Schwerpunkt
Periphere Stimulation
Neben direkter zentralnervöser Stimulation wie TMS oder tDCS und roboter- und
gerätegestützter Rehabilitation wurden Therapieansätze basierend auf peripherer
Stimulation entwickelt. Die bisher an Gesunden erhobenen Befunde deuten darauf hin,
dass die repetitive sensorische Stimulation zu einer weitreichenden Reorganisation in
den sensomotorischen Netzwerken führt. Die bisher publizierten Metastudien verweisen
darauf, dass die alleinige oder in Kombination mit anderen Therapiemaßnahmen erfolgende
Anwendung der peripheren Stimulation zu einem verbesserten Rehabilitationserfolg führt.
Die Möglichkeit, die Stimulation zu Hause über lange Zeit anzuwenden zu können, dürfte
gerade für die Langzeitbehandlung chronischer Patienten eine wichtige Rolle spielen.
Die bisherigen Erfahrungen mit peripherer Stimulation der oberen Extremität verweisen auf deutliche Verbesserungen des Tastsinns, der Propriozeption, der haptischen und motorischen Performanz, was sich in einer erhöhten Alltagskompetenz niederschlägt. (Quelle: kubko/stock.adobe.com)
Einleitung
Die nach einem Schlaganfall auftretenden massiven sensomotorischen Beeinträchtigungen haben trotz vorhandener rehabilitativer Behandlungen weitreichende physische,
psychologische, finanzielle und soziale Auswirkungen. Beeinträchtigungen der Willkürmotorik und der Somatosensorik gehören zu den häufigsten Folgen des Schlaganfalls,
wobei die Auswirkungen auf obere und untere Extremitäten vergleichbar sind. Es herrscht heute Einigkeit darüber, dass die Unversehrtheit des somatosensorischen Inputs nicht nur für die taktile Wahrnehmung, sondern auch
für die sensomotorische Leistung von entscheidender Bedeutung ist. Der Verlust sensorischer Fähigkeiten der obe-
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ren Extremitäten, insbesondere der Hand, verstärkt, trotz
möglicher Erholung motorischer Funktionen, die Komplikationen bei Nutzung der Hand für allgemeine Alltagstätigkeiten [3].
Therapeutische Inter vention und Leistungs
steigerung Grundsätzlich nutzen alle auf neuroplastischen Prinzipien basierenden Rehabilitationsmaßnahmen nach Schlaganfällen aufgabenspezifisches Training
in Verbindung mit erheblichem Übungsaufwand, um Plastizitätsprozesse auszulösen und damit sensomotorische
Funktionen zu verbessern [26]. Da viele Patienten an eingeschränkter Mobilität leiden, sind diese Therapieansätze
Dinse HR. Periphere Stimulation. neuroreha 2018; 10: 178–183
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Hubert R. Dinse
Neue Rehabilitationsmaßnahmen In den letzten Jahren
wurden Anstrengungen unternommen, die Wirksamkeit
und Realisierbarkeit neuartiger Rehabilitationsmaßnahmen auf ihre Effizienz hin zu untersuchen. Neben direkter
zentralnervöser Stimulation wie TMS oder tDCS und roboter- und gerätegestützter Rehabilitation wurden Ansätze
mithilfe peripherer Stimulation untersucht.
Repetitive sensorische Stimulation in
der Rehabilitation
Das Konzept sensorischer Stimulation zur Auslösung von
Plastizitätsprozessen wird von verschiedenen Labors untersucht, die unterschiedliche Motivationen und Begriffe nutzen wie beispielsweise „peripheral nerve stimulation“ [24],
„somatosensory stimulation“ [5][27], „unattended-based
learning“ [9] oder „high-frequency stimulation“ [23]. Das
Prinzip der „co-activation“ unterstreicht die Bedeutung des
Hebb‘schen Lernens, wonach im Gehirn synchrone neuronale Aktivität eine wichtige Voraussetzung zur Auslösung
plastischer Veränderungen ist [7]. Manche Labore nutzen
„stimulus-selective response plasticity“ oder „tetanic stimulation“ in Anlehnung an das Konzept der tetanischen
Stimulation im Rahmen synaptischer Plastizitätsuntersuchungen [4]. Der häufig verwendete Begriff „passive Stimulation“ oder „passives Lernen“ soll deutlich machen, dass
zeitlich strukturierte sensorische Reize verwendet werden,
ohne diese aktiv zu beachten oder beachten zu müssen. Im
Rahmen dieses Beitrags wird durchgehend der Begriff „repetitive sensorische Stimulation“ benutzt.
Elektrische Stimulationsansätze Seit geraumer Zeit
kommt bereits eine Reihe von elektrischen Stimulationsansätzen zum Einsatz, bei denen die Unterstützung der
motorischen Performanz durch Intensivierung sensorischen Inputs im Vordergrund steht. Dabei unterscheidet man die funktionelle (FES) und die therapeutische
Elektrostimulation (TES) sowie nach ihren technischen
und konzeptionellen Charakteristika die neuromuskuläre Elektrostimulation, EMG-getriggerte ElektrostimulatiDinse HR. Periphere Stimulation. neuroreha 2018; 10: 178–183
on, Positions-Feedback-Stimulationstraining oder transkutane elektrische Nervenstimulation. Zu dem Problem
einer einheitlich-verbindlichen Terminologie kommt eine
noch größere Unübersichtlichkeit an Applikationsverfahren und Stimulationsparametern. Nur bezogen auf die Behandlung der oberen Extremität wird beispielsweise der
Medianusnerv stimuliert, ein einzelner Finger (Fingerspitze) oder alle fünf Finger einer Hand (tipstim®) oder die
ganze Hand (mesh glove). Als Elektroden kommen Klebeelektroden, Ag-AgCl-Elektroden oder Handschuhe zum
Einsatz („mesh-glove“, tipstim®-Handschuh).
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aus oben genannten Gründen oft nur bedingt zu realisieren. Demzufolge werden die bisherigen Erkenntnisse zur
Effektivität von Standardtherapieverfahren im Rahmen der
Leistungswiederherstellung von Patienten kontrovers diskutiert. Insbesondere für die oberen Extremitäten konnte
bislang nur ein bedingter Zusammenhang zwischen dem
Umfang therapeutischer Intervention und der daraus resultierenden Leistungssteigerung festgestellt werden [17].
Nach einer 2014 veröffentlichten Metastudie gab es zum
genannten Zeitraum keine „high-quality evidence“ für Interventionsmaßnahmen, die im Rahmen der Routineversorgung von Schlaganfallpatienten im Einsatz sind [22].
Aus diesem Grund ist die Entwicklung zusätzlicher Ansätze notwendig, die konventionelle Trainingsprozeduren ergänzen und verstärken.
Geringe Vergleichbarkeit Besonders schwer wird eine
vergleichende Bewertung bereits publizierter Arbeiten
durch die Verwendung ganz unterschiedlicher Stimulationsparameter, die sowohl kontinuierliche als auch intermittierende Stimulationsprotokolle im Bereich zwischen
1 Hz und 100 Hz umfassen. Variabel ist auch die Dauer
einer Stimulationssession, die zwischen Minuten bis mehrere Stunden betragen kann. Während einige Studien lediglich auf einer Stimulationssession beruhen, nutzen andere Untersuchungen eine wiederholte Applikation über
mehrere Wochen bis hin zu vielen Monaten. Auch hinsichtlich des Versuchsdesigns gibt es Unterschiede. So kann
repetitive Stimulation als „Stand-alone“-Verfahren genutzt werden oder in Kombination mit Training und anderen Therapiemaßnahmen. Schließlich kommen sehr
unterschiedliche Arten des Assessments des Interventionsoutcomes zum Einsatz, wie z. B. die Verwendung von
klinischen „rating scales“, von einfachen Funktionstests bis
zu aufwendigen Verhaltenstests. Aufgrund dieser Vielfalt
ist die Aussagekraft von Metaanalysen eingeschränkt [6].
Konzeptioneller Hintergrund der
Verwendung repetitiver Stimulation
Der Königsweg zur Verbesserung sensorischer, motorischer oder kognitiver Leistungen besteht in lang andauerndem Training und Übung. Neuere Studien an Gesunden zeigen jedoch, dass vergleichbare Leistungsverbesserung auch ohne Training durch rein passive Darbietung
sensorischer Reize erzielt werden kann. Solches „trainingsunabhängiges Lernen“ löst nachhaltige Veränderungen
der Wahrnehmung und der neuronalen Verarbeitung aus.
Synaptische Plastizität Die Grundlage aller Lernvorgänge sind Veränderungen in der Kommunikation zwischen
Nervenzellen. Auf zellulärer Ebene erfolgt der Lernprozess, indem die Signalübermittlung an der Synapse effizienter oder weniger effizient wird [1][19]. Diese Modifikation in der Synapsenstärke bezeichnet man als synaptische Plastizität. Eine Reihe von Modellen beschreibt, wie
sich die synaptische Übertragung im Verlauf des Lernens
nachhaltig ändert, z. B. durch Langzeitpotenzierung (LTP)
und Langzeitdepression (LTD). So löst hochfrequente elektrische Stimulation von Nervenzellen LTP aus, das heißt,
179
Schwerpunkt
lokalisierte repetitive Aktivierung
in der Fingerrepräsentation
LTP-artige
repetitive sensorische
Stimulation
prä
post
kortikale Reorganisation
Umbau taktiler und
sensomotorischer Verarbeitung
Rekruitment kortikaler
Verarbeitungsressourcen
Reorganisation der taktilen und sensomotorischen Verarbeitung
Verbesserung taktil/haptischer Wahrnehmung und sensomotorischer
Leistungen/Funktionsrestauration
▶Abb. 1 Wirkungsschema der repetitiven Stimulation. Sensorische Stimulation der Finger mittels LTP-artigen Stimulationsprotokollen löst
eine Kaskade von funktionellen Veränderungen des somatosensorischen Systems aus. Im Mittelpunkt steht dabei die Annahme, dass die Art der
sensorischen Stimulation plastische Prozesse induziert, die ihrerseits zu Verhaltensänderungen führen, im Falle von Patienten zu einer Funktionsrestauration der oberen Extremität. BOLD-Aktivierungen gemessen während bzw. vor und nach der Stimulation. (Quelle: nach Dinse u. Tegenthoff [10]; Umsetzung: Thieme Gruppe).
die Kommunikation zwischen den stimulierten Zellen verstärkt sich. Niederfrequente Stimulation verursacht hingegen LTD; die Effizienz der Kommunikation zwischen den
Zellen nimmt ab. LTD und LTP sind somit zwei zentrale Mechanismen für Lernprozesse. Die Wirksamkeit der repetitiven Stimulation beruht wahrscheinlich darauf, dass die
verwendeten Stimulationsprotokolle zur Auslösung synaptischer Plastizität nahezu optimal sind.
wurden, um die Signale aus dem Handbereich effektiver
zu verarbeiten. Wenn dies stimmt, sollte die Modifikation
der Hirnkarten kausal mit der veränderten Diskriminationsfähigkeit zusammenhängen. Tatsächlich zeigen Probanden, bei denen sich diese Fähigkeit nur gering verbessert, auch nur eine geringe Veränderung der Hirnkarten.
Umgekehrt findet bei den Teilnehmern, bei denen sich die
Hirnkarten am stärksten verändern, auch die größte Verbesserung des Tastsinns statt [20].
Wirkung repetitiver Stimulation bei
Gesunden
DoppelpulsStimulationstechniken Seit einiger Zeit
steht die Untersuchung exzitatorischer und inhibitorischer
Effekte auf kortikale Erregbarkeit mittels Doppelpuls-Stimulationstechniken im Mittelpunkt vieler Studien. Das
Doppelpulsverhalten (paired pulse behavior) ist dadurch
gekennzeichnet, dass bei kurzen Interstimulusintervallen
bei gleicher Reizstärke die zweite Reizantwort signifikant
kleiner ist als die erste. Nach repetitiver sensorischer Stimulation war die Doppelpulssuppression abgeschwächt,
wobei der Grad der Suppression positiv mit dem individuellen Zuwachs der Wahrnehmungsleistung korreliert [14].
Die Kenntnis der mutmaßlichen Mechanismen, die im intakten Gehirn zu Plastizitätsprozessen und einhergehenden Verhaltensänderungen führen, sind eine, wenn auch
nicht die entscheidende Voraussetzung für den Einsatz
als Intervention bei Patienten mit Schädigung des ZNS.
Ein wichtiger Parameter zur Charakterisierung neuronaler Verarbeitung mittels nichtinvasiver Verfahren ist die
Größe und Ausdehnung der kortikalen Aktivierung, was
auch als Veränderung kortikaler Karten interpretiert wird.
Verbesserte sich durch repetitive sensorische Stimulation der Tastsinn der Finger, waren im somatosensorischen
Kortex die Hirngebiete, die taktile Informationen im Finger-/Handbereich verarbeiten, vergrößert (▶Abb. 1). Dies
deutet darauf hin, dass zusätzliche Ressourcen rekrutiert
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Konnektivitätsanalysen Ein umfassendes Bild neuronaler Plastizität verlangt neben der Betrachtung lokaler
Verarbeitungseigenschaften auch die Analyse der Reorganisation globaler Prozesse, wie dies beispielsweise durch
Konnektivitätsanalysen auf der Basis von MR- oder EEGDinse HR. Periphere Stimulation. neuroreha 2018; 10: 178–183
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Modifikation der
synaptischen Effizienz
LTP-artige Prozesse
Diese Befunde zeigen, dass die Gesamtheit der sensomotorischen neuronalen Verarbeitung durch repetitive sensorische Stimulation nachhaltig verändert wird. Es erscheint
plausibel, dass diese Signaturen die Grundlage der vielfältigen Verhaltensänderungen bildet.
Generalisierung sensomotorischer
Verbesserungen
Das Training einer bestimmten Aufgabe verbessert diese,
allerdings sind solche Verbesserungen immer spezifisch für
die trainierte Aufgabe. Vor dem Hintergrund möglicher potenzieller Einsätze als Intervention wird gegenwärtig untersucht, diese oft als „Fluch der Spezifität“ bezeichnete
Eigenheit zu überwinden, um Trainingsergebnisse für Alltagssituationen zu generalisieren.
Gezielte Auslösung synaptischer Plastizität Verbesserungen des Verhaltens und der Wahrnehmung werden
bei der repetitiven Stimulation nicht durch Training einer
Aufgabe erzeugt, sondern durch die gezielte Modifikation synaptischer Übertragung in neuronalen Netzwerken.
Daher wurde die Hypothese aufgestellt, dass passive Stimulation alle neuronalen Prozesses umgestaltet, die mit
taktiler, haptischer und sensomotorischer Informationsverarbeitung zu tun haben. Eine sich daraus ergebende
Vorhersage ist die, dass repetitive Stimulation nicht nur
die taktile Diskriminationsfähigkeit verändert, die in vielen Studien verwendet wird.
Generalisierung positiver Effekte In einer Serie von
Untersuchungen konnte diese Ausgangshypothese bestätigt werden. So verbesserte sich die taktile Diskriminationsfähigkeit, die Frequenzdiskrimination, Punkt-Muster-Diskrimination, haptische Objektwahrnehmung, Reaktionszeiten bis hin zu sensomotorischem Verhalten, wie
beispielsweise Fingergeschicklichkeit [10]. Diese breite
Generalisierung positiver Effekte macht den Einsatz der
repetitiven Stimulation naturgemäß besonders geeignet
für die Therapie und Intervention nach Hirnschädigungen.
Pharmakologische Grundlagen
Zelluläre Plastizitätsstudien legen nahe, dass nur wenige
fundamentale Mechanismen die synaptische Übertragung
kontrollieren.
Dinse HR. Periphere Stimulation. neuroreha 2018; 10: 178–183
NMDA So spielt der N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor
(NMDA-Rezeptor) eine zentrale Rolle bei der Regulation
synaptischer Plastizität [1][19]. Um zu zeigen, dass auch
die Effekte der repetitiven Stimulation solchen plastizitätsvermittelnden Mechanismen unterliegen, wurde die Abhängigkeit der repetitiven Stimulation von NMDA-Rezeptoren untersucht. Dazu erhielten Versuchspersonen eine
einmalige Gabe von Memantin, einer Substanz, die selektiv
NMDA-Rezeptoren blockiert. In dieser placebokontrollierten Studie zeigte sich, dass Memantin den Lernerfolg nach
repetitiver Stimulation vollständig blockierte, und zwar sowohl auf perzeptueller als auch auf kortikaler Ebene [7].
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Signalen möglich ist. Untersuchungen der sog. funktionellen Konnektivität mittels EEG oder MR durch Messung des
„resting states“ zeigten, dass es nach repetitiver sensorischer Stimulation zu einer Erhöhung der Interaktion in den
sensomotorischen Netzwerken kommt [13]. Neuere Untersuchungen haben sogar dafür Hinweise geliefert, dass
es im Bereich des somatosensorischen Repräsentationsgebiets nach nur 40 min Stimulation zu strukturellen Veränderungen der grauen Substanz kommt [25].
GABA Ein weiterer zentraler „Player“ ist GABA. GABA spielt
eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung der Balance
zwischen Erregung und Inhibition und ist dadurch bei allen
Verarbeitungsprozessen sowie bei deren Änderungen aufgrund von Lernen beteiligt. Beim Menschen kann die Rolle
von GABA durch Applikation von Medikamenten erfolgen,
die GABA-Agonisten enthalten. Nach Gabe einer Einzeldosis eines solchen Medikaments (Lorazepam) wird der typischerweise auftretende Lernerfolg in Form einer Verbesserung der Tastleistung vollständig blockiert [8]. Diese Untersuchungen unterstützen die Annahme, dass repetitive
Stimulation synaptische Plastizität auslöst, die durch glutamaterge und GABAerge Rezeptoren kontrolliert wird.
Amphetamin Im Gegensatz zu Ansätzen, plastische
Prozesse pharmakologisch zu blockieren, gibt es wenige
Möglichkeiten, kortikale Plastizität pharmakologisch zu
verstärken. So wird beispielsweise die Auslösung von LTP
durch adrenerge Substanzen moduliert. Aus diesem Grund
wurden einmalige Gaben von Amphetamin genutzt, um
Lernprozesse beim Menschen, die durch repetitive Stimulation hervorgerufen wurden, zu verstärken. Es zeigt sich,
dass nach Amphetamin-Gabe die typischen Veränderungen sowohl der taktilen Wahrnehmung als auch der kortikalen Reorganisation nahezu verdoppelt waren [7]. Diese
Befunde zeigen, dass die Prozesse, die repetitiver Stimulation zugrunde liegen, durch neuromodulatorische Systeme weiter verstärkt werden können.
Bidirektionale Veränderungen sind
frequenzabhängig
Um die Relevanz von LTP- und LTD-Mechanismen für Verhaltensänderungen beim Menschen zu untersuchen, wurden diese in taktile hoch- oder niedrigfrequente Reizfolgen (tHFS und tLFS) übersetzt. Diese wurden dann als taktile oder elektrische Pulsfolgen auf die Finger übertragen.
tHFS bestand aus kurzen Pulsfolgen von jeweils 1 s Dauer,
in denen die Einzelpulse mit 20 Hz appliziert wurden. Das
Intervall zwischen den Pulsfolgen betrug 5 s, tLFS bestand
aus einer Serie von Einzelpulsen, die mit 1 Hz appliziert
wurden. Beide Protokolle wurden jeweils für 20 min appliziert. Bereits 20 min nach einer hochfrequenten Stimu-
181
lation waren die Diskriminationsschwellen signifikant erniedrigt. Umgekehrt führte tLFS im gleichen Zeitraum zu
einer Beeinträchtigung der Diskriminationsfähigkeit [23].
Diese Ergebnisse zeigen, dass die kurze Applikation
(< 30 min) von Stimulationsprotokollen, die denen der
zellulär verwendeten LTP- und LTD-Studien analog sind,
verhaltensrelevante und dauerhafte, frequenzabhängige und bidirektionale Veränderungen der menschlichen
Wahrnehmung hervorruft. Vor dem Hintergrund der oben
skizzierten Uneinheitlichkeit der bisher verwendeten Stimulationsprotokolle (niederfrequent/hochfrequent, kontinuierlich/intermittierend) hat die Bidirektionalität der Effekte erhebliche Relevanz und muss beim Einsatz als Intervention entsprechend berücksichtigt werden.
Prädiktion plastischer Prozesse
Es ist eine Alltagserfahrung, dass es gute und schlechte
Lerner gibt. Dies gilt in gleicher Weise unter Labor- oder
klinischen Bedingungen. Warum das so ist, ist weitgehend
unklar. Schlechtes Lernen kann viele Ursachen haben: Beeinträchtigungen der Sensorik, sodass bereits beim Aufnehmen des Lernstoffs Probleme entstehen, oder mangelnde Aufmerksamkeit. Es können aber auch Defizite
plastischer Mechanismen vorliegen. Ein Beispiel dafür ist
der BDNF-Polymorphismus. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass auch die Balance der Inhibition und Exzitation
einen starken Einfluss auf plastische Prozesse hat. So sagt
die mithilfe von MR-Spektroskopie gemessene GABAKonzentration im sensomotorischen Kortex mehr als 50 %
einer perzeptuellen Lernaufgabe voraus [12].
Mehr als ein Drittel des Lernerfolgs konnte durch die vor
der Induktion von Plastizität durch repetitive Stimulation gemessene Power der somatosensorischen Alpha-Oszillationen (Mu-Rhythmus) vorhergesagt werden [11].
Demnach spielen auch „brain states“ vor und während
der Stimulation eine wichtige Rolle. Besonders relevant
für klinische Interventionen ist die Möglichkeit, somatosensorische Alpha-Oszillationen durch Neurofeedbacktraining zu verändern, was es ermöglicht, den anschließenden
Lernausgang entscheidend zu modulieren [2].
Studien an Patienten
Metastudie Eine kürzlich veröffentlichte Metastudie basierend auf vier Studien an chronisch durch Schlaganfall
betroffenen Patienten (insgesamt 69 Patienten, Zeitraum
bis zum Infarkt zehn Monate bis fünf Jahre) berichtet signifikante Verbesserungen der Motorperformanz der oberen
Extremität (standardisierte mittlere Differenz, SMD: 1,04;
95 % KI: 0,66…1,42). Als Outcome Measure wurden der Action-Research-Arm-Test, der Jebsen-Taylor-Test, Handkraft
und das Fugl-Meyer-Assessment verwendet.
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Die Stimulation wurde in zwei Studien als „stand-alone“
durchgeführt, in den zwei anderen jeweils vor dem Training motorischer Aufgaben [6]. In allen Fällen wurde der
Medianusnerv stimuliert. Die Stimulation bestand aus
Pulsfolgen (Einzelpuls 1 ms, der Tastgrad, „duty cycle“,
war 500 ms an, 500 ms aus, Pulsfrequenz 10 Hz), die Stimulationsdauer war zwei Stunden. Die Kontrollstimulation bestand entweder in unterschwelliger Stimulation
oder in keiner Stimulation („wait group“). In zwei Studien bestand die gesamte Stimulation nur aus einer Session, zwei Studien verwendeten eine mehrfache Applikation über zehn Tage hinweg. Negative Nebeneffekte wurden
grundsätzlich nicht beobachtet. Die Autoren der Metastudie schließen daraus, dass repetitive Stimulation ein sicheres Verfahren ist, um als zusätzliche Behandlungsmethode bei chronischen Schlaganfallpatienten zur Behandlung
motorischer Defizite der oberen Extremität eingesetzt
werden zu können [6].
Zusätzlich verglichen die Autoren der Metastudie die Effektstärke nach Behandlung mit repetitiver Stimulation
mit der nach rTMS oder tDCS. Sie berichten, dass diese
größer ist (SMD: 1,4; 95 % KI: 0,66…1,42) als die nach tDCS
(SMD: 0,45; 95 % KI: 0,09…0,80) oder rTMS (SMD: 0,55;
95 % KI: 0,37…0,72). Dazu weisen sie darauf hin, dass andere Studien keine signifikanten positiven Effekte für rTMS
gefunden haben.
Randomisierte klinische Studie Nach Erscheinen dieser Metastudie wurde eine randomisierte klinische Studie
an subakut durch Schlaganfall betroffenen Patienten publiziert, bei der ebenfalls die repetitive Stimulation zum
Einsatz kam [16]. In dieser Studie wurden insgesamt 46
Patienten untersucht (23 Verum, 23 Placebostimulation,
Zeitraum bis zum Infarkt 3–4 Wochen). Die Stimulation bestand aus Pulsfolgen, 1,4 s an, 5 s aus, Pulsfrequenz 20 Hz
für 45 min, 10 Tage, mittlere Stromstärke 10,4 mA. Die
Stimulation wurde mithilfe eines speziell angefertigten
Handschuhs übertragen, der über innenliegende Elektrodenkontakte eine Stimulation der Fingerspitzen aller fünf
Finger der betroffenen Hand ermöglichte. Um die unterschiedlichen Schwellen der medianus- und ulnarisinnervierten Finger zu berücksichtigen, konnten diese getrennt
angesteuert werden.
Die Kontrollstimulation bestand in unterschwelliger Stimulation, beide Gruppen erhielten Ergo- und Physiotherapie und spezielles Hand-Arm-Training, allerdings ohne
feste zeitliche Kopplung an die Stimulation. Die Beurteilung der sensomotorischen Performanz erfolgte durch ein
umfangreiches quantitatives Assessment, bei dem die Berührungsschwelle, die räumliche Diskriminationsschwelle,
eine 9-Hole-Pegboard-Aufgabe, Handkraft, propriozeptive Aufgaben und ausgewählte Tests aus dem Jebsen-Taylor-Testrepertoire getestet wurden. Die Performanz jeder
Einzelaufgabe wurde anschließend in einen Leistungsindex umgerechnet.
Dinse HR. Periphere Stimulation. neuroreha 2018; 10: 178–183
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Schwerpunkt
Untersuchungen und Pilotstudien Zusätzlich zu diesen hier ausführlicher dargestellten Studien liegen zahlreiche Untersuchungen und Pilotstudien vor, die an chronischen oder subakuten Patienten positive Effekte nach
Behandlung mit repetitiver Stimulation zeigen, wobei die
Stimulation entweder als „stand-alone“ oder als begleitende Intervention genutzt wurde (z. B. [15][18][24]). Da die
bisherigen Fallzahlen immer noch klein sind, sind weitere kontrollierte klinische Studien und Multicenter-Studien
nötig, um ein tieferes Verständnis für die Wirksamkeit der
repetitiven Stimulation bei Patienten mit zentralnervösen
Schädigungen zu erhalten.
Ausblick
Der Ansatz der repetitiven sensorischen Stimulation wurde
bisher vor allem an der oberen Extremität bei gesunden
Probanden systematisch untersucht. Die dort erhobenen
Befunde deuten darauf hin, dass die repetitive sensorische
Stimulation zu einer weitreichenden Reorganisation der
sensorischen Verarbeitung durch Erhöhung der Interaktion in den sensomotorischen Netzwerken führt. Dies führt
zu deutlichen Verbesserungen des Tastsinns, der Propriozeption, der haptischen und motorischen Performanz, was
sich seinerseits in einer erhöhten Alltagskompetenz niederschlägt. Daten einer randomisierten klinischen Studie,
einer Metastudie sowie Daten zahlreicher Pilotstudien an
Patienten sind vielversprechend. Inwieweit die oben genannten Befunde an Gesunden auf Patienten übertragbar sind, ist zurzeit Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung.
Neben dem Aspekt geringer Kosten liegt ein besonderer Vorteil der repetitiven sensorischen Stimulation in der
passiven Natur: Es erfordert keine aktive Teilnahme oder
besondere Aufmerksamkeit der Teilnehmer. Es ist daher
möglich, die Stimulation während anderer Beschäftigungen wie beispielsweise Fernsehen oder Lesen anzuwenden, was die Akzeptanz dieses Verfahrens naturgemäß erhöht und niedrige Abbruchraten zur Folge hat. Die Möglichkeit, die Stimulation zu Hause über lange Zeit hinweg
anwenden zu können, spielt für chronische Patienten eine
wichtige Rolle.
Damit diese Vorteile in der breiten wissenschaftlichen und
nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit Beachtung finden,
sind breit angelegte systematische Untersuchungen notwendig. Dabei sind besonders große Fallzahlen und nach
Möglichkeit Multicenter-Studien notwendig. Um eine
Dinse HR. Periphere Stimulation. neuroreha 2018; 10: 178–183
bessere Vergleichbarkeit zwischen den Studien zu erreichen, benötigt man Standards für die einheitliche Anwendung und das Assessment. Weitere Studien sind auch für
eine Optimierung der Stimulation hinsichtlich Parameter,
Dauer und Stimulationspausen erforderlich. Interessant
wäre die Kombination mit der Applikation von Pharmaka.
Wenig untersucht sind die Rolle längerer Therapie- und
Behandlungszeiten sowie die Auswirkung der Stimulationstherapie lange Zeit nach Beendigung der Behandlung.
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Nach der zweiwöchigen Behandlungsdauer zeigte sich für
die Gruppe mit der Kombinationstherapie (Standardtherapie plus repetitive Stimulation) eine signifikant bessere Erholung der gesamten sensomotorischen Performanz (SMD:
0,57; 95 % KI -0,013…1,16; p = 0,027). Auch bei Betrachtung der einzelnen Tests lag die Effektstärke für die Kombinationstherapie jeweils über der der Kontrollgruppe [16].
Viele Studien schließen Patienten mit nur mäßiger Schwere der Beeinträchtigung ein. Daher wären Studien mit stärker betroffenen Patienten wichtig, um den etwaigen Nutzen der Stimulationstherapie für diese Patientengruppen
abschätzen zu können. Vor dem Hintergrund „individualisierter“ Therapiemaßnahmen [21] sind weiterführende
Studien notwendig, um unsere Kenntnisse über Faktoren
und Bedingungen zu erweitern, die Plastizitätsprozesse
begünstigen oder erschweren.
Autorinnen/Autoren
PD Dr. rer. nat. Hubert R. Dinse
Studierte Biologie und Chemie in Mainz und
Marburg, promovierte und habilitierte im Fach
Zoologie. Er war Postdoc an der Universität
Pisa, Italien, freier Mitarbeiter am Battelle-Institut und arbeitete zwei Jahre als Visiting
Professor an der University of California in San
Francisco (UCSF). Seit 1990 ist er Leiter des von ihm
gegründeten Neural Plasticity Lab und Senior Scientist an
der Neurologischen Klinik Bergmannsheil. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lernen, Alterung, taktile Wahrnehmung
sowie die Entwicklung neuer Lern- und Interventionsformen
in der Rehabilitation.
Korrespondenzadresse
PD Dr. rer. nat. Hubert R. Dinse
Neurologische Universitätsklinik und Poliklinik
Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum
Bergmannsheil
Bürkle de la Camp Platz 1
44789 Bochum
E-Mail: Hubert.Dinse@rub.de
Literatur
Die komplette Literaturliste finden Sie unter www.
thieme-connect.de/products
Bibliografie
DOI https://doi.org/10.1055/a-0754-3281
neuroreha 2018; 10: 178–183
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
ISSN 1611-6496
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