kleinerer Waren, indem Staudt & Cía. das Importgeschäft der argentinischen Firma Mallmann & Cía. übernahm.270 Gleichzeitig wurden ab 1890 aus Argentinien Rohstoffe zur Textil- und Lederverarbeitung, vor allem Schafswolle und Leder, nach Deutschland exportiert.271 Außerdem exportierte die Firma Quebracho-Holz, welches sie selbst in der Chaco-Ebene bei Santiago del Estero abbaute.272 Strategischer Hintergrund dieses Warenaustausches von Im- und Exporten über die beiden Unternehmensniederlassungen war die wirtschaftliche Risikominderung. Währungsschwankungen, die beispielsweise durch die ‚Revolución del Parque‘ 1890 in Argentinien ausgelöst wurden, sollten durch den Güterexport für Staudt abgefedert werden. Der Export von Rohstoffen machte die Importe aus Deutschland günstiger, da ein steigender Wechselkurs des Pesos zur Mark durch die Devisenerwirtschaftung des Exports kompensiert wurde. Gegen den makroökonomischen Trend in Argentinien der 1890er Jahre, konnte sich das Unternehmen Staudt & Cía. in einem von einer schweren Wirtschaftskrise geplagten Land behaupten. Auf die Eröffnung der ersten Zweigniederlassung in Argentinien in Rosario im 268 Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 5. Wilhelm Sohn, Ricardo, war langjähriges Aufsichtsratsmitglied bei der Deutschen Ueberseeischen Bank. Vgl. Pohl, Deutsche Bank, S. 86. 270 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 13. 271 Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 7; Cutolo, Vicente O., "Staudt, Guillermo Jacobo", in: Nuevo Diccionario Biográfico Argentino (1750-1930), Bd. 7, Buenos Aires 1985, S. 210. 272 Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. Das besonders harte Quebrachoholz eignete sich sowohl als Energiequelle als auch für den Bau von Bahnschwellen und Zäunen, weil es extremer Witterung besonders lange standhielt. Vgl. Arent, Argentinien, S. 190ff. 269 69 Jahre 1889, folgte 1893 die Expansion nach Montevideo.273 Als Filialleiter setzte Staudt auf die langjährigen Vertrauten und in Argentinien verwurzelten Mitarbeiter A.[?] Ifflinger in Rosario und Peter Bauer in Montevideo.274 Wilhelm Staudt war den Großteil dieser Zeit in Buenos Aires anwesend, pendelte aber regelmäßig zwischen Berlin und Buenos Aires und war gleichzeitig in der Firma in Berlin und in Buenos Aires Mehrheitseigner. 1895 wurden mit Genua und Manchester zwei Filialen eröffnet, die sich in den wichtigen Handelsplätzen Europas befanden. Die Einrichtung von Zweigstellen in England (Bradford/1901, Nottingham/1907), den USA (Boston/1902), Belgien (Antwerpen/1905) und Deutschland (Hamburg/1906), machten die deutsch-argentinische Firma Staudt endgültig zu einem global operierenden Handelsunternehmen.275 Mit der Eröffnung einer Niederlassung in Concordia, eine am Fluss Uruguay gelegene Handelsstadt, sicherte sich Staudt die Präsenz am Umschlagplatz der Provinzen Entre Ríos und Corrientes, in denen sich die größte Wollproduktion des Landes vollzog. Das am Paraná-Fluss gelegene Rosario war einer der großen Umschlagplätze für Wolle aus Entre Ríos und Corrientes und hatte den Vorteil, mit Ozeanschiffen erreicht zu werden. Abbildung 4 Staudt & Cía. operierte mit einem eng gestrickten Vertreternetz, das zum Aufkauf der Rohstoffe bei den Produzenten in den Binnenprovinzen Argentiniens und zum Einkauf von Importwaren sowie dem Absatz von Rohstoffen an den internationalen Außenstellen diente. Im Jahre 1912 war Staudt & Cía. in der Zeitschrift des Verbandes der Großgrundbesitzer Sociedad Rural Argentina in mehreren Branchen gelistet: Als Großhändler für Lebensmittel und Getränke, als Transport-/ Lagerhaus, als Großexport- und importunternehmen sowie als Importeur von Weinen, unter anderem aus dem Mosel- und Rheinhessengebiet.276 Verkaufsräume der Textilwaren in der Hauptverwaltung, Bartolomé Mitre 669, Quelle: La Publicité Internationale, Weilhelm Staudt. 273 Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 7. Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. 275 Vgl. Staudt & Co, Staudt & Co, S. 7f. 276 Vgl. Sociedad Rural Argentina (Hg.), La Rural. Guía General de Estancieros de la República Confeccionada para los Miembros de las Sociedades Rurales Argentinas, Buenos Aires 1912, S. 353; 360; 562; 625; 845. 274 70 1893 entstand ein moderner Prachtbau an der repräsentativen Straße Bartolomé Mitre, der durch seine außergewöhnliche Konstruktion aus Eisen den Beinamen ‚Palacio de Fierro‘ bekam.277 Er diente als neue Firmenzentrale und zugleich als Verkaufshalle für Manufakturwaren und Lebensmittel für den Großhandel.278 Die Firma begann in den 1890er Jahre mit der Erbauung eigener Depots, in der sie die Exportwaren lagerte, sortierte und für den Überseeversand abfertigte. Auch in Rosario und Montevideo entstanden große Lagerhallen für die Exportabteilung.279 Die jüngste Expansion in dem neuen Jahrhundert konnte Wilhelm Staudt bereits nicht mehr miterleben. Er starb an einer Blinddarmentzündung am 1. April 1906 in Berlin. 280 Dass sein Todestag auf den Eröffnungstag der Filiale Abbildung 5 in Hamburg fiel, verlieh Wilhelm Staudts Tod ein zusätzliches Pathos, der einen Mythos eines schier grenzenlosen und beispiellosen Aufstiegs des Kaufmannes begründete. Das Heldenepos einer klassischen Geschichte, vom ‚mittellosen Immigranten‘ zum ‚angesehenen Kapitalisten‘ war ein wichtiger Bestandteil im Gründungsmythos nicht nur eines Handelshau- Lager- und Sortierräume der Häuteabteilung von Staudt & Cía. Quelle: La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. ses, sondern auch für die Familie Staudt. 4.2.3. Wirtschaftlicher Kontext und das Plädoyer Staudts für einen ‚fairen‘ Handel Der Warenaustausch, der innerhalb der beiden Gesellschaften von Staudt in Argentinien und Deutschland abgewickelt wurde, stand exemplarisch für die globalisierte, arbeitsteilige Welt vor dem Ersten Weltkrieg. Die Industrieländer in Europa und Nordamerika exportierten industriell gefertigte Waren an nicht-industrialisierte Länder oder Kolonien in Südamerika, Asien und Afrika und im Gegenzug waren Europa und Nordamerika Abnehmer von Rohstoffen aus diesen Regionen. Der Nachruf auf Wilhelm Staudt des Verlagshauses La Publicité Internationale sah die Entwicklung der Firma Staudt als „eines der bedeutendsten 277 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 25. Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. 279 Vgl. ebd. 280 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 25. 278 71 Exportfirmen Deutschlands“281 eng verknüpft mit der Entwicklung des europäischen Handels mit Südamerika. Auch im Personenlexikon von 1985 wird Wilhelm Staudt als eine Person genannt, der die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Europa und der La Plata-Region durch seine Geschäfte förderte.282 Der Export von landwirtschaftlichen Gütern war für Argentinien die Grundlage des ‚Booms‘ ab 1880, der sich inmitten der ersten Globalisierungsphase der Welt vollzog. Von allen Produkten tierischen Ursprungs, stiegen die Exportmengen von Wolle am stärksten, welche mit Abstand das wertvollste Exportgut in den 1880ern war.283 Den Aufschwung der argentinischen Wollproduktion ab Mitte des Jahrhunderts ist externen Effekten zuzuschreiben. Durch den Ausfall der russischen Wollproduktion aufgrund des Krimkrieges ab 1853, kam es zu einem internationalen Wollengpass, den die argentinische Wolle ausfüllte. Der amerikanische Bürgerkrieg ließ das Baumwollangebot rapide sinken, sodass Europäer in der ersten Hälfte der 1860er Jahre verstärkt auf substituierende Wollimporte aus Argentinien setzten.284 In den 1880er Jahren kam es zu einer Exportsteigerung von Wolle um 30 %, aber auch zu signifikanten Preisminderungen. Das Angebot von Wolle war im Weltmarkt wieder angestiegen, aber fallende Transportkosten machten argentinische Wolle zu einem wettbewerbsfähigen Massenexportprodukt.285 In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde Schafswolle zum wichtigsten Exportgut Argentiniens. Die Verfügbarkeit von Arbeitskräften für dieses arbeitsintensive Gewerbe war durch das Einsetzen der Massenimmigration gegeben und auch die Transportverbesserungen ließen die Produktion von großen Massen möglich und preiswert werden. Die Wollproduktion spielte auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in Argentinien, jedoch kam es zu einer Verschiebung der Wertanteile der Exportgüter an der Gesamtausfuhr. Vereinte der Wollexport 1891 noch 35 % der Anteile am Wert aller Exporte auf sich, waren es 1901 nur noch knapp 26 %. Im Jahre 1906 stand Wolle bereits an zweiter Stelle der wichtigsten Exportgüter, hinter Weizen und knapp vor Mais. Trotz steigender Ausfuhrziffern bis 1914, verlor Wolle zunehmend an Bedeutung. 1920 und 1930 waren nur 281 Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. Vgl. Cutolo, “Staudt, Guillermo Jacobo”, S. 210. 283 Vgl. Cortés Conde, Roberto, La Economía de Exportación de Argentina, 1880-1920, in: Anuario IEHS, 13, 1998, S. 27–76, hier: S. 65. 284 Vgl. ebd., S. 34. 285 Vgl. ebd., S. 41. 282 72 noch 6,7 % aller Exportwerte Wollausfuhren und die Getreideausfuhren mit Abstand am wichtigsten. Diese Verschiebung in der Komposition der Wertanteile am Export Argentiniens zeigt einen Strukturwandel innerhalb der Landwirtschaft, der sich im Laufe der Jahrzehnte von 1880 bis 1930 relativ linear vollzog.286 Auf der Importseite lässt sich im Laufe der Jahrzehnte von 1880 bis 1930 eine Veränderung in der Komposition der Güter feststellen. Zwar waren im gesamten Zeitraum industrielle Fertigwaren die wichtigsten Importgüter, jedoch gingen die Mengen von Lebensmitteln und Genussmitteln zurück. Der Anteil an importieren Grundnahrungsmitteln ging von 22,5 % (1880) auf 8,6 % (1914) zurück. Die stark wachsende Bevölkerung in Argentinien und steigende Reallöhne kurbelte das Bedürfnis nach Konsumgütern so stark an, dass lokale Industrien wie die industrielle Lebensmittelherstellung, etwa Milchprodukte oder Konserven, und auch die Wein- und Bierindustrie einen Aufschwung erfuhr. Hierbei waren die Immigrantengruppen gleichzeitig Nachfrager und Anbieter, etwa im Brauereiwesen (Deutsche) und in der Weinherstellung (Franzosen, Spanier). Darüber hinaus war die starke Nachfrage nach Kleidung und Textilien sowie nach Möbeln und Einrichtungsgegenständen ein Treiber für die Entstehung lokaler Manufakturen. Außerdem konnten Unternehmer lokale Standortvorteile für die Herstellung von Lebensmittel- und Genussmitteln (Zucker) sowie Haushaltsgütern (Waren aus Holz) ausnutzen, die durch die Erschließung der nördlichen und zentralen Provinzen (Mendoza, Tucumán, Chaco) ermöglicht wurden.287 Das Entstehen lokaler Manufakturen als Antwort auf die lokale Bedürfnisbefriedigung ging mit starken technologischen Verbesserungen der Industrien bis in die 1930er Jahre einher. Als eine der großen lokalen Branchen verzeichnete die Textilindustrie einen enormen Zuwachs an Arbeitsproduktivität innerhalb von vierzig Jahren. Neben der quantitativen Expansion des Sektors von 36 gezählten Betrieben im Zensus von 1895 auf 4.727 im Zensus von 1935, legte die Textilindustrie auch in qualitativen Kriterien zu. Die Arbeitsproduktivität, kontrolliert auf Geschlechter- und Altersunterschiede der Arbeiter im Laufe der Zeit, zeigt starke Steigerungen. Der reale Bruttoproduktionswert pro Arbeiter stieg zwischen 1895 und 1935 um knapp 230 % und die reale Bruttowertschöpfung pro Arbeiter stieg um 286 287 Vgl. Cortes Conde, La Economía de Exportación, S. 73. Vgl. ebd., S. 52f. 73 mehr als 180 %. Diese starken Wachstumsraten sind vor allem durch die Einführung neuer Produktionsmethoden und niedriger Arbeitskosten zu erklären. Unternehmer importierten moderne Textilverarbeitungsmaschinen, welche hocheffiziente Arbeiten ermöglichten. Außerdem war der Textilsektor unter der Arbeiterschaft eine der Branchen mit den meisten weiblichen Arbeitskräften, die deutlich schlechter gewerkschaftlich organisiert waren als die Männer und daher Arbeitnehmerrechte nicht so stark durchgesetzt wurden. Ein weiterer Faktor war die staatliche Subventionierung, die bereits in den 1920er Jahren im Zuge einer beginnenden ISI begann.288 Die argentinische Textilbranche konnte somit, trotz ihrer kapitalintensiven Produktion, kompetitive Vorteile in Form der niedrigen Löhne und der staatlichen Subventionierung ausnutzen, die vor allem dem Absatz auf dem Binnenmarkt dienten. Wilhelm Staudt machten die Entwicklungen in der Textilbranche ernsthafte Sorgen. So verfasste er im Jahre 1901 eine Denkschrift zur Struktur der deutschen Handelsverträge und sah das darin enthaltene ‚Meistbegünstigungsprinzip‘ als die Wurzel einer für Deutschland ungerechten Handelssituation. Das Meistbegünstigungsprinzip sieht vor, dass Handelsvorteile, die einem Land gewährt werden, automatisch auch allen anderen Handelspartnern gewehrt werden müssen, sodass jeder Handelspartner auf Grundlage gleicher Einfuhrzölle behandelt wird. Staudt sah dieses Prinzip als besonders ungünstig für Deutschland an, da auf Einfuhren von Rohstoffen, auf die Deutschland für seine Industrie angewiesen war, niedrige oder gar keine Zölle erhoben wurden, weil das rohstoffexportierende Land sich auf die Meistbegünstigung berufen konnte.289 Auf der anderen Seite beobachtete Staudt viele Länder, vor allem die nicht-europäischen rohstoffexportierenden Länder, welche eine Hochzollpolitik zu Gunsten der eigenen Industrie verfolgten. Dies mache der deutschen Industrie den Export in diese Länder besonders ungünstig. Die Gefahr sei, dass diese Länder selbst durch Schutzzölle ihre eigene Industrie aufbauten, die in zunehmender Konkurrenz mit der deutschen stünde. Namentlich nannte Staudt unter anderem die La Plata-Länder, welche dieselbe Entwicklung nähmen wie die USA, die er als Beispiel einer erfolgreichen Handelsemanzipation nannte.290 288 Vgl. Pineda, Industrial Development, S. 21; 24; 27. Vgl. Staudt, Wilhelm, Die Handelsverträge, deren Bedeutung und Wirkung für Deutschland, 3. Aufl., Berlin 1901, S. 11ff. 290 Vgl. Staudt, Handelsverträge, S. 14. 289 74 Seine Ausführungen zeugen von einer großen Überschätzung des Produktionsfaktors Boden, da er auch den vergleichsweise kleinen Kolonialbesitz Deutschlands als nachteilig empfand und die Länder mit reichhaltigen Rohstoffvorkommen im natürlichen Vorteil sah. Die Vermutung liegt nahe, dass er sich mit der Denkschrift politisches und gesellschaftliches Gehör verschaffen wollte, um das eigene Exportgeschäft von Staudt & Co. zu stärken und der importsubstituierenden Industrialisierung Argentiniens zu entgehen. Dabei überschätzte er allerdings die Wettbewerbskraft der argentinischen Unternehmen, die meist nur auf dem lokalen Markt agierten und eine schwache eigene Innovationskraft besaßen. Außerdem war Argentinien bis 1930 weiterhin auf große Importmengen angewiesen und zwar von Unternehmen wie Staudt & Cía.291 Die Warnung, Argentinien würde zur neuen USA, war populistischer Natur, um die deutsche Handelspolitik zu ändern. Er plädierte für ein Prinzip der Gegenseitigkeit, das in der Folge die Einfuhrzölle in Argentinien massiv gesenkt hätte und daher vorteilhaft für den deutschen Export, also auch für Staudt & Cía. gewesen wäre.292 4.2.4. Der soziale Aufstieg Der geschäftliche Erfolg des Unternehmens Staudt in Argentinien und Berlin, erbrachte Wilhelm Staudt einen sozialen Aufstieg in gehobenere Gesellschaftsmilieus. Nachdem er im Jahre 1885 Elisabeth Albrecht heiratete, die Tochter eines Metzgereibesitzers aus Berlin, zog das Paar zunächst nach Buenos Aires und zwei Jahre später wieder nach Berlin, wo sie in „gut bürgerlichen“ Verhältnissen lebten.293 Mit zunehmendem Geschäftserfolg des Unternehmens im Laufe der 1890er Jahre, wuchsen auch die Ansprüche der Familie Staudt, die ihren Erstwohnsitz in Berlin wählte. 1898 wurde das ‚Palais Staudt‘ am Berliner Tiergarten errichtet, das von namhaften Architekten entworfen und von zahlreichen Dekorateuren ausgestattet wurde. Obwohl die Familie ihren Lebensmittelpunkt in Berlin hatte und sich als deutsch bezeichnete, bekam das Anwesen der Staudts einen dekorativen Ausdruck an Transnationalität. Zahlreiche Bildhauerarbeiten, wie die Figuren Europa und Amerika, 291 Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 30; Deutsche Ueberseeische Bank, Deutsche Ueberseeische Bank, S. 110. 292 Vgl. Staudt, Handelsverträge, S. 22f. 293 Zit. nach Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 14. 75 zeugten von der persönlichen und geschäftlichen Verbindung der Staudts zu den La PlataLändern.294 Elisabeth Staudt engagierte sich in Berlin als Besitzerin von Turnierpferden, die sie ausbilden und mit Gespannen im Berliner Tiergarten vorführen ließ.295 Nach Wilhelms Tod, behielt Elisabeth Staudt ihre hohe gesellschaftliche Stellung. Elisabeth Staudt agierte im Unternehmen zwar im Hintergrund, hatte aber eine wichtige Entscheidungsfunktion, da sie sich nach dem Tod Wilhelms gegen einen Verkauf der Firma entschied.296 Anders als im Geschäft, hatte Elisabeth eine gesellschaftliche Bühne, die sie zu nutzen wusste. Nach Wilhelms Tod, führte Elisabeth die Idee ihres Mannes aus, einen Pensionsund Unterstützungsfonds für die Angestellten bei Staudt & Cía. einzurichten. Der Fonds wurde mit 500.000 Mark angelegt und diente dem Zwecke der Arbeiterwohlfahrt für die Niederlassungen in Argentinien und Deutschland.297 Insbe- Abbildung 6 sondere in Argentinien, wo die Arbeitnehmerrechte noch viel eingeschränkter waren als in Deutschland, waren wohltätige Zwecke der Arbeitgeber wichtige soziale Maßnahmen. Auf gesellschaftlicher Ebene gelangten die Staudts immer mehr in den inneren Zirkel der politischen Elite. Tochter Auguste-Viktoria verlobte sich 1907 mit Wilhelm von Kummer, Generalssohn und Patenkind Kaiser Wilhelm II. Zu ihrer Hochzeit, die im Palais Staudt gefeiert wurde, erschien auch Wilhelm II., welches ein sehr ungewöhnliches Ereignis war, zumal die Familie Staudt nicht aus adeligen Verhältnissen stammte und einfacher Familie Staudt, 1905. Quelle: Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 17. familiärer Herkunft war.298 Ihren gesellschaftlichen Aufstieg erreichte die Familie durch ihr Handelsgeschäft in Argentinien, was im Deutschen Kaiserreich ein ungewöhnlicher Werdegang war, um in die adelige Verwandtschaft einheiraten zu können und gar eine Verbindung zum Kaiser zu erhalten. Das Verhältnis der Familie Staudt zu Kaiser Wilhelm II. 294 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 16ff. Vgl. ebd., S. 24. 296 Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt; Eifert, Christiane, Deutsche Unternehmerinnen im 20. Jahrhundert, München 2011, S. 163f. 297 Vgl. La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. 298 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 36. 295 76 vertiefte sich in der folgenden Zeit. Die Sommerresidenz der Staudts im Ostseebad Heringsdorf wurde zum jährlichen Treffpunkt des Kaisers mit Elisabeth Staudt zur Kieler Woche.299 So sehr Elisabeth Staudt die hohen gesellschaftlichen Kreise in Deutschland suchte, so sehr verpönte sie diese in Argentinien. Zwar begleitete sie Wilhelm seit ihrer Heirat fast immer zu dessen Aufenthalten in Argentinien und nahm als Vertreterin der deutschen Delegation an der Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit Argentiniens im Jahre 1910 teil. Als ihr Sohn, Richard Walter, ebenfalls Mitglied der deutschen Delegation, sich in Buenos Aires mit Jennie Paats verlobte, soll sie ihn zur sofortigen Auflösung der Verlobung gedrängt haben.300 Die Familie Paats war eine angesehene und wohlhabende Familie aus der deutschen Einwanderergemeinde in Buenos Aires, jedoch unter dem sozialen Status der Staudts in Deutschland. Richard heiratete schließlich in Deutschland Elizabeth Koenigs, Tochter eines in London lebenden Textilkaufmannes.301 Bis zu seiner Heirat verbrachte Richard seine Jugend und Ausbildungszeit in Europa, studierte Jura in Berlin und ging danach auf die technische Hochschule für Textilien in Verviers.302 Mit der Übernahme des Vorsitzes der Staudt & Cía. verlegten er und seine Frau ihren Lebensmittelpunkt nach Buenos Aires und nahmen kurz darauf die argentinische Staatsangehörigkeit an und gaben die deutsche ab. Als argentinischer Staatsangehöriger wandelte er seinen Vornamen in die spanische Version Ricardo W. um und lebte sich stärker als sein Vater in das gesellschaftliche Leben in Buenos Aires ein.303 Zwar spendete Staudt & Cía. unter der Leitung des Vaters bereits an die deutsche Kirche und Schule, aber Wilhelm Staudt blieb Deutschland stets sehr verbunden.304 Ricardo W. Staudt hingegen betätigte sich, neben seiner Stellung als Geschäftsführer von Staudt & Cía., als Kunstsammler und Genealoge in Argentinien. Er veröffentlichte einige Werke auf Deutsch und Spanisch über genealogische Forschungen und hatte eine enge Verbindung zu Robert Lehmann-Nitsche, der lange Zeit als Museumsdirektor und Ethnologe in La Plata tätig war. 305 Seine 299 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 50. Vgl. Guillermo Kraft Ltd. (Hg.), Art. "Staudt, Ricardo W.", in: Quién es quién en la Argentina. Biografías contemporáneas, 5. Aufl., Buenos Aires 1950, S. 564. 301 Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 46. 302 Vgl. ebd. 303 Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 53. 304 Vgl. Deutsche Evangelische Kirche, Jahres-Bericht, S. 34. 305 Siehe etwa Staudt, Ricardo W., The Huber-Hoover family of Aesch, Switzerland and Trippstadt, Palatinate. With some accent on migration to Pennsylvania, Philadelphia 1935; Staudt, Ricardo W., Zur Geschichte der 300 77 Forschungen brachten ihm den Titel des Vizepräsidenten des Instituto Argentino de Ciencias Genealogicas und Positionen in anderen internationalen Forschungsinstituten ein. Der Wohlstand seines Handelsunternehmens machte ihn zwischenzeitlich zu einem der reichsten Männer Argentiniens. Die Mitgliedschaften in den Klubs Asociación de los Amigos de la Ciudad und im wichtigen Eliteklub Jockey Club zeugen von einer hohen gesellschaftlichen Reputation.306 Dies ermöglichte ihm auch den Zugang zur politischen Führungsriege. Die juristische Verteidigungsschrift gegen die Enteignung der Unternehmensgruppe Staudt im Jahre 1946 zählte mehrere Präsidenten, Minister und Parlamentarier als dessen Freundeskreis auf.307 Die Schenkung des Familien-Palais in Berlin an den argentinischen Staat im Jahre 1938 und die Gründung und Finanzierung einer Grundschule in Patagonien trugen zum Selbstverständnis und der Wahrnehmung der Staudts als argentinische wohltätige Gesellschaftselite bei, die eng mit der Politik verbunden war.308 4.2.5. Die Unternehmensnachfolge in Zeiten des Weltkrieges Der frühe Tod Wilhelms Staudts im Jahre 1906 hatte keine negativen Auswirkungen auf das Unternehmen Staudt. Obwohl der Tod des Firmengründers und Mehrheitsgesellschafters plötzlich eintrat, wurden die Geschäfte auf kurzer und langer Sicht erfolgreich weitergeführt. Dies lag an den Umständen, dass Wilhelm Hauptgesellschafter war und die strategischen Entscheidungen für das Doppelunternehmen in Berlin und Buenos Aires fällte, die Geschäftsführung in Buenos Aires aber anderen unterlag. Carl August Weeber führte seit 1899 die Geschäftsführung, nachdem er als langjähriger Prokuristen bei Staudt tätig gewesen war. Die Anteile von Wilhelm wurden an alle vier Kinder Staudts vererbt und Ricardo Staudt war sein designierter Nachfolger als Firmenchef.309 Das Testament sah vor, dass der Hauptsitz der Firma in Buenos Aires blieb und Ricardo 50 % der Anteile sowie die Firmenleitung übernahm. Die beiden Staudt-Töchter sollten lediglich 17 % der Anteile und Elisabeth Staudt als stille Anteilseignerin eingesetzt werden. Da das argentinische Gesetz nur die paritätische Vererbung vorsah, wurde das Testament nur in Deutschland erfüllt und in Paravicini. Ein historisch-genealogischer Überblick, Zürich 1950 und den Briefwechsel von Staudt und Lehmann-Nitsche, verfügbar im Nachlass Robert Lehmann-Nitsche im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin. 306 Vgl. Guillermo Kraft, “Staudt, Ricardo W.“, S. 564. 307 Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 140. 308 Vgl. ebd., S. 142f. 309 Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 13; La Publicité Internationale, Wilhelm Staudt. 78 Argentinien bekamen die Töchter gemeinsam 50 % der Anteile.310 Ricardo war im Jahre 1906 noch nicht volljährig, sodass seine Mutter Wilhelm Roland-Lücke als Testamentsvollstrecker einsetzte. Roland-Lücke, Mitglied im Vorstand der Deutschen Bank und mit Wilhelm Staudt befreundet, stand bis zu seinem Tod 1917 dem Direktorium in Berlin und Buenos Aires vor.311 Die Verbindung von Staudt und der Deutschen Bank ging auch auf Wilhelm Staudts Sohn, Ricardo über. Ab 1919 wurde er in den Aufsichtsrat der Deutschen Ueberseeischen Bank berufen, dem er bis zur vorläufigen Liquidation der Bank im Jahre 1943 angehörte.312 Der Aufschwung des Unternehmens ging trotz des Todes von Wilhelm Staudt bis zum Ersten Weltkrieg nahtlos weiter. Obwohl die Unternehmensnachfolge durch Ricardo nicht sofort eintrat, wurde aufgrund der klaren Verhältnisse im Testament Wilhelms‘ im Sinne der Familie Staudt weitergeführt. Trotz der Anwesenheit von bis zu vier Mitgesellschaftern, blieb die Familie Staudt Mehrheitseigentümerin des Unternehmens. Die Mitgründer des Unternehmens, Peter Bauer und Carl Freisz schieden bereits 1899 als Eigentümer aus dem Unternehmen aus und die sonstigen Anteilseigner waren nur für begrenzte Zeiträume am Unternehmen beteiligt. Kurt Glaeser war mit 18 Jahren der längste Anteilseigner außerhalb der Familienmitglieder. Glaeser wurde als langjähriger Vertrauter der Familie auch für ein Jahr Interimspräsident der Firma in Buenos Aires von 1922 bis 1923.313 Obwohl es zu einem relativ zügigen Wechsel der übrigen Anteilseigner des Unternehmens kam, verfolgte Staudt & Cía. eine Personalpolitik, die auf ein hohes Maß an persönlichen Kontakten begründet war. Seit der Gründung holte Wilhelm Staudt ehemalige Mitarbeiter von Hardt & Co. in die Firma und beförderte langgediente Mitarbeiter zu Filialleitern und Anteilseignern. Die Familie Staudt blieb stets die Mehrheitseigentümerin und stellte die ersten Geschäftsführer, bzw. den Testamentsvollstrecker in Vertretung. Ricardo übernahm ab 1910 leitende Tätigkeiten bei Staudt & Cía., die mit der kontinuierlichen Erhöhung seiner Unternehmensanteile einhergingen, zu Lasten der Anteile seiner Schwestern und dritter Anteilseigner.314 310 Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 79. Vgl. Staudt, Geschichte der Familie Staudt, S. 34. 312 Vgl. Pohl, Deutsche Bank, S. 86. 313 Eine Liste der Anteilseigner und Mitglieder des Direktoriums findet sich in Staudt & Co., Staudt & Co., S. 13; 15. 314 Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 5. 311 79 Der Erste Weltkrieg markierte eine starke Zäsur für Staudt. Als deutsches Unternehmen konnten die Filialen in Europa und Nordamerika nicht weitergeführt werden. Auch die Hamburger Filiale musste bereits 1914 ihren Dienst aufgrund der alliierten Seeblockade aufgeben. Um das weltweit gestrickte Handelsnetz von Staudt trotzdem aufrecht erhalten zu können, wurde Anfang 1915 in Stockholm die A/B Laplatakompaniet gegründet, welche die Funktionen der Hamburger Filiale zwischenzeitlich übernahm und den Handel mit den nordeuropäischen, neutralen Staaten ermöglichte.315 In Argentinien konnten die Geschäfte am Anfang des Krieges noch weitgehend fortgeführt werden, auch wenn der Transport von und nach Europa deutlich eingeschränkt war. Im Jahre 1916 wurde in Chile eine Filiale eröffnet und der interamerikanische Handel bekam eine steigende Bedeutung für Staudt.316 Mit der Einführung der ‚Schwarzen Listen‘ der englischen Regierung ab 1916 und der U.S. Enemy Trading List, die im Dezember 1917 veröffentlicht wurde, stand auch Staudt & Cía. ganz im Zentrum der ökonomischen Kriegsführung. Staudt gehörte zu jenen deutsch-geprägten Unternehmen in Argentinien, die Gegenmaßnahmen unternahmen, um den Konkurs zu vermeiden. Mit der Herausgabe der ‚Schwarzen Listen‘ wurde es für Staudt unmöglich, über legalem Weg Im- und Exportgeschäfte zu unternehmen. Mit dem Kriegseintritt der USA war auch der interamerikanische Handel behindert, da Staudt von den Alliierten als rein deutsches Unternehmen gesehen wurde. 1916 war Staudt Mitbegründerin von Verbänden wie des Comité para la Libertad de Comercio, der Liga de Equidad y Justicia und trat der Deutsch-Argentinischen Handelskammer bei.317 Diese Organisationen hatten das Ziel, bei der argentinischen Regierung gegen einen Kriegseintritt zu werben und die Durchsetzung von alliierten Sanktionen wie den Boykott von Unternehmen auf ‚Schwarzen Listen‘ zu verhindern. Außerdem waren die Interessensverbände wichtige Bündelungen zur Organisation der Unterwanderung von Sanktionen. Als eines der größten Exportunternehmen Argentiniens, war Staudt ein wichtiger Arbeitgeber in Argentinien, sodass ihre Geschäftsgrundlage auch die Interessen vieler argentinischer Arbeiterinnen und Arbeiter tangierte. Bereits vor Kriegseintritt der USA versuchten amerikanische Geheimdienste die verdeckten Operationen von deutschen Unternehmen in Lateinamerika zu unterbinden, auch die von 315 Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 8. Vgl. ebd., S. 9; 34. 317 Vgl. Bisher, Intelligence War, S. 67. 316 80 Staudt. Durch ein komplexes Bankennetzwerk, das bereits vor dem Krieg bestand, konnten deutsche Unternehmen in Übersee Geschäftstransaktionen noch weitestgehend über neutrale Länder, meist Skandinavien, weiterführen.318 Staudt hatte vor und auch während des Krieges ein eigenes weit gesponnenes Netzwerk an Filialen und Agenturen auf dem amerikanischen Kontinent, was die Zahlungsabwicklung erleichterte. Staudt war ein Unternehmen, das sehr stark von Gütern wie Vertrauen und Intuition abhing. Durch enge persönliche Netzwerke, die auf langjähriger Zusammenarbeit basierten, schaffte es Staudt, das Geschäft durch den Weltkrieg zu führen, auch wenn es Einschränkungen gab. 4.2.6. Unternehmensaufspaltung und weitere Expansion nach dem Krieg Nach dem Krieg versuchte Staudt die unterbrochenen Geschäftsverbindungen wieder schnell aufzubauen. Als Ersatz für die geschlossene Antwerpener Filiale wurde 1919, gemeinsam mit deutschen Unternehmen aus der Eisenindustrie, die holländische Firma Overbeek & Co. übernommen.319 Kurz darauf spaltete sich das deutsch-argentinische Doppelunternehmen in zwei rechtlich getrennte Gesellschaften auf. Mit der Neugründung der Staudt & Cía. S.A.C. wurde das Unternehmen 1922 in Argentinien zu einer vollständig eigenständigen Gesellschaft.320 Die Mehrheit der Anteile lag bei Ricardo Staudt, der gleichzeitig ab 1923 als Präsident des Direktoriums fungierte. Das restliche Direktorium bestand aus Deutschen oder Argentiniern mit deutschen Wurzeln, die bereits für Staudt gearbeitet hatten.321 Die vererbten Anteile der argentinischen Firma an Ricardos Schwestern wurden nach und nach komplett von Ricardo übernommen, sodass Ricardo zunehmend zum argentinischen Ableger der Familie Staudt wurde, wohingegen seine Mutter und Schwestern sich aus Argentinien zurückzogen. Bis 1923 trat Elisabeth Staudt sämtliche direkten Beteiligungen in Argentinien an ihren Sohn ab und bis 1932 übernahm Ricardo die restlichen Anteile von seinen Schwestern.322 Die eigenständige deutsche Firma Staudt & Co. gehörte mehrheitlich Ricardos Schwestern in Berlin sowie dritten Anteilseignern. Ricardo hatte nach der Trennung keine rechtliche Verbindung mehr zur deutschen Firma.323 318 Vgl. Bisher, Intelligence War, S. 147. Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 8. 320 Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 5. S.A.C. steht für die argentinische Rechtsform Sociedad Anónima Comercial, äquivalent zur deutschen GmbH. 321 Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co., S. 15; Blousson. El Caso Staudt, S. 33f. 322 Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 80f. 323 Vgl. ebd., S. 5. 319 81 Trotzdem war die Kooperation der namensgleichen Firmen aus Deutschland und Argentinien weiterhin eng. So übernahm Staudt & Cía. S.A.C. die Anteile an Overbeek & Co. und auch die Aktienmehrheit der A/B Laplatakompaniet. Über das Unternehmensnetzwerk zwischen Argentinien und Europa, sicherte sich die argentinische Firma nach dem Krieg eine gute Wettbewerbsposition, nachdem der transatlantische Textilhandel wieder aufgenommen wurde. Beispielsweise gelang es durch die Kontakte und Beteiligung an Overbeek & Co. argentinische Wolle kurzfristig an die rheinischen Kammgarnspinnereien zu verkaufen.324 Dies vollzog sich in einer Marktsituation, in der der globale Handel noch weitestgehend zusammengebrochen war. Die Industrialisierung Argentiniens in den 1920er Jahren ließ neue Geschäftsmöglichkeiten aufkommen, sodass von der Staudt & Cía. S.A.C. im Jahre 1927 ein Tochterunternehmen mit einem brasilianischen Unternehmen für technische Industriewaren gegründet wurde. Die Tochterfirma unter dem Namen Bromberg, Staudt & Cía. war an mehreren Großprojekten in Argentinien mit der Belieferung von Maschinen beteiligt. Sie war im Aufbau der Eisenbahnwerkstätten (gemeinsam mit dem deutschen Baukonsortium GEOPÉ) und in der Einrichtung von Gefrier- und Kühlanlagen (mit Siemens) beteiligt.325 Die Lebensmittelabteilung lagerte Staudt & Cía. S.A.C. im Jahre 1928 an die Firma E. Pallavicini & Cía. gegen den Bezug von Anteilen an der Firma aus.326 Auf dieser Grundlage von Unternehmenskooperationen und der Firmierung von einzelnen und gemeinsamen Tochterunternehmen, entwickelte sich Staudt & Cía. S.A.C. zu einer großen Holding-Gesellschaft, die ihre globalen Geschäftsaktivitäten nach dem Krieg stark ausbaute. Staudts Kapitalzuwachs wurde so stark, dass Ricardo Staudt die Firma zu einer großen Finanzgesellschaft machte, die über 20 Beteiligungen innehielt, an denen häufig viele andere Investoren beteiligt waren.327 Es entstand ein enges Geflecht an Beteiligungen, durch die natürlichen Personen der Staudts und der juristischen Personen der Gesellschaften, das global aufgestellt war.328 324 Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 102. Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co, S. 48f. 326 Vgl. ebd., S. 8f. 327 Vgl. Blousson, El Caso Staudt, S. 10. 328 Die enge und komplexe Verstrickung von Ricardo Staudt mit deutschen Unternehmen war ein wichtiger Gegenstand in der späteren gerichtlichen Auseinandersetzung über die Enteignung des Unternehmens in Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg. 325 82 Neben den Beteiligungsunternehmen führte Staudt & Cía. auch das eigene Kerngeschäft, den Wollexport, weiterhin aus. Die Baumwollanbaufläche und -produktion wuchs in den 1920er Jahren stark an und wurde aufgrund seiner intensiven Bewirtschaftung von kleinen und mittleren Betrieben unterhalten. Da Staudt als Handelsunternehmen von den Bauern die Rohbaumwolle aufkaufen musste, betrieb das Unternehmen in den Anbaugebieten eigene Aufbereitungsanlagen und Ölfabriken, in denen die Baumwolle entkörnt und die Samen zu Speiseöl gepresst wurden.329 Der interamerikanische Handel wurde für das zweite Kerngeschäft, den Textilhandel immer wichtiger, sodass Filialen in Süd- und Mittelamerika eröffneten. Die Industrialisierung der Textilwirtschaft in Argentinien in den 1920er Jahren machte den Import von Textilwaren für Staudt zunehmend unattraktiv. Von Buenos Aires aus wurde daher ein Handelsnetz nach Peru, Ecuador, Kolumbien, Venezuela, Kuba und mittelamerikanischen Ländern gesponnen, die in ihrer industriellen Entwicklung im Textilsektor noch nicht so weit fortgeschritten waren und Abnehmer für importierte Textilprodukte aus Deutschland waren.330 Eine Werbeanzeige im Bundeskalender 1929 zeigt, dass Staudt auch Haushaltgüter vertrieb, die auf Deutsch für die deutsche Enklave in Argentinien beworben wurden. Es handelte sich um textile Möbel und Einrichtungsgegenstände sowie Kunststoff-Böden. Insbesondere Möbel und Einrichtungsgegenstände waren bereits keine importierten Güter mehr, sondern wurden in Argentinien produziert und von Staudt an den Konsumenten verkauft.331 Außerdem ging das Unternehmen Kooperationen mit deutschen Global Playern ein. Am Anfang der 1920er Jahre gründete Staudt & Cía. mit der Siemens & Halske AG ein Waffenimportunternehmen mit dem unscheinbaren Namen Compañía Argentina de Comercio (Coarico), um den steigenden Bedarf an Waffen und Militärgeräten des argentinischen Militärs zu bedienen. In Berlin wurde Coarico durch Siemens vertreten, in Buenos Aires durch Staudt. Ricardo Staudt verfügte über ein weitreichendes Netzwerk an Geschäftspartnern in Argentinien, sodass deutsche Firmen ihre Geschäfte über Coarico abwickelten, wie im Jahre 1924, als mehrere zivile und militärische Junkers-Flugzeuge an die argentinische Regierung 329 Vgl. Staudt & Co., Staudt & Co, S. 34. Vgl. ebd. 331 Siehe eine Werbeanzeige von Staudt & Cía. S.A.C. im Anhang. 330 83 geliefert wurden.332 Die engen Kontakte von Ricardo Staudt zu Unternehmern und auch Politikern in Argentinien nutzte Siemens und berief Staudt in den Aufsichts- und Verwaltungsrat der Siemens-Tochter in Argentinien. Obwohl nach einiger Zeit die Geschäftsführung von Siemens mit Ricardo Staudt im Aufsichtsrat unzufrieden war, beharrte die Leitung in Berlin auf die Beibehaltung Staudts in den Kontrollgremien, weil Siemens in Argentinien unbedingt prominente argentinische Persönlichkeiten wie Staudt im Unternehmen halten wollte.333 Die engen Verbindungen und Beteiligungen von Ricardo Staudt und von Staudt & Cía. S.A.C. zu deutschen Unternehmen gingen auch während der Zeit des Nationalsozialismus weiter. Dies wurde Ricardo Staudt zum Verhängnis, als es im Jahre 1946 zur Anklage der Person und des Unternehmens Staudt vor einem argentinischen Gericht kam, das über eine Enteignung des Unternehmens urteilen sollte, was durch die argentinische Kriegserklärung an das Deutsche Reich im März 1945 möglich wurde. In der Gerichtsverhandlung ging es primär um die Frage, ob Staudt als ein deutsches oder argentinisches Unternehmen betrachtet werden sollte und inwiefern Beteiligungen von Staudt zu deutschen und kriegsbeteiligten Industrien bestanden. Darüber hinaus wurde über ein mögliches nationalsozialistisches Gedankengut bei Ricardo Staudt debattiert, weil es um die Frage ging, ob Ricardo Staudt als ein ‚deutscher Volksgenosse‘ galt oder nicht. Seine beruflichen Tätigkeiten als Generalkonsul für Österreich bis 1938 und seine Teilnahme an der größten Massenveranstaltung der Nationalsozialisten im Ausland im Luna Park in Buenos Aires am 10. April 1938 waren zentrale Argumente der Anklage. Am Ende wurde Staudt in den Punkten freigesprochen und der Verteidigung Recht gegeben, die auch sehr auf die Bedeutung Staudts für die argentinische Wirtschaft hingewiesen hatte.334 Darüber hinaus unterstütze Ricardo Staudt die nationalsozialistische Wohlfahrtsorganisation ‚Winterhilfswerk‘ mit größeren Spenden. Im Verlauf des Krieges distanzierte er sich öffentlich vom Nationalsozialismus. Als Finanzierer des Wahlkampfes von Juan Domingo Perón bekam er zudem einen engen Draht zum späteren Präsidenten und spielte möglicherweise eine wichtige Rolle in der Finanzierung und Organisation der Fluchtrouten von 332 Vgl. Schuler, Friedrich E., Secret Wars and Secret Policies in the Americas, 1842-1929, Albuquerque 2015, S. 404; Rennicke, Stefan, Siemens in Argentinien. Die Unternehmensentwicklung vom Markteintritt bis zur Enteignung 1945, Berlin 2004, hier: S. 162. 333 Vgl. Rennicke, Siemens in Argentinien, S. 163. 334 Zur gerichtlichen Debatte im Fall Staudt siehe: Blousson, El Caso Staudt. 84 ehemaligen Nationalsozialisten, den sogenannten ‚Rattenlinien‘, was bislang allerdings nicht umfassend erforscht ist.335 5. Diskussion und kritische Würdigung Die frappierende Gemeinsamkeit der zwei Fallbeispiele aus dem vorangegangenen Kapitel ist die Nähe zu Kaiser Wilhelm II. Verständlicherweise ist dieser Befund eher zufälliger Natur, jedoch steht er exemplarisch für eine neue deutsche Wirtschaftselite, die durch eigenen wirtschaftlichen Erfolg Zugang zur politischen Führungsriege erhielt. Obwohl die Familien Weil und Staudt beide eher mittelklassiger Herkunft waren, gelang es bereits der ersten Generation der Einwanderer in Argentinien neue Geschäftsmöglichkeiten zu entdecken und durch schnellen wirtschaftlichen Erfolg in höhere Gesellschaftskreise in Deutschland aufzusteigen. Dieser Nexus von im Ausland erwirtschaftetem Erfolg und gesellschaftlicher Reputation in Deutschland steht exemplarisch für die erste Einwanderergeneration der Deutschen in Argentinien. Sie orientierte sich stark am Heimatland Deutschland und unterhielt dort auch die engsten internationalen Geschäftsverbindungen. In beiden Fällen gründeten und hielten die Unternehmer Staudt und Weil ihr Geschäft in Argentinien und erwirtschafteten dort den größten Wohlstand. Sie selbst allerdings sahen sich weiterhin als Deutsche und reisten wegen geschäftlicher Tätigkeiten oder zur Gründung einer Familie regelmäßig nach Deutschland. In beiden Case Studies wurde deutlich, dass die Hauptakteure zumindest zeitweise sehr deutschnational eingestellt waren. Bei Hermann Weil wurde dies bereits in seiner Jugendzeit in Deutschland sichtbar und äußerte sich nochmals in der Funktion als Kriegsberater. Auch Wilhelm Staudt zeigte sich als Verfechter von deutschen Wirtschaftsinteressen und sein Sohn sympathisierte mit den Nationalsozialisten. Obwohl Ricardo Staudt die Nationalsozialisten möglicherweise stärker als andere Wirtschaftsvertreter unterstützte, lässt sich sowohl bei ihm als auch bei der Familie Weil ein Generationenunterschied feststellen, was auf die transnationale Identität hinweist. So sahen sich Ricardo Staudt und Felix Weil in erster Linie als Argentinier. Nicht nur die Staatsbürgerschaft nahmen sie an, auch kulturell 335 Zu den Verstrickungen deutsch-argentinischer Wirtschaftseliten in den Nationalsozialismus, wo auch Ricardo Staudt eine Erwähnung findet, siehe: McGaha, Richard, The Politics of Espionage. Nazi Diplomats and Spies in Argentina, 1933-1945, Athens 2009. 85 identifizierten sie sich mit Argentinien. Ihren Lebensmittelpunkt hatten sie in Buenos Aires und erlangten eine stärkere Bindung zur argentinischen Öffentlichkeit als ihre Väter. Ihre Muttersprachen waren sowohl Deutsch als auch Spanisch und sie benutzten ihre Vornamen in der spanischen Variante. Bei den Ehepartnern lief es in beiden Fällen jedoch auf Frauen aus Deutschland hinaus, wobei sich die Familien als argentinisch bezeichneten und die Kinder spanische Vornamen trugen. Elizabeth und Ricardo Staudt nannten ihren ersten Sohn Guillermo, die spanische Variante von Wilhelm und der gleiche Name wie Ricardos Vater. Dieser Fall ist ein besonders gutes Beispiel für transnationale Namensgebung, welche die Verbundenheit der Familie mit beiden Ländern zum Ausdruck bringt. Die transnationale Identifikation der zweiten Generation steht im Kontrast zu den Befürchtungen von Kulturideologen aus Deutschland, die vor dem ‚Untergang des Deutschtums‘ im Ausland durch Assimilation warnten. Der Blick der ausgewanderten Deutschen in Argentinien war insbesondere in der zweiten Generation deutlich moderater, da beide Identitäten gemeinsam erlebt wurden. Die Verbindung nach Deutschland verblieb nicht nur im geschäftlichen Sinne, sondern äußerte sich auch in der Beibehaltung von Sprachen und dem sozialen Umfeld. Die Spenden an die deutsche Gemeinde in Argentinien sowie an Organisationen in Deutschland sind Belege für den Ausdruck der Verbundenheit mit Deutschland und den Deutschen in Argentinien an sich. Die beiden untersuchten Fallbeispiele repräsentieren auch das Janusgesicht des wirtschaftlichen Lebenszyklus einer Firma. Im Falle von Weil Hermanos sieht man, wie ein Unternehmen große wirtschaftliche Erfolge feierte und zugleich die Anpassung an ein verändertes Marktumfeld verpasste. Zwar reichte das angehäufte Vermögen aus, damit der Erbe Felix Weil als Mäzen der Frankfurter Schule tätig wurde, allerdings scheiterte das Exportunternehmen der Familie Weil in Argentinien am Ende der 1920er Jahre. Das Unternehmen entstand in einer historischen Extremsituation, in der ganz Argentinien durch den Export von Getreide aufblühte und ging am Ende dieser einmaligen Situation mit dem sogenannten Agrar-Export-Modell zu Grunde. Argentinien hatte wie das Unternehmen Weil Hermanos großen Reichtum durch den Handel in fünf Jahrzehnten erwirtschaftet und musste ab 1929 ein neues Geschäftsmodell finden. Durch gescheiterte Nachfolgepolitik im Unternehmen Weil wurde der Wandel nicht vollzogen, auch wenn die Familie selbst nicht vom Bankrott betroffen war. 86 Ganz im Gegensatz zu den Weils gelang es den Staudts, eine wirtschaftlich langfristige Erfolgsgeschichte in Argentinien zu schreiben. Ebenfalls wie Hermann Weil war Wilhelm Staudt mit dem Export von landwirtschaftlichen Gütern, hier allerdings vor allem von Häuten und Wolle, zu schnellem und großem Wohlstand gekommen. Allerdings verstand es Staudt bereits früh den Volatilitäten der argentinischen Wirtschaft durch Diversifizierung zu entgehen. Durch ein weit gesponnenes Netzwerk an Beteiligungen und Gründungen von Subunternehmen gelang es der Unternehmensgruppe Staudt kurz- und mittelfristigen Wirtschaftskrisen in Argentinien zu entgehen. Die schnelle Anpassungsfähigkeit durch dynamische Geschäftsentscheidungen gaben Staudt große kompetitive Vorteile in Argentinien und erbrachten der Unternehmensgruppe erheblichen politischen Einfluss. Anders als bei Weil gelang bei Staudt die Kontinuität als Familienunternehmen, sodass wirtschaftliche Expansion mit gesellschaftlichem Aufstieg einherging. Die Bedeutung der ethnischen Komponente bei beiden Unternehmen lässt sich auf zwei Arten beantworten. Einerseits über kompetitive Vorteile in der Produktionsfunktion und andererseits über jene in der Absatzfunktion der Firmen. Die deutschen Einwandererunternehmer hatten einerseits aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit einen privilegierten Zugang zu den Produktionsfaktoren in Argentinien. Der Faktor Arbeit wurde durch Co-ethnische Beschäftigen erbracht, was Teil einer vertrauensbildenden Maßnahme war. Die Firmen Weil und Staudt operierten beide in einem engen Vertreternetz und setzten langjährige Vertraute, meist Deutsch-Argentinier, im Management ein. Vertrauen gehörte somit zu einem wichtigen Gut in der Einsetzung des Produktionsfaktors Arbeit. Der Faktor Kapital wurde auch über die deutsch-ethnische Gruppe generiert. Die global agierenden deutschen Banken waren für die Finanzierung von Handelsgeschäften von ausgewanderten Deutschen von großer Bedeutung. Die Deutsche Bank spielte in der Finanzierung des Geschäfts von Staudt eine wichtige Rolle und das Einsetzen der Staudts in Aufsichtsratsgremien zeigt die sehr enge Verbindung der Häuser. Auch hier waren Vertrauen und langjährige Zusammenarbeit wichtige Güter, die zur Abwicklung von Geschäften in Argentinien genutzt wurden. Der dritte Produktionsfaktor Boden wiederum ergibt sich aus den historischen Opportunitäten und hat keinen direkten ethnischen Bezug. Die deutschen Einwandererunternehmer hatten einen privilegierten Zugang zum Absatzmarkt. Als kleine Einwanderergemeinde konnten sie einerseits auf wirtschaftliche Vorteile 87 in einer Enklavenökonomie zurückgreifen, weil durch sprachliche und kulturelle Nähe das Produktangebot besser auf speziell ethnische Konsumwünsche angepasst werden konnte. Andererseits reichte die kleine Gruppe der Deutschen nicht als Absatzmarkt für größere Produktmengen oder gar Massengüter aus, sodass über die Gemeinde hinaus nach Absatzmärkten gesucht wurde. Dies galt insbesondere dann, wenn keine Konsumprodukte verkauft wurden – wie im Falle von Weil und für den größten Teil des Geschäfts von Staudt. Für die Exportfirmen war Deutschland dabei ein wichtiger Abnehmer von Waren. Im Zuge der Industrialisierung Deutschlands bekamen die Rohstoffe aus Argentinien eine wichtige Bedeutung. Angebot und Nachfrage trafen sich in einer historischen Situation, in welcher deutsche Einwanderer in Argentinien durch ihre Verbindungen und Netzwerke nach Deutschland einen vorteilhaften Marktzugang hatten. Ihre kaufmännischen Ausbildungen, Praxiserfahrungen und die Kontakte in Deutschland spielten eine fundamentale Rolle für den Zugang zu Warenabnehmern. Kann man nun von einer ‚Erfolgsgeschichte‘ von deutschen Unternehmern in Argentinien sprechen? Sind die Familien Staudt und Weil sogenannte Kirznerische ‚reine Unternehmer‘, die den „Zehndollarschein nicht nur ergreifen, sondern auch neu entdecken“?336 Betrachtet man die Case Studies lässt sich der Erfolg der beiden Unternehmer nicht bestreiten. Eine zeitgenössische Empfindung, welche auf die speziellen Charaktereigenschaften der Deutschen abzielt, also Fleiß, Geschäftssinn und Disziplin, war dabei aber weniger wichtig, als die historischen Strukturen selbst.337 Im weiteren Sinne führten die Unternehmer Staudt und Weil ein Ungleichgewicht im Weltmarkt wieder ins natürliche Gleichgewicht, in dem ihr Angebot aus Argentinien eine neue Angebotsquelle schaffte. Ob Staudt und Weil hier als Typen ‚Kirznerscher Unternehmer‘ genannt werden sollten, kann nicht abschließend bewertet werden. Zweifellos konnten sie Geschäftsmöglichkeiten identifizieren und Gelegenheiten profitabel ausnutzen, allerdings waren sie nicht die jeweils einzigen oder ersten Unternehmer in ihrer Branche in Argentinien. Von gar einer schöpferischen Zerstörungskraft kann man bei beiden Unternehmern nicht sprechen, jedoch verstanden sie es in einer speziellen historischen Situation durch ihre unternehmerische Findigkeit Gelegenheiten zu nutzen. Insbesondere ihre Fähigkeiten, Informationen zu 336 337 Zit. nach Kirzner, Wettbewerb, S. 38. Vgl. Penny, Material Connections, S. 524f. 88 bewerten und notwendige wirtschaftliche Initiative zu ergreifen, half den Erfolg ihrer Unternehmen zu sichern. In einigen Fällen leisteten sie mit ihren Unternehmen in Argentinien Pionierarbeiten und besaßen dadurch eine gewisse Innovationskraft. Insgesamt betrachtet müssen weniger die Unternehmer selbst, als die Aggregation der deutschen Einwanderergemeinde samt all ihren Unternehmungen als ethnisch-unternehmerischer Prozess verstanden werden. Denn wie die in der Einleitung gestellte These unterstellte, führte das Zusammenspiel von kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Besonderheiten bei deutschen Einwanderern zur Herausbildung spezifischer Unternehmungen, welche als Antwort auf historische Opportunitäten zu verstehen sind. Obwohl Staudt und Weil im Groß- und vor allem Außenhandel tätig waren und nicht an den Endkonsumenten verkauften, gibt es Belege für eine Identifikation mit der deutschen Gemeinde in Argentinien. Die Spenden an die evangelische Gemeinde, wie auch die Teilhabe an deutsch-ethnischen Vereinsleben, Feierlichkeiten und Wohltätigkeitsorganisationen, spiegeln eine gewisse Verbundenheit mit der deutschen Öffentlichkeit in Argentinien wider. Die Bedeutung der deutsch-ethnischen Organisationen in Argentinien für die Herausbildung eines Unternehmertums ließ im Laufe der Generationen allerdings nach. Sowohl die Makroperspektive auf die deutsche Einwanderergemeine, als auch die Mikroperspektive der Case Studies zeigen, dass die Bindekraft von ethnischen Organisationen bereits in der zweiten Einwanderergeneration nachließ und die argentinische Identität stärker erlebt wurde, ohne ganz auf die deutsche Herkunft zu verzichten. Andererseits war die wirtschaftliche Bindung zu deutschen Unternehmen und Banken weiterhin groß und spielte eine wichtige Rolle in der Ressourcenmobilisierung. Die beiden Case Studies stehen freilich nicht beispielhaft für die gesamte Bandbreite an Unternehmen der Deutschen in Argentinien. Vielmehr handelt es sich um eine Auswahl von Elitegruppen. Der Großteil der Einwandererunternehmer war indes im kleineren Maßstab unternehmerisch tätig. Insbesondere bei dieser Gruppe spielte der transitorische Charakter der ethnischen Enklave eine wichtige Rolle. Die ethnische Enklave schaffte durch die räumliche und soziale Nähe einer gemeinsamen Sprache, Kulturnormen und einer dualen Identität komparative Vorteile, sodass man von Klubgütern sprechen kann. Aus dieser Enklave entstanden weitere Kleinunternehmer wie zum Beispiel Handwerksbetriebe und 89 Einzelhändler. Insbesondere im Bereich der Konsumgüterindustrie, sind Vertreterbetriebe globaler Markenprodukte ein weiteres Beispiel. 6. Fazit und Ausblick Diese Arbeit hatte das Ziel einen Gegenentwurf zur institutionellen Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas aufzuzeigen, deren prominente Vertreter ein weitestgehend finsteres Bild der wirtschaftlichen Entwicklung zeichnen. Die Unternehmens- und Sozialstruktur vieler lateinamerikanischer Länder ist bis heute geprägt von europäischen Migranten, die am Aufbau und der Entwicklung der Wirtschaftsarchitektur teilhatten. Das Beispiel der deutschen Einwanderer in Argentinien zeigt, wie eine quantitativ kleine Einwanderergruppe zu qualitativ großer Bedeutung im Aufbau von Wirtschaftsunternehmen kam. Durch die Verbindung von unternehmens- und kulturgeschichtlichen Elementen hat diese Arbeit einen Perspektivwechsel vollzogen, der das komplexe Zusammenspiel von unternehmerischen Handlungen mit den Kulturen und Strukturen der Einwanderergemeinde verknüpft, ohne den institutionellen Kontext zu vernachlässigen. Die Einnahme von drei Perspektiven diente zur Erklärung einer komplexen historische Situation. Dies erfolgte mikroperspektivisch in Form von individuellen Handlungen, makroperspektivisch in Form des institutionellen Kontextes und mesoperspektivisch in Form von zeitgenössischen lokalen Gelegenheitsstrukturen. Der Untersuchungszeitraum bildete einen historischen Rahmen zwischen circa 1880 und 1930, welche als Extremjahre des Wirtschaftswachstums für Argentinien gelten. Das sogenannte Agrar-Export-Modell verhalf Handelsunternehmen in Argentinien hochprofitabel zu werden und zugleich begünstigten Pull-Faktoren einen massenhaften Zustrom europäischer Immigranten als Arbeitskräfte und Unternehmer. Der historische Zeitraum schließt die Zeit des wirtschaftlichen und politischen Imperialismus ein, der von Europa und Nordamerika als erste Globalisierungswelle nach Lateinamerika und Argentinien übergriff. Diese Situation ergab beispiellose ökonomische Gelegenheiten, die von Eingewanderten in Argentinien profitabel genutzt werden konnten. Das Beispiel der Deutschen zeigte, dass die kulturellen Erwartungen und Sichtweisen, die sozialen Strukturen der Einwanderergemeinde und wirtschaftlich komparative Vorteile auf Basis ethnischer Merkmale zur Herausbildung spezieller Unternehmungen führte. 90 Die Befunde dieser Arbeit zeigen überwiegend Männer als relevante Akteure bei Einwandererunternehmen. Zwar ist die Dominanz der Männer in der Wirtschaft den historischen Strukturen und der männlich dominierten Situation in Argentinien geschuldet. Jedoch hat die Case Study zu Staudt gezeigt, dass auch die Ehefrauen eine wichtige, wenn auch verdeckte Funktion in Unternehmen hatten. Sie waren Anteilseignerinnen und führten auch strategische Entscheidungen aus, was in dieser Arbeit aber nur ansatzweise gezeigt werden konnte. Auch ihre Funktion in der betrieblichen Wohltätigkeit und sozialen Fürsorge als Ehefrauen von Unternehmern ist insbesondere in Argentinien als ein Land mit anfangs geringerer staatlicher Wohlfahrt interessant und gilt es in anderen Arbeiten weiter zu untersuchen. Darüber hinaus wäre eine noch stärkere Auseinandersetzung der Einwandererunternehmer in Argentinien über den in dieser Arbeit betrachteten Untersuchungszeitraum hinweg von Interesse. Die importsubstituierende Industrialisierung, die in den 1930er Jahren und in den Folgejahrzehnten in Argentinien voranschritt, wäre ein weiterer wichtiger Untersuchungsgegenstand, da sich die Rahmenbedingungen für Unternehmer in der Militärdiktatur und mit staatlich gelenkter Industriepolitik stark veränderten. Die Verflechtung der Unternehmer mit autoritären Staatsstrukturen wäre auch im Kontext des Nationalsozialismus relevant. Weitere Forschungsansätze könnten zeigen, inwiefern etwa Ricardo Staudt für die politische und gesellschaftliche Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie in Argentinien verantwortlich war und ob seine Unternehmensgruppe mit dem ‚Dritten Reich‘ kollaborierte. Die Verstrickungen der deutschstämmigen Argentinier mit dem Nationalsozialismus ist insbesondere vor dem Hintergrund der Fluchtrouten zahlreicher Vertreter des nationalsozialistischen Regimes nach Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg von hoher wissenschaftlicher Relevanz. 91 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Relative Häufigkeit des Auftretens der Wörter ‚Argentinien‘ und ‚Brasilien‘ im Google-Books Korpus aller deutschsprachigen Publikationen zwischen 1850 und 1930………………………30 Abbildung 2: Hermann Weil mit seiner Familie, Aufnahme von 1904………………………………………………..……..52 Abbildung 3: Die Gründer von Weil Hermanos: Samuel, Hermann, Ferdinand.………………………………………..57 Abbildung 4: Verkaufsräume der Textilwaren in der Haupt-verwaltung, Bartolomé Mitre 669…………………70 Abbildung 5: Lager- und Sortierräume der Häuteabteilung von Staudt & Cía.…………………………………………..71 Abbildung 6: Familie Staudt, 1905…………………………………………………………………………………………………………….76 Tabelle 1: Jährliche Anbauflächen und Exportmengen von landwirtschaftlichen Gütern in Argentinien……54 92 Quellenverzeichnis Veröffentlichte Quellen Arent, Alfred, Argentinien ein Land der Zukunft, 3. 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Mir ist bekannt, dass Plagiate, zu denen auch ungekennzeichnete Kopien aus dem Internet gehören, nicht nur wissenschaftlich unredlich sind und den Richtlinien der Georg-AugustUniversität Göttingen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis vom 5. Juni 2002 widersprechen, sondern auch erhebliche rechtliche Folgen bis hin zum Ausschluss von der Universität haben können. Ich erkläre mich mit der Prüfung dieser Arbeit durch ein Plagiatsprüfungsprogramm einverstanden. Ich versichere, dass die elektronische und die gedruckte Fassung dieser Arbeit übereinstimmen. Göttingen, den 17.01.2019 Unterschrift 102