Nora Alsdorf, Ute Engelbach, Sabine Flick, Rolf Haubl, Stephan Voswinkel
unter Mitarbeit von
Jonas Biedermann, Alina Brehm, Katrin Holtgrewe, Simone Rassmann und
Andreas Samus
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung
Band 190
Editorial
Die Reihe »Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung« bietet einem breiten
Leserkreis wissenschaftliche Expertise aus Forschungsprojekten, die die HansBöckler-Stiftung gefördert hat. Die Hans-Böckler-Stiftung ist das Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB. Die Bände erscheinen in den drei Bereichen »Arbeit, Beschäftigung, Bildung«, »Transformationen
im Wohlfahrtsstaat« und »Mitbestimmung und wirtschaftlicher Wandel«.
»Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung« bei transcript führt mit fortlaufender Zählung die bislang bei der edition sigma unter gleichem Namen erschienene Reihe weiter.
Nora Alsdorf (Dipl.-Soz.), geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Sigmund-Freud-Institut. Sie arbeitet als Supervisorin und Coach.
Ute Engelbach (Dr. med., Dipl.-Päd.), geb. 1967, ist Oberärztin im Bereich Psychosomatik der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des
Universitätsklinikums Frankfurt.
Sabine Flick (Dr. phil.), geb. 1978, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Goethe Universität Frankfurt sowie Wissenschaftlerin
am Institut für Sozialforschung.
Rolf Haubl (Dipl.-Psych., Dr. phil., Dr. rer. pol. habil.), geb. 1951, war Professor
für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt sowie Direktor des Sigmund-Freud-Instituts.
Stephan Voswinkel (PD Dr. disc. pol.), geb. 1952, ist Soziologe am Institut für
Sozialforschung und Privatdozent am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften
der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Nora Alsdorf, Ute Engelbach, Sabine Flick,
Rolf Haubl, Stephan Voswinkel
unter Mitarbeit von Jonas Biedermann, Alina Brehm,
Katrin Holtgrewe, Simone Rassmann und Andreas Samus
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Analysen und Ansätze zur therapeutischen
und betrieblichen Bewältigung
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Inhalt
Einleitung
Arbeitsleid? Ein multiperspektivischer Zugang | 9
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
Schlaglichter auf den Forschungsstand | 21
Methodische Anlage der Untersuchung | 49
Perspektive 1
Erwerbsarbeit und psychische Erkrankungen
Psychisch belastende Arbeitssituationen
und die Frage der »Normalität«
Stephan Voswinkel | 59
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
Stephan Voswinkel | 95
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
Ute Engelbach und Rolf Haubl | 119
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
Anspruch und Wirklichkeit
Rolf Haubl | 145
Perspektive 2
Therapie und Klinikaufenthalt
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
Subjektive Krankheitstheorien und Behandlungserwartungen
von Patienten einer psychosomatischen Klinik
Nora Alsdorf | 167
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
Psychodynamische Überlegungen zu einer pragmatischen Lösung
Ute Engelbach | 193
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
Deutungen und Umdeutungen von Erwerbsarbeit in der Psychotherapie
Sabine Flick | 215
Perspektive 3
Zwischen Klinik und Betrieb
Nach der Klinik ohne Arbeit
Defizite in der Nachsorge
Andreas Samus | 241
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Verfahren und Problemsichten
Stephan Voswinkel | 257
Raus aus der Klinik, rein ins Leben
Überlegungen zum Entlassungsmanagement nach stationärer
psychosomatisch-psychotherapeutischer Behandlung
Ute Engelbach und Rolf Haubl | 295
Ausblick | 309
Methodenglossar
Nora Alsdorf, Alina Brehm, Ute Engelbach, Sabine Flick, Rolf Haubl,
Simone Rassmann und Stephan Voswinkel | 315
Autorinnen und Autoren | 341
Einleitung
Arbeitsleid? Ein multiperspektivischer Zugang
Stellen wir uns eine Arbeitnehmerin vor, nennen wir sie der Einfachheit
halber Frau Ypsilon. Frau Ypsilon ist mittleren Alters, nach ihrem Studium
der Elektrotechnik fand die dynamisch aufstrebende Frau schnell einen
Arbeitsplatz bei einem größeren Unternehmen der Metall verarbeitenden
Industrie, war bei der Entwicklung verschiedener Anlagen beteiligt, arbeitete mehrere Jahre als engagierte Ingenieurin, sodass sie mit der Leitung
eines eigenen Teams betraut wurde.
Ihr Partner unterstützte sie bei der Entscheidung, diesen Schritt zu gehen. Frau Ypsilon jedenfalls versprach sich neue Herausforderungen durch
diesen Schritt. Die Arbeitsbelastung, Überstunden wurden nun selbstverständlicher, blieb entgegen den Befürchtungen überschaubar, gelegentlich
ließen sich auch Überstunden abgelten. Ihr Hobby, in einer Damenmannschaft Volleyball zu spielen, litt derweil ein wenig. Galt sie zuvor gewissermaßen als eine Stütze der Mannschaft, kam es nun gelegentlich zu Absagen des wöchentlich zweimal stattfindenden Trainings.
Mit der Zeit konnte sie ihr Team im Betrieb von vier auf zehn Mitarbei
ter ausbauen, erhielt Gratifikationen, favorisierte einen eher partizipativen
Führungsstil. Mit zunehmendem Konkurrenzdruck in der Branche wurde
auch der Druck der Geschäftsführung auf Frau Ypsilon spürbar, die Di
lemmata ihrer Sandwichposition mehrten sich. Es stellten sich zunehmend
Schlafstörungen ein, eine vermehrte Tendenz zum Grübeln, Spannungen
in der Partnerschaft. Morgens verspürte sie oft Übelkeit, litt unter Durch
fällen, die sie mit frei verkäuflichen Präparaten so weit in den Griff bekam,
dass sie ihrer Tätigkeit trotz der Beschwerden einigermaßen nachgehen
konnte. Abends war sie oft erschöpft, vermied Treffen mit Freunden, mel
dete sich bei ihrer Volleyballmannschaft vorübergehend ab. Auch an den
9
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Wochenenden kam es zu vermehrtem Rückzug, schien sie förmlich jeder
Energie beraubt.
Nach einem Wochenende allein zu Hause fand ihr Partner, der mit seinen »Jungs« unterwegs gewesen war, sie grübelnd auf dem Sofa vor, das sie
das ganze Wochenende nicht verlassen hatte, und motivierte sie, endlich
ihre Hausärztin aufzusuchen. Diese schrieb Frau Ypsilon für zwei Wochen
krank. Als trotzdem keine Linderung der Beschwerden eintrat, verwies sie
an eine psychotherapeutische Beratungsstelle. Dort sah man das Symptombild am ehesten mit einer depressiven Episode vereinbar und empfahl
einen tagesklinischen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik.
Frau Ypsilon überlegte gemeinsam mit ihrem Partner und entschied sich
für diese Behandlung, hatte Glück, bekam zeitnah einen Aufnahmetermin
in einer psychosomatischen Tagesklinik. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, sich auf das zuweilen aus ihrer Perspektive spielerische und mit reichlich Leerlauf versehene Programm einzulassen – bezeichnete sie selbst sich
doch als »Anpackerin« und war zeitlebens mehr auf pragmatische Welten
denn auf musische eingestellt –, konnte sie sich in den folgenden Wochen
gut in die Gruppe integrieren, entdeckte insbesondere die Gestaltungsthe
rapie für sich: In abstrakten Bildern bekam sie Zugang zu bestehenden Di
lemmata ihrer Erwerbsarbeit, diese wurden erstmals für sie thematisierbar,
die ohnmächtige Position konnte von Frau Ypsilon als solche wahrgenom
men und formuliert werden.
In den Einzeltherapien fand sie den geschützten Raum, um unter Einbe
ziehung ihrer Biographie Erklärungen für den Zusammenbruch am Arbeits
platz zu entwickeln, Auslöser zu identifizieren. Langsam kehrte die Energie
zurück, Grübeln und Schlafstörungen ließen nach. Nach ausreichender
Stärkung ihres Gefühls der Selbstwirksamkeit reagierte sie auf die Kontakt
aufnahme des Beauftragten für das Betriebliche Eingliederungsmanage
ment (BEM) und offenbarte die Schwierigkeiten, die ihr im Rahmen ihrer
vorangegangenen Tätigkeit entstanden waren, sowie die Bedingungen, die
in ihrem neu erlangten Verständnis relevant für ihre Erkrankung waren.
Gemeinsam wurde ein Plan für den Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit
erarbeitet, den Frau Ypsilon auch mit ihrem Kliniktherapeuten in Bezug
auf die herausgearbeiteten persönlichen Vulnerabilitäten prüfte.
Eine Kontaktaufnahme seitens des Klinikarztes mit dem BEM schien
nicht vonnöten, da Frau Ypsilon im Rahmen der Therapie einen guten Zu
gang zu Auslösern sowie Ressourcen für sich entwickeln konnte und zu
10
Einleitung
dem zunehmend sprachfähig wurde. Trotzdem wurde ihr eine ambulante
weitere Behandlung zur Stabilisierung und Weiterentwicklung des bisher
Erreichten angeraten, die Frau Ypsilon gern im Anschluss an die tagesklinische Behandlung in Anspruch nahm. Die Betreuung und Reflexion des
weiteren Wiedereingliederungsprozesses konnten im Rahmen dieser am
bulanten Psychotherapie neben der biographischen Arbeit gut begleitet
werden.
So oder ähnlich war unsere Vorstellung, wie sich eine individuelle Ge
schichte einer Patientin oder eines Patienten in diesem Forschungsprojekt
darstellen könnte. Doch wir wären schnell eines Schlechteren belehrt wor
den, hätten wir an diese optimistische Hoffnung wirklich geglaubt. Tat
sächlich zeigt die optimistische Geschichte, an welchen Stellen die Verläufe
sich nicht so günstig gestalten und die Akteure und Systeme nicht sinnvoll
ineinandergreifen.
Frau Ypsilon hätte sich mit ihren Beschwerden sehr viel länger »abfin
den« können, sie hätte Strategien entwickeln können, um die Arbeit weiter
»erfolgreich« zu erledigen und sich nichts anmerken zu lassen. Hausärzte
erkennen Beschwerden dieser Art keineswegs immer als psychosomatisch,
und der Zugang zu einer psychotherapeutischen Behandlung kann sehr
viel mehr Wartezeit erfordern. Auch der zügige Aufnahmetermin in die
Tagesklinik ist eher ein Glücksfall. Geheilt und arbeitsfähig entlassen zu
werden ist Ziel, aber nicht immer Ergebnis eines Klinikaufenthalts. Dass
im Betrieb von Frau Ypsilon ein BEMVerfahren existiert und sie dort auf
Beteiligte trifft, die sowohl ihre Vulnerabilität als auch die gesundheitlich
beeinträchtigenden Arbeitsbedingungen thematisieren, ist nicht selbstver
ständlich. Und dass dann an die Tagesklinik auch noch gleich eine the
rapeutische Weiterbehandlung anschließt: Das sind Verläufe und Erfolge,
die zu wenig real sind, als dass sie als Maßstab gelten können, an dem die
Defizite und Schwierigkeiten einer betrieblichen und therapeutischen Be
wältigung psychischer Erkrankungen deutlich werden können.
Seit einigen Jahren werden psychische Erkrankungen, die im Zusammen
hang mit Erwerbsarbeit stehen, in der öffentlichen und der wissenschaft
lichen Diskussion vielfältig thematisiert. Auch die betrieblichen und ge
werkschaftlichen Akteure und das betriebliche Gesundheitsmanagement
haben psychische Belastungen in der Arbeit als Problemfeld entdeckt.
11
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Häufig unter dem – umstrittenen – Stichwort »Burnout«1 verhandelt, ging
das Thema in die populäre Literatur und Kultur ein: Die BurnoutErfah
rungen der vielfältig engagierten Professorin, Publizistin und PRBeraterin
Miriam Meckel wurden von ihr selbst in einem Buch (Meckel 2010) geschil
dert und in der Folge zu einem Fernsehspielfilm verarbeitet.
Ob Burnout eine Krankheit der Moderne, ein Ausdruck des Kapitalis
mus oder eine Modeerscheinung ist, darüber wird heftig gestritten (vgl.
Dornes 2016; Ingenkamp 2012; Neckel/Wagner 2013). Wir wollen mit die
sem Buch zu dieser Diskussion nicht unmittelbar Stellung beziehen. Es
handelt nicht vom »Burnout« – wenn auch viele der Patienten, mit denen
wir gesprochen haben, diesen Terminus zur Charakterisierung ihrer Be
schwerden gebraucht haben. Vielmehr ist es unser Ziel, mit unserer Unter
suchung die Debatte über den Zusammenhang von psychischen Erkran
kungen und Erwerbsarbeit durch empirische Erkenntnisse zu bereichern
und zu fundieren. Es gibt eine Fülle von Erkenntnissen über psychische
Belastungen in der Arbeit, insbesondere in »modernen«, entgrenzten und
subjektivierten Arbeitsformen. Ebenfalls ist die psychische Erkrankung
als Gegenstand betrieblichen Gesundheitsmanagements thematisiert, und
selbstverständlich gibt es Literatur zu diesbezüglichen Psychotherapien.
Wir werden uns hiermit im folgenden Aufsatz näher befassen. Warum also
eine weitere Studie?
Unser Zugang zeichnet sich dadurch aus, dass wir unseren Blick auf
einen Prozess richten: Wir stellen Patienten und Patientinnen in den Fokus,
die im Erstgespräch in der Klinik den Zusammenhang von Erwerbsarbeit
und ihrer psychischen Erkrankung thematisiert haben, eine Therapie in
einer psychosomatischen Klinik wahrnehmen und anschließend wieder in
die Arbeitswelt und ihren Alltag zurückzufinden versuchen. Wir suchen
also nach psychisch belastenden Arbeitsbedingungen, nach den Formen
der Therapie und nach der Wiedereingliederung in den krankheitsbiogra
phischen Verläufen der Patienten. Wir sprechen mit ihnen zu drei verschie
1 | Burnout ist keine eigenständige Diagnose, die etwa die Einweisung in ein
Krankenhaus begründen könnte. sondern eine Rahmen und Zusatzdiagnose. In
der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD10) wird sie als »Aus
gebranntsein« und »Zustand der totalen Erschöpfung« mit dem Diagnoseschlüs
sel Z73.0 erfasst. Er umfasst »Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der
Lebensbewältigung«.
12
Einleitung
denen Zeitpunkten – vor Beginn der Therapie, am Ende der Therapie in
der Klinik und einige Monate später. Und wir beziehen die Perspektive der
Ärzte und Therapeuten ein, deren Blick auf die Patientinnen und Patienten
und ihre Krankheit(sgeschichte) und ihr professionelles Selbstverständnis.
Um dies tun zu können, ist unsere Studie als eine qualitative Fallstudie
angelegt. Möglich wurde sie durch eine ausgesprochen kooperative und
unterstützende Zusammenarbeit mit zwei psychosomatischen Kliniken
und den dort tätigen Ärzten und Therapeuten, die uns nicht nur die Kon
takte zu den Patientinnen und Patienten vermittelten und die Erstanspra
che leisteten, die angesichts der forschungsethischen Normen mit Sorgfalt
vorgenommen werden musste, sondern die uns auch selbst für Gespräche
zur Verfügung standen.
Diese Fallstudien in den Kliniken werden gerahmt durch Experten
gespräche, die wir mit Experten des Betrieblichen Eingliederungsmanage
ments (BEM) geführt haben. Aus forschungsethischen Gründen konnten
wir diese Gespräche nicht in den Betrieben und Verwaltungen führen, in
denen die Patienten tätig sind, es war also nicht möglich, die eigenen Schil
derungen und Deutungen der Patienten über ihre Arbeitssituation mit
denjenigen anderer Akteure im Betrieb in Beziehung zu setzen. Aber die
Expertengespräche mit den BEMBeteiligten erlauben uns, Aussagen über
Verfahren, Probleme und Erfolgsmöglichkeiten des BEM zu treffen. Diese
komplexe Herangehensweise erlaubt uns auch, gerade die Schnittstellen
probleme der im Krankheitsverlauf relevanten Teilsysteme zu erfassen.
Die zweite – mit unserem spezifischen Zugang zusammenhängende – Spe
zifik unserer Forschung besteht in ihrer interdisziplinären Multiperspek
tivität. Nicht nur die Gesprächspartner unserer Untersuchung, sondern
auch die Mitglieder des Forscherteams selbst gehören unterschiedlichen
Professionen an und verfügen in ihren Arbeitsschwerpunkten über unter
schiedliche Erfahrungen, Expertisen und Methoden, auf ein psychosozia
les Phänomen zu schauen. Zum Team gehören (Arbeits und Professions)
Soziologinnen und Soziologen, ein psychoanalytisch orientierter Sozial
psychologe und Organisationsberater sowie eine klinisch tätige Ärztin und
Psychotherapeutin. Alle haben ihre je eigene Art und Weise, auf einen Fall
zu schauen, und ihre unterschiedlichen Forschungs und Erfahrungshin
tergründe in den Arbeitsprozess eingebracht – und das nicht nur durch
13
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Spezialarbeiten, sondern in einem permanenten interpretativen Diskussions- und Arbeitsprozess.
Eine interdisziplinäre Forschung muss sich damit auseinandersetzen,
dass die Disziplinen auch für gleiche oder ähnliche Phänomene unterschiedliche Begriffe entwickelt haben, die im jeweiligen Zusammenhang
unterschiedliche Bedeutungsanschlüsse beinhalten. In interdisziplinären
Diskussionen sind daher immer auch disziplinäre Selbstverständnisse an
gesprochen, die sowohl bewahrt werden wollen als auch infrage gestellt
werden müssen, will man miteinander ertragreich kooperieren. Diese
Unterschiede durch Begriffs und Denkkompromisse überdecken zu wol
len, kann nicht sinnvoll sein, deshalb haben wir die Unterschiede der
professionellen Sichtweisen nicht geglättet, sondern sie finden sich in den
verschiedenen Aufsätzen des Buches wieder, nicht als widersprüchliche
Positionen, aber doch als unterschiedliche Akzentsetzungen (vgl. hierzu
auch das Stichwort »Interpretationsgruppen« im Methodenglossar). Wir
sind überzeugt, dass es uns gelungen ist, die eigene Theorie und Begriff
lichkeit nicht als »Festungswall« (Norbert Elias) zu behandeln, sondern als
gegenseitige Herausforderung zur Reflexion über die eigene Herangehens
weise.
Zum Aufbau des Buches
Wir haben uns dafür entschieden, auch in der Anlage dieses Buches der
multiperspektivischen Form unserer Forschung und Kooperation gerecht
zu werden und nicht den Versuch zu machen, uns auf eine einheitliche
Begrifflichkeit zu einigen und die unterschiedlichen Perspektiven einzu
ebnen. Deshalb handelt es sich hier nicht um eine durchgehende Mono
graphie. Vielmehr folgen einzelne Aufsätze einander, die nicht nur ein
bestimmtes Thema behandeln, einen spezifischen Aspekt unserer Ergeb
nisse beleuchten, sondern dies auch in einer dem Autor oder der Autorin
eigenen Form und Herangehensweise tun. Handelt es sich somit auf der
einen Seite der Form nach um einen Sammelband, so folgen die Beiträge
doch auf der anderen Seite dem Verlauf der Krankheitsgeschichte »unserer«
Patienten. Sie sind drei Blöcken zugeordnet, die jeweils für eine Phase in
diesem Verlauf stehen. Nehmen wir noch einmal die Geschichte von Frau
Ypsilon auf, so lässt sich dies so skizzieren:
14
Einleitung
Frau Ypsilon entwickelt ihre Beschwerden im Kontext ihrer Arbeitssituation. Entsprechend werfen wir in den ersten vier Aufsätzen, die wir
der Perspektive 1 zugeordnet haben, zunächst einen Blick auf den Zusammenhang von Erwerbsarbeit und psychischer Erkrankung. Stephan
Voswinkel identifiziert in unserem empirischen Material verschiedene ty
pische Arbeitssituationen, die psychisch belastend sind oder sein können.
Allerdings lässt sich dies nicht in einem streng kausalen Sinne verstehen,
da unter gleichen Bedingungen jeweils nur ein Teil der Beschäftigten er
krankt. Die Erkrankung erscheint daher als besondere, nicht »normale«,
sondern individuelle Reaktion. Im folgenden Aufsatz nimmt er dann die
Schwierigkeiten, Voraussetzungen und Folgen in den Blick, die damit ver
bunden sind, die Krankenrolle einzunehmen, also sich selbst und anderen
gegenüber sich als krank zu definieren, eine Schwierigkeit, die gerade bei
psychischen Erkrankungen mit der Furcht vor Stigmatisierung einhergeht.
Auch Frau Ypsilon hat einige Zeit und die Motivation durch ihren Partner
gebraucht, um die Konsequenz zu ziehen, sich in ärztliche Behandlung zu
begeben.
Anschließend wechseln Rolf Haubl und Ute Engelbach die Perspek
tive und beleuchten die »selbstheilenden« Potenziale der Erwerbsarbeit.
Schließlich analysiert Rolf Haubl die Bedeutung, aber auch die Defizite
der Unterstützung von belasteten Beschäftigten durch ihre Vorgesetzten
und ihre Kollegen. Obwohl Frau Ypsilon nicht direkt schlecht von ihrem
Umfeld behandelt wurde, blieb sie in der Entwicklung ihrer Störung doch
weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen.
Die drei Aufsätze, die wir dann der Perspektive 2 zugeordnet haben,
behandeln verschiedene Aspekte der Therapie in der Klinik. Frau Ypsilon
macht in unserer fiktiven Geschichte letztlich durchweg positive Erfah
rungen, die zu ihrer Gesundung beitragen. Dass dies nicht so sein muss,
haben wir bereits betont, und wir widmen uns hier einigen Aspekten und
Problemfeldern der Therapie und des Klinikaufenthalts. Nora Alsdorf geht
zunächst auf die Seite der Patienten ein. In ihrem Aufsatz rekonstruiert sie
unterschiedliche Erwartungen, die von den Patienten an die Klinik gerich
tet werden; sie werden verständlich vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen
subjektiven Krankheitstheorien, also der eigenen Deutungen von Charak
ter und Hintergrund ihrer Erkrankung und ihres Selbstverständnisses.
Frau Ypsilon beispielsweise ging zunächst mit Vorbehalten in die Klinik,
15
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
weil sie sich nicht auf Therapien einlassen zu können meinte, die nicht
direkt lösungsorientiert erschienen.
Ute Engelbach setzt sich sodann mit einem vermeintlichen therapeutischen Ziel auseinander, das auch den Erwartungen vieler Patienten entgegenkommt, nämlich der Vorstellung, wichtig sei vor allem, dass die
Patienten sich besser abzugrenzen lernen; sie weist auf die Defizite eines
solchen Leitbildes hin. Schließlich richtet Sabine Flick die Aufmerksamkeit
auf die Therapeuten und analysiert insbesondere, welche Bedeutung sie der
Erwerbsarbeit in ihrem therapeutischen Handeln beimessen, welches Bild
von der Arbeit sie haben und wie sie beides in ihre professionelle therapeu
tische Orientierung integrieren oder umdeuten.
Der dritte Block von Aufsätzen, die wir der Perspektive 3 zugeordnet
haben, befasst sich mit der Zeit nach dem Klinikaufenthalt, also der Phase,
die bei Frau Ypsilon so vergleichsweise reibungslos verlaufen ist. Unsere
Befunde sind gerade hier weit weniger optimistisch. Andreas Samus zeigt
die Defizite auf, die sich in der Nachsorge nach dem Klinikaufenthalt ge
rade dann zeigen, wenn die Rückkehr in die Arbeit nicht sogleich erfolgen
kann; viele Betroffene fallen hier hinter einen schon erreichten Stand der
Besserung zurück, und die Orientierung des Teilsystems Klinik reicht zu
oft nicht über das Ende des Klinikaufenthalts hinaus.
Stephan Voswinkel schlägt den Bogen zurück zur Erwerbsarbeit und
stellt Verfahrensvarianten des Betrieblichen Eingliederungsmanagements
und typische Probleme und Herausforderungen aus der Sicht der hier en
gagierten betrieblichen Akteure dar. Schließlich stellen Rolf Haubl und
Ute Engelbach – vielleicht utopische – Überlegungen darüber an, wie das
Entlassungsmanagement in den Kliniken verbessert werden kann und wel
che Ansätze zur Vernetzung der Akteure im Gesundheitssystem vorstellbar
sind.
Der Band endet mit einem Ausblick, der den Blick darauf richtet, was
aus unseren Ergebnissen gelernt werden kann und welche Aspekte weiter
vertieft werden müssten. Schließlich enthält das Buch im Anhang ein Me
thodenglossar, in dem zentrale Begriffe und Dimensionen unseres metho
dischen Herangehens erläutert werden.
Vor den soeben dargestellten drei thematischen Blöcken geben wir zu
nächst einen kurzen Einblick in wesentliche Befunde der bisherigen For
schung zum Thema der psychischen Erkrankungen im Zusammenhang
mit der Erwerbsarbeit, also in das Wissen, mit dem wir unsere Untersu
16
Einleitung
chung begonnen haben. Hierauf folgt der Aufsatz, der unsere Untersuchungsmethoden und -instrumente sowie die Form erläutert, in der wir
das Material ausgewertet haben. Hier stellen wir auch die Konstruktion
und Anlage des Samples der Patientinnen und Patienten dar, mit denen wir
unsere Gespräche in den verschiedenen Phasen geführt haben.
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, können das Buch von vorn bis hinten
lesen. Sie können aber auch Ihren Präferenzen folgen und Aufsätze in einer
hiervon abweichenden Reihenfolge lesen. Die Aufsätze stehen für sich und
bauen nicht streng aufeinander auf. In den verschiedenen Aufsätzen werden Sie einzelnen Beispielen von Patientinnen und Patienten wiederholt
begegnen, aber auch deren Verständnis setzt nicht die Kenntnis anderer
Passagen voraus.
Einige Hinweise noch
Unsere Untersuchung unterliegt den strengen Anforderungen, die von den
Ethikkommissionen der beiden Kliniken, mit denen wir kooperiert haben,
vorgegeben sind und die über die üblichen Anforderungen an empirische
Forschungen etwa im arbeits- oder professionssoziologischen Bereich noch
hinausgehen. Das ist nur zu berechtigt, befinden sich unsere »Probanden«
doch in einer besonders vulnerablen Situation und handelt es sich doch um
eine Thematik, die grundsätzlich der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt.
Jedes empirische Projekt ist zur Anonymisierung von Informationen
und zur Pseudonymisierung der Gesprächspartner und Gesprächspartne
rinnen verpflichtet. Für die hier vorliegende Untersuchung gilt dies in be
sonderer Weise. Diese Geheimhaltung, zu der wir uns auch gegenüber den
Ethikkommissionen der beteiligten Kliniken verpflichtet haben, beinhaltet
auch, dass nur die Personen Einblick in die transkribierten Interviews und
andere Unterlagen erhalten dürfen, die in der Zustimmungsvereinbarung
genannt wurden, die mit den Patientinnen und Patienten geschlossen
wurde. Dementsprechend können wir in unsere empirischen Materialien,
insbesondere die Gesprächstranskripte und Protokolle, anderen – auch
anderen Wissenschaftlern – keine Einsicht geben. Daher werden auch für
Zitate aus Interviews keine Seiten oder Abschnitte im Interviewtranskript
nachgewiesen.
17
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Die Darstellung einzelner Fälle wird daher so vorgenommen, dass die
betreffenden Personen von anderen nicht identifizierbar sind. Allerdings
können wir nicht ausschließen, dass die Gesprächspartnerinnen und Ge
sprächspartner sich selbst erkennen. Sollten die Betroffenen Nachfragen
haben oder mit uns über unsere Deutungen sprechen wollen, so sollen sie
sich ermutigt sehen, mit den Projektbearbeiterinnen und bearbeitern Kon
takt aufzunehmen. Die Kontaktadressen finden sich im Anhang zu diesem
Buch.
Noch eine letzte Bemerkung. Überwiegend (bis auf zwei Aufsätze)
verwenden wir in diesem Buch die männliche Form. Selbstverständlich
sind Frauen hier immer mitgemeint. Wir sind uns der damit verbundenen
Problematik bewusst, möchten aber bürokratisch wirkende Sprachformen
vermeiden.
Danksagung
Zahlreich sind diejenigen, denen wir zu tiefem Dank verpflichtet sind. Das
sind natürlich an erster Stelle die Patientinnen und Patienten, die sich be
reitfanden, mit uns in mehrstündigen Gesprächen über ihre Erkrankung
und ihre Erfahrungen, Sichtweisen, Erwartungen und Hoffnungen zu
reden. Wir wissen, dass ihnen das sicher nicht immer leicht gefallen sein
kann. Sodann haben wir den Ärzten und Therapeuten Dank abzustatten,
die uns ihre Arbeitszeit und ihr Engagement zur Verfügung stellten, um
das Projekt möglich zu machen und ihre Sicht auf die Erkrankungen und
die Thematik allgemein zu vermitteln. Auch denjenigen, die uns in der
Verwaltung der Kliniken unterstützt haben, sowie den Sozialarbeiterinnen
in den Kliniken haben wir zu danken. Dank gebührt auch den Expertin
nen und Experten, die als Engagierte im Betrieblichen Eingliederungsma
nagement uns Auskunft über ihre Arbeit, ihre Sichtweise und damit früh
zeitig einen Blick in die Praxis der Wiedereingliederung gegeben haben.
Schließlich möchten wir Herrn Professor Dr. Ulrich SchultzVenrath
und Tanja Brandt unseren Dank aussprechen, die uns mit verschiedenen
Gesprächen bei der Entwicklung unseres Forschungskonzepts unterstützt
und wesentlich weitergeholfen haben. Das gilt auch für diejenigen in den
Gewerkschaften, die uns wertvolle Hinweise gegeben und Kontakte ver
18
Einleitung
mittelt haben, insbesondere Werner Feldes von der IG Metall und Vadim
Lenuck von der IG Bergbau, Chemie, Energie.
Wir danken Andrea Alsdorf-Barthel und Elisabeth Matthias, die mit
großer Sorgfalt und Geduld die Gesprächsmitschnitte transkribiert haben.
Zu ganz besonderem Dank sind wir der Hans-Böckler-Stiftung (HBS)
verpflichtet, die unsere Untersuchung finanziell ermöglicht und uns wäh
rend unserer Arbeit mit großer Geduld und verlässlicher Unterstützung be
gleitet hat. Das gilt insbesondere für die zuständige Forschungsreferentin,
Frau Dr. Claudia Bogedan, und für die Mitglieder des wissenschaftlichen
Beirats bei der HBS, die stets ebenso kritisch wie konstruktiv unseren For
schungsplan wie unsere Zwischenstände mit uns diskutiert haben.
Wir hoffen, dass alle, denen wir uns zu Dank verpflichtet wissen, zu der
Meinung kommen können, die Unterstützung habe sich gelohnt, wenn sie
unsere Ergebnisse lesen und bewerten.
Schließlich möchten wir uns bei denjenigen bedanken, die unser Pro
jekt in unterschiedlichen Phasen als Praktikantinnen und Praktikanten
unterstützt haben. Wir möchten ihren Beitrag zum Ergebnis hervorheben
und dadurch würdigen, dass wir deutlich machen, dass es in dieser Form
nur »unter Mitarbeit von« Jonas Biedermann, Alina Brehm, Katrin Holtgre
we, Simone Rassmann und Andreas Samus möglich war. Nicht zuletzt ist
der Beitrag von Jakob Kuhlmann hervorzuheben, dem wir die sorgfältige
technische Umsetzung der Texte in ein satzfähiges Manuskript verdanken.
Literatur
Dornes, Martin (2016): Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische
Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften. Frankfurt am
Main: Fischer.
Ingenkamp, Konstantin (2012): Depression und Gesellschaft. Zur Erfin
dung einer Volkskrankheit. Bielefeld: transcript.
Meckel, Miriam (2010): Brief an mein Leben: Erfahrungen mit einem Burn
out. Reinbek: Rowohlt.
Neckel, Sighard/Wagner, Greta (Hrsg.) (2013): Leistung und Erschöpfung.
Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhr
kamp.
19
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
Schlaglichter auf den Forschungsstand
Überforderungsphänomene durch Arbeit sind seit vielen Jahren zum viel
diskutierten Thema in der öffentlichen Debatte geworden. Stichworte wie
»Burnout«, »Präsentismus«, das »erschöpfte Selbst« sind auch dann, wenn
sie als medizinischpsychologische Diagnosen von zweifelhaftem Wert
sein sollten, hochbedeutsame zeitdiagnostische Marker einer gesellschaft
lichen Problematik. In der Regel wird in der Debatte davon ausgegangen,
dass der Arbeitswelt eine zentrale Bedeutung für soziale Integration und
Anerkennung zukommt. Sinnstiftende Arbeit kann in gewissem Maße
Arbeitsbelastungen kompensieren und damit auch Gesundheitsrisiken
vorbeugen.
Aber zugleich gehen von der Arbeitswelt auch Krankheitsgefährdun
gen aus, die nicht zuletzt Arbeitsabläufe und Wertschöpfung beeinträch
tigen können. Deshalb ist Gesundheit eine unverzichtbare Ressource
in Unternehmen. Eine Reihe von Unternehmen implementiert Formen
eines betrieblichen Gesundheitsmanagements, bietet ihren Mitarbeitern
Angebote zur Krankheitsprävention wie auch zur BurnoutProphylaxe
an. Auch in der gewerkschaftlichen Politik »Guter Arbeit« kommt der
Frage der gesundheitsgerechten Arbeit ein zentraler Stellenwert zu, zu
mal Gesundheit eine Voraussetzung gesellschaftlicher und betrieblicher
Partizipation ist und gesundheitsgerechtes Verhalten auf Partizipation
angewiesen ist.
Die Bedeutung der Arbeit für die Entwicklung von Krankheitsprozes
sen besteht nicht nur in der Verursachung von Krankheit, sondern auch
darin, dass die Bedingungen der Arbeit es erschweren können, sich gesundheitsgerecht zu verhalten und auf gesundheitliche Beeinträchtigungen und
Krankheitszeichen rechtzeitig und angemessen zu reagieren. Auch Krank
21
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
heiten, die ihre »Ursache« im privaten Bereich oder in der persönlichen
Lebensgeschichte haben, sind in ihrem Verlauf und in ihrer »Therapierbarkeit« also auch von den Bedingungen der Arbeit beeinflusst.
Zwar verharren die Krankenstände seit vielen Jahren auf niedrigem
Niveau. Jedoch nehmen seit längerer Zeit gerade die psychischen Erkran
kungen – zumindest deren Diagnosehäufigkeit – signifikant zu. Hieraus
resultieren nicht nur neue Krankheitsbilder mit neuen Therapieanforde
rungen und spezifischen Kostenbelastungen für die Unternehmen, die
Krankenversicherungen und das Gesundheitssystem, sondern diese Ent
wicklung verweist auch auf neue Belastungsformen in der Arbeit. Auch
wenn körperliche und stoffliche Belastungen und Gesundheitsgefährdun
gen nach wie vor kaum etwas von ihrer Bedeutung eingebüßt haben, stel
len sich doch mit der Zunahme psychischer Belastungen und Erkrankun
gen neue Anforderungen an den Arbeitsschutz, da der Zusammenhang
von Arbeitsbedingungen und Erkrankung in veränderter Weise analysiert
und identifiziert werden muss, als dies bei klassischen Unfallrisiken oder
bei Gefährdungen durch schädliche Arbeitsstoffe möglich ist.
Über die Frage nach der Verursachung gesundheitlicher Beeinträchti
gungen hinaus ist es gerade unter den Bedingungen moderner Arbeitsfor
men nötig, ebenso nach der Bedeutung von Arbeit im Krankheitsgesche
hen allgemein zu fragen wie nach ihrem Beitrag oder Hemmnispotenzial
im Gesundungsprozess. Dies gilt umso mehr dann, wenn zunehmend
psychische Belastungen und psychische oder psychisch mitbedingte
Krankheitsbilder in den Vordergrund treten. Denn Arbeit, Karriere und
beruflicher Erfolg sind in hohem und wachsendem Maße identitätsrele
vant, von ihnen sind soziale Anerkennung und Selbstwertgefühl wesent
lich bestimmt. Der Arbeit kommt daher im Leben und damit auch in der
Gesundheitsbiographie der Menschen eine zentrale Prägekraft zu. Um das
Selbstbild als Leistungsträger nicht zu gefährden, fällt es dann schwer, sich
mit Krankheiten offen auseinanderzusetzen. Das kann zur »interessierten
Selbstgefährdung« (vgl. Peters 2011; Krause et al. 2012) führen.
Auch dann, wenn sie die gesundheitlichen Belastungen durch Arbeits
bedingungen und Stress erkennen, halten viele die Erwerbsarbeit jedoch
für einen Bereich, dessen Zwängen sie ausgeliefert sind, besonders wenn sie
um ihre Beschäftigung fürchten. Das kann dazu führen, dass sie glauben,
nichts an ihren gesundheitlichen Gefährdungen und Beeinträchtigungen
ändern zu können. Der Verweis auf unvermeidliche Arbeitszwänge kann
22
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
dann auch dazu führen, dass sie Erwartungen, etwa von Therapeuten oder
auch Angehörigen, an die Änderung des eigenen Gesundheitsverhaltens
abwehren.
Arbeit kann also nicht nur gesundheitliche Beeinträchtigungen hervorrufen, sondern auch das gesundheitsgerechte Verhalten behindern. In
diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass in der Arbeitsgestaltung die
Bedürfnisse und Fähigkeiten gesundheitlich beeinträchtigter Menschen
berücksichtigt werden. Das wird besonders deutlich im Prozess der Wiedereingliederung Erkrankter in den Arbeitsprozess, in besonderer Weise
bei psychischen Belastungen und Erkrankungen, für deren Überwindung
bzw. Verarbeitung häufig das Zusammenwirken verschiedener Akteure
im Arbeitsumfeld wichtig ist, um Stigmatisierungen psychisch Erkrankter
und damit einer Verlängerung oder Reproduktion der Erkrankung ent
gegenzuwirken.
Wenn Arbeit gerade für den Verlauf psychischer Erkrankungen eine
solch komplexe Bedeutung hat, dann ist es auch wichtig, welche Rolle ihr
in den Konzepten und Theorien über Ursachen von Krankheitsentwick
lungen und somit auch in der Diagnostik von Medizinern, Psychologen
und Therapeuten zukommt. Denn die Vorstellungen über den Zusammen
hang von Arbeit und Gesundheit haben Folgen für die Therapie, für die
Handlungsempfehlungen und die gesundheitliche Prognostik. Wichtig ist
also, wie die Arbeitssituation im Heilungsprozess und in den therapeuti
schen Strategien einbezogen wird, wie aber auch die Erkrankten die Arbeit
im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung und ihren Gesundungsmöglich
keiten wahrnehmen und deuten.
In diesem Aufsatz wird ein kurzer Einblick in vorliegende Erkenntnisse
der Forschung gegeben. Dabei stehen vier Themenkomplexe im Vorder
grund:
•
•
•
•
Die Entwicklung psychischer Erkrankungen verursacht durch
psychosoziale Belastungen in der Arbeit,
die betriebliche Gesundheitsförderung und die Wiedereingliederung im
Bereich psychischer Belastungen und Erkrankungen sowie schließlich
die Bedeutung der »Arbeit« in der Psychotherapie.
23
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
1. Die Entwicklung psychischer Erkrankungen
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Entwicklung der krankheitsbedingten Fehlzeiten, so sehen wir zwei unterschiedliche Trends: auf der
einen Seite den langfristigen Rückgang der Fehlzeiten im Allgemeinen, auf
der anderen Seite die Zunahme derjenigen Fehlzeiten, die von psychischen
Erkrankungen verursacht werden.
Seit vielen Jahren ist ein langfristiger Rückgang des Krankenstandes
zu beobachten. Der Fehlzeiten-Report des Wissenschaftlichen Instituts der
AOK weist einen Rückgang der Krankenstände von 5,9 Prozent im Jahre
1995 auf 4,2 Prozent im Jahre 2006 nach. Seitdem ist ein Wiederanstieg
auf 5,2 Prozent im Jahre 2014 zu registrieren, ohne dass jedoch das Niveau
der 1990er Jahre wieder erreicht wurde (Meyer/Böttcher/Glushanok 2015,
S. 347). Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind gering.
Viele Indizien sprechen dafür, dass der Rückgang der Fehlzeiten in
nicht unwesentlichem Maße darauf zurückzuführen ist, dass Beschäftigte
auch krank zur Arbeit gehen. 2009 sind mehr als 71 Prozent der Arbeitneh
mer in Deutschland mindestens einmal krank zur Arbeit gegangen, rund
30 Prozent sogar gegen den ausdrücklichen Rat ihres Arztes. 13 Prozent
haben zu ihrer Genesung extra Urlaub genommen (Steinke/Badura 2011,
S. 18). Für das Jahr 2014 wird ein Anteil von 68 Prozent der Beschäftigten
genannt, der in diesem Jahr mindestens einen Tag krank zur Arbeit ge
gangen ist, darunter 14 Prozent sogar mehr als drei Wochen (Institut DGB
Index Gute Arbeit 2016).
Das Phänomen des »Präsentismus« hat nicht nur gesundheitlich be
denkliche Folgen für die betroffenen Arbeitnehmer, deren Krankheiten
dadurch verschleppt und verschlimmert werden können, und für Kolle
gen, die unter Umständen mit Ansteckung rechnen müssen, sondern auch
für die Qualität und Produktivität der Arbeit. Die Kosten für Präsentismus
werden höher eingeschätzt als diejenigen, die Unternehmen durch Absen
tismus entstehen (vgl. Steinke/Badura 2011; Vogt/Badura/Hollmann 2010;
Weiherl/Emmermacher/Kemter 2007).
Gerade bei solchen Erkrankungsformen, die nicht ganz evidenterweise
die Arbeit unmöglich machen, besteht ein Spielraum für die Entscheidung,
der Arbeit fernzubleiben oder zur Arbeit zu gehen (vgl. Hauß/Oppen 1985;
Twardowski 1998). Hier spielen vermutete Nachteile für Arbeitsplatzsicher
24
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
heit und Karrierechancen ebenso eine Rolle wie Termindruck, soziale Verpflichtungsgefühle gegenüber Teamkollegen oder Identifikation mit der
Arbeit oder dem Projekt. Vor diesem Hintergrund kann man davon aus
gehen, dass gerade neue Arbeitsformen, die durch diese Aspekte gekenn
zeichnet sind, den Präsentismus fördern (vgl. Kocyba/Voswinkel 2007a;
2007b).
Im Gegensatz zur Entwicklung der Fehlzeiten generell steht die Ent
wicklung des Krankenstandes, der von psychischen Erkrankungen verur
sacht wird. Zwischen 2003 und 2014 ist hier bei den Arbeitsausfalltagen
ein Anstieg um 83,7 Prozent zu verzeichnen (Meyer/Böttcher/Glushanok
2015, S. 370). Allein die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von »Burnout«
(Diagnosegruppe Z73 in der ICD10Klassifikation) haben sich zwischen
2005 und 2014 um das Siebenfache erhöht (ebd., S. 387).
Auch wenn man dies teilweise als Effekt einer veränderten Diagnose
stellung ansehen mag, so ist doch der Anstieg gleichwohl eindrucksvoll.
Fehlzeiten von Frauen sind in höherem Maße auf psychische Erkrankun
gen zurückzuführen als diejenigen von Männern (ebd., S. 371). Die an
geführten Daten haben zwar nur die Fehlzeiten der AOKMitglieder zur
Grundlage, lassen sich aber in der Tendenz verallgemeinern, da die Studien
anderer Versicherungen zwar Abweichungen im Detail, nicht aber in der
Tendenz zeigen (DAKGesundheitsreport 2016; TKK Gesundheitsreport
2016; Barmer GEK 2015; BKK Gesundheitsreport 2015).
Psychische Erkrankungen kommen, so die vorliegenden Befunde zu
sammenfassend Rau et al. (2010), in jedem Alter vor, wobei sich die Spit
zenwerte beider Geschlechter bei den über 55Jährigen finden. Der größte
Zuwachs betrifft die unter 30Jährigen. Generell sind Frauen im Vergleich
zu Männern deutlich mehr belastet. Die durchschnittliche Erkrankungs
dauer ist im Vergleich mit somatischen Erkrankungen überdurchschnitt
lich hoch.
Hinzu kommen überdurchschnittlich viele Frühberentungen (RKI
2006), was insgesamt deutlich macht, wie kostenintensiv psychische Er
krankungen sind. Bezogen auf die verschiedenen Branchen tragen Arbeit
nehmer im Bereich personaler Dienstleistungen, und da besonders im
Gesundheits und Sozialwesen, das größte Risiko, psychisch zu erkranken,
nicht zuletzt aufgrund der zu leistenden Emotionsarbeit (vgl. MesmerMa
gnus/DeChurch/Wax 2012). Aber auch in Branchen mit traditionell niedri
25
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
gen Krankenständen, wie etwa Banken, nehmen die Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund psychischer Erkrankungen zu.
Nun darf nicht übergangen werden, dass methodisch begründete Zweifel formuliert worden sind, die eine Zunahme psychischer Erkrankungen
in Abrede stellen (vgl. Richter/Berger 2013). Damit ist Vorsicht gegenüber
einer gesellschaftskritischen Dramatisierung geboten, aber keinesfalls Entwarnung angebracht. Denn die Erkrankungsraten sind zweifellos so hoch,
dass ein dringender Handlungsbedarf besteht.
Mit Recht wird auch darauf verwiesen, dass die Zunahme diagnostizierter psychischer Erkrankungen die Lage nicht übertreibe, sondern nunmehr
realistischer abbilde (Jacobi 2009). Außerdem erscheint es plausibel, dass
es psychisch Erkrankten besonders schwerfällt, sich zu ihren Beschwerden
zu verhalten und ärztlich-psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Denn sie machen sehr viel häufiger als somatisch kranke Menschen die
Erfahrung, sozial ausgegrenzt und nicht mehr als leistungsfähig angesehen
zu werden (vgl. Kühnlein/Mutz 2008).
Zu den Lasten einer Erkrankung gehören auch die finanziellen Kos
ten, die sie verursacht. Zu den direkten Kosten gehört das Geld, das für
Behandlungen aufgebracht werden muss. Nach einer soliden Schätzung
(vgl. Friemel et al. 2005) beliefen sich die direkten Depressionskosten in
Deutschland im Jahr 2002 auf 1,6 Milliarden Euro. Indirekte Kosten fal
len an, wenn eine Erkrankung zu Arbeitsunfähigkeit führt, die dann als
Arbeitslosengeld oder in Form einer krankheitsbedingten Frühberentung
zu Buche schlägt. Hinzu kommen Produktivitätsausfälle aufgrund einer
krankheitsbedingten Leistungsminderung (vgl. Adler et al. 2006). USame
rikanischen Schätzungen zufolge sind indirekte Kosten doppelt so hoch
wie direkte zu veranschlagen (vgl. Stamm/Salize 2006).
Während Depression zu den tradierten klinischen Diagnosen gehört,
ist mit Burn-out eine Gesundheitsstörung benannt, die in aller Munde ist,
der aber (noch) nicht der Status eines eigenständigen Krankheitsbildes zu
kommt. Diagnostische Codierungen sind nach den offiziellen Diagnose
manualen nur als (arbeitsbezogene) Neurasthenie (ICD10: F48.0) oder als
Zusatzdiagnose einer »Schwierigkeit bei der Lebensbewältigung« (Z73.0)
möglich. In der Tat lässt sich Burnout aufgrund seiner Vielfalt von Symp
tomen (vgl. Burisch 2010) nur schwer fassen und tendiert ständig zu einer
Erweiterung. Seine Popularität rührt nicht zuletzt daher, dass der Begriff
weit verbreitete, mehr oder weniger diffuse arbeitsbezogene psychische Ge
26
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
sundheitsrisiken zum Ausdruck bringt, ohne die Stigmatisierung auszulösen, die mit einer Depressionsdiagnose verbunden ist.
Auch wenn es unbestreitbare Überschneidungen zwischen Burn-out
und Depression gibt, erscheint eine Reduktion von Burn-out auf Depression als nicht gerechtfertigt (vgl. Ahola et al. 2005). Burn-out ist nicht einfach eine Depression, die durch Überforderung am Arbeitsplatz ausgelöst
oder gar verursacht wird. Legt man Phasenmodelle zugrunde, so spricht
allerdings einiges dafür, Burn-out zu den Risikofaktoren für die Entwicklung einer Depression zu zählen, wobei denkbar ist, dass sich zwischen
Depressionen mit und ohne Burn-out unterscheiden lässt (vgl. Kaschka/
Korczak/Broich 2011). Klarheit hierüber besteht allerdings nicht, zumal es
bislang an validen differenzialdiagnostischen Verfahren fehlt, Burnout
festzustellen (vgl. Korczak/Kister/Huber 2010). Deshalb weichen dann
auch die verfügbaren Präventionsschätzungen extrem weit voneinander
ab.
Dieses Modell, das ursprünglich für helfende und erzieherische Berufe
entwickelt wurde, geht von einem Syndrom aus, das aus drei Facetten be
steht: »emotionale Erschöpfung«, »Depersonalisation« und »reduzierte per
sönliche Erfüllung und Leistungsfähigkeit«. Die drei Facetten bilden die
theoretische Grundannahme ab, Burnout komme dadurch zustande, dass
eine bei der sozialen Arbeit auftretende emotionale Erschöpfung durch
dysfunktionales Coping (z. B. Zynismus) bewältigt werde, was zu einem
Sinnverlust der Arbeit und schließlich zu einer realen Minderleistung füh
re (vgl. Maslach/Jackson 1981).
Das Modell spiegelt (historisch) die Situation von »entflammten« Perso
nen, die soziale Arbeit beruflich oder ehrenamtlich mit großem Idealismus
betreiben und durch die Praxis tief enttäuscht werden. Inzwischen hat sich
jedoch die zentrale Referenzgruppe des Modells verändert: An die Stelle
der (damaligen) Idealisten sind die Leistungsträger des Neoliberalismus ge
treten, und Burnout wird als eine Krankheitsfolge subjektivierter Arbeit
und des Bestrebens nach Selbstoptimierung gesehen (vgl. Farber 2000,
Thunman 2012), das sich historisch in eine Reihe mit der »Neurasthenie«
und der »Managerkrankheit« stellen lässt (Kury 2012).
27
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
2. Psychosoziale Belastungen in der Arbeit
Die Zunahme psychischer Erkrankungen ist nicht mit der Zunahme psychischer Belastungen und Beanspruchungen in der Arbeit gleichzusetzen. Zum
einen können psychische Erkrankungen ihre Ursachen sowohl in als auch
außerhalb der Arbeit haben, wobei die Bedingungen der Arbeit allerdings
verstärkend, mildernd oder moderierend wirken können. Zum anderen
können psychische Belastungen in der Arbeit von den Beschäftigten so verarbeitet werden, dass hieraus keine Erkrankung resultiert, oder im Vordergrund der Erkrankung können somatische Beschwerden stehen, die zwar
psychisch (mit)bedingt sein können, aber nicht als psychische Erkrankung
behandelt werden. Kurzschlüsse von psychischen Belastungen zu psychischen Erkrankungen sind also zu vermeiden.
Folgt man dem arbeitswissenschaftlichen Belastungs-BeanspruchungsModell, so kann zwar aus Belastungen nicht unmittelbar auf Gesundheitsfolgen geschlossen werden, da anregende (z. B. Eustress) und beeinträchtigende (z. B. Disstress) Beanspruchungen unterschieden werden müssen und
zwischen Belastungen und Beanspruchungen die Merkmale der Person,
ihre Ressourcen und ihr Gesundheitsverhalten moderieren. Gleichwohl lassen sich Profile der Gefährdung identifizieren. Oppolzer (2010) unterscheidet
zwischen Risikofaktoren im Bereich der Arbeitssituation und der Arbeits
bedingungen, der Arbeitsaufgabe, der Arbeitsorganisation und Arbeitszeit,
der Arbeitsumgebung, der sozialen Beziehungen im Betrieb und der be
trieblichen Rahmenbedingungen. Diese können sich in den psychischen
Fehlbeanspruchungen von Stresszuständen, psychischer Ermüdung und
ermüdungsähnlichen Zuständen, wie Monotonie und herabgesetzter Wach
samkeit, niederschlagen.
Auf Basis der Erwerbstätigenbefragungen des Bundesinstituts für Berufs
bildung (BIBB) (2008) und des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsfor
schung (IAB) bzw. der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
(BAuA) (vgl. Beermann/Brenscheidt/Siefer 2007) sowie der Befragungen zum
DGBIndex (aktuell: Institut DGBIndex Gute Arbeit 2015) kommen Len
hardt/Ertel/Morschhäuser (2010) zu dem Ergebnis, dass psychische Belastun
gen inzwischen im Vordergrund belastender Arbeitsbedingungen stehen.
Das betrifft vor allem die Intensität der Arbeit, Länge und Lage der
Arbeitszeiten, den häufigen Wechsel und die Überkomplexität inhaltlicher
28
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
Arbeitsanforderungen. Gewachsene Handlungsspielräume und Transparenz in der Arbeit wirken sich ambivalent aus, weil sich mit ihnen Anforderungen und Eigenverantwortung, aber auch Souveränitätsspielräume
in der Arbeit erhöhen, die als Gesundheitsressourcen betrachtet werden
können. Etwa die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland fühlt sich psychischer Belastung ausgesetzt, die psychisch beeinträchtigende Beanspruchung und Stress verursacht (vgl. Joiko/Schmauder/Wolff 2010, S. 15).
Nicht nur aus bestimmten Arbeitsbedingungen, sondern auch aus
einem subjektiven Sinnverlust der Arbeit können sich psychische Belastun
gen ergeben. Wenn Beschäftigte ihre berufliche Identität infrage gestellt
sehen, weil ihre Fachlichkeit von Ökonomisierungsimperativen in den
Hintergrund gerückt und durch Berichtspflichten, formalisierte Kommu
nikations und Beurteilungsweisen bürokratisiert wird, dann können sich
hieraus erhebliche Anerkennungs und Identitätskonflikte ergeben (vgl.
Reindl 2012).
Hinzu kommen veränderte Anforderungen an die Subjektivität der
Arbeitenden. Die Arbeitnehmer sind in subjektivierten Arbeitsformen an
eine Eigenverantwortung gekettet, die es ihnen schwer macht, sich psy
chisch zu entlasten. Sie müssen die Ursachen für ihren Erfolg oder ihr
Scheitern allein bei sich selbst suchen. Arbeitnehmer, die ihre Arbeit als
psychisch belastend erleben, schreiben die Verantwortung für die Redu
zierung dieser Belastungen häufig nicht den Unternehmen, sondern sich
selbst zu (vgl. Menz/Dunkel/Kratzer 2011). Das erfahrene Ungenügen in
der Realisierung individueller SelbstAnsprüche wird zur psychischen Be
lastung (vgl. Ehrenberg 2004).
Dieser Subjektdisposition entsprechen moderne Formen indirek
ter Steuerung (vgl. Krause et al. 2012), in denen bewertet wird, ob vom
Unternehmen vorgegebene, implizit erwartete oder erst im Nachhinein
definierte Ziele erreicht wurden, während die Arbeitsausführung selbst
der Selbstorganisation der Beschäftigten überlassen ist. Da Anforderungen
und Grenzen der Arbeit hier unbestimmt bleiben, können die Beschäftig
ten unter dem Gefühl permanenten Ungenügens leiden und durch die Zu
weisung von Eigenverantwortung für die Resultate ihrer Arbeit psychisch
überfordert werden (vgl. Menz/Dunkel/Kratzer 2011; auch Rau 2010).
Wenn sich individuelle SelbstAnsprüche mit Formen der Leistungs
steuerung und veränderten Verantwortungszuschreibungen verbinden, ist
es nur noch schwer möglich, arbeitsbedingte (»externe«) Verursachungs
29
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
faktoren psychischer Beanspruchungen von individuellen (»internen«) Dispositionen zu unterscheiden. Insofern wird es noch schwieriger, zwischen
verursachenden und auslösenden Erkrankungsfaktoren zu differenzieren.
Hinzu kommt, dass bestimmte Arbeitsstrukturen spezifische Verhaltens
weisen im Umgang mit Belastungen fördern und in einem Prozess nega
tiver Passung Persönlichkeitsmuster mit Arbeitsstrukturen verknüpft wer
den, ein Phänomen, das man aus der Forschung zur Arbeitssucht kennt
(vgl. Wolf/Meins 2003; Heide 2010).
Bei der Ursachenforschung psychischer Erkrankungen muss also darauf
geachtet werden, die Frage nach dem Verhältnis von arbeitsplatzbezogenen
und lebensgeschichtlichen Kausalfaktoren der betroffenen Arbeitnehmer
nicht voreingenommen zu beantworten. Modelle werden benötigt, die das
Zusammenwirken beider Faktorengruppen berücksichtigen, ohne sie wahl
weise aufeinander zu reduzieren. Dementsprechend ist es auch wichtig, ein
Verständnis von »Salutogenese« zu vermeiden, das die externen Krankheits
verursacher aus dem Blickfeld rückt. Zu Recht wird einem pathogenen
Verständnis von Krankheiten, dem zufolge ein Zustand der Gesundheit
durch externe Faktoren gestört wird und durch medizinische Maßnahmen
wiederherzustellen ist, ein salutogenes Verständnis (vgl. Antonovsky 1997)
entgegengestellt, das den Blick darauf richtet, was Menschen dazu befä
higt, auch angesichts gesundheitlicher Risikofaktoren gesund zu bleiben.
Vorbereitet durch eine seit den 1970er Jahren intensivierte Diskussion
um Prävention und die Entwicklung verschiedener Konzepte, die auf ge
sundheitsdienliche Personenmerkmale fokussierten, wie »Selbstwirksam
keitserwartung«, »Widerstandsfähigkeit« oder »dispositioneller Optimis
mus« (Bengel/Strittmatter/Willmann 2001), stellte der Paradigmenwechsel
(vgl. Udris 2006) von der Patho zur Salutogenese zweifellos einen Fort
schritt dar (vgl. Thiel/Mayer 2016). Er trägt allerdings auch die Gefahr in
sich, die Verantwortung für Erkrankungen den Individuen zuzuweisen.
Ein systematischer Überblick (16 Längsschnittstudien mit insgesamt
mehr als 63.000 Arbeitnehmern) über arbeitsplatzbedingte Depressions
risiken (vgl. Bonde 2008) belegt, dass überfordernde Arbeitsbedingungen
die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an depressiven Symptomen zu erkran
ken (ähnlich Mohr 2005). Rau (2005, S. 47 f.) zufolge kann allerdings eine
persönlichkeitsbedingte Fehleinschätzung eigener Kontrollmöglichkeiten
dazu führen, dass bestehende Verhaltens und Kontrollspielräume nicht er
kannt und nicht genutzt werden.
30
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
Verschiedene prognostische Modelle versuchen, die depressionsförderliche Wirkung von Überforderung zu erklären. Neben dem AnforderungsKontroll-Modell (Karasek/Theorell 1990) und seinen Weiterungen (vgl.
Demerouti et al. 2001), das Arbeitsanforderungen und Bewältigungsressourcen (Entscheidungs- und Handlungsspielräume, soziale Unterstützung
durch Vorgesetzte und Kollegen) ins Verhältnis setzt und in der Größe der
Diskrepanz einen validen Prädiktor für Depression, Burn-out und HerzKreislauf-Erkrankungen nachgewiesen hat (vgl. Stansfeld/Candy 2006; De
Lange et al. 2003), ist es vor allem das Modell beruflicher Gratifikations
krisen (vgl. Siegrist 1996), das bislang die größte Evidenz aufzuweisen hat.
Ihm zufolge beinhalten Arbeitsverträge eine Reziprozitätsverpflich
tung: Arbeitnehmer erwarten, dass sie für den Arbeitseinsatz, den sie er
bringen, angemessen belohnt werden. Enttäuschte Erwartungen erleben
sie als Gratifikationskrise, die zu Disstress führt, was das Risiko erhöht, de
pressiv zu erkranken. Als Gratifikationen berücksichtigt das Modell nicht
nur Lohn oder Gehalt, sondern auch berufliche Aufstiegschancen und
Arbeitsplatzsicherheit sowie soziale Anerkennung (vgl. Siegrist et al. 2004).
Der aktuelle Forschungstand zum Zusammenhang von Gratifikations
krise und Depressions bzw. BurnoutRisiko (zum Überblick Burisch 2010;
Rösing 2003) kann sich neben anderem auf die Ergebnisse aus sechs groß
angelegten epidemiologischen Untersuchungen berufen. Im Mittel verdop
pelt eine Gratifikationskrise das Depressionsrisiko, wobei Größe und Dau
er der Diskrepanz das Risiko steigern (vgl. Pikhart et al. 2004; Godin et al.
2005). In den untersuchten Stichproben sind es zwischen zehn und 25 Pro
zent der Arbeitnehmer, die sich in einer solchen Krise befinden. Aufgrund
ihrer hohen Komorbidität ist das Depressionsrisiko zudem immer auch ein
kardiovaskulärer Risikofaktor (vgl. Ferketich et al. 2000).
Forschungen zur genderspezifischen Betroffenheit von psychischen Be
lastungen und zu genderspezifischen Unterschieden im Gesundheitsverhal
ten kommen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen, bei denen bisweilen
auch geschlechtstypische Zuschreibungen eine Rolle zu spielen scheinen
(vgl. Gümbel/Nielbock 2012). Zum einen ergeben sich unterschiedliche Be
troffenheiten schon daraus, dass Männer und Frauen nach wie vor in erheb
lichem Maße in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern beschäftigt und damit
auch verschiedenen Arbeitsanforderungen und belastungen ausgesetzt
sind. So bringen etwa schwere körperliche Arbeiten bestimmte Gesund
heitsgefährdungen mit sich, die sich von den eher psychischen Belastungen
31
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
unterscheiden, die kennzeichnend für die Emotionsarbeit in interaktiven
Dienstleistungsarbeiten sind, in denen Frauen überproportional beschäftigt sind.
Burchell et al. (2007) zufolge relativieren sich jedoch die Unterschiede
in den Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen, wenn man die Daten der
europäischen Beschäftigtenbefragungen genauer betrachtet. Beermann/
Brenscheidt/Siefer (2007), Resch (1998) und Kannengießer (2005) identifi
zieren spezifische, vorrangig von Frauen benannte psychische Belastungen,
wie »Multitasking«, ständiges Freundlichsein und Belastungen durch feh
lende WorkFamilyBalance.
Über diese bekannten, zugegebenerweise klischeehaft zugespitzten
Unterschiede der Belastungen und Gefährdungen in männer und frau
endominierten Beschäftigungsbereichen greift die Genderdimension psy
chischer Belastungen und Erkrankungen jedoch hinaus. Denn Arbeiten
werden in unterschiedlicher Weise geschlechtlich gerahmt, indem sie etwa
als typisch weiblich oder typisch männlich gelten. Damit verbunden gibt
es geschlechtlich geprägte Vorstellungen spezifischer Kompetenzen, An
forderungen und Belastungen und differierende normative Erwartungen,
welche Anforderungen als zumutbar oder als Ausweis von Leistungsfähig
keit in den jeweiligen Bereichen gelten.
Damit korrespondierend existieren geschlechtliche Rahmungen ver
schiedener Krankheitsformen – typische Frauen und Männererkrankun
gen und spezifische Unterschiede des Gesundheitsverhaltens. Wissen
schaftliche Untersuchungen unterstreichen diese Unterschiede teilweise.
So weist Faltermaier (2008) darauf hin, Männer neigten zu gesundheitlich
riskanteren Verhaltensweisen, während Frauen stärker motiviert seien, für
ihre Gesundheit aktiv zu werden. Entsprechend werden Präventionsange
bote der Krankenkassen wesentlich häufiger von Frauen wahrgenommen.
So haben im Jahr 2003 vor allem Frauen im Alter von 15 bis 45 Jah
ren solche Maßnahmen genutzt. Dagegen sind Männer am häufigsten auf
grund von Krankheiten des MuskelSkelettSystems rehabilitativ behandelt
worden (Rolland 2005, S. 980). Gesundheit könnte für Männer häufig
weiblich konnotiert sein, das gilt besonders für psychische Belastungen
und Erkrankungen, weil diese nicht einmal im Sinne eines somatischen
»Maschinendiskurses« (Stöver 2010, S. 209) über den Körper thematisiert
werden können.
32
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
3. Betriebliche Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung
im Bereich psychischer Belastungen und Erkrankungen
Mit dem Paradigmenwechsel von der Patho- zur Salutogenese ging eine
Aufwertung der Betrieblichen Gesundheitsförderung einher. Sie erhielt
einen besonderen Anstoß durch die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation 1986, in der Gesundheit nicht mehr als Abwesenheit von
Krankheit definiert wurde, sondern als Zustand allgemeinen Wohlbefin
dens, das von den Beteiligten aktiv hergestellt werden soll. Sowohl den
Individuen als auch den Betrieben wird damit die Aufgabe zugewiesen,
nicht nur krankheitsverursachende Faktoren abzustellen, sondern zur Her
stellung und Bewahrung von Gesundheit beizutragen.
Betriebliche Gesundheitsförderung und betriebliches Gesundheitsma
nagement wurden in den letzten Jahren in immer mehr Unternehmen zu
einer zentralen Aufgabe, die konzeptuell weiter ausgearbeitet wurde (vgl.
Bertelsmann Stiftung/HansBöcklerStiftung 2004; Badura et al. 2010;
Lenhardt 2005; Busch/AOK Berlin 2004; Oppolzer 2010; BMAS 2011). Fra
gen der Prävention wurden in letzter Zeit vermehrt zum Gegenstand der
Forschung, so z. B. in den BMBFProjektverbünden »Präventiver Gesund
heitsschutz in diskontinuierlichen Erwerbsverläufen« (PRAGDIS) (Klatt/
Neuendorff 2010; Dill/Straus 2010) und »Partizipatives Gesundheitsma
nagement« (PARGEMA) (siehe hierzu Kratzer et al. 2011).
Betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention umfassen sowohl
eine Verhaltens als auch eine Verhältnisprävention. So sinnvoll auch die
am individuellen Gesundheitsverhalten ansetzende Verhaltensprävention
ist, so wichtig ist doch für eine nachhaltige Gesundheitsförderung die
Gestaltung der Arbeitsbedingungen und anforderungen sowie der Leis
tungspolitik (Verhältnisprävention). Zwischen beiden besteht zwar nicht
notwendigerweise, aber doch insofern ein latenter Konflikt, als die Orien
tierung auf eine der beiden Seiten zur Vernachlässigung der anderen und
zu einer entsprechenden Verantwortungszuschreibung führen kann.
Mit der Reform des Arbeitsschutzgesetzes im Jahre 1996 wurde die
betriebliche Eigenverantwortung gegenüber zwingenden Regelungen auf
gewertet, was zu einer Verbetrieblichung des Arbeitsschutzes geführt hat.
Der Arbeitgeber ist nun zur Gefahrenermittlung am Arbeitsplatz angehal
ten, was sich in der für den Arbeitsschutz zentralen Institution der Gefähr
dungsbeurteilung nach § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) niederschlägt.
33
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
(Vgl. zu Potenzialen und Praxisdefinitionen der Gefährdungsbeurteilung
Becke 2010; Becker et al. 2011; Satzer 2011; Gümbel/Nielbock 2012; BAuA
2014.) Psychische Belastungen müssen Teil der Gefährdungsbeurteilung
sein.
Um den Anforderungen des Arbeitsschutzes zu genügen, sich auf ge
sicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu beziehen, sind in neuerer
Zeit allerdings beträchtliche Fortschritte in der Normung im Bereich psy
chischer Belastungen in der Arbeit gemacht worden (vgl. Bamberg 2002;
Joiko/Schmauder/Wolff 2010). Insgesamt haben sich die Messbarkeit und
Bewertbarkeit psychischer Belastungen unter der Verbreitung des Burn
outBegriffs zu einem stark vertretenen Forschungsbereich entwickelt.
Bereits 1981 erstellten Maslach/Jackson mit dem MBI (Maslach Burnout
Inventory) ein Messinstrument, das bis heute in der BurnoutForschung
verwendet wird.
Seither wurde ein Großteil der BurnoutForschung mittels des ad
aptierten MBI erhoben (vgl. Rösing 2003). Das gegenwärtig populärste
Forschungsfeld im Kontext arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen
versucht, Belastungsfaktoren zu identifizieren und daraus Präventivmaß
nahmen abzuleiten. Pröll/Gude (2003) untersuchten gesundheitliche Aus
wirkungen flexibler Arbeitsformen und erstellten »Risikoabschätzung und
Gestaltungsanforderungen«. Siegrist/Dragano (2008) erfassten die psycho
sozialen Belastungen und Erkrankungsrisiken im Erwerbsleben mittels
standardisierter Messverfahren.
Zusammenfassend stellen sie fest, dass mit den Arbeitsstressformen
eine Risikoverdoppelung für die Ausprägung der untersuchten Erkrankun
gen einhergeht und eine verstärkte Beachtung und Erfassung der identi
fizierten Risikobedingungen im Erwerbsleben, insbesondere im Rahmen
der betriebsärztlichen Tätigkeit, erforderlich sind. Richter/Schatte (2009)
erstellten mit »BASA II« (Psychologische Bewertung von Arbeitsbedingun
gen Screening für Arbeitsplatzinhaber II) ein Screeningverfahren, das im
Rahmen betrieblicher Gefährdungsbeurteilungen eingesetzt werden soll,
um förderliche und beeinträchtigende Bedingungen der Arbeit zu ermit
teln.
Allerdings ist nicht zu übersehen, dass mehr noch als für die Praxis der
Gefährdungsbeurteilung im Allgemeinen gerade bei psychischen Belastun
gen Defizite zu konstatieren sind. Sie sind zum einen auf den allgemeinen
»Finanzierungsvorbehalt« (Becker et al. 2011, S. 264), zum anderen aber,
34
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
wie Langhoff/Satzer (2010) betonen, auch auf die fehlende Akzeptanz und
Beteiligung der Beschäftigten zurückzuführen – wobei die Identifikation
von psychischen Belastungen mit psychischen Störungen eine nicht gerin
ge Rolle spiele. Demgegenüber sei die Frage der arbeitswissenschaftlich
korrekten und präzisen Messung eher zweitrangig.
Die Wiedereingliederung in die Arbeit ist die Bewährungsprobe dafür,
dass psychische Erkrankungen, die mit der Arbeitssituation in Verbindung
stehen, dauerhaft überwunden werden oder dass die Betroffenen doch zu
mindest mit ihnen einigermaßen umgehen können, auch wenn das prä
morbide subjektive Wohlbefinden und die prämorbide Leistungsfähigkeit
nicht völlig wiedererlangt werden sollten. Seit 2004 ist mit dem § 84 Abs. 2
Sozialgesetzbuch (SGB) IX gesetzlich vorgeschrieben, dass der Arbeitgeber
bei Beschäftigten, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen un
unterbrochen oder wiederholt krankgeschrieben waren, in Abstimmung
mit dem Betriebsrat und der Schwerbehindertenvertretung prüfen muss,
wie die Wiedereingliederung ermöglicht und eine Gefährdung des Be
schäftigungsverhältnisses vermieden werden kann. Dieses »Betriebliche
Eingliederungsmanagement« (BEM) bedarf der Einwilligung des/der Be
troffenen.
Über die Umsetzung und den Erfolg des BEM gibt es bereits eine Reihe
von Untersuchungen, denen zufolge nach und nach entsprechende Verfah
ren Verbreitung finden, auch wenn der Erfolg von Experten häufig noch
zurückhaltend bewertet und insbesondere das Fehlen geeigneter Arbeits
plätze als Problem identifiziert wird (vgl. Niehaus et al. 2008; Giesert/Weß
ling 2012). Allerdings stellen sich bei psychischen Erkrankungen besondere
Anforderungen.
In den letzten Jahren hat sich eine Diskussion um die »integrierte Ver
sorgung« entwickelt, bei der Kooperation und Integration spezialisierter
medizinischer Akteure im Mittelpunkt stehen (vgl. Kühn 2001). Die Dis
kussion fokussiert hier vor allem auf die bessere Vernetzung von statio
nären und ambulanten haus und fachärztlichen sowie psychotherapeuti
schen Leistungserbringern (vgl. Barmer GEK 2011). Durch die Einführung
von DRG (Diagnosis Related Groups), die tendenziell zu einer Verkürzung
und Begrenzung stationärer Leistungen führt, hat die Debatte über integ
rierte Versorgung eine zusätzliche Bedeutung erfahren. Im psychiatrischen
und psychosomatischen Bereich wird gegenwärtig das »Pauschalierende
Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik« (PEPP) eingeführt. Durch
35
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
diese Veränderungen wird die Gefahr gesehen, dass sich verstärkt Lücken
zwischen stationärer und ambulanter ärztlich-therapeutischer Versorgung
auftun, die überbrückt werden müssen.
Richtet man den Blick auf den Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit, so ist darüber hinaus – und aus den genannten Gründen gerade
bei psychischen Erkrankungen – wichtig, dass stationäre und ambulante
medizinischpsychotherapeutische Leistungen besser mit den betrieblichen
medizinischen und anderen Akteuren abgestimmt und vernetzt werden.
Im Behandlungs und Wiedereingliederungsprozess muss sich eine bessere
Kooperation der Akteure des Gesundheitssystems untereinander, aber ge
rade auch mit denen des Arbeitsbereichs entwickeln (vgl. Kühnlein/Mutz
2008, S. 344). Aufbauend auf die gesetzliche Verankerung des BEM wur
den verschiedene Modelle schrittweiser Reintegration, zum Beispiel das
»Hamburger Modell« (§ 74 SGB V, § 28 SGB IX) entwickelt (vgl. Giraud/
Lenk 2016).
Insgesamt fokussiert der Forschungsstand zur Wiedereingliederung
psychisch Erkrankter und zur Bedeutung integrierter Versorgung in die
sem Zusammenhang auch dann, wenn er sich mit dem Verhältnis von
Gesundheitssystem und Betrieb befasst, vor allem auf die institutionelle
Vernetzung. Befragungen zur Wirkungsweise und zum Erfolg des BEM
gerade bei psychischen Erkrankungen haben bislang nur die betrieblichen
Experten einbezogen, nicht aber die Erfahrungen und Bewertungen der
Betroffenen selbst. Unterbelichtet ist darüber hinaus die Integration der
verschiedenen Perspektiven und der kommunikativen Anschlüsse im Zu
sammenwirken der Akteure klinischer und ambulanter Gesundheitsver
sorgung mit den Akteuren der Betriebe.
4. »Arbeit« in der Psychotherapie
Es scheint zunächst nicht verwunderlich, dass kaum Daten zur Bedeu
tung der Erwerbsarbeit im Kontext der Psychotherapie vorliegen, erhebt
Letztere doch den Anspruch, die jeweils konkrete Lebens und Krisensi
tuation des Patienten in den Blick zu nehmen. Dies ließe sich schwer mit
Vorgaben über »Therapiethemen« vereinbaren. Im Rahmen diagnostischer
Richtlinien spielt Erwerbsarbeit keine Rolle. Der Begriff »Arbeit« oder Er
werbsarbeit oder inhaltlich verwandte Begriffe kommen im ICD10GM
36
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
(Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter
Gesundheitsprobleme, Version 2013) im Bereich F Psychische und Verhal
tensstörungen (F00 bis F99) so gut wie nicht vor (vgl. ICD10, eigene Re
cherche).
Zudem grenzt sich Psychotherapie als Leistung der gesetzlichen Kran
kenversicherungen auch von arbeitsbezogenen Maßnahmen ab (vgl. die
Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu Psychotherapie,
KBV 2011, § 1). Die stabilisierende Bedeutung der Erwerbsarbeit für das
subjektive Wohlbefinden kann ex negativo aus Befunden von Altenbe
richten oder Berichten über psychosoziale Folgen von Arbeitslosigkeit er
schlossen werden, in denen erhebliche psychische Auswirkungen fehlender
Erwerbsarbeit in der nachberuflichen Phase identifiziert werden (Mohr/
Richter 2008; Bundespsychotherapeutenkammer 2010).
Untersuchungen zur Wirkung von Psychotherapie (vgl. Petzold/Mär
tens 2000) richten ihren Fokus nicht auf die Relevanz von Erwerbsarbeit
in der Therapie. Aufmerksamkeit wird vielmehr häufig den sogenannten
»Arbeitsstörungen« (vgl. Hoffmann/Hofmann 2009) gewidmet. Gemeint
sind hiermit keine Störungen, die man aufgrund von Arbeit erleidet, son
dern Störungen der Arbeitsfähigkeit selbst. Zur Behebung dieser Sympto
matik dienen unter anderem ergo bzw. arbeitstherapeutische Maßnahmen
(vgl. Köhler/SteierMecklenburg 2008; Längle/Welte/NiedermeierBleier
1997, S. 481 ff.).
Hier wird das Feld der Erwerbsarbeit also explizit Gegenstand des the
rapeutischen Settings, ohne dass aber der Blick auf die Gesundheitsbelas
tungen durch oder im Kontext von Arbeit gerichtet wird. Verhaltensthera
peutische Ansätze zielen auf die konkreten Alltagsschwierigkeiten, ohne
deren zugrunde liegende mögliche Ursachen zu befragen. Patienten sollen
darin geübt werden, sich selbst nicht zu überfordern, Ziele realistischer zu
vereinbaren (vgl. Hoffmann/Hofmann 2009). Der externe Kontext wird
kaum zum Thema, im Zentrum der therapeutischen Maßnahmen steht
der Patient mit seinen Fähigkeiten.
Psychotherapeutische Konzepte, so kann vermutet werden, tendieren
dazu, die Bedeutung von Arbeit im Krankheitsgeschehen eher aus der Per
sönlichkeitsstruktur, der psychischen Disposition und dem Beziehungsver
halten der Individuen abzuleiten. Dann steht das Arbeitsverhalten der Be
troffenen im Mittelpunkt, die Arbeit wird als Anforderung betrachtet, der
sich Menschen in unterschiedlicher psychisch, charakterlich bestimmter
37
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Weise stellen und die für sie eine je besondere Bedeutung besitzt. Arbeitsbeziehungen sind in dieser Perspektive vor allem soziale Beziehungen und
können im Lichte des allgemeinen Beziehungsverhaltens analysiert werden
(vgl. König 2011). Das schließt nicht aus, Arbeitsbedingungen und Beanspruchungen durch Arbeit ernst zu nehmen, doch steht der Umgang der
Individuen mit ihnen im Vordergrund. Eine Verbesserung wird auf diese
Weise in einer Veränderung des Umgangs mit den Arbeitsanforderungen
gesehen, weniger in einer Veränderung der Arbeit selbst.
Aus psychoanalytischer Perspektive wird die Arbeit in der Perspektive
von Beziehungen betrachtet (vgl. Hirsch 2000). Arbeit und die Probleme
mit ihr werden dann meist unter zwei Gesichtspunkten verhandelt: Angst
und Schuld (beispielsweise Schuld aus Vitalitätsbestrebungen oder Trennungsschuldgefühle). Mehrheitlich wird darauf verwiesen, dass Arbeitsstörungen, wie das Aufgeben »kurz vorm Ziel« oder auch Prüfungsängste,
immer im Zusammenhang mit dem unbewussten Bestreben zu verstehen
seien, einen Elternteil (ödipal beispielsweise den Vater bei einem männlichen Patienten) zu übertreffen, was Schuldgefühle auslöse. Therapeutisch
wird Arbeit hier also thematisch, wenn es darum geht, die unter der Stö
rung liegende Beziehungsdynamik aufzudecken und durch Bewusstwer
dung möglichst aufzulösen.
Dabei wird aus psychoanalytischer Perspektive auch zu bedenken gege
ben, dass eine hochfrequente Psychoanalyse durch die damit einhergehen
de zu erwartende Regression die Patienten noch arbeitsunfähiger mache,
weswegen eine Kurzzeittherapie zunächst fokussiert die Arbeitsstörung
angehen solle, um dann bei Besserung eine analytische Psychotherapie an
zuschließen (vgl. König 1998). Die Erwerbsarbeit als solche verschwindet
dann aber wieder aus dem Blick.
5. Fazit
Der Überblick über den Stand der Forschung macht deutlich, dass in den
einzelnen Forschungsfeldern durchaus eine Reihe von Erkenntnissen vor
liegt. Was jedoch bislang fehlte, ist eine Forschung, die die Analyse des
Verhältnisses psychisch Erkrankter zu ihrer Arbeitssituation und ihre Er
fahrungen mit den dort relevanten Belastungen mit einer Untersuchung
der Rolle der Arbeitssituation in der Diagnose und Ursachendeutung von
38
Psychische Erkrankungen und die Erwerbsarbeit
Ärzten und Therapeuten sowie in der Behandlung psychischer Erkrankungen verbindet und diese für die Analyse der Wiedereingliederung psychisch Erkrankter in die Arbeit und für die Verbesserung der Beziehung
von Therapie und Betrieblichem Eingliederungsmanagement fruchtbar
macht. Der interdisziplinären Analyse dieser Zusammenhänge und der
Probleme in der Zusammenführung dieser unterschiedlichen Perspektiven sowie der Anschlüsse an den Schnittstellen der Systeme hat sich unsere
Untersuchung gewidmet.
Dabei können wir auch auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen, denn die
Mitglieder des Forscherteams beschäftigen sich mit dem Themenfeld bereits seit längerer Zeit und können daher auf Erfahrungen und Befunde aus
anderen Untersuchungen zurückgreifen. In mehreren Untersuchungen, die
sich mit den psychischen Folgen des Wandels der Arbeitswelt befasst haben, wurden insbesondere die Erfahrungen von Supervisoren systematisch
ausgewertet (vgl. Haubl/Hausinger/Voß 2013; Haubl et al. 2013). Das Phänomen des Präsentismus stand im Fokus einer Untersuchung, die dieses
Phänomen im Kontext neuer, insbesondere entgrenzter Arbeit beleuchtete
und hierbei auf Ambivalenzen betrieblichen Gesundheitsmanagements
hinwies (vgl. Kocyba/Voswinkel 2007a und 2007b; Voswinkel 2009; Voswinkel/Kocyba 2005). Probleme und Herausforderungen von »Selbstsorge«
in entgrenzten Arbeitsformen wurden in einer qualitativen Untersuchung
von Bankmitarbeitern im Vertrieb analysiert (vgl. Flick 2013a) und die
Rolle der Psychotherapie in der therapeutischen Kultur professionssoziologisch untersucht (vgl. Flick 2013b).
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48
Methodische Anlage der Untersuchung
Bei unserer Untersuchung handelt es sich um eine multiperspektivische
Forschung. Wir versuchen, verschiedene Perspektiven auf den Zusammenhang von Erwerbsarbeit und psychischen Erkrankungen zu kombinieren.
Das betrifft zum einen die Kooperation verschiedener fachlicher und diszi
plinärer Herangehensweisen, vor allem der arbeitssoziologischen, der pro
fessionssoziologischen und der psychoanalytischen. Zum anderen betrach
ten wir individuelle Fälle von Erkrankungen in ihrem Verlauf. Um diese
multiperspektivische Forschung durchzuführen, haben wir verschiedene
methodische Instrumente genutzt.
Grundsätzlich kam für unsere Untersuchung nur ein qualitatives
Untersuchungsdesign in Betracht. Weder wollten wir im Rahmen großer
Fallzahlen Korrelationen finden noch eine objektivierende Außensicht
einnehmen. Vielmehr wollten wir Selbstbeschreibungen gesundheitlicher
Beeinträchtigungen und deren Verursachungs und Kontextbedingungen
erheben und analysieren. Es galt zu rekonstruieren, wie die Erkrankten
selbst ihre Beschwerden wahrnehmen und welche Auslöser und Ursachen
sie für gegeben erachten. Von besonderem Interesse war dabei, welche Be
deutung sie der Erwerbsarbeit zumessen, sowohl retrospektiv als auch mit
Blick auf ihre zukünftige Entwicklung. Zudem wollten wir wissen, was
sich die Patienten von ihrem Klinikaufenthalt, stationär oder teilstationär,
erwartet haben und was aus diesen Erwartungen im Laufe der Therapie ge
worden ist. Vergleichbare Fragen galten den Therapeuten: Welche Themen
schwerpunkte haben die Therapien gehabt? Stimmen die Deutungen der
Experten mit denen ihrer Patienten überein? Haben psychisch belastende
Arbeitsbedingungen im Erkrankungs wie im Genesungsprozess die Rele
vanz, die wir vorab vermutet haben?
49
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
1. Das Sample der interviewten Patientinnen und Patienten
Im Zentrum der Untersuchung steht ein Sample von 23 Gesprächspartnern, die wir in ihrer Rolle als Patienten, die wegen einer psychischen
Erkrankung eine psychosomatische Klinik aufsuchten, in verschiedenen
Phasen des Krankheitsprozesses interviewt haben. Die Patienten wurden
im Zusammenhang mit dem Erst- bzw. Aufnahmegespräch, das vor bzw.
zu Beginn des Aufenthalts in den Kliniken stattfand, von den Therapeuten
danach gefragt, ob sie zur Teilnahme an unserer Studie bereit seien. Sie
erhielten ein Informationsblatt, in dem sie über die Zielsetzungen des Projektes informiert wurden, und erklärten gegebenenfalls ihre Bereitschaft,
dass wir die verfügbaren Kontaktdaten erhielten, um uns mit ihnen in Verbindung zu setzen. Wesentliches Kriterium für die Ansprache durch die
Ärzte bzw. Therapeuten war, dass diese im Gespräch den Eindruck gewannen, die Erwerbsarbeit sei für die Erkrankung von Bedeutung.
Grundsätzlich ausgeschlossen wurden damit Patienten, die nicht abhängig erwerbstätig sind oder deren Erwerbstätigkeit für sie nur eine geringe Relevanz hat: Menschen, die im eigenen Haushalt arbeiten, Selbstständige, Rentner, Studierende, Nebenerwerbstätige und andere mehr. Ebenso
ausgeschlossen wurden solche Erkrankte, die besonders schwerwiegende
psychische Erkrankungen hatten, also etwa Traumapatienten oder Psychosekranke. Alle einbezogenen Patienten unterzeichneten zu Beginn des ersten
Interviews eine Einverständniserklärung, konnten freilich jederzeit ihr Einverständnis auch wieder zurückziehen, was aber in keinem Fall erfolgt ist.
Aufgrund der Art der Ansprache war es nicht möglich, das Sample gezielt so zusammenzustellen, dass verschiedene Berufe, Qualifikations und
Bildungsgrade, Beschäftigungsstatus, Beschäftigte verschiedener Organisa
tionstypen, unterschiedliche Altersgruppen repräsentativ vertreten wären.
Insofern handelt es sich um ein eher gelegenheitsgeneriertes Sample, da
die Ansprache weitgehend nach der Reihenfolge der Aufnahmegespräche
stattfand. Die Samplestruktur entspricht damit am ehesten der Patienten
struktur der beteiligten Kliniken. Wir haben allerdings zu dem Zeitpunkt,
als sich eine Überrepräsentanz der Frauen unter den Patienten abzeichnete,
in den Kliniken darum gebeten, nunmehr bevorzugt geeignete männliche
Patienten anzusprechen, sodass wir am Ende eine ausgewogene Zusam
mensetzung im Hinblick auf das Geschlecht erreichen konnten.
50
Methodische Anlage der Untersuchung
Tabelle 1: Struktur des Samples der interviewten Patientinnen und Patienten
nach Alter und Geschlecht
Altersgruppen
männlich
20–30 Jahre
weiblich
gesamt
2
2
5
12
31–40 Jahre
7
41–50 Jahre
2
4
6
≥ 51 Jahre
2
1
3
11
12
23
gesamt
Quelle: eigene Berechnung
Insgesamt wurden 23 Patientinnen und Patienten einbezogen. Zwölf waren weiblich, elf männlich. Der Schwerpunkt liegt in der Altersgruppe der
31- bis 40-Jährigen (Tabelle 1).
Tabelle 2: Struktur des Samples der interviewten Patientinnen und Patienten
nach Berufen und Branchen
Berufe
Branchen
Servicemitarbeiter
Einzelhandel/Verkehrsdienstleister
4
Lagerleiter
Handel
1
Sekretärin
Unternehmensberatung, Spedition
2
Buchhalter
Unterhaltungshandel
1
Betriebswirtschaftler/IT
Bank, Steuerberatung
3
Ingenieur
Verkehrsdienstleister, Automobilzulieferer
2
Marktforscher
Marktforschung
1
Sozialarbeiterin,
Integrationsassistentin
Non-Profit-Organisationen
2
Sachbearbeiterin, Juristin
öffentlicher Dienst, Krankenversicherung
3
Pfleger/in
Altenpflege
2
Ärzte
Klinik
2
Summe
Zahl
23
Quelle: eigene Berechnung
51
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Das Sample umfasst sehr unterschiedliche Berufe und Branchen. Es ist
ein breites Spektrum verschiedener Qualifikationsniveaus und arten so
wie unterschiedlicher Tätigkeiten vertreten (Tabelle 2). Allerdings fehlen
typische Arbeiterberufe. Insgesamt darf aber als gesichert gelten, dass wir
nicht nur Patienten mit einem hohen Bildungsgrad oder mit Tätigkeiten,
die eine Nähe zum therapeutischen Feld aufweisen, im Sample berücksich
tigt haben.
2. Forschungsgespräche
Um verschiedene Perspektiven auf die jeweiligen Fälle aufnehmen und
interpretieren zu können, wurden mit allen Patienten mehrere Gespräche
geführt. (Vgl. hierzu auch den »Methodenfahrplan« im Methodenglos
sar.)
•
•
•
52
Wir haben angestrebt, mit jedem Patienten und jeder Patientin drei Ge
spräche zu führen. Das erste Gespräch fand vor dem Klinikaufenthalt
oder zu dessen Beginn statt, das zweite kurze Zeit vor der Beendigung
des Klinikaufenthalts und das dritte einige Zeit später, in der Regel
etwa vier Monate nach Beendigung des Klinikaufenthalts. Im ersten Ge
spräch standen die Selbstbeschreibungen der Patienten sowie deren Er
wartungen an die Therapie im Mittelpunkt. Das zweite Gespräch fokus
sierte auf die Erfahrungen mit der Therapie, eventuelle Veränderungen
der Krankheitsdeutung und Erwartungen an die Zukunft. Das dritte
Gespräch schließlich sollte die Erfahrungen mit der Rückkehr in die
Arbeit bzw. den diesbezüglichen Hindernissen und Umorientierungen
sowie dem weiteren Verlauf der Erkrankung erheben.
Mit den behandelnden Therapeuten und Ärzten fanden pro Fall in der
Regel ein bis zwei Gespräche statt. In diesen Gesprächen, die wir als
»Supervisionen« bezeichnet haben (siehe dazu das entsprechende Stich
wort im Methodenglossar), ging es um die professionelle klinische
Beurteilung der Fälle, wobei uns besonders Differenzen zwischen der
Selbstbeschreibung der Patienten und der Fremdbeschreibung durch
die Experten interessiert haben.
Mit den Ärzten bzw. Therapeuten der kooperierenden Kliniken wur
den Gespräche über ihr therapeutisches Selbstverständnis geführt. Im
Methodische Anlage der Untersuchung
•
•
Fokus standen insbesondere die Relevanz der Erwerbsarbeit für psychische Krankheit und Gesundheit sowie allgemeine Kriterien für einen
Therapieerfolg.
Mit den Sozialarbeitern der Kliniken fanden Gespräche über ihre Tätigkeitsschwerpunkte und dabei insbesondere über Probleme des Entlassungsmanagements sowie der Nachsorge statt.
Bereits zu Beginn unserer Untersuchung haben wir mit den Akteuren
des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in verschiedenen Organisationen gesprochen, aus forschungsethischen Gründen freilich nicht
in den Organisationen, in denen unsere Patienten beschäftigt sind.
Tabelle 3 gibt eine Übersicht über die Zahl der insgesamt geführten Gespräche.
Tabelle 3: Zahl der geführten Gespräche
Interview
Anzahl
Erstgespräch mit Patienten
23
Zweitgespräch mit Patienten
20
Drittgespräch mit Patienten
15
Fallbezogenes Gespräch mit Ärzten/Therapeuten
27
Expertengespräch mit Arzt
9
Gespräch mit Sozialarbeiterinnen
2
Gespräch mit Beteiligten des BEM (z. T. Gruppengespräch)
10
Quelle: eigene Berechnung
Nicht in allen Fällen konnten alle drei Gespräche mit den Patienten geführt
werden. Drei Zweitgespräche kamen nicht zustande, weil die Patienten den
Klinikaufenthalt nach kurzer Zeit beendeten. Weitere fünf Drittgespräche
fanden aus unterschiedlichen Gründen nicht statt: Eine erneute Kontaktaufnahme kam nicht zustande, bzw. ein Interesse am Drittgespräch bestand beim Patienten nicht mehr, oder aber er befand sich erneut in einer
Klinik.
Alle Gespräche wurden (mit Einwilligung der Gesprächspartner) aufgezeichnet und vollständig transkribiert. Für jedes Gespräch fertigten die
53
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Interviewer ein »Postskript« an (siehe dazu das entsprechende Stichwort im
Methodenglossar).
Allen Gesprächen mit Patienten ist gemeinsam, dass sie eine biographisch-narrative Struktur haben. Dies kommt besonders in der Erhebung
einer »Biographiekurve« (siehe dazu das entsprechende Stichwort im Methodenglossar) zum Ausdruck. Die Gespräche fanden zu unterschiedlichen
Zeitpunkten des Krankheitsverlaufes statt und haben deshalb naturgemäß
verschiedene thematische Schwerpunkte: Im Erstgespräch war der gesamte bisherige Lebenslauf der Patienten Thema, inbegriffen das bisherige
Arbeitsleben.
Das zweite Gespräch thematisierte insbesondere die Wahrnehmung
der Klinik, Therapieerfahrungen und projektive Zukunftsvorstellungen.
Im dritten Gespräch kamen insbesondere die Rückkehr in den Alltag und
die Wiedereingliederung ins Arbeitsleben zur Sprache. Die Erstgespräche
dauerten in der Regel ca. zwei bis drei Stunden, die Zweit und Drittgesprä
che waren in der Regel kürzer: ca. eine bis zwei Stunden. Vgl. zum Charak
ter der Gespräche das Stichwort »qualitative Interviews mit den Patienten«
im Methodenglossar.
Die Gespräche mit den Ärzten und Therapeuten sowie mit den BEM
Verantwortlichen sind themen und problemzentrierte »Expertengesprä
che« (siehe dazu das entsprechende Stichwort im Methodenglossar). Was die
therapeutische Seite betrifft, so waren die Kliniker gehalten, von ihren kon
kreten Patienten ausgehend generalisierbare Erfahrungen zu formulieren.
Angereichert wurden die Gesprächsdaten in einem Teil der Fälle durch
die Analyse von Dokumenten aus den Kliniken und durch die Protokolle
einer »OPDDiagnostik« (siehe dazu das entsprechende Stichwort »OPD2
Interviews« im Methodenglossar).
3. Auswertung
Die transkribierten Interviews wurden in mehreren Schritten und paral
lel zueinander ausgewertet. Zunächst wurden die Ergebnisse der Gesprä
che mit den BEMVerantwortlichen entlang den Themenstellungen in den
Leitfäden in einem Protokoll festgehalten. Dabei ging es sowohl um die
Informationen über Verfahren, Probleme, Erfahrungen und Verbesse
rungsmöglichkeiten des BEM als auch um das eigene Rollenverständnis als
54
Methodische Anlage der Untersuchung
Betriebsangehöriger. Die Befunde liefern eine Hintergrundfolie für unsere
Fallanalysen.
Die Patienteninterviews wurden erst als Einzelfälle interpretiert (vertikale Hermeneutik) und dann miteinander verglichen (horizontale Hermeneutik), sodass nach und nach eine Matrix entstand, in der jeder interpretierte Fall seine relationale Verortung erhielt. Da wir pro Patient drei
aufeinanderfolgende Gespräche zur Verfügung hatten, konnten wir auch
Verläufe in den Blick nehmen, was bisher allerdings noch nicht abschließend geschehen ist. Grundprinzip war ein prospektiv-retrospektives Vorgehen, das heißt: Im Erstinterview wurden nicht nur Interpretationen festgeschrieben, sondern prospektiv Fragen für das Zweitinterview formuliert.
Im Zweitinterview wurde diesen Fragen nachgegangen und von da aus auf
das Erstinterview zurückgeblickt. Und so weiter. Auf diese Weise wurde
fallspezifisches Wissen kumuliert. Wichtig war uns zudem, nicht bei ma
nifesten Bedeutungen zu verbleiben, sondern Andeutungen und Sprech
weisen zu nutzen, um latente Bedeutungen mit zu erfassen.
Als technisches Hilfsmittel wurde die Software MaxQDA eingesetzt.
Zentraler Ort der Auswertung waren regelmäßig stattfindende »Inter
pretationsgruppen« (siehe dazu das entsprechende Stichwort im Methoden
glossar), in denen sich die Teammitglieder zusammenfanden. Diese Treffen
realisierten unseren multiperspektivischen und interdisziplinären Anspruch.
Dabei haben wir systematisch kontroverse Lesarten gefördert, um vor
schnelle – stereotype – Bedeutungszuschreibungen zu verhindern. Manche
der Kontroversen ließen sich beilegen, andere nicht, was deutlich macht,
wie mehrdeutig Bedeutungszuschreibungen bleiben – und das nicht nur
für die Forscher, sondern für alle, die an Interpretationsprozessen beteiligt
sind.
Die Auswertung aller Materialien war ein langwieriger Prozess, der
schließlich in ein starkes (momentanes) Evidenzgefühl gemündet ist. Da
wir beabsichtigen, unsere Befunde den mitwirkenden Ärzten und Thera
peuten in einem Workshop zugänglich zu machen, wird sich herausstellen
müssen, wie anregend, erhellend und nützlich diese Befunde sind.
55
Perspektive 1
Erwerbsarbeit und psychische Erkrankungen
Psychisch belastende Arbeitssituationen
und die Frage der »Normalität«
Stephan Voswinkel
Asbest schädigt die Lungen, hoher Lärm führt zu Beeinträchtigungen der
Hörfähigkeit und zu nervösen Störungen, mangelhafte Sicherungsmaßnahmen erhöhen die Unfallgefahren auf der Baustelle. Solche kausalen
Zusammenhänge haben den ergonomisch ausgerichteten Arbeitsschutz
herkömmlich geprägt. Es ging um die Reduzierung arbeitsbedingter Unfallgefahren und Gesundheitsschädigungen. Dem entsprach ein pathogenes Krankheitsverständnis, dem zufolge äußere Schädigungen Krankheiten verursachen. Die Verantwortung war damit klar verteilt: Diejenigen,
die über die Gestaltung von Arbeit zu bestimmen hatten, mussten für die
Reduzierung von Gesundheitsgefährdungen sorgen und konnten nur dadurch entlastet werden, dass die Verhältnismäßigkeit zwischen Aufwand
und Nutzen im Hinblick auf Kosten und Finanzkraft der Organisation geprüft wurde.
Vieles spricht dafür, dass in der modernen Arbeitswelt, in subjektivierter, entgrenzter Arbeit und in Dienstleistungstätigkeiten psychische
Anforderungen zunehmen und damit auch die Gefahr psychischer Erkrankungen wächst. Diese aber (so jedenfalls der Eindruck, den man zu
gewinnen glaubt, wenn man die psychosomatische Perspektive außer Acht
lässt) lassen sich weniger plausibel auf eindeutige »äußere« Kausalfaktoren
zurückführen, sie sind weniger klar an ihren Symptomen zu identifizieren.
Bei vielen somatischen Erkrankungen liegen die Verhaltenskonsequenzen
oft auf der Hand: Der Beinbruch hindert am Gehen, der Bandscheiben
vorfall am Heben, der Herzinfarkt verbietet Aufregung und fordert Scho
nung. Auch die Ursachen sind hier leichter identifizierbar: der Fall die
Treppe hinunter, die Verschiebung von Wirbeln und die Arteriosklerose.
59
Stephan Voswinkel
Der Arbeitgeber kann vorbeugen: Treppen sichern, Gabelstapler anschaffen
und Arbeitsdruck reduzieren. Alles das ist nicht einfach und erfolgt auch
keineswegs immer, aber man kann es in Arbeitsschutzbestimmungen festle
gen und überprüfen. Bei psychischen Erkrankungen scheint die Verantwor
tung weniger eindeutig beim Arbeitgeber zu liegen, die Ursache weniger
klar identifizierbar und die Verhaltenskonsequenz weniger evident zu sein.
Tatsächlich aber sind die Unterschiede nicht so klar. Denn auch in der
industriellen Arbeitswelt ist die Praxis des Arbeitsschutzes keineswegs so
einfach »pathogen« zu verstehen, die Beschäftigten sind auch hier nicht
nur passive Objekte der Gefährdungen. Auch mit physischen Belastungen
gehen Beschäftigte verschieden um, sie verhalten sich unterschiedlich prä
ventiv, resilient oder salutogen.1 Und Arbeitgeber führen formell Arbeits
schutzmaßnahmen ein, erwarten aber informell von ihren Beschäftigten
Belastungsbereitschaft oder zahlen hierfür Prämien.
So ist es vielleicht nicht nur der Unterschied zwischen somatischen und
psychischen Erkrankungen, der die gewachsene Bedeutung der Verhaltens
gegenüber der Verhältnisprävention, der Stressbewältigung gegenüber der
Stressreduktion, der Resilienz gegenüber gesundheitsförderlicher Arbeit er
klären kann. Vielmehr können auch veränderte Steuerungsformen in Or
ganisationen und andere Formen des Arbeitens hierbei eine Rolle spielen.
Wenn indirekte Steuerung an die Stelle direkter Anordnungen tritt,
dann scheinen die Beschäftigten ebenso wie für die Arbeitsleistung auch
für ihren Gesundheitsschutz in höherem Maße selbst verantwortlich (vgl.
Peters 2011). Vielleicht liegt gerade hierin ein Problem: dass die Arbeitsge
staltung als »indirekter« Kausalzusammenhang aus dem Blick gerät.
Damit spitzt sich ein Problem zu, das für das Verhältnis von Krank
heitsfaktoren und Krankheitseintritt immer charakteristisch ist (außer
in solchen Fällen, in denen schicksalhafte Unfälle, externe Angriffe von
Viren, Bakterien und Schadstoffen als Ursachen unübersehbar sind): Die
Ursachen sind komplex, in ihnen verbinden sich äußere und innere. Im
Hinblick auf die Arbeit bedeutet das: Meist ist sie ein Faktor unter mehre
1 | Wenn körperlich belastende Arbeiten mit Prämien kompensiert werden, ist
das für viele ein Grund, sie auf sich zu nehmen. Manche ziehen Selbstwertgefühl
und Anerkennung aus ihrer Belastbarkeit, die sie befähigt, anstrengende Arbeiten
zu bewältigen. (Vgl. hierzu die biographische Studie mit Industriearbeitern von
Giegel/Frank/Billerbeck 1988.)
60
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
ren. Unter gleichen Arbeitsbedingungen erkranken nur einige, vielleicht
nur ein Einzelner. Was also scheint näher zu liegen, als zu fragen, welche
psychischen Dispositionen und Strukturen des Einzelnen einer psychischen Erkrankung zugrunde liegen?
1. Die Frage der Kausalität
Auch die von uns untersuchten Fälle legen eine solche Fragestellung nahe.
Sie ist auch keineswegs unangemessen. Je tiefer man sich in die Analyse
des Einzelfalls begibt, die verschiedenen Interviews und die Gespräche
mit Ärzten und Therapeuten heranzieht, die Lebensgeschichte, oft tragische und bedrückende Beziehungsgeschichten aus Kindheit, Jugend und
Erwachsenenleben nachvollzieht, desto mehr scheint die Bedeutung der
Arbeit in den Hintergrund zu treten. Auch wir folgten in der Analyse immer wieder dem allseitigen Mechanismus der Individualisierung des Falles,
den wir für alle Akteure konstatieren. Nicht zuletzt die Betroffenen selbst
fragen nach ihren Anteilen an der Erkrankung, denn nur an diesen können
sie kurzfristig, zumal im therapeutischen Setting, etwas ändern.
Aber offensichtlich spielt doch in allen Fällen die Arbeit eine nicht zu
unterschätzende Rolle. Die Frage, inwieweit sie Ursache oder Bühne des
lebensgeschichtlichen Dramas ist, verliert an Relevanz, ist doch auch dann,
wenn die Arbeit »nur« zur Problematik beiträgt, die Frage berechtigt, wie
sich dieser Beitrag verändern ließe, und ist es doch bereits dann notwendig,
zu verstehen, worin er besteht. Die Frage, welche Lebensbereiche welchen
Anteil am Krankheitsgeschehen tragen, wird vor allem dann aufgeworfen,
wenn Verantwortung zu oder vielleicht eher abgewiesen werden soll.
Natürlich erkranken nur wenige unter gleichen psychisch belastenden
Arbeitsbedingungen. »Ob der Stressor krankmachend wirkt oder nicht,
hängt auch von der Auseinandersetzung des Subjekts mit den Anforderun
gen ab, ob die Wirkung selber wieder ein Stressor, eine Belastung für den
Einzelnen und für seine Kollegen wird, ebenso« (Reindl 2012, S. 164). Das
relativiert auf den ersten Blick die Kausalität zwischen Arbeit und Erkran
kung. Aber auf der anderen Seite erkranken auch nur einige derjenigen, die
einen gewalttätigen Vater hatten, nur einige derjenigen, die gegenüber Ge
schwistern sich zurückgesetzt fühlten oder die von ihren Eltern emotional
nicht angenommen wurden.
61
Stephan Voswinkel
Die Arbeit ist oftmals Auslöser »tiefer liegender«, in der Beziehungsgeschichte begründeter Konflikte. Aber sie bleibt dann doch der Auslöser.
Und dass Menschen mit bestimmten psychischen Dispositionen sich be
stimmte Arbeiten suchen, die für ihre psychische Struktur eine Funktion
erfüllen, ist zweifellos richtig. Aber dass Organisationen sich diese Dis
positionen bewusst oder faktisch zunutze machen, ist ebenso richtig. Eine
Untersuchung der Bedeutung von Arbeit für die psychische Erkrankung
unserer Beschäftigten erfordert also einen Ansatz, der das Zueinander, die
Verschränkung von Arbeitsbedingungen, psychischen Dispositionen und
sozialem Kontext in den Mittelpunkt stellt.
Damit rücken wir zunächst davon ab, bestimmte Arbeitsbedingun
gen generalisierend als krankheitsverursachend zu verstehen. Ebenso aber
wenden wir uns gegen die individualisierende und »psychologisierende«
Betrachtung, wonach der oder die Einzelne »schuld« an der Erkrankung
sei, weil er oder sie zu wenig resilient sei, weil er oder sie eine bestimm
te Lebensgeschichte habe. Beide Perspektiven sind nicht falsch, und sie
haben auch ihre Berechtigung: Arbeitsbezogene Prävention muss verall
gemeinerbare Gefährdungspotenziale identifizieren, die etwa in Gefähr
dungsbeurteilungen eingehen; therapeutische Maßnahmen müssen nach
psychischen Mechanismen fahnden, um dem einzelnen Erkrankten bei
der Gesundung zu helfen; in der in diesem Aufsatz eingenommenen Per
spektive geht es uns jedoch um die Verknüpfung, um die Verbindung von
Arbeitsbedingung und psychischer Vulnerabilität, also die Anfälligkeit des
Einzelnen für eine Erkrankung.
Wir beanspruchen mit unserem qualitativen fallbezogenen Herange
hen nicht, strenge Kausalitäten zu begründen, sondern versuchen, typische
Beziehungen von Arbeitsbedingungen und psychischen Erkrankungen im
Zusammenhang mit psychischen Dispositionen verstehbar zu machen.
Dazu bietet sich der Begriff der »Arbeitssituation« an.
2. Das Konzept der Arbeitssituation
Eine soziale Situation ist eine konkrete Einheit von Gegebenheiten und der
sich darauf beziehenden Subjekte, ihrer Deutungen und Wertungen. Sie ist
mehr als eine Episode, schon deshalb, weil auch die Episode – also eine be
stimmte Handlungseinheit verschiedener Interagierender, etwa ein gemein
62
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
sames Mittagessen – auf über sie hinausreichende Zusammenhänge ver
weist – etwa Esssitten, Statusbeziehungen der Beteiligten, Stellenwert des
Essens im Tagesablauf (zum Beispiel als Mittagspause im Arbeitstag). Von
Situationen sprechen wir auch in einem umfassenderen Sinne, wenn wir –
wie im Falle unserer Untersuchung – die Arbeitsbedingungen, ihre Deutun
gen und sozialen Kontexte in einem bestimmten Arbeitsumfeld meinen.
Die Situation kann man nicht dadurch erfassen, dass man von den
Deutungen der Subjekte absieht. Vielmehr sind, so das für die Soziologie
grundlegende »ThomasTheorem«, die Deutungen der Situation durch die
Subjekte real, wenn und weil sie zu realen Konsequenzen führen.2 Situatio
nen werden also erst durch die Subjekte – selbstverständlich unter Bezug
auf die vorfindlichen Bedingungen und auf die eingeübten Klassifikatio
nen – konstituiert.
Bezogen auf die Arbeit können wir also von einer »Arbeitssituation«
sprechen, weil ein bestimmtes Setting in der Arbeit von den Beteiligten vor
dem Hintergrund vorfindlicher Arbeitsbedingungen und hergebrachter
Klassifikationen in einer bestimmten Weise definiert und gedeutet wird.
Dies ist ein sozialer Vorgang, der nicht nur individuell zu verstehen ist – als
reine Situationsdeutung des Einzelnen. Dieser begegnet in der Arbeitssitua
tion vielmehr bereits Situationsdeutungen der anderen Akteure – darüber,
was zu tun ist, welche Probleme es gibt, ob Erwartungen angemessen oder
unzumutbar sind, ob die Arbeit zu schwer oder die Chefin rücksichtsvoll
und das Management unglaubwürdig ist. Mit diesen setzt der Einzelne sich
auseinander, übernimmt sie oder auch nicht, kann sie aber nicht ignorieren.
Diese Analyse der Perspektivenverschränkung können wir mit unserem
empirischen Material nicht leisten. Wir schauen auf die Arbeitssituation
ausschließlich durch die Perspektive, die Darstellungen unserer Gesprächs
partnerinnen.3 Wir können aber auch in unserer »subjektiveren« Analyse
feststellen, dass für die Erkrankung unserer Gesprächspartnerinnen4 nicht
2 | »If men define situations as real they are real in their consequences« (Thomas/
Thomas 1928, S. 572); vgl. auch Thomas/Znaniecki 1927, S. 68.
3 | Es wäre im Prinzip wünschenswert, ein vielseitigeres Bild der Arbeitssituation
zu erlangen; aus den im Methodenkapitel erläuterten, nicht zuletzt forschungs
ethischen Gründen war dies in unserer Untersuchungsanlage nicht möglich.
4 | Bei Verwendung der femininen ist wie bei derjenigen der maskulinen Form
das andere Geschlecht in der Regel mitgemeint.
63
Stephan Voswinkel
die Arbeitsbedingungen »an sich« wirksam sind, sondern deren Wahrnehmung durch die Betroffenen.
Natürlich ist, darauf weist Renate Rau (2005, S. 47) zu Recht hin,
»gerade im Falle von psychischen Störungen […] die Gefahr fehlerhafter
Wahrnehmung aufgrund der Störung unverhältnismäßig hoch«. Auch wir
haben uns mehrfach gefragt, für wie »glaubwürdig« oder »paranoid« wir
bestimmte Schilderungen der Gesprächspartnerinnen halten sollen. Die
Antwort müssen wir manchmal schuldig bleiben. Oft ergibt sie sich aus
der Gesamtbetrachtung der Gespräche und Informationen über die Ge
sprächspartnerinnen. Doch auch wenn die Wahrnehmung der Betroffenen
getrübt sein mag, so ist es doch die ihre, und wir können daraus immerhin
schließen, welche Dimensionen von Arbeitssituationen sie als bedrückend,
beängstigend, deprimierend erleben.
Arbeitssituationen haben drei Dimensionen:
•
•
•
•
Die Seite der Arbeit umfasst die Arbeitsbedingungen, anforderungen
und belastungen (in der Wahrnehmung der Betroffenen).
Die Seite der Subjekte meint die Dispositionen und Vulnerabilitäten der
Beschäftigten.
Die Seite des sozialen Kontextes erfasst die sozialen Beziehungen zu Vor
gesetzten und Kolleginnen und die Position der Organisation.
Alle drei Dimensionen erfassen wir – nur – durch die Gespräche mit den
Betroffenen und durch die (Supervisions)Gespräche mit den Ärztinnen
und Therapeutinnen, in denen medizinische und psychologische Exper
tise deutlich wird. Das ist zugegebenermaßen unzureichend, um Aus
sagen über die komplexe Realität des einzelnen Falles zu machen. Es
ermöglicht aber Aussagen über Problemwahrnehmungen von Arbeit.
3. Formen psychisch belastender Arbeitssituationen
Im Folgenden werden nicht 23 Einzelfälle vorgestellt. Zwar ist jeder Fall
spezifisch in der Kombination von Merkmalen der Situationsdimensionen.
Aber wir wollen eine mittlere Verallgemeinerung vornehmen, die nicht
durch quantitative Korrelationen von Massendaten erfolgt, sondern durch
eine Darstellung wiederkehrender und plausibler Merkmale und ihrer
Kombinationen. Diese Fälle psychisch belastender Arbeitsbedingungen in
64
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
Arbeitssituationen sind aus dem Material gewonnen, bestimmte Merkmale und ihre Verbindungen wurden jedoch nach Gesichtspunkten innerer
Stimmigkeit, des Kontrasts und der Ähnlichkeit typisierend zusammengefasst; in diesem Sinne handelt es sich um begrenzte Abstraktionen von den
individuellen Arbeitssituationen.
Grundlegend unterscheiden wir zwischen Fällen der »verhinderten
Aneignung der Arbeit« und Fällen der »erschwerten Abgrenzung von der
Arbeit«. Beide Gefährdungsformen weisen auf subjektive Umgangsweisen
mit der Arbeit hin; aber die Arbeit selbst bietet ungünstige Bedingungen
und Voraussetzungen für eine Aneignung der Arbeit oder für die Abgrenzung von der Arbeit. Auf diese Weise ergibt sich ein Modell, in dem ungünstige Bedingungen bei einer hohen Vulnerabilität der Beschäftigten die
Chance der Erkrankung erhöhen, während günstige Bedingungen helfen
können, trotz Vulnerabilität nicht zu erkranken, und eine geringe Vulnerabilität auch bei ungünstigen Bedingungen die Erkrankung unwahrscheinlicher macht. Einbezogen werden müsste stets auch der soziale Beziehungskontext in der Arbeitssituation, den wir allerdings nur begrenzt in den
Blick bekommen konnten.
Wenn wir »verhinderte Aneignung« und »erschwerte Abgrenzung« als
zentrale Kategorien der psychisch belastenden Arbeitssituationen herausstellen, dann beruht dies auf der normativen Vorstellung, dass ein gesundes
Verhältnis zur Arbeit darin besteht, sich die Arbeit anzueignen und sich zugleich von ihr abgrenzen zu können. Dieser liegen zwei Bestimmungen der
Arbeit zugrunde: Auf der einen Seite kommt der Arbeit eine wesentliche
positive Bedeutung für die Identität, die gesellschaftliche Zugehörigkeit,
die Anerkennung und das Selbstwirksamkeitsgefühl von Menschen jedenfalls in unserer Arbeitsgesellschaft zu.
Um diese Bedeutung erfüllen zu können, muss sie so gestaltet sein,
dass sie ihre Aneignung nicht verhindert; in einer arbeitsteiligen Marktgesellschaft ist es nicht selbstverständlich, dass Menschen sich die Arbeit
aneignen können. Vielmehr handelt es sich bei der Aneignung um einen
selten widerspruchsfreien Prozess, die strukturelle Fremdheit gegenüber
der Arbeit zu überwinden, was vor allem aneignungsfähige Arbeitsformen
erfordert.5 Auf der anderen Seite sind Menschen soziale Wesen, die in vielfältige soziale Zusammenhänge eingebunden sind, deren Leben also nicht
5 | Vgl. zum Konzept der Aneignung von Arbeit Frey 2009.
65
Stephan Voswinkel
nur aus Arbeit bestehen sollte. Deshalb kommt es zugleich darauf an, dass
sie sich von der Arbeit auch abgrenzen können.
Anders formuliert: Menschen sollten sich nicht mit ihrer Berufsrolle
überidentifizieren, sondern die Fähigkeit zur Rollendistanz bewahren.
Auch das setzt Arbeits und Organisationsformen voraus, die eine solche
Abgrenzung ermöglichen. Aneignung und Abgrenzung sind also nicht nur
Leistungen der Subjekte, sondern ihre Möglichkeit ist in der Arbeit ange
legt oder auch nicht. Sowohl verhinderte Aneignung als auch erschwerte
Abgrenzung stehen der Entwicklung eines »Kohärenzgefühls« entgegen,
das Antonovsky (1997) als wesentliche salutogene Grundlage von Gesund
heit begreift.
Neben den Fällen verhinderter Aneignung und erschwerter Abgren
zung konnten wir noch Arbeitssituationen identifizieren, in denen extern
bedingte Überlastungen oder Ängste um den Arbeitsplatz krankheitsför
derlich waren. Auch diese Fälle sind natürlich mit einer verhinderten An
eignung oder erschwerten Abgrenzung verbunden. Aber die Belastung ist
der eigentlichen Arbeitssituation gewissermaßen vorgelagert. Im Falle ex
terner Überlastung handelt es sich um eine Form von Disstress, die zwar als
Belastung sehr im Vordergrund stehen und krankheitsverursachend sein
kann, aber das innere Verhältnis zur Arbeit nicht unbedingt beeinträchti
gen muss, besonders dann, wenn sie als vorübergehend angesehen wird –
was allerdings eine (Selbst)Täuschung sein kann.
Da es uns in diesem Aufsatz darum geht, in erster Linie die Seite der
Arbeit bei der Arbeitssituation zu betrachten, folgt die Darstellung in ers
ter Linie dieser Dimension. Die meisten Gesprächspartnerinnen wurden
von uns mehreren belastenden Arbeitssituationen zugeordnet, weil mehre
re Belastungsformen bei ihnen zusammentreffen.
3.1 Verhinderte Aneignung der Arbeit
Erwerbstätige Menschen verbringen einen Großteil ihrer Lebenszeit in der
Arbeit. Diese ist für ihre Identität, ihren Status, ihre Anerkennungserfah
rungen und ihre soziale Einbindung von elementarer Bedeutung. Zugleich
begeben sie sich in der Arbeit unter Zwänge, die von der Herrschaftsstruk
tur von Organisationen oder von den Zwängen des Marktes ausgehen; sie
vollziehen Teilarbeiten im Zusammenhang organisationaler oder gesell
schaftlicher Arbeitsteilung, die es ihnen nur bedingt erlaubt, die Funktion,
66
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
den Stellenwert und den Sinn ihrer Arbeit zu erfassen. Arbeiten sind oft
nicht so gestaltet, dass sie ihre Arbeit sinnvoll und so sachgerecht machen
können, wie sie es im Lichte ihrer beruflichen Werte erwarten.
Auch im Sozialisationsprozess ist schon die Berufswahl oft keine Folge
freier Wahl, und auch wenn sie dies ist, muss sich die Wahl nicht dauer
haft als sinnvoll für die Subjekte herausstellen. Welche Arbeit sie auf dem
Arbeitsmarkt finden, ist ebenso wenig immer eine freie Wahlhandlung.
Mit anderen Worten: Menschen stehen der Arbeit bis zu einem gewissen
Grade zunächst fremd gegenüber. Deshalb müssen sie sich die Arbeit sub
jektiv aneignen. Gelingt ihnen dies nicht, so könnte man von fortbestehen
der Entfremdung von der Arbeit sprechen.
Die Aneignung der Arbeit ist zum einen ein subjektiver Prozess, die
Beschäftigten müssen entsprechende Fähigkeiten, Kompetenzen, psychi
sche Dispositionen und Bereitschaften mitbringen. Die Aneignung ist aber
zum anderen auch abhängig von den Bedingungen der Arbeit selbst, von
ihren Aneignungspotenzialen. Diese liegen in der Arbeitsform selbst, in
der Organisation und in den sozialen Kontexten der Arbeit bzw. werden
von diesen verhindert (vgl. hierzu Voswinkel 2015).
Wir konnten in unseren Fällen sechs Arbeitssituationen identifizieren,
in denen die Bedingungen und Kontexte der Arbeit unseren Gesprächs
partnern die Aneignung ihrer Arbeit erschwerten. (Wie gesagt, in ihrer
Wahrnehmung und mit bestimmten »Eigenanteilen« ihrer Dispositionen
und Vulnerabilitäten.) Es handelt sich um
•
•
•
•
•
•
sinnlose Arbeit,
moralische Konflikte in der Arbeit,
Missachtungserfahrungen und Gratifikationskrisen in der Arbeit,
unterwertige Beschäftigung und Statusprobleme in der Arbeit
unbestimmte Erwartungen und Anforderungen in der Arbeit, verbun
den mit defizitärer Führung und
übermäßige Kontrolle in der Arbeit.
Oftmals kommen mehrere dieser Belastungen zusammen.
3.1.1 Sinnlose Arbeit
Vier unserer Gesprächspartner empfinden ihre Arbeit als sinnlos. Sie kön
nen sich mit ihr nicht identifizieren, weil sie ihnen nutzlos, überflüssig er
67
Stephan Voswinkel
scheint oder weil sie von ihrer Umgebung, von anderen Abteilungen im
Unternehmen nicht als hilfreich angesehen wird, sodass sie auf Ablehnung
stoßen, hinhaltendem Widerstand begegnen und keine Ergebnisse erzielen
können, die sie zufriedenstellen. Sinnlose Arbeit umfasst im Einzelnen also
unterschiedliche Phänomene, denen gemeinsam ist, dass die Betroffenen
ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit entwickeln, das dazu bei
trägt, dass sie sich zu ihrer Arbeit zwingen, ihre Frustration und ihren Är
ger unterdrücken müssen und der sinnhafte Bezug zu ihrer Arbeit verloren
geht oder sich nicht entwickeln kann.
Ein Gesprächspartner arbeitet nach dem Ende seiner Tätigkeit an einer
Universität nun in einem Marktforschungsinstitut. Seiner Wahrnehmung
nach hat der Standort, an dem er tätig ist, im Unternehmensverbund kei
ne ausreichende Aufgabe. Deshalb werden Aktivitäten unternommen oder
simuliert, die seines Erachtens unnötig sind. Er sieht sich dadurch gezwun
gen, alltäglich Aktivität darzustellen und auch im Verhältnis unter den
Kollegen immer wieder Fassadenarbeit zu betreiben. Unter einer anderen
Art von Sinnlosigkeit leidet ein junger Arzt, der seinen Patienten Heilungs
möglichkeiten darstellen muss, die er in seinem Bereich selbst nicht wirk
lich sieht. Weil dort kaum mehr eine Heilung möglich erscheint, empfindet
er seine Arbeit als sinnlos.
Sinnlose Arbeit kann auch als eine Form der Kaltstellung empfunden
werden. Diese Erfahrung macht ein ITMitarbeiter in einem großen Unter
nehmen, der Abläufe im Informations und Datensystem seines Unterneh
mens auf die Wahrung der Anonymität prüfen muss; in der Firma werde
diese Abteilung als »Alibigruppe« angesehen, die keinen »Nährwert« brin
ge und nur »Kostenfaktor« sei. Was sie machten, sei, so der Gesprächspart
ner, »eigentlich völlig wurscht«. Nach Auflösung seiner früheren Abteilung
habe die Firma ihn irgendwo »unterbringen« müssen, nachdem er sich mit
mehreren Kollegen und mit Unterstützung des Betriebsrats erfolgreich ge
weigert hatte, outgesourct zu werden. Nach einer mehrmonatigen Phase
sinnloser Beschäftigung (»Wir sind jeden Tag hingegangen, wir haben je
den Tag Bücher gelesen, im Internet gesurft usw., einfach nur stur«) sei ihm
die derzeitige »Aufgabe« übertragen worden.
Einem anderen Gesprächspartner wird die geringe Relevanz, die sei
nem Tätigkeitsfeld (Arbeits und Brandschutz in einem Unternehmen) von
den anderen Abteilungen zugerechnet wird, dauernd demonstriert, indem
seine Arbeit regelmäßig ignoriert werde. Auch dass ein Kollege, der seiner
68
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
Ansicht nach aus einem anderen Bereich des Unternehmens »abgeschoben« werden sollte, in sein Zweierbüro gesetzt wurde und dort demonstrativ Desinteresse an der Arbeit zeigen kann, zeigt ihm das Image seines
Arbeitsbereichs als »Schonbereich«.
In diesen Fällen wird auch deutlich, warum gerade diese Beschäftigten
unter der Sinnlosigkeit der Arbeit leiden und nicht in der Lage sind, sich
die Arbeit anzueignen. Im einen Fall sind es das vorherige hohe Engagement beim Aufbau der Arbeitsschutzabteilung und der in früher familiärer
Konstellation begründete tiefe Wunsch nach Versorgtwerden, die statt zu
Widerstand zur Depression führen, in einem anderen Fall sind es zeitglei
che tief bedrückende Erfahrungen eines schweren Siechtums des Vaters,
die Phänomene des Identitätsverlustes auslösen, die sich mit dem Gefühl
sinnloser Arbeit verbinden.
Ein geringes Selbstwertgefühl und ein unstillbares Bedürfnis nach
positivem Feedback machen es demjenigen, der es seinem Vater nie recht
machen konnte und kompensierend von seiner Mutter stets entschuldigt
wurde, unmöglich, seine eigene Leistung einschätzen und dem Gefühl des
Ungenügens entkommen zu können. Ist es hier äußere Bestätigung, die nie
ausreichend ist, so ist es in einem anderen Fall das als ungenügend emp
fundene innere Gefühl von Leidenschaft für die Arbeit, das es unmöglich
macht, dass sich der Gesprächspartner mit der Arbeit identifizieren kann.
3.1.2 Moralische Konflikte
Die moralischen Konflikte, die sich bei drei Patientinnen als Belastungen
in der Arbeit zeigen, sind recht unterschiedlicher Art. Allgemein zeichnet
moralische Konflikte aus, dass Beschäftigte Arbeiten ausführen müssen,
die sie im Lichte ihrer moralischen Überzeugungen ablehnen, bzw. Arbei
ten unterlassen müssen, die sie für moralisch erforderlich halten. Es kann
sich dabei um Aufgaben handeln, die ihrem Verständnis der beruflichen
Rolle nicht entsprechen, die in diesem Sinne also auch innerhalb der Be
rufsrolle illegitim sind,6 oder es können solche Aufgaben sein, die mit der
Berufsrolle mehr oder weniger verknüpft sind, vom Subjekt aber als illegi
tim betrachtet werden. Im ersten Falle kann die Berufsrolle gegen illegiti
me Erwartungen in Anspruch genommen werden, im zweiten Falle wäre
eine Aneignung des Berufs generell unmöglich.
6 | Vgl. zu Belastungen durch »illegitime Aufgaben« auch Semmer et al. 2013.
69
Stephan Voswinkel
Manchmal ist das moralische Verhältnis zur Arbeit aber komplexer,
weil der moralische Status der Arbeit nicht eindeutig ist oder weil die Beschäftigten eine Aufgabe zwar für moralisch notwendig halten – sie viel
leicht deshalb sogar den Beruf gewählt haben –, in der Arbeitspraxis diese
Moralität jedoch nicht gewahrt werden kann oder ihre Klienten der Arbeit
moralische oder habituelle Abwehr auslösen.
Die letzte Konstellation finden wir bei zwei Gesprächspartnerinnen.
Im ersten Falle fühlt sich die Gesprächspartnerin von dem fordernden und
anmaßenden Verhalten ihrer Klienten herausgefordert, deren Anträge und
Anliegen sie bei einer städtischen Einrichtung auch im direkten kommu
nikativen Kontakt zu bearbeiten hat. Hierauf reagiert sie mit Abwehr und
zunehmender Entwertung der Antragsteller, mit denen sie, wie sie sagt,
»letztendlich um einen Platz in dieser Gesellschaft konkurriere«. Hierbei
spielt eine Rolle, dass sie ihre eigene schwierige familiärprivate und psy
chische Situation mit der Lebenssituation der Klienten vergleicht und sich
oftmals in einer schwierigeren Situation sieht (»weil ich so viel kämpfen
musste und weil ich hier geboren bin!«).
Im anderen Fall ist die Ambivalenz deutlicher. Eine Sozialarbeiterin
ist in einer Einrichtung in der Betreuung von Drogenabhängigen tätig. Im
Gespräch berichtet sie davon, dass sie immer mehr »kalt« werde, jegliche
Empathie für ihre Klienten verloren habe. Sie erlebt sie als Bedrohung
(Krankheiten, aggressives Verhalten). Zunehmend lehnt sie deren Verhal
ten moralisch ab: Sie würden immer der Umwelt, den anderen die Schuld
geben und für sich Rücksichtnahme beanspruchen; die Veränderungsbe
reitschaft fehle, man habe sich der Sucht ergeben. Ein weiterer Aspekt der
moralischen Konflikte in ihrer Arbeit bestehe nun aber auch darin, dass
sich die Kollegen von den Klienten nicht genügend abgrenzen würden, mit
ihnen gemeinsam ein Bier trinken und einige sie sogar bei sich zu Hause
»schwarz« beschäftigen würden. Das mache es ihr selbst zugleich schwer,
sich angemessen abzugrenzen, weil sich die Kollegen hierin nicht einig sei
en.
In beiden Fällen wirken Statusinkonsistenzen (vgl. unten) beim Ableh
nungsverhalten mit, und die Gesprächspartnerinnen stellen selbst Zusam
menhänge mit ihren belasteten ElternKindBeziehungen her: Die wahrge
nommene Lieblosigkeit der Klienten beim Wohnungsamt gegenüber ihren
Kindern empört vielleicht gerade deshalb so sehr, weil die Gesprächspart
nerin sich selbst von ihrer Mutter lieblos behandelt fühlte. Eigene psychi
70
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
sche Vernachlässigung durch Mutter bzw. Eltern können zur Berufswahl,
aber auch zu den ambivalenten Beziehungen den Klienten gegenüber beigetragen haben; Furcht davor, selbst suchtanfällig zu werden, oder eigenes
Aggressionspotenzial wird durch Abgrenzung bearbeitet.
Etwas anders gelagert sind die moralischen Konflikte einer Sachbe
arbeiterin in einer Krankenversicherung. Sie muss über die Genehmigung
bzw. Ablehnung von Arzneimitteln für schwer erkrankte Patienten ent
scheiden bzw. den Versicherten diese Entscheidung kommunizieren. Auch
sie beklagt, dass es ihr »nicht mehr leidtun« konnte, wenn sie Ablehnungen
gegenüber verzweifelten Versicherten vertreten und sich am Telefon mit
Vorwürfen (»Wenn ihr Mann jetzt stirbt, dass ich das dann schuld sei, und
so Dinger«) auseinandersetzen musste. Vorgabe in ihrem Arbeitskontext
sei es, dass sie Einsparungen realisieren müsse. Hier stehe sie unter gro
ßem Druck. Die daraus resultierenden moralischen Konflikte seien nicht
thematisierbar, insbesondere der Chef lache über solche Skrupel. Diese Ge
sprächspartnerin hat sich zur Bekämpfung ihrer Depression entschlossen,
den Arbeitgeber und die Branche zu wechseln.
Die Fälle zeigen Ähnlichkeiten auf zu den Tätigkeiten, die von der
frühen BurnoutTheorie, etwa Freudenbergers (1974), als typischerweise
anfällig für Burnout ausgefasst wurden: die helfenden Berufe. Anders
als dort akzentuieren unsere Fälle hier jedoch nicht die Folgen des »Aus
brennens« aufgrund Überengagements und fehlender psychischer Abgren
zungsfähigkeit, sondern den Aspekt der moralischen Konflikte, der gera
de in moralisch stark besetzten Tätigkeiten von besonderer Relevanz sein
dürfte. Anders als in der frühen BurnoutTheorie geht es uns hier nicht
um die fehlende Abgrenzung, sondern um die misslingende Aneignung.
3.1.3 Missachtung und Gratifikationskrise
Aneignung von Arbeit ist darauf angewiesen, dass Beschäftigte in ihrer
Arbeit Anerkennung erfahren, dass ihnen kommuniziert wird, wie wich
tig ihre Arbeit ist und wie gut sie diese leisten. Manchmal allerdings bleibt
diese Anerkennung aus, manchmal erleben sie stattdessen ausgesproche
ne Missachtung ihrer Arbeit oder ihrer Person. Dass Gratifikationskrisen
durch ein Missverhältnis von Arbeitsengagement und erfahrener Gratifika
tion entstehen und gravierende gesundheitliche Folgen zeigen können, ist
durch die Untersuchungen von Johannes Siegrist (1996) belegt.
71
Stephan Voswinkel
Wir können natürlich bei unserem empirischen Material nur davon
sprechen, dass die Betroffenen Nichtanerkennung oder Missachtung wahr
nehmen. Mangelnde Anerkennung kann sich in verschiedener Weise äu
ßern: in abwertenden Kommunikationen, im Entzug von Unterstützung
und üblichen Rechten oder in Arbeitseinsätzen, die als Entwertung emp
funden werden. Als Ausdruck mangelnder Wertschätzung können die
Arbeitsaufgabe selbst, unangemessene Bezahlung, dauernd zum Ausdruck
gebrachte Unzufriedenheit ebenso wie Desinteresse an der Arbeit des Ein
zelnen empfunden werden.
Für zehn unserer Patienten ist mangelnde Anerkennung eine der zen
tralen Belastungen in der Arbeit. Diese hohe Zahl ist auch darauf zurück
zuführen, dass mangelnde Anerkennung oft mit anderen Belastungen
verbunden ist und diese in besonderer Weise identitätsbedrohend werden
lässt. So ist die Zuweisung sinnloser Arbeit auch deshalb so problematisch,
weil sie als Ausdruck von Missachtung erlebt wird. Und wer sich aufgrund
moralischer Konflikte sträubt, die an sie gerichteten Erwartungen zu erfül
len, muss dafür mit Missachtung durch die Kolleginnen rechnen.
Wenn die Arbeit in der Revision der Bank von den geprüften Kollegen
als Störung angesehen wird und die eigenen Kollegen der Revision die De
tailversessenheit des Gesprächspartners missbilligen, wird dies als fehlende
Anerkennung erfahren. Als Missachtung werden übermäßige Kontrolle
und eine Überzahl von Verhaltensvorschriften für die Arbeit an der Super
marktkasse erlebt. Dies gilt auch, wenn ein langjähriger Beschäftigter eines
Unternehmens sich vom jungdynamischen Management an den Rand ge
drängt fühlt und wenn einem Mitarbeiter die Tür zu seinem Büro ausge
hängt wird, während die anderen geschlossene Büros haben.
Häufige Gründe für empfundene Anerkennungsdefizite und Grati
fikationskrisen sind die als ungerechtfertigt wahrgenommene Nichtbe
rücksichtigung bzw. Benachteiligung bei der Besetzung von Aufstiegs
positionen oder die Behandlung als Nichtzugehöriger durch eine Gruppe
»Alteingesessener«. Ständige Kontrolle der Pünktlichkeit oder Versuche der
Abgruppierung wegen angeblich fehlender Kreativität sind Instrumente,
die als Strategien verstanden werden, Missliebige aus dem Unternehmen
zu drängen.
Missachtungserfahrungen können sich auch auf die Fachlichkeit und
den Status der Betroffenen beziehen. So erfährt sich eine bei einer Fremd
firma beschäftigte Integrationsassistentin immer wieder von den Lehrerin
72
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
nen der Schule, an der sie eingesetzt wird, als nicht relevant behandelt, als
nicht zugehörig zum Lehrkörper. Obwohl die Integrationsassistentinnen
für den schulischen Prozess von großer Bedeutung seien, würden sie nicht
informiert und müssten sogar dafür kämpfen, im Lehrerzimmer wenigstens ein Fach zu erhalten.
Für Erfahrungen fehlender Anerkennung und von Missachtung in der
Arbeit sind die Menschen unterschiedlich vulnerabel. So sind auch bei
unseren Gesprächspartnerinnen jeweils spezifische eigene Anteile an dem
Leiden an Missachtung erkennbar. Ein Patient sieht sich sein Leben lang
als von seinen Adoptiveltern äußerst schlecht behandeltes Kind und identi
tätsunsicheren Außenseiter, der zudem aufgrund eines gewalttätigen Va
ters nicht mit Autoritätsbeziehungen umgehen kann und Angst vor seinem
eigenen Aggressionspotenzial hat.
Die Lebensgeschichte einer anderen Gesprächspartnerin weist seit ihrer
Kindheit eine erschütternde Kontinuität tief greifender Missachtungserfah
rungen auf, die sie einerseits auch für einen helfenden Beruf motiviert ha
ben dürften, aber andererseits auch ein hohes Bedürfnis gefördert haben,
Anerkennung zu suchen, indem sie sich aufopfert. Familiäre Statusunsi
cherheiten und geringes Selbstwirksamkeitsgefühl machen es schwer, sich
gegen Demütigungen durch den Chef zu wehren oder selbst positives Feed
back als ausreichende Anerkennung anzunehmen. Besonders Statusinkon
sistenz (ein akademischer Abschluss, aber langjährige Arbeit an der Super
marktkasse) steigert die Empfindlichkeit gegen demütigende Kontrollen.
3.1.4 Unterwertige Beschäftigung
Menschen werden unterwertig beschäftigt, wenn sie nicht ihren Fähig
keiten und Qualifikationen entsprechend in der Arbeit eingesetzt werden.
Wie der Terminus »unterwertig« schon sagt, handelt es sich hierbei aber
nicht nur um ein Problem suboptimaler Allokation von Arbeitskraft und
Arbeitsaufgabe. Vielmehr werden die Beschäftigten durch die Beschäfti
gung selbst »entwertet«. Das ist zum einen ein Aspekt von Missachtung.
Unterwertige Beschäftigung beinhaltet aber auch ein Statusproblem für
die Betroffenen. Denn aus der unterwertigen Beschäftigung resultiert eine
Statusinkonsistenz: Auf der einen Seite bildet der erworbene, der Qualifi
kation entsprechende Status den Horizont des Selbstbildes, auf der anderen
Seite bewegen sich die Einzelnen auf der Statusebene, die durch die aktuel
le faktische Tätigkeit markiert wird. Daraus resultiert die Anforderung, die
73
Stephan Voswinkel
diskrepanten Status miteinander zu vereinbaren; eine Anforderung, der
nicht nur die Einzelnen ausgesetzt sind, sondern auch ihr Umfeld.
Unterwertige Beschäftigung kann als selbst verursacht, als Zeichen des
Gescheitertseins verstanden werden. Dies kann, wie bei der Kassiererin
mit akademischem Abschluss, dazu führen, dass sich die Betroffene, ob
wohl sie Kontrollen und Verhaltensvorschriften als »kindergartenmäßig«
und unwürdig erlebt, nicht legitimiert fühlt, sich gegen die von ihr empfun
dene Entwertung zu wehren. Sie kommuniziert ihre Missbilligung durch
demonstratives kommunikatives Schweigen, mit der sich allerdings ihre
kommunikativen Probleme in der Organisation reproduzieren. Eine Sach
bearbeiterin fühlt sich mit ihrem Studium der Sozialpädagogik in ihrer ak
tuellen Tätigkeit unter Wert eingesetzt, was sie dazu zu veranlassen scheint,
sich von ihren Klienten abzugrenzen, was sie aber zugleich psychisch be
lastet. In anderen Fällen aber kann unterwertige Beschäftigung auch als
gezielte Missachtung durch die Organisation gesehen werden.
Offensichtlich bezeichnet unterwertige Beschäftigung ein Missverhält
nis zwischen dem Status der Beschäftigung und den Statusansprüchen der
Betroffenen. Sie ist also nur im Zueinander von Arbeit und Beschäftigten
als Belastung identifizierbar. Wie sie damit umgehen können, hängt sowohl
von dem Symbolgehalt ab, der in der Arbeitssituation mit der Unterwertig
keit der Beschäftigung verbunden ist, aber auch mit ihrer Fähigkeit, mit
Statusinkonsistenz umzugehen.
3.1.5 Unbestimmte Erwartungen und Führungsdefizite in der Arbeit
Die Aneignung der Arbeit durch die Beschäftigten kann auch dadurch er
schwert werden, dass die Anforderungen der Arbeit unbestimmt sind, so
dass den Beschäftigten das rechte Maß dafür fehlt, wann ihre Arbeit gut ge
nug ist, wann sie genug geleistet haben. Die Erwartungen der Vorgesetzten
sind undurchschaubar und vielleicht auch einfach unklar. Das bezeichnet
ein gewisses Führungsdefizit. Mit diesem Belastungstyp ist ein Phänomen
angesprochen, das in der entgrenzten Arbeitswelt weit verbreitet ist. Mit
der in vielen Bereichen vollzogenen Umstellung von direkten Steuerungen
der Arbeitsausführung zur indirekten Steuerung über Arbeitsergebnisse,
bei der die Art, diese Ergebnisse zu erreichen, den Beschäftigten überlassen
bleibt, sind zwar auch Freiheitsgewinne verbunden, da jedoch die Ergeb
nisse bewertet werden, ist häufig das Risiko groß, dass sich die Arbeit als
ungenügend erweist. Den Vorgesetzten ermöglicht dies, sich legitimato
74
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
risch von einer Führungs- in eine Moderatorenrolle zurückzuziehen. Aus
dieser heraus haben sie die Möglichkeit, Ergebnisse zu kritisieren, ohne
selbst hierfür Verantwortung zu übernehmen.
Nicht alle der hier zugeordneten Fälle sind auf Formen indirekter
Steuerung zurückzuführen. Sie illustrieren jedoch eine Belastungsform,
die bereits häufig als typische psychische Belastung in entgrenzten Arbeits
formen bei indirekter Steuerung diagnostiziert worden ist (vgl. Menz/Dun
kel/Kratzer 2011; Kahlert 2013). Was in diesen Steuerungsformen struktu
rell nahegelegt ist, findet sich natürlich auch in anderen organisationalen
Kontexten, insbesondere dann, wenn Vorgesetzte ein unklares Führungs
verhalten zeigen.
Einige Gesprächspartner beklagen unklare Erwartungen ihrer Vor
gesetzten, ein Mitarbeiter am ServiceCounter leidet darunter, dass seine
Chefin die Beschäftigten in Konflikten mit Kunden nicht zuverlässig stüt
ze, man auf sie nicht zählen könne, sondern bei Problemen noch mit Vor
würfen von ihr rechnen müsse. Unbestimmte Erwartungen treten auch
dann als Belastung auf, wenn sich der Sinn der Arbeit nicht erschließt oder
wenn deutlich ist, welcher Perfektionsgrad der Arbeit erwartet wird – etwa
hinsichtlich der Genauigkeit und Ernsthaftigkeit der inneren Revision.
Auch hier ist offensichtlich, dass gerade die Gesprächspartnerinnen
hiervon besonders psychisch belastet sind, die mit unsicheren Erwartun
gen schlecht umgehen können und sich in ihrem unsicheren Selbstwirk
samkeitsgefühl Sicherheit dadurch zu geben versuchen, dass sie klare An
weisungen erwarten und einen hohen Perfektionsgrad anstreben.
3.1.6 Übermäßige Kontrolle
Im Kontrast zu den unbestimmten Erwartungen stehen Belastungen durch
übermäßige Kontrolle. Hier bedrücken besonders die detaillierten Vorga
ben und die penible, manchmal jedes zumutbare Maß übersteigende Kont
rolle nicht nur der Arbeit, sondern des Verhaltens der Beschäftigten.
Eine Verkäuferin eines großen Selbstbedienungsgeschäfts berichtet von
den (nicht sexuell zu verstehenden) Nachstellungen ihres Chefs: »Er war
sehr grenzüberschreitend; also mit bis nach in den Aufenthaltsraum. Hat
immer geguckt, wenn wir nicht im Laden waren, wo wir sind. Hat die
Zeit gestoppt, wie lange wir auf Toilette waren. […] Hat auch immer hin
ter einem gestanden, also wenn man irgendwas gemacht hat; so mit ein
75
Stephan Voswinkel
bisschen Distanz hat er da immer beobachtet, wie man es macht und wie
schnell oder wie genau.«
Da habe sie »das erste Mal die Bekanntschaft mit Angst und Depression
gehabt«. Ähnlich die Kassiererin im Supermarkt: »Wir dürfen zum Beispiel
an der Kasse nicht aus der Flasche trinken, wir müssen einen Becher benutzen«, was ihr in hektischen Situationen zusätzlich Stress verursacht. Neuerdings dürfen sie auch kein Täschchen (für Taschentücher u. Ä.) mehr an der
Kasse dabeihaben, obwohl sie dort bis zu vier Stunden durchgehend sitzen
müssten. Sie müssten die Schürzen hinten und nicht vorn zubinden.
Es darf vermutet werden, dass derartige Kontrollformen gerade im Bereich
einfacher Dienstleistungen keineswegs selten sind (vgl. die Ergebnisse bei
Staab 2014), allerdings selten als Zumutung artikuliert werden – was natür
lich keineswegs bedeutet, dass sie kein Leiden verursachen.
3.2 Erschwerte Abgrenzung von der Arbeit
Zeichnete die bisherigen Fälle aus, dass die Patienten nicht in der Lage
und von den Arbeitsbedingungen gehindert sind, sich die Arbeit anzueig
nen, so lassen sich die nun dargestellten Fälle dadurch charakterisieren,
dass den Betroffenen die Abgrenzung von der Arbeit nicht oder unzurei
chend gelingt. Sie sind – aus verschiedenen Gründen – überidentifiziert.
Die Arbeitssituation beinhaltet Bedingungen, die eine Abgrenzung von
der Arbeit erschweren. Organisationen machen sich die fehlende Abgren
zungsfähigkeit manchmal gezielt oder de facto zunutze, sei es, dass ent
grenzte Verfügbarkeit offen oder stillschweigend verlangt ist, sei es, dass es
keine Mechanismen oder Regeln gibt, die einer Überidentifikation der Be
schäftigten entgegenwirken. Die Abgrenzung kann erschwert sein, weil die
Arbeit oder die Anerkennung, das Erfolgserlebnis, das man hier erzielen
kann, für Beschäftigte sehr attraktiv ist, oder weil das Privatleben – etwa
weil die Betroffenen sozial ziemlich isoliert sind – so defizitär ist, dass die
Arbeit diese Leere füllt und die Möglichkeit bietet, sich Beziehungskonflik
ten zu entziehen (vgl. King 2013, S. 149 ff.).
Unter unseren empirischen Fällen haben wir vier typische Arbeitssitua
tionen identifiziert, in denen es den Betroffenen erschwert ist, sich von der
Arbeit abzugrenzen:
76
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
•
•
•
•
die entgrenzte Arbeit,
die Arbeit mit Kunden,
die Aufopferung,
die Nähe zu Leiden und Tod.
Auch hier treten in einigen Fällen mehrere dieser Belastungen kombiniert
auf.
3.2.1 Entgrenzte Arbeit
Moderne Arbeitsverhältnisse zeichnen sich grundsätzlich dadurch aus,
dass in ihnen eine Grenze von Arbeitsrolle und Person, zwischen Organisationsmitglied und Subjekt und zwischen Arbeitszeit und Freizeit institutionalisiert ist. Beschäftigte sind in eine Organisation nicht total, sondern
nur partiell inkludiert. Zwar ist die Vorstellung, man gebe die Person bei
Aufnahme der Arbeit beim Pförtner ab und wende dann nur mehr seine Arbeitskraft an, immer schon falsch gewesen, aber die Trennung bietet doch grundsätzlich eine normative Grundlage dafür, Erwartungen aus
dem Bereich der Arbeit abzuwehren, die sich darauf richten, die Arbeit auf
Kosten der Freizeit auszuweiten, sich als Person mit der Arbeitsrolle übermäßig zu identifizieren und sich die Ziele der Organisation auch außerhalb
der Mitgliedschafts und Arbeitsbeziehung zu eigen machen zu müssen.
Nun haben sich mit der Flexibilisierung der Arbeit zunehmend der
artige Grenzen zwar nicht aufgelöst, aber flexibilisiert. Die Arbeitszeiten
werden variabel, viele Beschäftigte sollen vermehrt ihre Subjektivität in die
Arbeit einbringen und diese im Rahmen indirekter Steuerung selbst orga
nisieren – und sie wollen dies auch, weil sie darin ein Mehr an Autonomie
in der Arbeit erblicken. Die Grenzen der Organisation werden flüssig – in
Netzwerken, in virtuellen Arbeitszusammenhängen. Mit dem »Arbeits
kraftunternehmer« und dem »unternehmerischen Selbst« sind Sozialfigu
ren entstanden, die als neue Leitbilder des modernen Arbeitnehmers fun
gieren, auch wenn, wie ein Blick in die Empirie zeigt (Hürtgen/Voswinkel
2014 und 2016; Kratzer et al. 2015) die Realität und die Selbstverhältnisse
der Beschäftigten diesem Leitbild bei Weitem nicht entsprechen.
Im Diskurs über den »Burnout« spielt die Entgrenzung von Arbeit
eine zentrale Rolle in der Erklärung psychischer Belastungen durch Arbeit
(Voß/Weiss 2013; Kury 2012; S. 279 ff.), insofern ist es interessant, dass wir
nur vier unserer Fälle speziell entgrenzten Arbeitssituationen zugeordnet
77
Stephan Voswinkel
haben, wenngleich Entgrenzungsphänomene auch bei anderen Konstellationen eine gewisse Rolle spielen, ohne doch aber im Vordergrund der
Belastungen zu stehen. Das ist kein Argument gegen die verbreitete These
von der zentralen Bedeutung der Entgrenzung, es weist vielmehr darauf
hin, dass andere Arbeitssituationen ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der
Entstehung psychischer Erkrankungen spielen.
Eine Sekretärin in einer Unternehmensberatung ist wohl der Fall in
unserem Sample, der dem klassischen Modell am nächsten kommt. Ihre
Arbeit lässt sich als eine Gewährleistungsarbeit bezeichnen, also als eine
Arbeit, mit der die »eigentliche« Arbeit – hier: des Unternehmensbera
ters – gewährleistet, ermöglicht wird. Sie steht im Schatten der Arbeit des
Unternehmensberaters, Anerkennungschancen hat sie nur insofern, als sie
funktioniert, um den Arbeitsablauf des Beraters im Hintergrund gut zu
organisieren.
Ihre Arbeit ist reaktiv, sie kann kein eigenes Arbeitsprogramm ver
folgen, sondern reagiert auf die Anforderungen des Beraters. Sie ist zwei
Geschäftsführern zugeordnet, die zumeist an anderem Ort, häufig im Aus
land (und damit auch manchmal in anderen Zeitzonen) im Einsatz sind.
Arbeitswünsche kommen ad hoc und dann mit artikulierter Dringlich
keit. Das führt dazu, dass die Gesprächspartnerin nicht nur fast regelmäßig
Überstunden macht, sondern mit zunehmender Intensität auch nach der
Arbeit noch mit der Sorge lebt, irgendetwas übersehen oder unbefriedi
gend gemacht zu haben. Sie entwickelt Konzentrationsstörungen und
bricht eines Tages zusammen.
Ein Buchhalter in einer Firma des Medienhandels ist in einer Vielzahl
von Projekten gleichzeitig aktiv, deren Zahl durch eine Erweiterung des re
gionalen Geschäftsbereichs in der letzten Zeit noch einmal zugenommen
hat, ohne dass weiteres Personal eingestellt wurde. Er sieht sich oft recht
alleingelassen und kann seine Arbeit nur reaktiv gestalten. Das führt zu
unkalkulierbaren Arbeitskonjunkturen, sodass der Gesprächspartner bei
spielsweise klagt, dass er »seit Jahren […] einfach auch Urlaub auf Abruf,
das heißt immer relativ kurzfristig« mache und kaum etwas langfristig
planen könne. Projekte bringen stets Zeitdruck mit sich, und der Arbeits
tag »sieht eigentlich relativ unstrukturiert aus. Das heißt im Endeffekt: Ich
warte auf die Katastrophen, die da einfallen.« Diese Assoziation zu einem
Heuschreckenschwarm zeigt die Hilflosigkeit, die er den entgrenzten An
forderungen gegenüber offenbar empfindet.
78
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
Etwas anders gelagert ist der Fall der Sozialarbeiterin in der Drogenhilfe. Hier besteht die Entgrenzung in der zehnstündigen Rufbereitschaft
und dem Umstand, dass die Arbeit in Anwesenheit der Klienten stattfin
det. Symbolisiert wird die Entgrenzung hier zusätzlich dadurch, dass sie,
pendelnd zwischen zwei Arbeitsstätten, kein eigenes festes Büro mehr hat,
sodass die Klienten stets um sie sind.
Dass Entgrenzung nicht immer eine objektiv bestimmbare Belastung
ist, sondern dass die entgrenzte Arbeitssituation eine Relation von Bedin
gungen und Subjekt ist, macht der Fall eines Ingenieurs deutlich, dessen
Arbeit ein hohes Maß an Konzentration und Präzision erfordert; oft arbei
tet er den ganzen Tag mit Plänen und Tabellen, in dieser Arbeit ist er sehr
zufrieden und scheint hierfür besonders befähigt zu sein, insofern er Züge
des AspergerSyndroms zeigt. Kennzeichnend für diese Störung ist, dass
die Betroffenen in oft überdurchschnittlichem Maße befähigt sind, Arbei
ten effektiv auszuführen, die hohe Konzentration und Präzision erfordern,
etwa im Umgang mit Zahlen und Formeln.
Allerdings ertragen sie selbst einfache Störungen geregelter Abläufe
und ein »Durcheinander« von Menschen kaum. Die Probleme dieses Ge
sprächspartners treten nun auf, als der Termindruck zunimmt und immer
wieder Aufgaben zwischen die regelhaften Arbeitsvorgänge eingeschoben
werden. Da der Termindruck durch das Gefüge miteinander verknüpfter
Arbeitsvorgänge andere mitbetrifft, kann er sich dem schwer entziehen,
reagiert mit körperlichen Symptomen wie Durchfall und Schwindel und
sucht für mehrere Wochen eine Klinik auf.
Im Drittgespräch einige Monate nach seiner Entlassung scheinen seine
gesundheitlichen Probleme nach Veränderungen im Projektmanagement
und der Einstellung neuen Personals weitgehend behoben zu sein; in der
Folge erhält er sogar eine Leistungsprämie. Wir sehen an diesem Fall, dass
Beschäftigte mit Entgrenzungsphänomenen unterschiedlich gut umgehen
können und es in bestimmten Fällen angemessen sein kann, der Entgren
zung besonders starke Grenzen zu setzen.
Auch in den anderen Fällen ist die Bedeutung der Seite des Subjekts
nicht zu übersehen. Betroffene können aufgrund ihrer Lebensgeschichte
(etwa bereits im Kindes oder Jugendalter erforderliche Verantwortung für
andere Personen oder ein gegenüber Schwächen verständnisloser Vater) ihr
Selbstwertgefühl einseitig daraus beziehen, dass sie problemlos funktionie
ren, und sie können sich auch für das Funktionieren der Personen in ihrem
79
Stephan Voswinkel
Umfeld verantwortlich fühlen. Wenn Betroffene nur über wenige private
Beziehungen verfügen, kann ihre Leistungsfähigkeit in der Arbeit für die
psychische Stabilität und Anerkennung so wichtig werden, dass sie ihrer
Überlastung nicht frühzeitig genug Grenzen setzen können.
3.2.2 Arbeit mit Kunden und Klienten
Viele Arbeiten finden im Kundenkontakt statt. Dadurch tritt ein dritter
Akteur neben Organisation und Beschäftigten auf, der ein Faktor von Be
lastungen sein kann. Vielfach (vgl. Hochschild 1990; Dunkel 1988; Ras
tetter 2008) ist beschrieben worden, dass Kundenarbeit häufig eine Arbeit
mit den eigenen Emotionen erfordert, sei es, dass man eigene der Situation
nicht angemessene Gefühle unterdrücken oder überspielen, sei es, dass
man Gefühle darstellen oder in sich hervorrufen muss, die man spontan
nicht empfindet.
Arbeit mit Kunden ist in vielen Bereichen zugleich dadurch gekenn
zeichnet, dass die Beschäftigten sich mehreren Kunden gleichzeitig zuwen
den und bisweilen Konflikte unter diesen zu managen haben (Voswinkel
2005, S. 255 ff.). Zudem können sie sich der Unterstützung durch ihre Vor
gesetzten nicht sicher sein, die oftmals nach dem Motto »Der Kunde ist
König« handeln zu müssen glauben. Aus diesen Dimensionen der Arbeit
mit Kunden und Klienten können Belastungen resultieren.
Eine Mitarbeiterin an einer Infotheke in einem großen Selbstbedie
nungsgeschäft ist hierfür ein einschlägiges Beispiel. Oft sind nur zwei bis
drei Verkäufer auf einer riesigen Fläche sowie zwei Kassiererinnen und
eine Person an der Infotheke tätig. Kunden ließen ihren Ärger bevor
zugt an der Infotheke ab. Oftmals müsse die Mitarbeiterin damit umge
hen, dass dort mehrere Kunden mit unterschiedlichen Anliegen darüber
streiten, wer an der Reihe oder welches Anliegen dringlicher sei, was sie
häufig total überfordere. Unterstützung vom Marktleiter könne sie nicht
erwarten, der mit übermäßigen Kontrollen die Belastung weiter erhöhe.
Konflikte am ServiceSchalter eines Flughafens über Übergepäck, Annul
lierungen oder andere Fragen wirken sich ähnlich aus. Manche Kunden
würden, so ein Gesprächspartner, sogar übergriffig; auch hier sind riskan
te Entscheidungen nötig und wird ausreichendes Backing von der Vor
gesetzten vermisst.
Die Anteile der Subjekte an der Arbeitssituation sind auch hier nicht
zu übersehen: Mangelnde Fähigkeit, eigene Forderungen zu vertreten, Un
80
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
fähigkeit, mit Spannungen umzugehen, grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen Menschen, übermäßige Schuldgefühle und »altruistische Abtretung« – alles dies wird aus der Lebens und oft Leidensgeschichte heraus
verständlich und erhöht die psychischen Belastungen durch die Arbeits
situation.
3.2.3 Aufopferung
Die erforderliche Abgrenzung gegenüber der Arbeit ist besonders erschwert,
wenn es sich um Berufe handelt, die ein hohes Maß an Aufopferung er
fordern, also an Verhaltensweisen, bei denen aufgrund der moralisch stark
besetzten Zwänge und Anforderungen der Tätigkeit die Unterordnung eige
ner Bedürfnisse und Gefühle nicht nur organisatorisch erschwert, sondern
moralisch als verwerflich empfunden wird. Drei unserer Gesprächspartne
rinnen, zwei Altenpfleger und eine Integrationsassistentin, können wir hier
zuordnen.
Derartige Tätigkeiten besitzen in der Gesellschaft kein hohes Prestige.
Anerkennung erfahren sie vielmehr gerade aufgrund ihres moralischen
Charakters. Die Kranken und Altenpflege ist historisch lange Zeit als Aus
fluss christlicher Nächstenliebe, als Liebesdienst (Rieder 1999) verstanden
worden; die Professionalität wurde von dieser moralisch entgrenzten Zu
schreibung überwölbt. Aufopferungsbereitschaft wird insofern in gewis
sem Maße erwartet, und Beschäftigte versprechen sich Anerkennung ge
rade hierdurch. Das kann die innere Abgrenzung wesentlich erschweren.
Besondere Konstellationen können diese Problematik noch verstärken.
Eine Pflegerin, die seit 20 Jahren im Beruf, seit zwei Jahren in der Alten
pflege tätig ist, hat zusätzlich eine Zeit lang ihren Ehemann bis zu seinem
Tod zu pflegen. Ein anderer Gesprächspartner berichtet, dass er in einer
früheren Tätigkeit in einer stationären Altenpflegeeinrichtung trotz länge
rer Arbeitszeiten weniger innere Abgrenzungsprobleme gehabt habe. Dem
gegenüber nähmen seine Beschwerden zu, seit er zu einem ambulanten
Pflegedienst gewechselt sei.
Hier sind die zeitlichen Belastungen und die Hektik in seinem Falle
zwar reduziert, aber nun trägt er in seinem individuellen Arbeiten eine
Verantwortung, die er nicht mit anderen teilt und die er noch mehr emp
findet, weil er nun eine formale Ausbildung abgeschlossen hat. Er macht
sich in seiner Freizeit Gedanken über das Befinden der Klienten, die nun
ohne Betreuung sind, er fürchtet, dass er sie beim nächsten Mal in Schwie
81
Stephan Voswinkel
rigkeiten vorfinden könnte, denen er zunächst allein gegenüberstehen
würde. Aufgrund des noch stärker persönlichen Verhältnisses zu den Pfle
gebedürftigen fällt es ihm schwerer, auch eigentlich unangemessene Son
derwünsche abzuweisen.
Wir können nicht beurteilen, ob die beschäftigenden Organisationen
explizit Aufopferungsbereitschaft einfordern; es ist jedoch damit zu rech
nen, dass sie in gewissem Maße zur impliziten »Kultur« des Feldes gehört,
manchmal von Angehörigen erwartet wird, aber auch »in der Natur« der
Anforderungen des Arbeitsalltags liegt: Eine Pflegebedürftige leidet an
Schmerzen, braucht Trost, ist gestürzt, Ekelgefühle müssen überwunden
werden usw. Diese Situationen können kaum ignoriert werden, und wenn
man sie nicht gut und empathisch bewältigt, können sich moralische
Selbst oder Fremdvorwürfe ergeben.
Oftmals sind in solchen Arbeitsfeldern Menschen tätig, die aufgrund
von Ereignissen, Erfahrungen und Traumata in ihrer Lebensgeschichte in
besonderer Weise zur Aufopferung disponiert sind. Die Lebensgeschichte
der Integrationsassistentin zeigt eine bedrückende Folge eigener Missach
tungs und Leidenserfahrungen. Ohne Rachegefühlen und Aggression
Raum zu geben, kann sie diese Erfahrungen möglicherweise gerade da
durch zu bewältigen versuchen, dass sie ihr Leiden an anderen wiedergut
machen, ausgleichen will. Eine Altenpflegerin ist Mitglied einer christli
chen Sekte, in der der Liebesdienst und die Selbstverleugnung moralisch
eine große Rolle spielen. Sie, die aus einem asiatischen Land stammt, ist
sehr streng, auch mit viel Gewalteinsatz aufgewachsen und empfindet es als
moralische Verpflichtung ihrer Mutter gegenüber, die selbst stark gelitten
hat, ihrerseits Leiden auszuhalten.
So finden wir hier eine Passung von Anforderung und »Bereitschaft«
zur Aufopferung, die Abgrenzung kaum möglich macht.
3.2.4 Nähe zu Leiden und Tod
Bei den Altenpflegern ist die Aufopferung eng verbunden mit der Nähe zu
Leiden und Tod. Auch ein Arzt in einer onkologischen Station und eine
Mitarbeiterin in der Drogenhilfe sind in ihrer Arbeit mit Leiden und Tod
konfrontiert. Analytisch ist es sinnvoll, die arbeitsalltägliche Konfronta
tion mit Leiden und Tod als eigene psychisch belastende Arbeitssituation
zu verstehen.
82
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
Altenpflege insbesondere dementer Personen, die Betreuung schwerst
behinderter Kinder – dies sind offenkundig Aufgaben, die mit Leiden und
immer wieder auch mit Tod und Todesnähe verbunden sind. Ähnliches
gilt für einen Arzt, der auf einer onkologischen Kinderstation eingesetzt
ist und sich immer wieder gezwungen sieht, niederdrückende Informatio
nen zu vermitteln oder aber Hoffnungen zu wecken und Motivationen auf
rechtzuerhalten, auch wenn er selbst hieran nicht glauben kann. Dass die
Nähe zu Leiden und Tod eine enorme psychische Belastung ist, wird auch
von unseren Gesprächspartnern formuliert. Hinzu kommt die große Ver
antwortung, die empfunden wird. Sie kann auch mit Machtphantasien ein
hergehen, da die Beschäftigten die Abhängigkeit der Klienten erfahren und
von ihrem Handeln manchmal Leben und Tod abhängen können. Auch
diese psychologischen Grenzbereiche (die zudem tabuisiert sind) können
erhebliche psychische Belastungen darstellen.
Da die Nähe zu Leiden und Tod strukturell zu diesen Arbeiten gehört,
kann es nicht darum gehen, sie auszuschließen oder wegzuorganisieren.
Umso wichtiger ist aber die Möglichkeit der Thematisierung und der Ent
lastung im Arbeitsbereich, aber auch in der Freizeit. Die Belastungen spit
zen sich zu, wenn die Betroffenen hier alleingelassen und wenn sie auch
noch im privaten Bereich mit Leiden konfrontiert sind.
3.2.5 Sich abgrenzen lernen – eine individualisierende »Lösung«
Es ist eine der wiederkehrenden Formeln, mit denen Patientinnen ihre Pro
blematik ausdrücken und mit der sie zugleich den Weg zur Überwindung
gefunden zu haben hoffen: Ich kann mich nicht abgrenzen, und ich muss
lernen, mich besser abzugrenzen! Sehr verbreitet wird dies auch als Ziel der
Therapie formuliert, von Betroffenen und von Therapeuten (vgl. auch Ute
Engelbachs Aufsatz in diesem Buch, »›Ich muss nur besser Nein sagen ler
nen‹ – Psychodynamische Überlegungen zu einer pragmatischen Lösung«).
Oftmals scheint diese Formel uns allerdings vereinfachend zu sein, weil sie
nicht nach den Bedingungen fragt, die in der Arbeit selbst die Abgrenzung
erschweren.
Mit einer besseren Abgrenzung wird das Problem sozial gesehen viel
leicht nur verschoben. Wenn sich die eine Beschäftigte erfolgreich gegen
Verfügbarkeitszumutungen der Arbeit gewehrt hat, verlagern sich diese
möglicherweise nur auf Kolleginnen. Das kann auf die zunächst Betrof
fenen zurückschlagen, wenn bald die nächste Kollegin erkrankt oder weil
83
Stephan Voswinkel
sich die Stimmung im Team verschlechtert.7 Die Abgrenzung des Einzelnen verändert also noch nicht die Arbeitssituation. Und schließlich muss
eine verbesserte Abgrenzungsfähigkeit nicht dazu führen, dass die Betroffenen zugleich befähigt werden, sich ihre Arbeit anzueignen. Übermäßige
Abgrenzung kann vielmehr die Fremdheit gegenüber der Arbeit auch verstärken.
3.3 Überlastungen
Viele Patientinnen und Patienten fühlen sich durch einen starken Arbeitsanfall und Arbeitsdruck zumindest phasenweise sehr überlastet. Dies wird
als Ergebnis externer Einflüsse gesehen, also nicht als ein Problem, das mit
der Arbeit selbst oder dem eigenen Verhältnis ihr gegenüber verbunden ist;
in diesen Fällen steht die quantitative Dimension gegenüber der qualitati
ven im Vordergrund. Dies entspricht dem geläufigen Stressdiskurs, dem
zufolge ein extern auf das Individuum einwirkender Druck durch zu viel
Arbeit zu psychischen Belastungen führt, ein Konzept, das mit dem herge
brachten pathogenen Erkrankungs und Arbeitsschutzverständnis kompa
tibel ist. Selbstverständlich tragen Überlastungen zur erschwerten Abgren
zung von der Arbeit und zur verhinderten Aneignung der Arbeit bei, aber
sie sind in den hier gemeinten Fällen nicht der wesentliche Aspekt, sondern
sie spitzen belastende Situationen eher zu.
Auch wenn Überlastungen, die allein extern und sachzwangartig be
dingt sind, selten sein dürften, gibt es doch derartige Fälle; in der Krank
heitsgeschichte stellen sie allerdings eher so etwas wie den Tropfen dar, der
das Fass zum Überlaufen bringt, sodass die Widerstandskraft von Körper
und Psyche dem Druck nicht mehr standhalten kann. Solche Phänomene
finden wir etwa, wenn eine Ärztin in einer Klinik die Überlastung beklagt,
die aus dem Personalmangel resultiert und sie gerade in brenzligen Situa
tionen ärztlichen Handelns unter starken Stress setzt; wenn ein Beschäf
tigter in einem Kaufhaus derart viele Überstunden leisten muss, dass er
mehrere Wochen zwölf Stunden täglich einschließlich Samstag arbeitet,
weil sein Chef und mehrere Kollegen wegen Dienstreisen und Krankheiten
7 | Vgl. zum Verhältnis von individueller Selbstsorge und Kollegialität Hürtgen/
Voswinkel 2014, S. 270 ff.; Flick (2013) plädiert dafür, Selbstsorge grundsätzlich
als relational zu begreifen.
84
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
ausfallen. Er bricht weinend zusammen und muss eine Klinik aufsuchen,
als er dann noch einen Sonderauftrag erhält. Gerade ein solcher Fall zeigt
jedoch, dass zwischen Auslöser und belastender Gesamtsituation unterschieden werden muss – und zwar auch deshalb, weil es ein Irrtum wäre,
eine Lösung von der Ausschaltung des Auslösers allein zu erwarten.
Konzeptionell sind Überlastungen relativ leicht einzudämmen. Das
heißt natürlich nicht, dass Veränderungen unter gegebenen Machtverhält
nissen in Organisationen leicht durchzusetzen wären. Aber auch wenn
die Durchsetzung schwierig ist, liegt die Lösung gewissermaßen auf der
Hand: Etablierung eines durchsetzungsfähigen Betriebsrats, Regelung von
Arbeitszeiten, faire Arbeitsverteilung, Verringerung des Personalmangels,
sinnvolle Arbeitsplanung.
3.4 Ängste um den Arbeitsplatz
Ängste um den Arbeitsplatz sind eine starke psychische Belastung, die es
auch erschwert, andere Belastungen zu verarbeiten.
Bei unseren Gesprächspartnern ist die Angst um den Arbeitsplatz mit
anderen Belastungen verbunden, oder sie resultiert erst aus diesen. Es ist
offensichtlich, dass zum Beispiel Missachtungserfahrungen Ängste um den
Arbeitsplatz aktivieren. Wir haben oben gesehen, dass Maßnahmen wie die
Zuweisung unterwertiger Beschäftigung oder das Aushängen der Bürotür
wenn nicht als Versuch, die Betroffenen aus der Firma zu drängen, inten
diert, so doch auf jeden Fall von diesen so verstanden werden.
In anderen Fällen ist es die psychische Erkrankung selbst, die Ängs
te um den Arbeitsplatz zur Folge haben kann. Fehlzeiten und vermuteter
bzw. befürchteter Leistungsabfall lösen einen sich wechselseitig verstär
kender Prozess von psychischer Erkrankung und Angst um den Arbeits
platz aus. Aber auch wenn nicht explizit der Verlust des Arbeitsplatzes in
Aussicht gestellt wird, bringt die Entwicklung einer Krankheit für viele
Betroffene Sorgen um den Arbeitsplatz mit sich, die zur eigenen Quelle
depressiver Dynamiken werden können.
Das betrifft die Beschäftigten in unterschiedlichem Grade; insbeson
dere fortgeschrittenes Lebensalter, finanzielle Probleme, etwa durch Ver
schuldung, Versorgungspflichten (für Kind und Familie) oder aber auch
eine relativ gute finanzielle Situation und Absicherung, deren Verlust man
bei einer anderen Arbeitsstätte befürchten müsste, tragen zur Angst um
85
Stephan Voswinkel
den Arbeitsplatz bei. Sie machen es den Betroffenen schwer, auch bei ge
sundheitlichen Belastungen eine Arbeitssituation zu verlassen, und brin
gen das Gefühl mit sich, der belastenden Situation ausgeliefert zu sein,
deren Verlust man aber zugleich fürchten muss.
4. Resümee
Ich möchte nun unsere empirischen Befunde über psychisch belastende
Arbeitssituationen zusammenfassen.
Arbeitssituationen sind zu verstehen als ein Gefüge von Arbeitsbe
dingungen sowie von Deutungen und Wahrnehmungen der Subjekte. Es
handelt sich um eine Interaktion von psychischen Dispositionen mit dem
sozialen und dem Arbeitskontext. Psychische Belastungen in Arbeitssitua
tionen sind also als Teil eines solchen Gefüges zu verstehen. Wir konnten
verschiedene Formen psychisch belastender Arbeitssituationen identifizie
ren, die in vielen Fällen kombiniert auftreten.
Grundlegend ist die Unterscheidung von zwei großen Gruppen solcher
Arbeitssituationen. In der ersten gelingt es den Beschäftigten nicht, sich die
Arbeit anzueignen, in der zweiten ist es ihnen erschwert, sich von der Arbeit
abzugrenzen. Beide Formen sind nicht nur eine Problematik der einzelnen
Beschäftigten, sondern sie resultieren auch aus Bedingungen und Struktu
ren der Arbeit, die Aneignung und Abgrenzung erschweren. Wir haben im
Einzelnen folgende Fälle identifizieren können, in denen die Arbeit Aneig
nung oder Abgrenzung beeinträchtigt.
Aneignung von Arbeit wird verhindert, wenn die Arbeit sinnlos ist, mit
ihr moralische Konflikte verbunden sind, die Beschäftigten Missachtungs
erfahrungen machen und in Gratifikationskrisen geraten, unterwertig
beschäftigt sind, unbestimmten Erwartungen und Anforderungen in der
Arbeit gegenüberstehen oder übermäßiger Kontrolle ihrer Arbeit ausge
setzt sind. Die Abgrenzung von der Arbeit wird erschwert, wenn die Arbeit
entgrenzt ist, wenn Arbeit im Kundenkontakt mit Konflikten und fehlen
der Unterstützung in der Organisation verbunden ist, wenn in der Arbeit
eine Moral der Aufopferung nahegelegt wird oder sie mit einer Nähe zu
Leiden und Tod einhergeht. Hinzu kommen und verschärfend wirken sich
Arbeitsüberlastungen und Ängste um den Arbeitsplatz aus.
86
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
Die Betroffenen haben mit ihren Dispositionen einen Anteil an der
Entstehung und Auswirkung der Belastung. Häufig zeigen sich die folgen
den Dispositionen: Die Betroffenen beziehen ihren Selbstwert daraus, dass
sie immer funktionieren oder dass sie sich aufopfern. Sie sind sich ihrer
Identität und ihrer Bedürfnisse unsicher, benötigen übermäßig positives
Feedback, um sich ihrer Leistung sicher zu sein; sie leiden unter Statuspro
blemen oder Statusinkonsistenz, haben Schwierigkeiten, mit Autorität –
eigener und fremder – umzugehen. Sie weisen der Arbeit eine zu hohe Be
deutung für ihre Anerkennung zu, wollen eine innere Leere damit füllen
oder soziale Isolation kompensieren. Sie haben einen erhöhten Struktu
rierungsbedarf von außen. Finanzielle Probleme, Ängste um den Arbeits
platz und die Befürchtung, auf dem Arbeitsmarkt nur geringe Chancen zu
haben, können objektiv oder subjektiv Alternativen verstellen.
Häufig werden Entstehung und Verursachung der Krankheiten indi
vidualisiert, also den einzelnen Erkrankten (allein) zugerechnet. Unsere
Untersuchung zeigt: Dieser Vorstellung können wir nicht folgen! Vielmehr
spielt die Arbeit ganz offensichtlich eine wesentliche Rolle im Gefüge der
belastenden Arbeitssituation. Auch die »Heilung« der psychisch belasten
den Arbeitssituation kann nicht durch die einzelnen Betroffenen allein er
folgen. Selbst wenn sie für sich selbst durch veränderten Umgang mit den
Belastungen eine Verbesserung erzielen können, bleiben die Anteile der
Arbeitsbedingungen an der belastenden Arbeitssituation bestehen. Insbe
sondere die Orientierung, sich abgrenzen zu lernen, verschiebt oft nur die
Belastungen in der Arbeitssituation auf andere und verändert damit nicht
die Arbeitssituation.
5. Die Bedeutung der Normalität
Arbeitssituationen stellen sich also als ein Gefüge von Arbeitsbedingun
gen, subjektiven Dispositionen und sozialen Kontexten dar, und dem
entsprechend sind auch psychisch belastende Arbeitssituationen weder
ausschließlich aus den Arbeitsbedingungen abzuleiten noch aus den psy
chischen Strukturen. Was bedeutet das nun für die Diskussion um die Ver
antwortlichkeiten und Beiträge für eine gesunde Arbeitswelt? Weder kann
man ausschließlich den Arbeitsbedingungen – und damit den Organisa
tionen – die Verantwortung für Erkrankungen allein zuweisen noch den
87
Stephan Voswinkel
Betroffenen. Verschwindet also die Verantwortung im BermudaDreieck
von Wechselwirkungen und Bedingungsgefügen?
Wenn aus dem Umstand, dass nicht alle, sondern nur Einzelne unter
gleichen belastenden Bedingungen erkranken, gefolgert wird, dass die
Ursache bei den Einzelnen liege, die den Anforderungen nicht gewachsen,
nicht stressresistent seien, sich nicht abgrenzen könnten, eine übermäßige
Aufopferungshaltung an den Tag legten oder in einem Übermaß anerken
nungsbedürftig seien, so würde in der Konsequenz einseitig auf Verhaltens
prävention gesetzt und die Gesundung der individuellen Veränderung und
Therapierung zugewiesen. Die Arbeitsbedingungen und kontexte müssten
nicht verändert werden, und die Organisationen träfe somit keine Verant
wortung, die über eine gewisse Fürsorgeverpflichtung hinausginge. Die
Einzelnen würden als Sonderfälle behandelt.
Wenn die einzelnen Erkrankten als Sonderfälle behandelt werden,
dann impliziert das zugleich, dass die Arbeitsbedingungen als normal an
gesehen werden, dass hieran nichts änderungs und verbesserungsbedürf
tig oder dass hieran nichts veränderbar sei. Mit anderen Worten: Verhält
nisprävention wäre unnötig oder unmöglich. Das ist eine verbreitete Sicht
der Dinge, und zwar aus unterschiedlichen Perspektiven:
Die Organisationen betrachten die Bedingungen, unter denen die Be
schäftigten arbeiten, als »normal«, weil sie »immer schon« so waren, weil es
bei anderen Organisationen nicht anders zugeht oder weil Verbesserungen
zwar möglich wären, aber Kosten oder Folgen mit sich brächten, die andere
oder weitere Nachteile (Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, Wecken unrea
listischer Ansprüche bei den Beschäftigten usw.) mit sich brächten.
Die Beschäftigten (und manchmal auch die Interessenvertreter) selbst
sehen, dass andere Kollegen mit den Bedingungen zurechtkommen oder
dass sie doch diesen Eindruck erwecken. Sie suchen die Ursachen also bei
sich, sehen sich selbst als »Sonderfälle«. Wird eine psychische Erkrankung
attestiert, rückt sie das aus ihrer Sicht ohnehin in den Bereich des »Un
Normalen«. Und schließlich wollen sie unter Umständen nicht, dass auf
sie eine besondere Rücksicht genommen wird (vgl. hierzu den Aufsatz von
Stephan Voswinkel in diesem Buch, »Betriebliches Eingliederungsmanage
ment: Verfahren und Problemsichten«).
Auch die Therapeuten nehmen ihre Patienten als Einzelfälle in den
Blick, schon deshalb, weil ihre Aufgabe zunächst darin besteht, die Einzel
ne zu heilen, ihren Zustand zu verbessern. Außerdem verfügen sie in der
88
Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der »Normalität«
Regel über zu wenig Kenntnis der Arbeitsbedingungen und des Arbeitskontextes (vgl. auch den Aufsatz von Sabine Flick in diesem Buch, »›Das
würde mich schon auch als Therapeutin langweilen‹ – Deutungen und
Umdeutungen von Erwerbsarbeit in der Psychotherapie«).
Individualisierung der Erkrankung und Normalisierung der Arbeits
bedingungen sind also zwei Seiten einer Medaille. Damit ist eine weitere
Implikation verbunden: Unterstellt wird nämlich ein »normaler« Arbeit
nehmer, eine »normale« Arbeitnehmerin, die mit den jeweiligen Arbeits
belastungen zurechtkommt. Ist der Erkrankte ein Sonderfall, so ist der
Nichterkrankte ein Normalfall. Ein »normaler« Arbeitnehmer aber ist
letztlich eine Fiktion, in zumindest zweierlei Hinsicht: Zum einen sind die
real existierenden Individuen unterschiedlich, sie haben verschiedene Stär
ken und Schwächen, unterschiedliche Persönlichkeiten, unterschiedliche
Arten von Belastbarkeit – und eben auch unterschiedliche gesundheitliche
Dispositionen.
Und zum Zweiten verändert sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens
und in sich wandelnden privaten und beruflichen Kontexten: Wer heute,
getragen von einer funktionierenden Ehe und stabiler Gesundheit, alle He
rausforderungen mühelos meistert, kann morgen die Arbeit zurückstellen
wollen, weil er sich der Kindererziehung widmen möchte oder weil die Ehe
gescheitert ist. Jeder wird älter, seine Bedürfnisse ändern sich, seine pri
vaten Kontexte auch. Seine physische Leistungsfähigkeit und damit unter
Umständen auch sein Selbstbewusstsein nehmen ab. Normal ist die Ver
änderung.
Hinzu kommt: Der »normale« ist in der Regel der »ideale« Arbeitneh
mer, derjenige, der mit der Arbeit zurechtkommt. Es ist gerade nicht der
durchschnittliche Arbeitnehmer. Gegenüber dem »idealen« haben fast alle
»real existierenden« Arbeitnehmer irgendein »Defizit«: Alter, mangelndes
Sprach und Kommunikationsvermögen, private Sorgen und Verpflichtun
gen. Die einen haben einen kranken Rücken, bei den anderen schwindet
das Hörvermögen, die Dritten entwickeln eine Depression. Die einen pfle
gen ein ausschweifendes Freizeitverhalten, sie lösen Konflikte aus wegen
ihrer Hautfarbe oder Religion, erweisen sich als übermäßig kritikempfind
lich usw. Da »Defizite« zu haben normal – üblich – ist, orientiert sich das
»Normalitäts«Verständnis eigentlich am Idealzustand (vgl. hierzu Goff
man 1975, S. 158).
89
Stephan Voswinkel
Wird jedoch der »normale« als »idealer« Arbeitnehmer behandelt, so
kann dies dazu führen, dass es hingenommen wird, wenn die Anforderungen, unter denen er arbeitet, steigen, weil sie für »normale« Arbeitnehmer als »normal« gelten. Die resultierenden gesundheitlichen Probleme zu
individualisieren kann bedeuten, die Bedingungen, unter denen sie entstehen, für unproblematisch zu halten. Das kann auch zur Folge haben,
dass diejenigen, die darunter leiden, dieses Leiden nicht artikulieren, sei
es, dass sie den Mut hierzu nicht haben, weil sie fürchten, als »schlechter«
Arbeitnehmer zu gelten, sei es, weil sie dieses Leiden selbst nicht auf die
»normale« Arbeit zurückführen. Dadurch können eine Arbeit erst (recht)
pathogen und die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten langfristig beeinträchtigt werden.
Aber ich möchte ein noch grundsätzlicheres Argument hinzufügen:
Auch wenn es richtig ist, salutogene Arbeitsbedingungen im Interesse der
Beschäftigten als Leistungskräfte – und damit auch der Leistungskraft der
Organisation – anzumahnen, so sollen Beschäftigte doch nicht ausschließ
lich als Leistungskräfte behandelt werden. Vielmehr ist jeder Beschäftigte
ein Mensch mit physischen und psychischen Bedürfnissen, Stärken und
Schwächen, der ein Recht darauf hat, dass auf seine Gesundheit Rück
sicht genommen wird.8 Organisationen profitieren davon, dass Beschäftig
te nicht nur als Arbeitskräfte »Dienst nach Vorschrift« machen, sondern
auch Aspekte ihrer Persönlichkeit in die Arbeit einbringen, daher müssen
sie auch darauf Rücksicht nehmen, wenn ihre psychische Situation die
Arbeitsleistung einmal beeinträchtigt.
Jede psychisch Erkrankte ist ein Einzelfall. Die Zunahme psychischer
Erkrankungen zeigt indes, dass es viele Einzelfälle sind. Eine gesundheits
dienliche Arbeitsgestaltung bedeutet, diese Unterschiede zu berücksich
tigen. Sie würde es nötig machen, der Gestaltung von Arbeit und dem
Personaleinsatz nicht die »normalen« (und erst recht nicht die »idealen«)
Arbeitnehmerinnen zugrunde zu legen, sondern einzubeziehen, dass es
vielfache Arten (zeitweise) begrenzter Leistungsfähigkeit gibt. Arbeitssi
tuationen sind in dieser Perspektive nicht schon dann gesund, wenn die
meisten nicht erkranken, sondern wenn die Erkrankten dort arbeiten und
(relativ) gesund werden können.
8 | Jedenfalls soweit dies im Rahmen der sozialen Zusammenhänge und Koope
rationen der Einzelnen unter den Kollegen möglich ist.
90
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tion sigma.
Voswinkel, Stephan (2015): Sinnvolle Arbeit leisten – Arbeit sinnvoll leis
ten. In: Arbeit 24, H. 1–2, S. 31–48.
93
Krankenrolle und Stigmatisierung
bei psychischen Erkrankungen
Stephan Voswinkel
Normalerweise haben Menschen den Wunsch, nicht krank zu sein. Kaum
eine Feststellung scheint unumstrittener. Doch kennen wir auch die Rede
vom »Krankfeiern«: Hier wird unterstellt, dass krank zu sein mit Freude
einhergehen kann. Man kann etwas mehr Klarheit schaffen, wenn man
zwischen dem subjektiven Befinden, dem Unwohlsein und dem sozialen
Status des Krankseins unterscheidet. Beziehen wir uns auf den Status des
Kranken, so ist die Frage, ob es gut oder schlecht ist, krank zu sein, und
ob Menschen krank sein wollen oder nicht, nicht ganz so einfach zu be
antworten.
Denn nun kann man von Menschen sprechen, die den Status eines
Kranken haben, aber sich wohlfühlen, und von Menschen, die sich nicht
wohlfühlen, aber auch keine Kranken sind. Wir können uns Fälle vorstel
len, in denen sich Kranke zwar nicht wohl, aber doch besser fühlen, als
wenn sie nicht als Kranke behandelt würden. Vom »primären Krankheits
gewinn« wird dann gesprochen, wenn Krankheitssymptome es einem In
dividuum ermöglichen, sein fehlendes Wohlbefinden zu erklären und als
Krankheit zu objektivieren. Es fühlt sich dann zwar nicht wohl, aber inner
lich entlastet von der Diffusität des Unwohlseins und von Verhaltenszwän
gen und konflikten, denen es sich aktuell nicht gewachsen sieht. Deshalb
kann Krankheit ein Eskapismus sein, der Betroffene flieht in die Krankheit.
Als »sekundären Krankheitsgewinn« bezeichnen wir dann diejenigen Vor
teile, die mit der Einnahme der Krankenrolle verbunden sind: die soziale
Erlaubnis, sich gesellschaftlichen Pflichten zu entziehen, und die Aufmerk
samkeit und Rücksichtnahme der Umwelt, mit denen man als Gesunder
nicht hätte rechnen können.
95
Stephan Voswinkel
Die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Unwohlsein und Schwäche
einerseits, Krankheit andererseits setzt allerdings voraus, dass Krankheit
sozial nicht unbedingt diskreditierend und stigmatisierend wirkt, dass die
mit ihr verbundene Schwäche nicht zu Ausgrenzung führt und es nicht
unmöglich macht, sein Leben zu reproduzieren. Krank zu sein muss eine
gesellschaftliche Institution geworden sein, die von Verpflichtungen ent
bindet und kompensatorische Hilfe mobilisiert.
1. Die Krankenrolle
Talcott Parsons (1958, S. 16 ff.) hat diese Institution als »Krankenrolle« be
zeichnet und mit vier institutionalisierten Erwartungen definiert: Erstens
werden Kranke von gesellschaftlichen Rollenerwartungen befreit – also
zum Beispiel von der Verpflichtung, zur Arbeit zu gehen. Wegen der damit
verbundenen Vorteile muss der Anspruch, krank zu sein, legitimiert wer
den – das geschieht durch den Arzt als Experten, der unparteiisch, kompe
tent und sachlich eine Krankheit diagnostiziert.
Zweitens ist der Betroffene an der Erkrankung schuldlos bzw. wird als
schuldlos behandelt. Es geht – jedenfalls in der Situation der eingetrete
nen Krankheit – nicht darum, seine Einstellung, sondern sein Befinden zu
verändern. Drittens wird vom Erkrankten erwartet, die Krankheit als un
erwünscht zu behandeln und sie baldmöglichst beenden zu wollen. Vier
tens schließlich soll der Kranke fachkundige Hilfe in Anspruch nehmen
und mit dem Experten, meist dem Arzt, bei der Behandlung kooperieren.
Die Krankenrolle definiert also die Legitimation einer Ausnahmesituation,
die bald beendet werden soll und die institutionell von den »normalen«
Rollen des Individuums unterschieden ist, nach Mechanismen und Krite
rien, die gesellschaftlich reguliert sind.
Die Krankenrolle nach Parsons hat zwei unterschiedliche Bezugsbe
reiche: den Arzt, dem gegenüber die Kranken eine Patientenrolle wird
und der Arztrolle korrespondiert. Sodann die anderen Rollen des Patien
ten und seine relevanten anderen, denen gegenüber er von normalen Ver
haltenserwartungen entlastet wird und an die er Erwartungen – etwa der
Rücksichtnahme – richten kann. Gekoppelt werden beide Bezugsbereiche
dadurch, dass die Einnahme der Krankenrolle diejenige der Patientenrol
le impliziert. Auch die Krankschreibung setzt voraus, dass der Betroffene
96
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
einen Arzt konsultiert und sich dessen Anweisungen unterwirft. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Diagnose des Arztes zu: Sie ist Ergebnis der Arztkonsultation und sie präzisiert die Krankheit nach außen,
indem sie gesundheitliche Beeinträchtigungen den akzeptierten Krankheitsdefinitionen zuordnet und damit erst zur Krankheit macht.
Parsons behandelt die Krankenrolle als Aspekt des Problems sozialer
Kontrolle. Die Krankenrolle begründet die Möglichkeit eines sekundären
Krankheitsgewinns, und dieser muss begrenzt werden durch die mit der
Krankenrolle verbundenen Verpflichtungen und Kontrollen durch den
Arzt. Rechte und Pflichten sind deshalb eng verknüpft. Noch in der Kran
kenrolle wird daher die Normalität der Arbeitsverpflichtung bestätigt.
Die Krankenrolle steht offensichtlich in Konkurrenz oder Konflikt
(»InterRollenKonflikt«) mit anderen Rollen (vgl. Borgetto/Kälble 2007,
S. 170): des Beschäftigten oder – allgemeiner gesagt – desjenigen, der sich
aus eigener Kraft reproduzieren muss, auch mit den Rollen als Partner, Vater
oder Mutter, Schüler oder Arbeitsuchendem. Die mit diesen verbundenen
Verpflichtungen werden außer Kraft gesetzt. Aber dadurch werden gleich
wohl Erwartungen der Arbeitgeber, der Kollegen, der Ehepartner oder der
Kinder durchaus enttäuscht – Konflikte sind keineswegs ausgeschlossen.
Trotz der institutionalisierten Krankenrolle müssen Kranke mit Nach
teilen und unter Umständen auch mit Stigmatisierung rechnen. Denn sie
signalisiert Schwäche, fehlende Fähigkeit zur Erfüllung von Rollenerwar
tungen. Daher ist die Entscheidung, sich krankschreiben zu lassen, das Er
gebnis eines Aushandlungs und Abwägungsprozesses des Patienten zwi
schen sich selbst, dem Arzt und dem betrieblichen und privaten Kontext
(vgl. Twardowski 1998, S. 42 f.; Hauß/Oppen 1985).
Krank zu sein beinhaltet überdies eine Veränderung des Selbstver
hältnisses des Menschen. Er muss sich damit auseinandersetzen, in seinen
Handlungs und Leistungsfähigkeiten eingeschränkt zu sein, Hilfe zu be
nötigen. Das kann dazu führen, dass er Unwohlsein und gesundheitliche
Einschränkungen hinnimmt, solange sie ihn noch nicht handlungsunfä
hig machen, um die Definition als Kranker zu vermeiden. Mit einer sol
chen Haltung lehnt er es ab, die Rechte des Kranken zu nutzen, um die
Pflichten nicht auf sich nehmen zu müssen. Diese aber sollen ja gerade zur
Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit beitragen.
»Die Fähigkeit, krank sein zu können, kann […] einen Schutz vor psy
chischer Selbstzerstörung bieten, ein lebensrettendes Regulativ sein.« So
97
Stephan Voswinkel
formulierte Gerd Overbeck (1984, S. 50) den nur scheinbar paradoxen Zu
sammenhang von Krankheitsfähigkeit und Gesundheit. Tatsächlich kann
die Fähigkeit, vor sich selbst krank zu sein und anderen gegenüber die
Krankenrolle einzunehmen, als gesundheitsförderlich gesehen werden.
Die Krankenrolle ist deshalb nicht nur die Legitimation einer Ausnahme
situation, sondern besitzt eine präventive und salutogene Funktion. Das
allerdings setzt voraus, dass sie sozial akzeptiert ist.
»Die Fähigkeit, krank zu sein« beinhaltet auch die zeitweilige Annah
me einer Krankheitsidentität. Hier kommt der Diagnose des Arztes wieder
eine zentrale Bedeutung zu (Kirchgässler 1985). Sie definiert die Beschwer
den als Krankheit und begründet damit bestimmte Verhaltenserwartun
gen. Sie erschwert es dem Individuum, die Einsicht ins Kranksein zu ver
weigern, aber sie kann auch die mit Beschwerden verbundenen Sorgen vor
dem Ungewissen, vor dem, was »ich haben könnte«, mindern, weil sie Ge
wissheit vermittelt (Groenemeyer 2008, S. 121 ff.).
Mit der Krankheitsidentität ist auf der einen Seite das Selbstverhältnis
des Einzelnen angesprochen, also die Frage, inwieweit er die Krankheit als
(zeitweiligen) Teil seiner Identität integriert. Auf der anderen Seite die so
ziale Identität, also die Frage, inwieweit die Krankheit von anderen als Teil
der Identität gesehen wird. Diagnosen können als Identitätsmarker fungie
ren. Gerade deshalb gehen Patienten mit Diagnosen durchaus strategisch
um. Wenn sie nicht wollen, dass die Krankheit Teil ihrer sozialen Identität
wird, dass sie also über ihre Krankheit identifiziert werden (Lettke et al.
1999, S. 17), wird der Umgang mit Diagnosen zum Aspekt ihrer »Techniken
der Informationskontrolle« (Goffman 1994, S. 116 ff.).
2. Krankenrolle und Entgrenzung von Arbeit
Parsons ging noch davon aus, dass der Zustand der Krankheit relativ klar
von dem der Gesundheit abzugrenzen und deshalb die Krankenrolle ein
deutig bestimmbar ist. Sein idealtypisches Modell bezieht sich offensicht
lich auf die aktuelle somatische Erkrankung. Schon chronische Erkrankun
gen werfen die Frage auf, in welchem Sinne man davon sprechen könnte,
der Patient habe zur baldigen Beendigung der Erkrankung beizutragen.
Vielmehr geht es hier oft eher darum, eine Normalisierung der Krankheit
in dem Sinne zu erreichen, dass die Erkrankten und ihre Umwelt mit der
98
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
Krankheit zu leben und die Rücksichtnahme auf die Krankheit mit der begrenzten Übernahme sozialer Erwartungen zu verbinden lernen.
Die Krankenrolle kommt jedoch im Hinblick auf die Arbeitswelt,
also in ihrem Verhältnis zur Berufsrolle, in der Gegenwart von vier Seiten unter Druck. Erstens führen die Veränderungen von Arbeitsanforderungen, die als Entgrenzung von Arbeit bezeichnet werden, dazu, dass die
Grenze zwischen Arbeitsfähigkeit und -unfähigkeit unbestimmter wird.
Unter Entgrenzung von Arbeit verstehen wir zunächst, dass die Grenze von
Arbeits- und Freizeit sich verflüssigt. Wie die Arbeit in die Freizeit – und
auch die Freizeit in die Arbeit – hineinragt, indem Beschäftigte auch in
ihrer nominellen Freizeit verfügbar sind (beispielsweise über Smartphone
oder EMail) und bei Termin und anderem Arbeitsdruck ihre Arbeitszeit
verlängern (müssen), so können sie auch häufig ihre Arbeitszeit privaten
Wünschen in gewissem Maße anpassen.
Das bedeutet, dass sie (oder ihre Arbeitsumwelt) Krankheitszeiten
manchmal als Freizeit und nicht als verlorene Arbeitszeiten behandeln,
indem diese zum Beispiel über das Arbeitszeitkonto abgewickelt werden.
Hinzu kommt, dass viele moderne Arbeitsformen es auch möglich machen,
zu arbeiten, wenn man nicht mit dem ganzen Körper einsatzfähig ist: Mit
gebrochenem Bein etwa kann man Schreibtisch und Bildschirmarbeit
(eventuell auch von zu Hause aus) erledigen.
Zweitens kommt die Krankenrolle unter Druck, weil in der Arbeit
Schonzeiten und räume verschwinden. Das betrifft zum Beispiel länger
andauernde oder chronische gesundheitliche Einschränkungen. Fehlende
Personalreserven und die Einsparung von Arbeitsaufgaben, die geringe
re Belastungsfähigkeit erfordern, bedingen, dass dauerhafte Krankheiten
schneller die Frage aufwerfen, ob sie mit der Ausübung einer Beschäfti
gung vereinbar sind. Aus diesem Grunde aber steigt auch die Sorge, sich
mit der Einnahme der Krankenrolle als nicht ausreichend belastbar zu zei
gen, und damit die Neigung zur »Krankheitsverleugnung« (Kocyba/Vos
winkel 2007).
Hinzu kommt drittens, dass Beschäftigte es in manchen Fällen nicht
als Erleichterung empfinden, der Arbeit fernzubleiben. Zum einen kann
die Sorge vor den Folgen der Absenz ihrerseits das Befinden beeinträchti
gen, der Gang zur Arbeit kann zum anderen auch von den Beschwerden
ablenken. Das Selbstwertgefühl würde eventuell noch mehr leiden, würde
man der Arbeit fernbleiben. Damit ist ein weiterer Aspekt der Entgrenzung
99
Stephan Voswinkel
von Arbeit angesprochen, die Verflüssigung der Grenze zwischen Arbeit
und Person. Beschäftigte wollen und sollen ihre Subjektivität stärker in
die Arbeit einbringen, diese selbst organisieren, sich eventuell auch in der
Arbeit verwirklichen. Vor diesem Hintergrund wird ihre Leistungsfähig
keit in der Arbeit in noch höherem Maße, als dies in der modernen Gesell
schaft generell der Fall ist, wichtig für ihr Selbstverhältnis und ihre Identi
tät. Daher tun sie sich schwer damit, eine Erkrankung anzunehmen und in
ihr Selbstbild zu integrieren.
Untersuchungen zum Phänomen des Präsentismus (Steinke/Badura
2011; Schmidt/Schröder 2010) illustrieren diese Entwicklung. Der Kran
kenstand ist zwar seit 2006 geringfügig wieder auf 5,2 Prozent (im Jahre
2014) angestiegen, diese Entwicklung konterkariert aber den wesentlich
prägnanteren langfristigen Rückgang von Mitte der neunziger Jahre bis
2006 nicht (Meyer/Böttcher/Glushanok 2015, S. 345 ff.). Die Zahl psychi
scher Erkrankungen hat zwischen 2004 und 2014 um 44 Prozent zugenom
men (ebd., S. 368 f.).
Verschiedene Erhebungen zeigen, dass etwa drei Viertel der Beschäftig
ten angeben, im Laufe eines Jahres mindestens einmal krank zur Arbeit ge
gangen zu sein, beinahe ein Drittel sogar gegen den ausdrücklichen Rat der
Ärzte (Steinke/Badura 2011, S. 24). In der Literatur wird davon berichtet,
dass psychische stärker als physische Krankheiten zu Präsentismus führen.
Hierfür wird die Ursache in der Furcht psychisch Erkrankter vor der Entde
ckung ihrer Krankheit und daraus resultierender Stigmatisierung vermutet
(vgl. ebd., S. 93; vgl. auch Gerich 2015, S. 44 f.).
Ein vierter Aspekt setzt die Akzeptanz der Krankenrolle unter Druck:
Die Förderung der Gesundheit ist zur Anforderung an moderne Arbeit
nehmer geworden, ihre Arbeits und Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten.
Präventionsmaßnahmen, die von Arbeitgebern angeboten werden, be
inhalten die Aufforderung, sie auch wahrzunehmen, und implizieren so,
dass denjenigen eine (Mit)Verantwortung für eine Erkrankung zugewie
sen wird, die gleichwohl erkranken (vgl. Brunnett 2009, S. 304 ff.; Lettke
et al. 1999, S. 78 ff.). Es ist aber gerade eine Voraussetzung für die problem
lose Einnahme einer Krankenrolle, dass die Erkrankung als nicht selbst
verschuldet gilt.
Alle diese unterschiedlichen Faktoren führen zu einer größeren Unbe
stimmtheit der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit und somit zu
100
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
einer unsicheren Akzeptanz der Krankenrolle. Das ist nicht grundsätzlich
neu, aber die Entgrenzungsbereiche weiten sich deutlich aus.
Wir haben in unserer Untersuchung ein weiteres Phänomen beobachten
müssen: Die Entgrenzung zwischen Arbeit und Krankheit beinhaltet auch,
dass es nicht mehr unüblich ist, Erkrankte während ihres Klinikaufenthalts
von der Arbeit aus zu kontaktieren. Erreichbarkeit ist durch Smartphones
und E-Mail gegeben, und es scheint nahezuliegen, bei arbeitsbezogenen
Fragen mit dem Erkrankten Kontakt aufzunehmen. Manchmal sollen mit
der Kommunikation während der Erkrankung auch Anteilnahme und Interesse an der Person des Mitarbeiters bekundet werden, manchmal wird
aber auch erörtert, wann denn mit der Rückkehr zu rechnen sei und wie es
insgesamt weitergehen solle.
Auch die Patienten suchen ihrerseits manchmal Kontakt zur Arbeit,
zu Vorgesetzten oder Kollegen. Weil sie von sich erwartet hätte, bei einer
Aufnahme in die Tagesklinik »jeden Abend, wenn ich nach Hause gehen
würde, […] in X [ihrem Supermarkt]« zu stehen, hat sich Frau V, 20jährige
Verkäuferin in einem Supermarkt, quasi aus Selbstschutz zur stationären
Aufnahme entschlossen. Viele Patienten telefonieren häufig auch ihrerseits
mit Kollegen.
Im Falle psychosomatischer Kliniken kommt anscheinend hinzu, dass
diese manchmal von Außenstehenden als eine Art Kur vorgestellt werden.
Ein Therapeut berichtet sogar von einem Fall, bei dem ein Mitarbeiter der
Firma der Patientin das Handy so eingerichtet hat, dass sie dort auch die
GeschäftsEMails lesen konnte.
»Wir haben öfter die Situation, dass die Firmen hier so invasiv irgendwie da an
den Mitarbeitern ziehen, hab’ ich das Gefühl. […] Ich bin auch der Meinung:
Wenn man krank ist, kann man da [auf die Arbeit, bezieht sich auf Beispielfälle]
nicht hinzitiert werden. […] Warum soll ein Patient, der in der chirurgischen
Station ist, arbeitsrechtlich anders behandelt werden, der nicht laufen kann mei
netwegen, anders behandelt werden als einer, der auf der psychosomatischen Sta
tion ist? Damit machen wir doch unsere Patienten mit dem Gedanken eigentlich
weniger krank.«
Auch Patienten behandeln manchmal die Grenzen psychosomatischer Kli
niken als recht durchlässig. Herr N nimmt etwa während des stationären
Aufenthalts einen Gerichtstermin wahr. Es kann auch eine Rolle spielen,
dass die Patienten unsicher sind, wie sie mit ihrer Diagnose dem Arbeitge
101
Stephan Voswinkel
ber und dem Kollegen gegenüber umgehen sollen. Diese Problematik von
Status und Grenzziehung psychosomatischer Kliniken und damit der Defi
nition der Krankenrolle sollte in Zeiten der Entgrenzung Gegenstand der
therapeutischen Arbeit in der Klinik selbst sein; der Klinik kommt hier auch
die Aufgabe zu, die Patienten vor äußeren Interventionen zu schützen.
3. Stigmatisierung psychischer Erkrankungen
Die Krankenrolle ist bei psychischen Erkrankungen in ihren Grenzen be
sonders unbestimmt. Denn diese Krankheiten sind in der Regel nur schwer
an eindeutigen Symptomen erkennbar. Jedenfalls gilt das für den Laien
und somit für die allermeisten Vorgesetzten und Kollegen der Betroffenen.
Die Übergänge zu einem alltäglichen Verhalten, das als wunderlich und ab
weichend empfunden wird, sind fließend. Gerade psychische Erkrankun
gen schließen es auch nicht offensichtlich aus zu arbeiten, wie dies jeden
falls bei vielen somatischen Krankheiten der Fall ist. Daher steht schnell
der Verdacht im Raum, der Betroffene simuliere und beanspruche somit
die Krankenrolle illegitimerweise. Die Gefahr der Simulationsvermutung
wiederum veranlasst viele Betroffene, sich lange Zeit nicht krankschreiben
zu lassen und sich auch selbst nicht mit ihren Beschwerden als Krankheit
auseinanderzusetzen.
Psychische Erkrankungen sind in mehrfacher Hinsicht mit der Gefahr
der Stigmatisierung verbunden. Sie resultiert erstens aus dem Verdacht, die
Erkrankung sei nicht authentisch, sondern werde simuliert, oder der Be
troffene sei überempfindlich. Diese Art der Stigmatisierung gilt im Grunde
also nicht der psychischen Erkrankung, sondern der vermuteten Simula
tion. Symptome können die Krankheit nicht ausreichend beweisen. Hilf
reich können hier ärztliche Diagnosen sein. Der Arzt bzw. Therapeut als
anerkannter Experte bekräftigt die Legitimität der Krankenrolle, indem
er die Ernsthaftigkeit der Erkrankung bestätigt und sie mit einer medi
zinischen Diagnose identifizierbar macht. Allerdings ist Voraussetzung
hierfür, dass der Psychotherapeut selbst in der Gesellschaft als Experte und
dass psychische oder psychosomatische Erkrankungen als Krankheiten an
erkannt sind. Insgesamt scheint die Akzeptanz psychischer Störungen als
Erkrankungen deutlich gestiegen zu sein.
102
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
Zweitens resultiert Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen daraus, dass die Störungen unmittelbar mit der Persönlichkeit des Betroffenen
verbunden scheinen. Gerade sein Bezug auf die soziale Identität aber macht
ein Stigma aus (Goffman 1994). Die von anderen negativ bewerteten Eigen
schaften treten gegenüber den anderen Aspekten der Identität in den Vor
dergrund. Mit anderen Worten: Die Krankheitsidentität dominiert die so
ziale Identität der Betroffenen und scheint mit dieser zwingend verbunden.
Damit wird die Beendbarkeit der Krankenrolle tendenziell infrage gestellt.
Die Betroffenen geraten hier also in ein Dilemma: Werden ihre gesund
heitlichen Probleme als psychische Krankheiten diagnostiziert, so können
sie damit die eine Quelle der Stigmatisierung austrocknen: den Verdacht
der Simulation. Zugleich aber lassen sie die andere Quelle sprudeln: die
Stigmatisierung wegen der Erkrankung. Dieses Dilemma erklärt die am
bivalente Haltung unserer Patienten gegenüber der ihnen gegebenen Dia
gnose: Sie fühlen sich entlastet, weil sie nun eine ärztliche Bestätigung der
Ernsthaftigkeit ihrer Erkrankung und deren begriffliche Präzisierung er
halten. Aber sie fürchten das Bekanntwerden und die Dauerhaftigkeit der
entsprechenden Etikettierung.
Für sie stellt sich damit das Problem des Umgangs mit dieser Informa
tion, insbesondere gegenüber ihrem Arbeitgeber und ihren Kollegen. Outen
sie die Diagnose, so sind sie damit zumindest potenziell (in den Worten
Goffmans) diskreditiert. Verschweigen sie diese, so bleiben sie doch diskre
ditierbar. Diese Informations ist häufig zugleich eine Identitätspolitik (vgl.
ebd., S. 153 ff.), weil die Betroffenen damit zugleich ihre eigene Beziehung
zu ihrer Erkrankung regulieren.
Eine Form der Identitätspolitik ist die Selbststigmatisierung oder die
»Charismatisierung«. In der Selbststigmatisierung setzen sich die Subjekte
Stigmatisierungen forciert aus und übernehmen sie in ihr Selbstbild. Die
Betroffenen verstehen sich als Opfer tragischer Lebensgeschichten, demüti
gender oder untragbarer Arbeitsbedingungen und erhalten auf diese Weise
einen spezifischen Krankheitsgewinn durch diese Aufwertung ihrer Per
son. Dieser Vorgang kann in eine (Selbst)Charismatisierung übergehen,
wenn Stigmatisierte »in Heilsbringer und Führergestalten verwandelt wer
den« (Lipp 1985, S. 83). Die Geschichte ist voll von Umschlägen des Stigmas
in Charisma. Gerade die christliche Religion hat in der Gestalt des Märty
rers eine positive Sozialfigur hervorgehoben, die als Vorbild fungieren soll.
Die Wunden Jesu sind die Stigmata, die gerade sein Charisma ausmachen.
103
Stephan Voswinkel
Psychisch Erkrankte können sich als Opfer und zugleich Mahnung sehen,
die auch andere aufrütteln kann.
Eine andere Form der Identitätspolitik ist demgegenüber die Normalisierung: Die Betroffenen versuchen, ihr Stigma zu verbergen und ihre
Krankheit in den Alltag auch der Arbeit zu integrieren. Eine Variante der
Normalisierung besteht darin, die psychische als eine Krankheit wie jede
andere zu behandeln und darzustellen. Diese Strategie ist diejenige, die
dem heute verbreiteten Diskurs am ehesten entspricht: Mit der Integration
psychischer Erkrankungen ins Gesundheitssystem – auch durch die ver
breitete Medikamentalisierung – und zugleich in die üblichen Regularien
betrieblicher Gesundheitspolitik ist die Erwartung verbunden, sie auf diese
Weise aus der besonderen Stigmatisierungsgefahr zu lösen. Meist werden
Elemente verschiedener Identitätspolitiken zugleich verfolgt. Daraus resul
tieren eine oft zu beobachtende Ambivalenz und Inkongruenz der jeweili
gen Verhaltensweisen.
Will man Stigmatisierungsprozesse verstehen, so muss man auch die
Nichterkrankten betrachten. Die Interaktion zwischen Stigmatisierten
bzw. Stigmatisierbaren und »Normalen« ist durch beidseitige Unsicherheit
im Umgang gekennzeichnet: Die Erkrankten sind unsicher, wie Kollegen
und Vorgesetzte auf ihre Erkrankung reagieren und diese bewerten. Sie
fürchten unter Umständen, dass diese auch »normale« Fehlleistungen als
Zeichen der Erkrankung interpretieren. In ihrem Verhalten reagieren sie
eventuell antizipativ auf die vermutete Bewertung der anderen. Die »Nor
malen« ihrerseits sind ebenfalls unsicher, wie sie den Erkrankten behan
deln sollen: Ist Rücksichtnahme angesagt, kann man die Krankheit in der
Interaktion ignorieren, sollte man sie thematisieren, welche Empfindlich
keiten zeigen gerade psychisch Erkrankte? Nicht erst Feindseligkeit und
Ablehnung, sondern auch Unsicherheit bei gutem Willen machen die
Beziehungen mit psychisch Erkrankten schwierig. Die Schwierigkeiten
im Umgang mit (der Gefahr) der Stigmatisierung psychisch Erkrankter
werden im Aufsatz über die Betriebliche Wiedereingliederung weiter er
örtert.
An dieser Stelle der Überlegungen kommen wir wieder auf die Frage
der Beendbarkeit der Krankenrolle zurück. Im Alltagsverständnis werden
psychische Erkrankungen häufig als nicht abgeschlossen behandelt, weil
man vorurteilshaft davon ausgeht, dass sie nicht endgültig geheilt werden
104
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
können. Insofern psychische Erkrankungen demgegenüber mit der Persönlichkeit verbunden scheinen, setzen sich Zuschreibungen an die Persönlichkeit bei psychischen Erkrankungen (wenn diese bekannt waren) möglicherweise länger fort.
Manche psychischen Erkrankungen werfen noch aus einem anderen
Grund ein besonderes Problem für das Konzept der Krankenrolle auf. Diese geht nämlich von der Bereitschaft und Fähigkeit des Kranken aus, seine
Erkrankung beenden zu wollen und hierfür alles ihm Mögliche zu tun.
Gerade eine Depression aber beeinträchtigt die Fähigkeit des Betroffenen,
wieder das Selbstbewusstsein zu erreichen, das für seine Rückkehr in ein
»normales« (Arbeits)Leben erforderlich ist.
Depressiven fehlt es häufig gerade hieran, weil Antriebslosigkeit bis hin
zur Bewegungsunfähigkeit zu den Symptomen der Erkrankung zählen, die
es den Kranken erschweren, Veränderungen herbeizuführen. Es können
sich Ängste vor Versagen bei einer Rückkehr an den Arbeitsplatz entwickeln
oder davor, vor anderen bzw. mit anderen zu interagieren (vgl. Jäger/Jacobi
2014; Wittchen et al. 2010, S. 12 f.) Deshalb ist es häufig die Erkrankung
selbst, die es den Betroffenen erschwert, zu ihrer Beendigung beizutragen.
Gerade dies aber ist eine der mit der Krankenrolle verbundenen Pflichten.
4. Empirische Beispiele im Umgang mit Krankenrolle
und Stigma psychischer Erkrankungen
Ich werde nun diese verallgemeinerten Darstellungen an einigen empiri
schen Beispielen verdeutlichen. Sie sollen zeigen, wie unsere Patienten mit
der Krankenrolle umgehen, wie sie sie akzeptieren, be oder entgrenzen, sie
legitimieren und wie sie die Gefahr der Stigmatisierung bearbeiten.
4.1 Präsentismus und die Einnahme der Krankenrolle
Da wir mit unseren Gesprächspartnern im Zusammenhang mit ihrem
Klinikaufenthalt, also im Rahmen ihrer Kranken und Patientenrolle, ge
sprochen haben, gibt es in unserem Sample natürlich keine Fälle, in denen
die Krankenrolle dauerhaft gemieden oder verweigert wurde. Gleichwohl
haben mehrere Patienten zuvor ihre Krankheit längere Zeit verleugnet. So
hat Frau A, Sekretärin in einer Unternehmensberatung, lange Zeit wei
105
Stephan Voswinkel
tergearbeitet, obwohl sich gesundheitliche Beschwerden verstärkten, und
gerade, weil sie nicht mehr so leistungsfähig war.
»Wenn ich zum Beispiel krank war und hätte eigentlich sagen müssen: Oh, ich
hab jetzt Fieber, ich bleib lieber daheim, schon mich ein paar Tage, hatte ich das
Gefühl, ich häng in meiner Arbeit sowieso schon so stark nach, das kann ich mir
nicht erlauben, ich muss an die Arbeit, um, wie soll ich sagen, irgendwie noch
Leistung bringen zu können, und wenn’s auch nur ein bisschen was ist, was ich
erledige, ahm, aber Hauptsache, ich arbeite noch was.«
Weil sie wegen ihrer Beschwerden in ihrer Leistung eingeschränkt war,
glaubte sie, sich keine Schonung, kein zeitweiliges Kranksein erlauben zu
können, weil die Arbeit sich dann noch weiter aufgestaut hätte.
Frau A definiert die Krankenrolle sehr streng: »Wenn ich nicht mehr
kann, dann muss ich krank sein, und wenn ich da bin, dann muss ich ein
satzbereit sein.« Diese Einstellung sei auch in der Firma vorherrschend: Es
werde keine Rücksicht auf zeitweilige Schwächen der Beschäftigten genom
men, solange sie am Arbeitsplatz sind. Anders verhalte man sich dann, wenn
die Krankenrolle durch Fernbleiben von der Arbeit eingenommen wird. Der
strikten Definition der Krankenrolle entspricht also eine ebenso strikte Defi
nition der Beschäftigtenrolle, der gemäß immer voller Einsatz erwartet wird.
Gerade wegen dieser strikten Krankenrolle fällt es Frau A jedoch
schwer, sie einzunehmen, solange die Beschwerden nicht übermäßig sind.
Hinzu kommt, dass sie gefürchtet habe, die Erkrankung werde erst richtig
ausbrechen, wenn sie einhalten würde, im »Hamsterrad«, wie sie es nennt,
weiterzulaufen. Erst ihrer besten Freundin gelang es eines Tages, sie mit
energischen Worten zu überzeugen, dass sie sich krankmelden müsse, als
es gar nicht mehr ging.
Auch Herr S schildert, wie er vor seinem ersten »Burnout« immer
noch weitergearbeitet hatte, als er noch im Bekleidungshaus als Substitut
beschäftigt war. Er hatte im Januar, dem umsatzstärksten Monat, bei dem
noch die Inventur dazukam, inklusive Sonntagsarbeit (Inventur) 110 Über
stunden angesammelt. Die Arbeitszeit eines Kollegen war reduziert wor
den, damit dieser sich auf eine Abschlussprüfung vorbereiten konnte. Sein
Abteilungsleiter war auf Einkaufstour, sodass er »mal ’ne Zeit lang für drei
arbeiten« musste, wie er zunächst ohne Sorge gemeint habe.
Er sei nicht zu seinem Verkaufsleiter gegangen, um ihn um Unterstüt
zung zu bitten, »weil ich halt für mich immer das, was ich halt vorgenom
106
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
men habe, geschafft hab«. Nachdem er mehrere Wochen täglich einschließ
lich Samstag etwa zwölf Stunden gearbeitet hatte, kam Anfang Februar
dann noch ein Großauftrag zur Einkleidung einer Bigband hinzu. Dies war
der Moment, in dem Herr S zusammengebrochen ist: Da habe er die an
gesammelte Anspannung bemerkt.
»Ich hab nur gemerkt, der Hals ging zu. Ich hab gemerkt, dass ich wässrige Augen
gekriegt hab, und wir hatten unsere Verkaufsfläche im Erdgeschoss gehabt und
unser Büro im 1. Stock, ich hab’s nur noch geschafft, in den 1. Stock zu gehen,
mich ins Büro zu setzen, und da saß halt die damalige Abteilungsleiterin mit
einem Vertreter. […] Und in dem Moment hab ich halt angefangen zu heulen,
und ich war halt mit den Nerven vollkommen am Ende. Weil ich halt gesagt hab:
Ich bin jetzt, ich weiß nicht, das war die fünfte oder sechste Woche in Folge, wo
ich halt wirklich komplett durchgearbeitet hab’.«
Die Abteilungsleiterin hat ihn dann erst einmal für eine Woche nach Hau
se geschickt. Es bedurfte also einer von ihm selbst nicht mehr abweisbaren
und zugleich auch für andere erkennbaren Grenze, deretwegen ihm die
Krankenrolle von der Chefin gewissermaßen verordnet wurde.
Frau A und Herr S möchten die Zeit der Krankenrolle aber auch be
grenzen. Herr S kam zunächst nach zwei Wochen wieder zur Arbeit, merkte
dann aber, dass er noch nicht wieder arbeitsfähig war, und wurde für zwei
weitere Wochen krankgeschrieben. Sein Verkaufsleiter rief ihn daraufhin an
und habe gemeint, wenn er Probleme mit seiner Arbeit habe, könne er sich
»nicht permanent krankschreiben lassen«, sondern müsse mit ihm reden.
Als er daraufhin in die Firma ging, habe er zu hören bekommen:
»Herr S, was ist denn los, schaffen Sie Ihre Arbeit nicht, oder was ist jetzt die
Sache? Weil, das kann doch nicht sein, dass Sie sich jetzt krankschreiben lassen,
wenn’s jetzt mal ein bisschen mehr wird.«
Herr S habe wieder »angefangen zu heulen« und aufgezählt, welche Arbeits
belastung er gehabt habe. Der Verkaufsleiter habe gesagt, davon habe er
nichts gemerkt, und nunmehr die Krankschreibung akzeptiert.
Frau A war nach ihrer Krankschreibung und nachdem sie akzeptiert
hatte, eine Therapie und einen Klinikaufenthalt zu benötigen, bestrebt,
dass dies alles schnellstmöglich erfolgte. Sie wurde ärgerlich, als sich die
Aufnahme in die Klinik hinzog. Zunächst hatte sie eine Kur beantragt,
über die aber lange Zeit nicht entschieden wurde.
107
Stephan Voswinkel
»Um ehrlich zu sein, hätte ich auch eine Kur genommen, ich wollte einfach nur
das, was am schnellstmöglichen mir angeboten wird.«
Da stellte sich auch nach Ansicht der Therapeutin, die sie aufgesucht hatte,
die Aufnahme in die Tagesklinik als die schnellere Variante heraus. Denn,
so Frau A, »ich brauche jetzt akut Hilfe. […] Das ist ja für mich Zeitver
schwendung. Ich will bald wieder arbeiten gehen«. Der Modus ihres Arbei
tens, in dem immer alles schnell gehen muss, prägt also auch ihren Um
gang mit der Krankenrolle und der Therapie.
4.2 Legitimation der Krankenrolle
durch Demonstration der Erkrankung
Nehmen psychisch Erkrankte die Krankenrolle ein, so stellt sich für sie
die Frage, ob sie ihre Erkrankung dem Arbeitgeber mitteilen oder sie ver
schweigen. Im ersten Fall hoffen sie, sich Legitimation durch Information
zu verschaffen, im zweiten Fall wollen sie eine Stigmatisierung durch die
Erkrankung vermeiden.
Herr B, Lagerleiter in einem Handelsgeschäft, wurde während seines
Klinikaufenthalts oft mehrmals am Tag von seinem Vertreter in der Firma
auf seinem Handy in der Klinik angerufen, weil dieser Fragen bezüglich
der Arbeit hatte. Er merkte dabei allerdings, dass der Vertreter – wohl eine
verbreitete Meinung unter den Kollegen wiedergebend – seine Erkrankung
nicht für sehr ernsthaft hielt. Er habe ihm mehr oder weniger offen vorge
worfen, sich dort zu erholen, während sich in der Firma die Arbeit türme.
Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, ist er nach einem Treffen mit sei
nem Chef auch noch mit diesem in die Firma gefahren. Da er inzwischen
in der Klinik heftige Zuckungen, Krämpfe und Tics entwickelt hatte, war
der Eindruck, den er dort machte, offenbar eindrucksvoll:
»Dass er auch sieht, wie es ist […] Und ich glaub’, das hat er dann auch
sehr schnell eingesehen, dass es im Moment gar nicht geht.« Zugleich sei
ihm dabei aber auch klar geworden, dass »ich wahrscheinlich da gehen«
muss, was aber auch seinem Wunsch entsprach.
Der Beweis der Legitimität seiner Krankenrolle war ihm hier also wich
tiger als die Möglichkeit, die Art seiner Erkrankung weiter geheim zu hal
ten (und gegebenenfalls seinen Arbeitsplatz zu behalten).
108
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
4.3 Verschweigen der Krankheitsart
aus Angst vor (stigmatisierender) Fürsorglichkeit
Demgegenüber hielt Herr S, inzwischen als Betriebswirt in der Revision
einer Bank tätig, die Art seiner Erkrankung geheim, als er zum zweiten
Mal psychisch erkrankte und die Klinik aufsuchte, wo wir auch unsere
Interviews mit ihm führten. Aus diesem Grund war Herr S erleichtert,
dass es zu keinem förmlichen Verfahren im Rahmen des Betrieblichen
Eingliederungsmanagements mehr gekommen ist. Seine Befürchtung war,
er werde durch das Outing seiner Krankheit einen Stempel der fehlenden
Belastbarkeit aufgedrückt bekommen. Hätte er sagen müssen, dass er eine
mittelschwere Depression gehabt habe, die auch mit seiner zu perfektionis
tischen Arbeitsweise und Arbeit on top in den letzten Wochen zu tun ge
habt habe, dann, so die Befürchtung von Herrn S, hätte er sicher zu hören
bekommen:
»Ach, gut, dass Sie es sagen – dann kriegen Sie ab jetzt nichts mehr on top und
kriegen jetzt auch quasi nur noch Sachen, die die Hälfte der Belastung darstellen.
[…] Das ist ja immer so ein Gedanke, den man dann hat, wenn man halt sagt: Ich
hab jetzt berufsbedingt eine Auszeit nehmen müssen, dass es dann heißt: Ja gut,
der ist nicht mehr leistungsfähig, dem brauchen wir eigentlich gar nichts mehr
geben. Dass man da halt irgendwo für – ja, auf eine gewisse Art und Weise für
schwächlich gehalten wird.«
Herr S hatte eine solche Erfahrung bei seinem ersten Burnout im Be
kleidungshaus gemacht. Ein jüngerer Kollege habe einen Fehler, den er
gemacht hatte, Herrn S zuschieben wollen mit Verweis darauf, dass er,
Herr S, ja nicht belastbar sei. Zwar habe er diesen Angriff seinerzeit erfolg
reich abwehren können, aber er rechne mit derartigen Reaktionen immer.
Dies wäre gerade in der aktuellen Situation ärgerlich gewesen, wo ihm in
Aussicht gestellt worden sei, für eine Revision zwei Monate lang mit nach
New York kommen zu können, eine Chance, die er nicht gefährden wolle.
Offensichtlich sind hier Fürsorge und Stigmatisierung nicht leicht von
einander zu trennen. Was vonseiten der Vorgesetzten oder Kollegen durch
aus als Rücksichtnahme, Fürsorge oder Vorbeugung vor Rezidiven gedacht
sein kann, kann von den Betroffenen als Einschränkung von Möglichkei
ten oder gar als Stigmatisierung erfahren werden.
109
Stephan Voswinkel
4.4 Normalisierung der psychischen Erkrankung
Einige Patienten versuchen, die psychische Erkrankung zu normalisieren,
um sie nicht zum Teil ihrer Identität werden zu lassen oder auch um einer
möglichen Stigmatisierung von außen entgegenzuwirken. Die Selbstdiagnose als »Burn-out« ist ein solcher Weg, da der »Burn-out«, obwohl er als
medizinische Diagnose nicht anerkannt ist, im allgemeinen Diskurs als
eine Art Volkskrankheit der Gegenwart behandelt wird. Das macht es wie
vielen anderen auch Frau A möglich, in der Firma offen über ihre Krank
heit zu kommunizieren und damit (nachdem sie einmal die Krankenrolle
eingenommen hatte) auch auf Verständnis und Unterstützung zu stoßen.
Diese Erkrankung gehört offenbar in bestimmten Bereichen inzwischen in
den Bereich der Normalität.
Eine andere Art der Normalisierung der psychischen Erkrankung
ist bei Frau E, Integrationsassistentin, zu erkennen. Sie stellt die somati
schen Beschwerden und Schmerzen, die für sie in sehr hohem Maße be
lastend sind, in ihrem gesamten Krankheitsbild vollständig ins Zentrum.
Im Interview schildert sie diese ausführlich und berichtet auch von den
teilweise starken Medikamenten, die sie hierfür bekommt. Sie habe sich
in die psychosomatische Klinik von ihrem Hausarzt nur überweisen las
sen, weil dies mit einer Schmerztherapie verbunden wurde, die für sie im
Vordergrund stand. Deshalb war sie auch erschüttert und empört, als sie
beim Erstgespräch in der Klinik erfuhr, dass auf ihrer Überweisung die
Diagnose »Depressives Syndrom« gestanden habe. Sie habe sich bei ihrem
Hausarzt beschwert, woraufhin die Überweisung in Richtung Schmerz
therapie verändert wurde. Auch während ihres Klinikaufenthalts wehr
te sie sich immer wieder dagegen, als psychisch Erkrankte behandelt zu
werden:
»Es war für mich echt der Schock meines Lebens. Ich habe ständig eigentlich
systematisch gegen den Oberarzt gekämpft, weil ich immer gedacht hab, er wollt’
mir da irgendwie ’ne Psychose ans Bein heften oder ’ne Depression. Und das wär’
für mich, also ich hatte da einen extremen, enormen Druck und ich immer wie
der gesagt hab’: Ich hab’ Schmerzen, ich hab’s nicht im Kopf irgendwo.«
Frau E wehrt sich zum einen gegen die Diagnose einer psychischen Er
krankung, weil sie hiermit eine Abschreibung als unzurechnungsfähig
verbindet, aber auch weil sie damit die Ernsthaftigkeit ihrer Beschwerden
110
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
gemindert sieht, denn, so sagt sie, mit Batiken und Ähnlichem sei ihr nicht
geholfen. Eine genauere Analyse des Falles zeigt allerdings auch, dass sie
sich mit dieser Abwehr gegen die Aufarbeitung traumatischer biographischer Erfahrungen sträubt, die mit der Akzeptanz der Diagnose einer psychischen Erkrankung verbunden wäre. Sie will ihre »Pandorabüchse« (eine
Formulierung des behandelnden Therapeuten) nicht öffnen oder doch
jedenfalls schnell wieder schließen.
4.5 Selbststigmatisierung
Eine der Normalisierung kontrastierende Form der Identitätspolitik ist
die Selbststigmatisierung. Ansätze hierzu finden wir bei Frau F, Sachbe
arbeiterin in einem Amt mit Klientenkontakt. Sie war nach einem Zusam
menbruch auf der Arbeit kurzfristig in die Klinik gekommen. Ihre soziale
Situation an der Arbeitsstelle beschrieb sie als Mobbing, nachdem sie sich
nach einem befristeten Arbeitsvertrag auf eine Stelle bei der Stadt einge
klagt hatte. Auch ihre zahlreichen Beschäftigungsverhältnisse zuvor seien
ständig durch Mobbing geprägt gewesen.
Ihre Selbststigmatisierung vollzieht sie auf drei Ebenen. Zunächst stellt
sie sich selbst als jemanden dar, der immer wieder Ausschluss provoziert;
sie sieht sich also selbst beteiligt an dem abweisenden Verhalten ihrer Um
welt. Als ihr die Diagnose »Borderline« begegnet, übernimmt sie diese in
ihr Selbstbild:
»Ich hab ja auch [zunächst] gesagt: Das bin ich nicht, das können Sie vergessen! Ja,
also das ist für mich sehr stigmatisierend und schlimm. Ich hab sehr viel Bücher
auch in dieser Zeit jetzt, wo ich nach der Klinik war, hab ich mir sehr viele Bücher
dazu geholt. Und alles, was ich gelesen habe, trifft wie die Faust auf’s Auge. Des
wegen sag ich: Ja, stimmt!« Sie entwickelt ein negatives Selbstverhältnis: »Eigent
lich mag ich mich nicht, eigentlich komm ich nicht mit mir klar, eigentlich wär’
ich nicht gerne ich – und das ist der Punkt, wo ich sag’: Das ist das Zentrale: Ich
muss zu mir kommen!«
Dieses negative Selbstverhältnis geht mit starken Neidgefühlen gegen die
jenigen einher, die es ihres Erachtens besser haben. Sodann bezieht sie ihr
diesbezügliches Verhalten auf ihre gesamte schwierige Lebensgeschichte.
Sie vermutet nun, dass auch ihre Mutter Borderlinerin war, was erklären
würde, warum sie selbst so schlecht behandelt worden sei, mit der Folge
111
Stephan Voswinkel
großer Probleme in der Jugend, in der Schule, ihr gesamtes Leben lang.
Und schließlich beschreibt sie sich auch als jemanden, die von starken Gerechtigkeitsgefühlen getrieben ist und zu Recht anderen Vorwürfe macht
und Missstände anprangert. Im Gespräch stellt sie sich als aufsässig auch
gegenüber ihren Vorgesetzten dar:
»Ja, dafür bin ich wieder die Böse, weil ich ihn [einen Vorgesetzten] kritisiert
habe. […] Ich sage sehr viel, was ich sehe; ich kann mich mit vielen Sachen nicht
abfinden. […] Mein Problem ist, dass ich viele Sachen auch dann nicht akzeptiere,
wenn sie Scheiße sind, und man kann sie nicht ändern.«
Ihre Selbstbeschreibung wechselt zwischen Klagen über ihre eigenen Grenz
überschreitungen und aggressiven Vorwürfen an ihre Umwelt, mit ihrem
ausgeprägten Gerechtigkeitssinn nicht zurechtzukommen.
»Ich weiß, dass ich an der Stelle, ich würde sagen, manchmal unter die Gürtel
linie gehe. Aber ich mach es nicht sozialverträglich, ich mach es aggressiv. Subtil
aggressiv. Das weiß ich.«
4.6 Selbstcharismatisierung
Eine Variante der Selbststigmatisierung ist die Selbstcharismatisierung.
Zwei Beispiele mögen illustrieren, was hierunter im Falle psychischer Er
krankungen zu verstehen ist.
Frau E, Integrationsassistentin, leidet unter einer Biographie wiederkeh
render Missachtungserfahrungen. Sie hat schwere somatische Beschwerden
entwickelt, die sie mit einem Stolz auf ihre Fähigkeit, solches Leiden auszu
halten, erträgt. Frau E, die sehr religiös ist, ist stolz auf ihre Aufopferung in
einer Mehrfachbelastung für die Familie, ihren alkoholabhängigen Mann
und zwei Kinder sowie die Betreuung eines schwerbehinderten Kindes in
der Schule. Die Anerkennung hierfür bleibt indes ihrer Wahrnehmung zu
folge aus. Die Integrationsassistenten werden von den Lehrern der Schule
nicht angemessen wertgeschätzt und von der Partizipation an vielen auch
pädagogischen Fragen ausgeschlossen. Auch der Ehemann würdigt ihren
Einsatz nicht, sondern setzt ihre Leistungen wie selbstverständlich voraus.
Darunter leidet Frau E, bezieht jedoch hieraus ihren Anspruch auf Würdi
gung.
112
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
Sie nimmt nun bereits während ihres Klinikaufenthalts wahr, dass in
den nahezu täglichen Telefonaten mit den Kollegen deutlich werde, dass
ihre gesundheitliche Krise auch in der Schule viele zum Nachdenken gebracht habe: »Wenn du, wenn unsere deutsche Eiche fällt, dann müssen
wir uns auch Gedanken machen also.« Mit diesen Worten habe die Klassenlehrerin angekündigt, dass sich das ganze Team zusammensetzen und
über Änderungen sprechen müsse, wenn sie wieder in der Schule zurück
sei. Auch sie selbst stehe mit einem Bein in der Tagesklinik. Tatsächlich
berichtet Frau E im Gespräch einige Wochen nach ihrer Rückkehr in die
Schule, dass es viele Verbesserungen gegeben habe und sie jetzt eine stärke
re Anerkennung erfahre, man sage ihr:
»Deine Beiträge, die sind so wichtig und wertvoll, und ich möchte dir einfach
sagen, du bist nicht nur eine Integrationsassistentin, du bist für uns viel mehr.
Und das war wirklich dieses, weil diesen Stellenwert musste man sich ja wirklich
jahrelang erkämpfen, und das ist ja sowieso unser Problem in der Branche oder in
diesem Berufszweig, den es ja eigentlich gar nicht gibt …«
Herr T, ITMitarbeiter in einer Bank, beschreibt im Erstgespräch seine
Krankheitsgeschichte als Resultat einer kontinuierlichen Strategie der
Bank, ihn als Opfer von Rationalisierungs und Umstrukturierungsprozes
sen und Mitarbeiter mit längerer Betriebszugehörigkeit an den Rand und
möglichst aus der Bank zu drängen. Diesen Versuchen stemmte sich Herr T
jahrelang entgegen, was erhebliche psychische Belastungen mit sich ge
bracht habe, denen er nach einigen körperlichen Erkrankungen nun nicht
mehr gewachsen gewesen sei, sodass er in die Klinik gehen musste. Er sieht
sich also in der Opfer oder gar Märtyrerrolle. Diese erhebt ihn auch über
seine Kollegen, denen er angepasstes, gleichgültiges Verhalten vorwirft.
»Wenn die da oben sagen: Ist alles gut!, dann reines Jasagertum, keinerlei, und
das ist das, warum das vor die Hunde geht, weil jedem privaten Individuum die
Bank, ob das Ganze, das große Ganze funktioniert, interessiert kein Schwein,
da guckt doch keiner mehr über den Tellerrand hinaus. […] Für mich ist das so
irgendwie wie im Dritten Reich so nach dem Motto: Ja, Hitler ist halt da, und
keiner sagt was dagegen. So irgendwie. Das ist jetzt vielleicht jetzt überzogen,
aber das ist so ’ne Gleichgültigkeit. […] Ich bin da schon eher der Rebell, das geb’
ich schon zu.«
113
Stephan Voswinkel
4.7 Verstetigung der Krankenrolle in einer Krankheitsidentität
Die Krankenrolle kann sich von einer Ausnahmesituation zu einem dauerhaften Bestandteil der Identität der Betroffenen entwickeln, sodass sie eine
Krankheitsidentität ausbilden. Das kann, wie oben dargestellt, ein Symp
tom der Krankheit selbst sein. Und es kann der Versuch einer Bewältigung
der Krankheit sein, in der diese ins Selbstbild integriert wird. Die Über
gänge von einer exzeptionellen zu einer verstetigten Krankenrolle können
fließend sein und die psychodynamischen Ursachen mannigfaltig.
Bei dem gerade dargestellten Herrn T beispielsweise scheint einer der
verursachenden Prozesse aus der Therapie selbst zu resultieren. Die Stütze
des Selbstwertgefühls von Herrn T in seiner Selbstcharismatisierung wur
de durch die Therapie aufgelöst. Er konnte erkennen, dass es psychische
Strukturen und nicht sein Rebellentum waren, die ihm eine Anpassung an
die veränderten Bedingungen in der Bank unmöglich machten, psychische
Strukturen, die tief in seiner Biographie verankert waren. Dieser therapeu
tische Prozess verlief bei Herrn T jedoch in einer Weise, dass es ihm nicht
gelang, eine neue Basis des Selbstwerts zu entwickeln; vielmehr traf er auf
eine Situation sozialer Isolation, in der die Erkenntnis der Beziehungsdyna
mik zusätzlich zum Abbruch der Kontakte zu seinen Eltern führte.
Herr T war zu der Einsicht gelangt, dass er seine Versuche, sich von der
Bank nicht hinausdrängen zu lassen, im Interesse seiner Gesundheit auf
geben sollte, und traf eine Vereinbarung mit seinem Arbeitgeber, die eine
längere Freistellung bei Fortzahlung der Bezüge und die Aussicht enthielt,
in eine Beschäftigungsgesellschaft aufgenommen zu werden. Auf diese
Weise verschwamm jedoch auch die Vorstellung eines Jenseits der Kran
kenrolle. Er zog sich in die Einsamkeit zurück, seine Depressionen führten
zu einer Antriebslosigkeit und zu dem Gefühl, quasi als Kind noch einmal
neu anfangen zu müssen.
Frau P, Kassiererin im Supermarkt, hat ein Selbstbild entwickelt, in
dessen Zentrum eine seit der Kindheit chronische Depression steht. Die
Krankheit erscheint deshalb nicht mehr als eine Ausnahmesituation, son
dern als das Zentrum der Identität. »Meine Geschichte« (eine Formulie
rung, die sich auch bei Frau I findet, einem in dieser Hinsicht ähnlichen
Fall) wird für sie zu einer Art lebenslänglichem Untersuchungsgegenstand;
sie versucht, sich zu verstehen und die Tragödie ihres Lebens – ihre Un
sicherheit, Minderwertigkeitsgefühle, ihr Gefühl der Überflüssigkeit und
114
Krankenrolle und Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen
der wiederkehrenden Ablehnung – sich und anderen, insbesondere Thera
peuten, die mit ihr über sie nachdenken, zu verdeutlichen. Auf diese Weise
gibt gerade ihre Krankheit ihrem Leben einen Sinn. Umso schwieriger ist
es, sich eine Identität nach einer Heilung vorzustellen.
Bei Herrn Q, Marktforscher, werden die Beendigung der Krankenrolle
und die Rückkehr in die Arbeit durch ohnehin vorhandene, aber durch
die Erkrankung massiv verstärkte Anzeichen einer Sozialphobie unmög
lich gemacht. Er entwickelt eine ausgeprägte Angst vor einer Rückkehr in
die Arbeitsumgebung, insbesondere zu seinem Chef. Aber wegen seiner
Verunsicherung traut er sich auch nicht zu, einen Arbeitgeberwechsel zu
bewältigen. Er fürchtet, erneut zu scheitern. Hier macht das Leben nach
der Krankheit Angst und erscheint unerreichbar.
In den Aufsätzen von Andreas Samus sowie von Rolf Haubl und Ute
Engelbach über die Probleme des Übergangs nach dem Klinikaufenthalt
wird ausführlicher dargestellt, dass die Schwierigkeiten der Zeit nach dem
Klinikaufenthalt in den Therapien nicht bedacht werden. Man gewinnt
häufig den Eindruck eines »Antherapierens«. Das ist weniger ein Defizit
der Therapien oder der Therapeuten selbst, sondern der Organisation des
Versorgungssystems, in dem die Zuständigkeiten der einzelnen Akteure
an ihren Organisations und institutionalisierten Aufgabengrenzen enden.
Diese Konzentration auf die Zeit des Patienten in der Klinik trägt, wie sich
zeigt, häufig dazu bei, die Krankenrolle auf Dauer zu stellen.
5. Resümee
Psychische Krankheiten sind, so können wir resümieren, nicht angemessen
mit dem klassischen Konzept der Krankenrolle zu erfassen. Ohnehin ge
rät die Krankenrolle in den verschiedenen Dimensionen der Entgrenzung
der Arbeit unter Druck. Wie viele chronische somatische Krankheiten, so
werden auch psychische Krankheiten oft als solche wahrgenommen, die
nicht endgültig ausheilen. Zudem sind psychische Erkrankungen nicht
mit eindeutig erkennbaren Symptomen belegbar. Daraus resultieren große
Schwierigkeiten, die Beschäftigtenrolle zugunsten der Krankenrolle auszu
setzen.
Für die Betroffenen ergibt sich hieraus das Dilemma, dass sie dem Ver
dacht des Simulantentums mit offensiver Information begegnen können,
115
Stephan Voswinkel
damit aber der Gefahr der Stigmatisierung wegen angenommener Persönlichkeitsdefizite ausgesetzt sind. Die Kommunikation über ihre Krankheit
und die Diagnose wird daher, gerade auch gegenüber Firma und Kollegen,
zu einem heiklen Problem. Wir konnten zwei entgegengesetzte Formen
der Stigmabearbeitung identifizieren: In der einen versuchen Betroffene,
ihre Erkrankung zu normalisieren, indem sie diese als normale, weitver
breitete Krankheit verstehen oder die somatischen Aspekte in den Vorder
grund rücken. In der anderen Form stigmatisieren sie sich selbst und inte
grieren die Krankheit oder die als Ursache angesehenen Lebensschicksale
in ihre Identität. Manchmal geht dies in eine Selbstcharismatisierung über,
die ihnen einen spezifischen Krankheitsgewinn wegen ihres Opfer oder
Mahnerstatus vermittelt.
Schließlich ist es oft ein Bestandteil der Krankheit selbst, dass die Be
troffenen nicht in der Lage sind, zu einer Beendigung der Krankheit bei
tragen zu wollen, wie es die Konzeption der Krankenrolle fordert – sei es,
dass eine Depression mit Antriebs und Mutlosigkeit verbunden ist, sei es,
dass die Betroffenen Ängste vor der Zeit nach der Krankheit und der Wie
deraufnahme der Arbeit entwickeln.
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118
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
Ute Engelbach und Rolf Haubl
Wer Erwerbsarbeit ausschließlich ökonomisch interpretiert, greift zu kurz.
In einer Erwerbsarbeitsgesellschaft, wie es moderne Gesellschaften sind,
kommt eine Reihe von psychosozialen Funktionen hinzu. Wir nennen
fünf: Erwerbsarbeit bietet erstens eine raum-zeitliche Strukturierung des
Alltags und gewährt dadurch einen basalen Halt. Zweitens ist sie das zentrale Medium soziokultureller Integration: Erwerbsarbeit zu haben vermittelt gesellschaftliche Anerkennung und Zugehörigkeit, einschließlich der
Zuweisung eines Status. Ohne Erwerbsarbeit zu sein birgt die Gefahr eines
Verlustes an Partizipationschancen, der bis zu einem dauerhaften sozialen
Ausschluss führen kann. Identitätsstiftung ist eine dritte psychosoziale
Funktion: Gesellschaftsmitglieder definieren sich über die Erwerbsarbeit,
die sie leisten. Im Vergleich mit anderen hilft sie ihnen, zu wissen und zu
fühlen, wer sie sind. Viertens bietet Erwerbsarbeit vielfältige Chancen, sich
selbst zu verwirklichen, mithin Fähigkeiten zu erwerben und einzusetzen,
die das Bedürfnis befriedigen, sich ständig weiterzuentwickeln.
In psychodynamischer Perspektive ist es die fünfte Funktion, auf die
wir hier besonderes Augenmerk richten wollen. In Ermangelung eines
besseren Begriffs sprechen wir von der Funktion der Selbstheilung durch
Erwerbsarbeit, wobei wir annehmen, dass diese primär unbewusst erfolgt,
aber zu Bewusstsein gebracht werden kann, sodass sie anschließend eine
bewusste Suche nach Arbeitsbedingungen motiviert, die sie optimal er
füllt.
So gesehen ist damit zu rechnen, dass Menschen die Wahl ihrer Er
werbsarbeit immer auch danach ausrichten, wie weit sie von ihr eine Be
lohnung erhoffen, die in einem signifikanten Beitrag zu ihrer psychischen
Stabilität besteht. Zufrieden wären sie mit ihrer Arbeit dann, wenn sie in
119
Ute Engelbach und Rolf Haubl
diesem Sinne belohnend wäre. Andernfalls entstünde Unzufriedenheit, die
dazu führen würde, sich nach einer Arbeit umzusehen, die eine größere
Belohnung bereithält.
1. Individuelle lebensgeschichtlich motivierte Gratifikationen
Folgt man der Theorie der Gratifikationskrise (vgl. Siegrist/Dragano 2008),
dann nimmt die Gefahr einer krankheitswertigen psychischen Überforde
rung und anschließenden Überlastung zu, wenn die Diskrepanz zwischen
den Verausgabungen am Arbeitsplatz und den Gratifikationen, die es dafür
gibt, zunimmt und sich auf hohem Niveau verstetigt.
Die Gratifikationen, die Arbeitnehmer mit ihren Verausgabungen ab
gleichen, können sehr verschiedener Art sein: Geld, Entscheidungsspiel
räume, Arbeitszeitsouveränität, Aufstiegschancen und andere mehr. Zwar
werden die meisten Gratifikationen solche sein, die alle oder die meisten
Arbeitnehmer ähnlich belohnend erleben. Darüber hinaus gibt es aber
höchst individuelle Belohnungen, die das Modell der Gratifikationskrisen
nicht erfasst. Sie verweisen auf die Lebensgeschichte der Arbeitnehmer und
entstammen deren Bedürfnis nach Selbstheilung.
2. Erwerbsarbeit als Resilienzfaktor
Die Patienten, die wir in unserem Projekt getroffen und ein Stück ihres
Weges begleitet haben, legen die Abduktion eines Modells nahe, das Selbst
heilung als ein Ringen um die Bewältigung von psychostrukturellen Ver
letzungen begreift, die lebensgeschichtlich entstanden sind.
2.1 Vulnerabilität
Jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens eine Vielzahl von Entwicklungs
aufgaben zu bewältigen, die für seine soziokulturelle Lebenswelt typisch
sind. Misslingt deren Bewältigung, bleiben unbewältigte Traumata und
Konflikte zurück, die sich zu einer individuellen Vulnerabilität verdichten.
Das heißt: Es entstehen psychostrukturelle Verletzungen, die mehr oder
weniger gut vernarbt sind und deshalb auch mehr oder weniger leicht er
120
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
neut aufbrechen können. Wer generell oder – was häufiger der Fall sein
dürfte – nur in einer bestimmten Hinsicht vulnerabel ist, besitzt eine
Schwachstelle, die eine eingeschränkte psychosoziale Belastbarkeit zur
Folge hat. Wird die Belastungsgrenze überschritten, hängt es von den ver
fügbaren Ressourcen ab, wie lange der Status quo noch aufrechterhalten
werden kann.
2.2 Ressourcen
Um ihre Schwachstellen zu entschärfen, bemühen sich Menschen, an Res
sourcen – emotionale, kognitive und praktische – zu gelangen, die dies leis
ten. Zu diesen Ressourcen rechnen wir auch die Erwerbsarbeit aufgrund
ihrer oben genannten Funktionen. Psychisch stabilisierend wirkt sie vor
allem dann, wenn sie es einer Person ermöglicht, die Bewältigung ihrer
unbewältigten Traumata und Konflikte weiter voranzubringen, zumindest
aber zu verhindern, dass sich diese in krankheitswertigen Symptomen ma
nifestieren, die eine zufriedenstellende Lebensführung einschränken oder
gar verunmöglichen.
2.3 Krise
Fallen Ressourcen weg, wird ein sich selbst verstärkender Prozess wahr
scheinlich: Schwindende Ressourcen reduzieren die Belastbarkeit, und ver
minderte Belastbarkeit zehrt die restlichen Ressourcen weiter auf. Zu den
markanten Anzeichen einer Krise des Arbeitslebens gehört die Erfahrung,
dass Arbeitsroutinen versagen. Statt den Arbeitnehmer zu entlasten, erhö
hen sie seine Belastung bis hin zu seiner Überlastung. Solange die Krise
anhält, ist der Ausgang offen: Um sie beizulegen, bedarf es einer Verbes
serung der verfügbaren Ressourcenausstattung, was im Hinblick auf Er
werbsarbeit heißt, Arbeitsbedingungen zu finden oder herzustellen, die die
Selbstheilungschancen verbessern.
2.4 De-Stabilisierung
Können die Belastungen nicht hinreichend verringert werden, resultiert
eine dauerhafte Überlastung, die vielleicht noch eine gewisse Zeit ertragen
werden kann, bis schließlich die psychosomatische Organisation einer be
121
Ute Engelbach und Rolf Haubl
troffenen Person zusammenbricht. Meist geht ein solcher Zusammenbruch
mit Ohnmachtsgefühlen einher, welche die Situation ausweglos erscheinen
lassen. Dazu gehört die tiefe Verunsicherung, sich die eigene Befindlichkeit
nicht überzeugend erklären zu können. Sich selbst fremd geworden, steigt
die Bereitschaft, nach schnellen Erklärungen zu suchen, was oft dazu führt,
sich in einer Vielzahl von Erklärungen zu verstricken, die sich lebenswelt
lich bieten. Spätestens an diesem Punkt hilft das Laiensystem mit seinen
Erklärungen nicht weiter. Die DeStabilisierung ist therapiebedürftig ge
worden.
2.5 Professionelle Re-Stabilisierung
Das Expertensystem wird zu Hilfe geholt, wenn es anderweitig zu keiner
ReStabilisierung kommt. Diagnose und Therapie bieten einer psychoso
matisch erkrankten Person die fehlende Orientierung, indem sie sie – ideal
typisch – mit überzeugenden Erklärungen darüber versorgt, was Ursache
und Auslöser ihres Zusammenbruchs sind. Hinzu kommt eine Stärkung
ihres Gefühls der Selbstwirksamkeit. Freilich immer ohne Garantie. Eine
professionelle ReStabilisierung kann mit ambulanten, stationären oder
teilstationären Therapieangeboten beginnen, nachhaltig wird sie aber nur
dann sein, wenn der Patient die institutionelle Hilfe in Selbsthilfe über
setzt. Erwerbsbiographisch heißt dies, Chancen und Risiken der aktuellen
Erwerbsarbeit auszuloten, um sie so gesundheitsförderlich wie möglich zu
gestalten. Erfolg wird dies freilich nur dann haben, wenn Arbeitgeber ihre
Arbeitnehmer darin unterstützen.
3. Fallauswahl
Im Folgenden stellen wir vier in Ausschnitten rekonstruierte Krankenge
schichten vor. Sie sollen exemplarisch plausibel machen, dass es die subjek
tive Bedeutung der Arbeit im Sinne eines unbewussten Motivs der Selbst
heilung ist, die zur Wahl einer bestimmten beruflichen Tätigkeit führt, die
so lange vor einer psychischen DeStabilisierung schützt, wie sie ausgeübt
werden kann, aber einen Zusammenbruch der psychosomatischen Organi
sation einleitet, sobald dieser Schutz wegfällt.
122
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
Herr B
Herr B ist ein Angestellter mittleren Alters, der sieben Mitarbeiter unter
sich hat; zum zweiten Mal verheiratet, eine Tochter. Das Arbeitsklima in
seiner Firma beschreibt er als schwierig: Schlechte Zahlen, Verzögerungen
und sonstige Misserfolge des Unternehmens werden teilweise seiner Ver
antwortung zugeschrieben. Die Vorgesetzten machen Druck, die Verkäu
fer wollen alles immer schneller haben. Insbesondere der Qualitätsmanager
falle Herrn B in den Rücken, schwärze ihn beim Chef an. Die Arbeit mache
ihm keinen Spaß, Anerkennung erfahre er kaum, Verbesserungsvorschläge
würden ohne Begründung abgelehnt. Hinter seinem Rücken werde über
ihn geredet. Wegen dieser unerträglichen Situation hat er sich bereits nach
anderen Stellen umgesehen.
Herr B kämpft schon fast sein ganzes Leben lang mit Depressionen. Die
derzeitigen Arbeitsbedingungen verstärken seine Beschwerden. Er beklagt
eine zunehmend lähmende Inaktivität. Hat er zeitweise einen Ausgleich
im Fitnessstudio gefunden, so hilft ihm diese Maßnahme auch nicht mehr.
Es sei aber keine körperliche Ermüdung, an der er leide, sondern eine psy
chische. Herr B berichtet von Panikattacken, die es ihm erschweren, das
Haus zu verlassen. Er beschreibt ein Gefühl, sein Gehirn nicht richtig ab
schalten, nicht loslassen und einschlafen zu können. Zwar ist er bereits in
ambulanter Therapie bei einer Psychologin, was ihm aber nicht reicht. Des
halb macht er einen Anlauf, einen Klinikaufenthalt zu erhalten. Auf Bitten
seiner Kollegen sei er aber weiter arbeiten gegangen. Inzwischen fehle ihm
dazu aber jegliche Kraft.
Herr B wurde im Alter von vier Jahren adoptiert. Sein Adoptivvater
war für einige Jahre in den USA und hat diese Zeit als sehr positiv in Er
innerung behalten. Herr B glaubt, seine Adoptiveltern hätten sich für ihn
entschieden, weil er amerikanisch aussehe. Vor seiner Adoption war er bei
anderen Pflegefamilien gewesen, bei denen es ihm nicht gut ging. Stark
unterernährt und unter Rachitis leidend, war er zunächst in ein Kranken
haus gekommen und schließlich in ein Kinderheim gegeben worden. Die
Zeit in diesem Heim sei schrecklich gewesen, er habe wiederholt seinen
Kopf gegen die Wand geschlagen, sei ans Bett gefesselt worden.
Seine leibliche Mutter hatte sieben Kinder von verschiedenen Män
nern. Oft sind diese Männer amerikanische Soldaten gewesen. Auch sein
leiblicher Vater ist Amerikaner. Aus den Jugendamtsunterlagen wisse er,
dass seine leibliche Mutter wegen »Unzucht« im Gefängnis gesessen habe.
123
Ute Engelbach und Rolf Haubl
Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie gibt es keinen. Seine leibliche Mutter
habe ihn nie sehen wollen.
Das Verhältnis zu seiner Adoptivfamilie beschreibt Herr B als schwie
rig. Es gibt einen zwei Jahre älteren Adoptivbruder, auf den sich alle Auf
merksamkeit richte, weil er extravertiert und hochbegabt sei. Im Unter
schied zu ihm erlebt sich Herr B als introvertiert und in der Familie wenig
beachtet.
Seine Adoptivfamilie beschreibt er als strenggläubig. Herr B erinnert,
von beiden Eltern geprügelt worden zu sein. Vor allem sein Adoptivater sei
sehr hartherzig gewesen. Er habe hohe Ansprüche an ihn gestellt und Feh
ler nicht nachgesehen, sondern sofort schwer bestraft. Offenbar hat sich die
Beziehung zu ihm erst gebessert, nachdem Herr B ausgezogen ist. Heute,
so betont er, würden sie sich gut verstehen.
Herr B hält sich für melancholisch. Melancholie habe er, laut seinen
Eltern, schon seit seiner Kindheit. Irgendwo hingesetzt, sei er für mehre
re Stunden nicht aufgefallen. Überhaupt sei er nie aufgefallen. Und das
nicht nur im Vergleich mit dem Adoptivbruder. Er glaubt, seine Adoptiv
eltern hätten »deswegen« noch ein weiteres Kind adoptiert. Sie entscheiden
sich für eine fünf Jahre jüngere, leicht körperlich und geistig behinderte
Adoptivtochter. Seinen ersten depressiven Schub datiert Herr B auf den
Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die Familie, was wohl als Ausdruck einer
narzisstischen Kränkung verstanden werden darf.
Muss er bis dahin auf dem Gymnasium ein ganz guter Schüler gewesen
sein, so lassen nunmehr seine schulischen Leistungen nach. Es kommt zu
Schwänzen und gelegentlichen Schlägereien. Mit Beginn der Pubertät wird
er immer aggressiver.
Herr B geht mit dem Hauptschulabschluss von der Schule ab und ab
solviert eine Lehre als Einzelhandelskaufmann. Danach arbeitet er bei den
USStreitkräften als Militärpolizist. Offensichtlich bekommt er durch diese
Tätigkeit seine Aggressionen besser in den Griff. Herr B spricht von seinem
»Lieblingsjob«. Als Grund gibt er an, er habe mit Menschen zu tun ge
habt, habe seine Arbeitszeit selbst gestalten können und vor allem großen
Respekt erfahren. Besonders wichtig sei ihm gewesen, »als Polizist dort viel
Macht« gehabt zu haben.
Im gleichen Atemzug beschreibt er die USAmerikaner im Vergleich
mit Deutschen als freundlicher, offener und innovativer. Spürbar ist sein
Wunsch, in die USA auszuwandern, ein USAmerikaner zu werden. Da
124
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
seine jetzige wie auch seine erste Ehefrau nicht mitgezogen haben, gibt er
seinen Traum auf. Und nicht nur das: Seine erste Frau hat sogar durchgesetzt, dass er seine Tätigkeit als US-amerikanischer Militärpolizist aufgibt,
vordergründig wegen seiner Schichtarbeit, er vermutet aber eine generelle
Ablehnung seiner Identifikation mit der USamerikanischen Kultur.
In der Folge übernimmt er verschiedene Tätigkeiten, die aber meist nur
zwei bis drei Jahre dauern. Er fühlt sich getrieben. Schließlich unternimmt
Herr B einen Suizidversuch, der ihn in stationäre Behandlung bringt. Nach
seiner Entlassung hat er wiederum wechselnde Tätigkeiten, bis er zu sei
nem jetzigen Arbeitgeber kommt, wo er bleibt, obwohl das Arbeitsklima
schwierig ist.
Seitdem er die USStreitkräfte verlassen hat, kommt er nicht mehr zur
Ruhe. Er wird von traumatisierenden Bildern verfolgt, in denen er einem
gewalttätigen Vater ohnmächtig ausgeliefert erscheint, gepaart mit dem
Wunsch, selbst diese Position zu übernehmen und sich für alle erlittene
Schmach zu rächen.
In puncto Selbstheilung erscheint die Zeit bei den USStreitkräften von
großer subjektiver Bedeutung. Es ist die stabilste Phase des Patienten, so
wohl psychisch als auch, was die Dauer seines Arbeitsverhältnisses betrifft.
Mag sein, dass ihm der legitime Waffenbesitz als Militärpolizist ein hin
reichendes Sicherheitsgefühl vermittelt hat, und zwar zweifach: zum einen
als Gefühl, nicht ohnmächtig zu sein, sondern sich gegen Angriffe anderer
verteidigen zu können, zum anderen aber auch als Gefühl, selbst angreifen
zu können, besser: es selbst in der Hand zu haben, wie er mit seiner Waffen
gewalt umgeht. Lebensgeschichtliches Zentralthema sind folglich, so darf
vermutet werden, die Aggressionskontrolle und die Angst vor Kontrollver
lust.
Geht man davon aus, dass sich Herr B durch seine berufliche Tätigkeit
als Militärpolizist psychisch stabilisiert hat, ist nachvollziehbar, dass es zu
einer Dekompensation kommt, als er gedrängt wird, diese Tätigkeit aufzu
geben. Denn nun fehlt ihm der legitime Rahmen für seine Aggressionen.
Herr B kann sich generell, besonders aber seiner selbst nicht mehr sicher
sein.
So imponiert während der stationären Behandlung ein grassierendes
Erleben allseitiger Bedrohung, das deutliche paranoide Züge trägt. Es
gibt keine harmlosen zwischenmenschlichen Begegnungen mehr. Jeder
zeit kann die Abwehr von Aggressionen, mit der sich Herr B hinlängliche
125
Ute Engelbach und Rolf Haubl
Sicherheit verschafft, zusammenbrechen. Dann tritt sie offen zutage und
richtet sich nicht nur gegen andere, sondern auch gegen die eigene Person.
Dass Herr B psychisch erschöpft ist, rührt nicht zuletzt daher, dass er alle
seine Kräfte benötigt, um sich von seiner Wut nicht fortreißen zu lassen.
Wenn er betont, dass er »keinen Stand in der Gesellschaft« hat, dann
gilt dies auch für seinen Stand in der Herkunftsfamilie. Lebenslang kommt
er sich minderwertig vor, weil ihm die anderen, wie er es erlebt, Achtung
und Beachtung verweigern. Vor diesem Hintergrund ist die Waffe, die er
als Militärpolizist getragen hat, das dingliche Symbol der Option, die sozia
le Resonanz, die er vermisst, gegebenenfalls zu erzwingen.
Herr B kennt den USAmerikaner, der sein leiblicher Vater ist, nicht.
Er weiß nur, dass er ebenfalls bei den USStreitkräften beschäftigt war. So
gesehen mag man vermuten, dass Herr B die unbewusste Phantasie entwi
ckelt hat, sein abwesender leiblicher Vater sei ein starker Vater, der ihn vor
seinem anwesenden Adoptivvater hätte schützen können. Mit ihm möch
te er sich identifizieren. Die Waffe, die Herr B einst führte, war mit der
Durchschlagskraft dieser Vaterimago geladen. Sie abzugeben erschüttert
ihn.
Ein Grund könnte sein, dass sich Herr B einer Enttäuschung bewusst
wird, die er lange durch die Idealisierung des leiblichen Vaters unbewusst
gehalten hat. Denn enttäuscht muss er sein, hat ihn dieser vermeintlich
starke Vater doch nicht geschützt, sondern seinen Sohn einem kränkenden
Schicksal überlassen. Entweder war sein leiblicher Vater gar nicht so ideal,
oder dieser hat ihm ein Selbstbild vermittelt, das ihn glauben machen
musste, tatsächlich minderwertig zu sein.
Herr N
Herr N ist Altenpfleger mittleren Alters, verheiratet, keine Kinder. Er arbei
tet seit einem Jahr für einen ambulanten Pflegedienst, der es erlaubt, sich
viel Zeit für seine Pflegebedürftigen zu nehmen. Lediglich der Schicht
dienst und die Bereitschaftszeiten werden beiläufig kritisch angemerkt. Im
Grunde verstehe er sich mit seinen Kollegen und seinem Vorgesetzten sehr
gut. Sein Beruf hat ihm bislang große Freude bereitet. Wie Herr N be
schreibt, ist das seit einem halben Jahr anders.
Immer häufiger muss er plötzlich weinen, gefolgt von einer Traurigkeit
über seine Tränen. Hinzu kommen vermehrt Schlafstörungen mit nächt
lichen Essanfällen, die zu einer deutlichen Gewichtszunahme führen.
126
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
Herr N leidet an einer Adipositas. Seit Jahren quälen ihn Durchfälle ohne
somatische Ursache, die meist morgens und zuletzt immer öfter auftreten.
Insbesondere kurz bevor er zur Arbeit geht, wird ihm übel. Herr N erlebt
sich antriebslos. Auf Drängen seiner Ehefrau hat er sich seiner Hausärztin
anvertraut, die ein Burnout diagnostiziert, was ihm seinen Schilderungen
zufolge wie eine Offenbarung vorgekommen ist.
Die psychischen Symptome, die er nennt, sind überwiegend depressiv
getönt und lassen sich kaum eingrenzen: Existenzangst, Versagensgefühle,
Verlust von Freude, Schuld und Bestrafungsgefühle, Selbstvorwürfe, inne
re Unruhe, Entschlussunfähigkeit, das Gefühl von Wertlosigkeit, Energie
verlust, schnelle Ermüdung und Erschöpfung, erhöhte Reizbarkeit, Verlust
der Libido.
Hinzu kommt die belastende Vorstellung, beobachtet und kontrolliert
zu werden, wobei er sich aber distanzieren kann und sehr wohl weiß, dass
dieser Vorstellung keine realen Ereignisse zugrunde liegen.
Herr N verspürt Angst, etwas falsch zu machen, scheint völlig verunsi
chert. Mitunter bekommen seine Erzählungen eine paranoide Tendenz: So
sei es seitens des Arbeitgebers zwar durchaus erlaubt, während der Dienst
fahrten Raucherpausen einzulegen, er aber versteckte sich inzwischen,
wenn er rauchen wolle, in den hintersten Ecken, um nicht gesehen zu wer
den. Tauche ein Auto in der Farbe seines Arbeitgebers auf, werde er sofort
nervös. Die Vorstellung, beobachtet und kontrolliert zu werden, reiche bis
in die Privatsphäre. So traue er sich nicht einmal mehr, auf seinem Balkon
zu rauchen, weil ihn ja auch dort jemand dabei sehen könnte.
Herr N berichtet von einer schönen Kindheit auf dem Land in der ehe
maligen DDR. Er skizziert eine Idylle, in der er sich behütet gefühlt hat.
Seine Familie beschreibt er als durchweg positiv. Die Mutter sei eine liebe
Frau, die immer versucht habe, das Beste für die Familie zu erreichen, hilfs
bereit und rücksichtsvoll. Sein Vater sei »preußisch«: ordentlich, zuverlässig
und pünktlich, fleißig bis zum Umfallen. Von ihm habe er immer Unter
stützung erhalten. Mit seiner vier Jahre jüngeren Schwester verstehe er sich
ebenfalls gut. Seiner Familie sei es immer ein Anliegen gewesen, sich nach
außen hin so unauffällig wie möglich zu verhalten.
Nach der Realschule war Herr N wohl eine Zeit lang orientierungslos,
was er dem Zeitgeist der neu erlangten Freiheit nach der Wiedervereini
gung zuschreibt. So hat er eine Ausbildung zum Datenverarbeitungskauf
mann begonnen und nach einem Jahr schon wieder abgebrochen. Eigent
127
Ute Engelbach und Rolf Haubl
lich will er zur Polizei, aber dort gibt es nach bestandener Aufnahme eine
Wartezeit von einem Jahr. Um nicht zu Hause herumzusitzen, absolvierte
er ein Ökologisches Jahr auf einem Bauernhof, während dessen er sich zwar
ausgenutzt fühlte, das »aber trotzdem nicht schlecht« war. Anschließend
ist er ins Ausland gegangen, zunächst für zwei Wochen, dann länger, um
dort zu arbeiten: anfangs in einem Restaurant, dann als Fahrdienst für
eine kommunale Einrichtung für ältere Menschen, schließlich kurzfristig
in einem Musikladen. Auf Bitten von Freunden und Familie kehrt er aus
dem Ausland zurück.
Inzwischen hat er das Interesse an der Polizei verloren. Stattdessen
macht er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann für Lebensmittel.
Aber auch diese Wahl hat keinen Bestand. Und so bewirbt sich Herr N bei
der Bundesmarine. Aber auch dort hat er nach einem erfolgreichen Eig
nungstest mit langen Wartezeiten zu rechnen. Deshalb beginnt er eine Aus
bildung zum Krankenpfleger, die er aber ebenfalls nicht abschließt. In den
folgenden Jahren arbeitet er ohne Abschluss in ambulanten Pflegediensten
und als Pfleghelfer im Heim. Später entschließt er sich zu einer Ausbildung
als examinierter Altenpfleger, die er dann auch zu Ende bringt.
Sucht man nach psychodynamischen Konfliktmustern, die sich in der
aufgelisteten Vielzahl von Symptomen manifestieren und die ihn letztlich
in die Klinik gebracht haben, dann ist ein Versorgungskonflikt wahrschein
lich, der ihn dazu gebracht hat, sich in seinen pflegerischen Tätigkeiten bis
zur Erschöpfung zu verausgaben. Eine solche altruistische Grundhaltung
führt nicht selten zur Berufswahl eines helfenden Berufes. Herr N selbst
spricht von einem »Helfersyndrom«. So gesehen wäre es seine eigene abge
wehrte Bedürftigkeit, die ihn dazu veranlasst, sich – vermeintlich – selbst
los für andere einzusetzen. Indem er sich ständig vergewissert, gebraucht
zu werden, stabilisiert er sich. Herr N, der in einer schier endlosen Suchbe
wegung durch sein Leben »surft«, gewinnt endlich Halt und Orientierung.
Warum aber kommt es zu einer Dekompensation?
Auffallend ist in der Berufsbiographie von Herrn N der Kontrast zwi
schen der Zeit vor seiner Ausbildung zum examinierten Altenpfleger, in
der er ohne Examen zehn Jahre lang relativ selbstständig, zugleich einge
bunden in eine Institution, erfolgreich tätig war, und der Zeit nach seinem
Examen. Soweit sich das rekonstruieren lässt, erlebt Herr N seine Arbeit
ohne Examen vergleichsweise entspannt, da er sich jederzeit auf seinen for
malen Status als Nichtexaminierter berufen kann, der ihm in kritischen
128
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
Situationen – seiner Wahrnehmung nach – die Übernahme einer vollen
Verantwortung erspart.
Herr N beschreibt, dass er im zweiten Ausbildungsjahr eine Verände
rung an sich bemerkt hat, die er selbst mit seinem Statuswechsel verbin
det. Zunehmend sieht er in den Pflegebedürftigen nicht mehr Menschen,
sondern Arbeitsgegenstände: »wie eine Arbeit halt und nicht wie eben
Menschen«. Dagegen scheint er sich innerlich zu wehren, denn er berichtet
zugleich, dass es ihm inzwischen schwerfällt, nach getaner Arbeit abzu
schalten.
Überraschenderweise verliert Herr N mit zunehmender Professionali
sierung an Distanz, wo doch Professionalisierung auf die Fähigkeit ange
legt ist, sich situationsgerecht distanzieren zu können.
Herr N beschreibt seinen Statuswechsel metaphorisch: »vom Stein zum
Schwamm«. Was mag er mit diesem rätselhaften Bild wohl meinen?
Als Professioneller wird von ihm erwartet, abstinent zu sein, was heißt:
auf die vorrangige Befriedigung eigener Bedürftigkeit zu verzichten, weil
dies als Missbrauch gilt. Versteht man Professionalisierung nicht zuletzt als
eine Zunahme an Bewusstheit über die Psychodynamik der Arbeitsbezie
hungen, dann wird Herr N durch sein Zertifikat auf das Ethos der Absti
nenz verpflichtet. Er kann nun nicht mehr so tun, als wüsste er von dieser
Psychodynamik nichts. Die Metapher des Steines ist so gesehen ein Bild
für seine scharfe Abgrenzung gegenüber den Pflegebedürftigen. Anders ge
wendet: Herr N ahnt, dass er deren Pflege für seine eigene Stabilisierung
benötigt, genau diese Einsicht muss er aber abwehren. Kommt ihm die
latente subjektive Bedeutung seiner Tätigkeit zu Bewusstsein, riskiert er
eine DeStabilisierung.
Wenn sich Herr N nach seiner Zertifizierung metaphorisch als Schwamm
beschreibt, wählt er ein Bild, das auf die bedrohliche Einsicht verweist: Er ist
wie ein Schwamm, der die Zuwendungen der Pflegebedürftigen aufsaugt,
so eigennützig aber nicht sein darf, will er ein professioneller Altenpfleger
sein. Als solcher wird er von Vorgesetzten, Kollegen und der Öffentlichkeit
beobachtet und kontrolliert, ob er diesen Standard einhält.
Wenn Herr N paranoide Tendenzen zeigt, dann deshalb, weil er fürch
tet, man werde herausfinden, dass es seine eigenen Bedürfnisse sind, die
er uneingestanden, vielleicht sogar unbewusst in seiner Arbeit befriedigt.
Und es erschöpft ihn, seine eigene Bedürftigkeit vor anderen und vor sich
selbst zu verbergen.
129
Ute Engelbach und Rolf Haubl
Herr R
Seine Krankengeschichte beginnt, als er mit schweren Herzrhythmusstörungen, die ihn sehr ängstigen, in die Notaufnahme kommt. Die Klinikärzte machen sich auf die Suche nach somatischen Ursachen und empfehlen ihm letztlich, sich einen Event-/Loop-Recorder implantieren zu lassen,
der ein kontinuierliches EKG schreibt. Offenbar greift die Maßnahme: Die
Messungen bleiben ohne Befund, es tritt keine weitere Synkope auf, und
Herr R ist beruhigt.
Herr R ist mittleren Alters und in einem großen Unternehmen mit et
lichen Standorten für Arbeits und Brandschutz zuständig. Er nimmt seine
Aufgabe sehr ernst, nennt sie sogar eine »Herzensangelegenheit«. Konkret
hat er Sicherheitsstandards zu prüfen und dafür zu sorgen, dass entdeckte
Mängel behoben werden.
In einer kardiologischen Reha, die er in sieben Wochen durchläuft, hat
er Gelegenheit, ein paar psychotherapeutische Gespräche zu führen. Sie
legen ihm nahe, dass seine Symptome womöglich psychische Ursachen ha
ben, zumal nach Verflüchtigung der Herzbeschwerden eine depressive Ver
stimmung bleibt, die bis vor deren erstes Auftreten zurückreicht. Deshalb
bemüht er sich nach der Entlassung aus der kardiologischen Reha um eine
ambulante Psychotherapie.
Probesitzungen bei einer tiefenpsychologischen Psychotherapeutin sa
gen ihm nicht zu, weshalb er eine Verhaltenstherapie beginnt, von der er
anscheinend profitiert. Dennoch kann sie eine zunehmende Erschöpfung
nicht verhindern, sodass Herr R eine psychosomatische Tagesklinik auf
sucht, in der er die Überzeugung gewinnt, sich intensiver mit seinem In
nenleben auseinandersetzen zu müssen. Und so denkt er bereits über das
Ende des teilstationären Aufenthalts hinaus an eine Psychoanalyse, die er
dann anschließen will.
Seiner eigenen Ursachenforschung zufolge deutet er seine Krankenge
schichte als Burnout. Die letzten Jahre habe er zunehmend mehr gearbei
tet, bis keine Zeit mehr geblieben sei, sich zu erholen.
Sucht man in der Lebensgeschichte von Herrn R nach belastenden Er
eignissen, dann gibt es mehrere, die zusammengenommen als kumulatives
Trauma gewirkt haben könnten.
Als er vor zweiundzwanzig Jahren seine Stelle in dem Unternehmen an
trat, in dem er noch heute arbeitet, tat er dies, weil ihm versprochen worden
war, alsbald dem alten Chef seiner Abteilung nachzufolgen. Aus erwarteten
130
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
Monaten wurden acht Jahre, in denen er sich ständig vertrösten ließ. Er
nahm klaglos hin, übergangen zu werden. Denn statt seiner bekam schließlich ein Externer die Stelle. Für Herrn R zum Hohn sei ihm als Begrün
dung nicht nur seine Führungsfähigkeit abgesprochen worden, sondern
auch seine Belastbarkeit!
Liest man die Beschreibungen, die Herr R von seinen beiden aufeinan
derfolgenden Vorgesetzten gibt, fällt auf, dass er einerseits klaglos hin
nimmt, wie übel ihm mitgespielt wird, andererseits aber auch keine Ge
legenheit auslässt, die beiden für unmotiviert und unfähig zu erklären.
Genauso nimmt er auch einen gleichrangigen Kollegen wahr, mit dem
er seit Jahren das Büro teilt. Dieser Kollege sei pflichtvergessen und sabotie
re die Erfüllung ihrer gemeinsamen Aufgaben. Herr R sieht keine Möglich
keit, gegen ihn vorzugehen, zumal er dabei von seinen Vorgesetzten nicht
unterstützt werde, da diese ja genauso seien.
Damit sieht sich Herr R Menschen gegenüber, die ihm als das völlige
Gegenteil seiner selbst erscheinen – und dafür ungestraft blieben, was, so
lässt sich vermuten, seinen eigenen Lebensentwurf infrage stellt oder sogar
entwertet. Statt sich zu empören, verachtet er sie, springt aber zugleich für
sie ein: Da sie ihren Arbeits und Brandschutzaufgaben nicht nachkommen
würden, entstünden unkalkulierbare Gefahrenherde, die Herr R durch
eine Erhöhung seines Arbeitseinsatzes zu beseitigen sucht. Infolgedessen
häufen sich seine – unbezahlten – Überstunden, bis er vor Erschöpfung
seinen eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird.
Zeigt Herr R zeitlebens eine große Leistungsbereitschaft mit den daraus
folgenden Leistungserfolgen, so hängen diese Erfolge unter den skizzierten
Bedingungen davon ab, seine Bereitschaft immer weiter zu steigern. Sei
ne Entlastungsversuche folgen demselben Muster: Er betreibt seit Jahren
Leistungssport. Als AmateurRadrennfahrer powert er sich körperlich aus,
was ihn von seiner Arbeit ablenkt und ihm vermutlich zugleich Zugang zu
seinen Aggressionen verschafft, auf deren Hemmung er sonst bedacht ist.
Diese Bewältigungsressource verliert er, als ihn ein schwerer Radunfall aus
der Bahn wirft. Und mit ihr die sozialen Kontakte, die sich aus dem Sport
ergeben haben.
Generell ist Herr R sozial isoliert. War er seit Jahren Single, so hat er
vor nicht allzu langer Zeit eine Freundin gefunden, die bei ihm einzieht.
Indessen gestaltet sich das Zusammenleben schwierig. In seiner Sicht hält
sie, die wohl selbst gehörige Probleme hat, es auf Dauer nicht mit ihm und
131
Ute Engelbach und Rolf Haubl
seinen Problemen aus. Noch während er in der Tagesklinik ist, verlässt sie
ihn. Wie Herr R erzählt, stapeln sich in der Wohnung die Umzugskisten,
die sie nicht abholt und die auch er nicht wegschafft.
Dieser irritierende Umstand verweist auf ein generelles Muster. Herr R
ist unfähig, sich zu behaupten und sowohl seine Arbeit als auch sein Privat
leben bedürfnisgerecht zu gestalten. Stattdessen lässt er sich dominieren
und verleugnet seine Wut. Dass seine Passivität für andere provozierend
sein könnte und sie geradezu einlädt, ihn auszunutzen, realisiert er nicht.
Diese Haltung trägt narzisstische Züge. Er bekommt nicht, was er ver
dient, weil er nicht wagt, seine Verdienste einzuklagen, denn die werden
ihm dann vielleicht gar nicht als Verdienste angerechnet.
Diese Vermutung lässt sich durch einen lebensgeschichtlichen Rück
blick stützen: Herr R hat eine ein Jahr jüngere Schwester, die von Kindheit
an kränkelt und später an Multipler Sklerose erkrankt. Sie ist der Mittel
punkt der Sorge ihrer Eltern, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf sie rich
ten. Herr R nimmt sich demgegenüber ganz zurück, passt sich an und wird
ein braves Kind, das durch Leistungsbereitschaft und Leistungserfolge um
die elterliche Anerkennung buhlt. Diese Konstellation hat ihn vorderhand
genügsam und leise werden lassen, zugleich aber mit der Zeit schmerzlich
gelehrt, das Dulden auf die Dauer nicht glücklich macht.
Wie sehr Herr R einen Nachholbedarf an der Entdeckung und Be
friedigung vitaler Bedürfnisse hat, wird in der Tagesklinik deutlich. Nach
Anfangsschwierigkeiten kann er die Regression genießen, die ihm dort ge
boten wird. Sein Arzt erlebt ihn wie einen Jugendlichen.
Herr R sieht seiner Entlassung aus der Tagesklinik mit gemischten Ge
fühlen entgegen. So kann er sich nicht vorstellen, an seinen Arbeitsplatz
zurückzukehren, solange sich die Bedingungen nicht verändert haben.
Eine aktive Veränderung traut er sich jedoch nicht zu. Das Unternehmen
zu verlassen, fehlt ihm ebenfalls der Mut, da er sich nicht sicher ist, einen
gleichwertigen Ersatz zu finden.
Lässt man die rekonstruierte Krankengeschichte von Herrn R abschlie
ßend Revue passieren, dann erscheint seine Berufswahl durchaus als eine
Wahl mit hoher subjektiver Bedeutung, von der er allenfalls ahnt. Ist es
ihm eine Herzensangelegenheit, Arbeits und Brandschutzbestimmungen
durchzusetzen, dann darf als Hauptmotiv die Herstellung von Sicherheit
vermutet werden: Sicherheit, die er für andere, aber auch – biographisch ge
wendet – für sich selbst herzustellen sucht. Geht es um Sicherheitsmaßnah
132
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
men, die vor Gefahren am Arbeitsplatz, speziell vor Bränden schützen, dann
mag dies als symbolischer Ausdruck seiner innerpsychischen Verfasstheit
gedeutet werden: Brandschutz, so die Vermutung, bietet für Herrn R eine
besondere Gratifikation, weil er anhaltend damit befasst ist, sich selbst – um
im Bild zu bleiben – daran zu hindern, vor Wut zu entbrennen.
Herr W
Herr W ist jüngeren Alters und arbeitet als Ingenieur. Ihm obliegt es, elektri
sche Stellwerke und Signalsysteme zu planen. Die Arbeit befriedigt ihn. Und
er erledigt sie offenbar gut, wofür eine kürzlich erteilte Beförderung spricht.
Herr W stammt aus einem kleinen Dorf in Ostdeutschland. Dort hat
ten die Großeltern ein Haus gebaut, in dem er und seine zwei Jahre jünge
re Schwester aufgewachsen sind. Noch heute lebt sein Vater dort. Zu ihm
pflegt er eine enge Beziehung. So telefoniert er jeden Tag zu einem festen
Termin mit ihm und besucht ihn so oft wie möglich. Seine Mutter sieht er
seltener, da Vater und Mutter getrennt leben. Sie hat ihren Mann vor Jah
ren verlassen, da sie mit seiner wenig kommunikativen Art nicht zurecht
kam. Vater und Sohn sind sich darin wohl sehr ähnlich.
Herr W, gefragt, ob ihn die Trennung der Eltern belastet habe, verneint
dies. Da sie während seines Studiums stattfand, sei er schon zu alt gewesen,
um darunter zu leiden. Da er keine Beziehung zu einer Frau hat und wohl
auch noch nie hatte, liegt die psychodynamische Vermutung nahe, dass
er in Identifikation mit seinem verlassenen Vater besonders vorsichtig ist,
auch wenn er angibt, mit seinem Status als Single zufrieden zu sein und
sich keineswegs einsam zu fühlen.
Das Haus der Großeltern und Eltern ist für Herrn W seine Heimat und
bleibt es auch, nachdem er in die entfernte Großstadt gezogen ist, um dort
zu arbeiten. Er lebt in einem kleinen Appartement, das den Eindruck er
weckt, gar nicht Lebensmittelpunkt zu sein, zumal er auch seinem wich
tigsten Hobby, dem Reparieren von Spielautomaten in einem Verein von
Gleichgesinnten, am Herkunftsort nachgeht. Kam er bisher oft und gerne
in sein Dorf zurück, so hat sich die Situation nach und nach verändert, da
es zunehmend ausstirbt. Herr W konstatiert dies. Wie sehr es ihn berührt,
ist nur zu vermuten. Dass er sich Sorgen macht, diesen Ruhepunkt zu ver
lieren, kann man sich allerdings gut vorstellen.
Die Krankengeschichte von Herrn W beginnt mit schwerwiegenden
MagenDarmProblemen, die mit der Angst einhergehen, eine lebensbe
133
Ute Engelbach und Rolf Haubl
drohliche Krankheit zu haben, was ihn mehrfach in die Notaufnahme
führt. Auch fürchtet er, einen Schlaganfall zu bekommen. Diese Vorstellung versetzt ihn in Panik. Seine Versuche, sich mittels Informationen aus
dem Internet Klarheit zu verschaffen, schlagen fehl. Sie beunruhigen ihn
mehr, als dass sie ihn beruhigen.
In diesem Drama kommt ihm sein Hausarzt zu Hilfe. Als alle medizi
nischen Untersuchungen keinen somatischen Befund erbringen, bietet er
ihm die psychosomatische Hypothese einer stressbedingten Somatisierung
an: Zu viel Stress führt zu einer psychischen Überlastung, die sich in soma
tischen Symptomen äußert. Zusätzlich verschreibt er ihm ein Antidepres
sivum, das auch schlafregulierend wirkt, da der Patient schon immer unter
Schlafproblemen leidet, die sich jetzt verstärkt haben.
Die Erklärung wirkt wie ein Wunder. Und auch jetzt sichert sich
Herr W durch eine Internetrecherche ab. Das Stresskonzept leuchtet ihm
sofort ein, weil es eine einfache Handlungsanleitung parat hält: Stress ver
meiden! Und der Stress, der für ihn auf der Hand liegt, ist arbeitsbedingter
Stress.
Dass auch die Situation in seinem Vaterhaus ein Stressor sein könnte,
kommt nicht zum Tragen, ist aber psychodynamisch plausibel, da seine
Panikanfälle vermutlich erstmals dort stattgefunden haben. So schildert er
eine dramatische Szene, in der ihn sein Vater in die Notaufnahme bringt.
Nach seiner Arbeitsbiographie gefragt, skizziert Herr W seine Anstren
gungen, zu dem zu werden, was er heute ist. Bereits das duale Studium
der Elektrotechnik sei belastend gewesen. Und auch jetzt verlange ihm sei
ne Arbeit als erfahrener Signalingenieur sehr viel an Konzentration und
Nachdenken ab. Seine Erkrankung falle mit einer zunehmenden Arbeits
verdichtung zusammen, durch die er sich überfordert habe. Er habe seine
Planungsprozesse nicht mehr störungsfrei zu Ende bringen können und
dadurch folgenreiche Planungsfehler riskieren müssen.
Zwar trage dafür sein Arbeitgeber die Verantwortung, der sei aber
selbst daran interessiert, dass gute Arbeit geleistet wird. Erwartet man, dass
sich der Patient über die Anordnung permanenter Umplanungen empört,
so finden sich kaum Spuren von Kritik. So habe sein Chef schon von sich
aus darauf zu achten versucht, dass die Arbeitsverteilung zu keiner Über
forderung führt, deshalb seien auch weitere Mitarbeiter eingestellt worden.
Eher sieht Herr W das Problem bei sich: Er habe die Überforderung zu
spät bemerkt und deshalb nichts dagegen unternommen, obwohl es mög
134
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
lich gewesen wäre. Ganz in diesem Sinne reduziert er seine Arbeitszeiten,
noch bevor er der Empfehlung seines Hausarztes folgt, sich in eine psychosomatische Klinik zu begeben.
In der Klinik hält Herr W sich sechseinhalb Wochen auf, bevor er auf
eigenen Wunsch entlassen wird. Danach gefragt, ob ihm geholfen wor
den sei, gibt er eine Zunahme der Besserung an, die er bereits durch sei
ne Selbsttherapie eingeleitet habe. Was ihm geholfen habe? Die Distanz
zur Arbeit. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit seiner Innenwelt findet
nicht statt, wird von seinen Kliniktherapeuten aber auch nicht forciert.
Was Herr W anstrebt, ist die Entwicklung eines Frühwarnsystems, das
ihn erkennen lässt, wann ihm eine Überforderung droht, sodass er mittels
Entspannungsverfahren rechtzeitig gegensteuern kann. Hinzu kommt die
Vorstellung von einer veränderten Lebensführung, die der Vorbeugung
dient: Von sportlichen Betätigungen wie Radfahren über gesunde Ernäh
rung, ausreichend Schlaf, häufige Kurzurlaube und die Vermeidung von
zu starken Reizen bis hin zu autogenem Training zieht er alles ins Kalkül.
Dabei fällt auf, dass Herr W sehr technisch mit sich verfährt. Spontane
Erlebnisberichte gibt es nicht. Wo andere Personen direkt Stress erleben,
sucht er nach Hinweisreizen, die ihn auf Stress schließen lassen. Spricht
er von Warnsignalen, dann dürfte dies nicht zufällig sein, besteht doch
seine Arbeit als Signalingenieur genau darin, einen störungsfreien und
damit sicheren Bahnverkehr einzurichten und zu gewährleisten. Generell
behandelt Herr W Beziehungen als logistisches Problem, was seine Mit
menschen, vermutlich nicht erst in seinem Berufsleben, irritiert und ihn
schnell zum Außenseiter werden lässt.
Sein Hobby, Spielautomaten zu reparieren, weist in eine ähnliche
Richtung. Indem er sie repariert, setzt er deren Zufallsgenerator wieder
in Gang. Für jemanden wie ihn dürften Zufallsprozesse eigentlich eher
ängstigend sein, weil sie sich der Kontrolle entziehen. Sie wieder in Gang
zu setzen bezeugt dagegen seine technische Überlegenheit, was ihm seine
Angst nehmen mag.
Die Psychotherapeutin, die Herrn W in der Klinik behandelt hat, ver
mutet einen AspergerAutismus, was sie aber weder ihm mitteilt noch in
den Arztbrief schreibt. Zugleich ringt sie mit sich, ob sie ihn auf seine Auf
fälligkeiten ansprechen soll. Sie unterlässt es schließlich, weil sie nicht sicher
ist, ob sie ihn bis zum Ende des Klinikaufenthalts emotional erreicht. Hin
zu kommen behandlungsethische Bedenken: Ist es legitim, die Lebensfüh
135
Ute Engelbach und Rolf Haubl
rung eines Patienten zu problematisieren, wenn der keinen Leidensdruck
(mehr) hat?
Und in der Tat: Am Ende seines Klinikaufenthalts fühlt sich Herr W ge
nesen. Er kehrt mit reduzierter Arbeitszeit an seinen Arbeitsplatz zurück und
kann sich dort mithilfe seiner Techniken besser vor einer erneuten Überfor
derung schützen, zumal es den Anschein hat, dass der Arbeitgeber mitzieht.
Herr W hat sich wieder in die Obhut seines Hausarztes begeben und
allmählich sein Antidepressivum abgesetzt. Eine ambulante Psychothera
pie lehnt er ab, weil er befürchtet, sie werde Stress für ihn sein, wobei er
zu ahnen scheint, dass er sich dann in seine Innenwelt vertiefen müsste.
So begnügt er sich mit der Zuversicht, den psychotherapeutischen Prozess
jederzeit wieder fortführen zu können, wenn er es benötigt.
Herr W ist pragmatisch und minimalistisch. Er unternimmt nicht mehr,
als er muss, um seine geordnete Welt wiederherzustellen. Eine vertiefte Ein
sicht in die Psychodynamik seiner Lebensführung strebt er gar nicht an. Es
genügt ihm, über Techniken zu verfügen, die verhindern, dass seine Welt
in Unordnung gerät und er die Kontrolle verliert. Was genau er zu kontrol
lieren sucht, lässt sich schwer ausmachen, da er sich selbst nicht dafür inter
essiert. Es mögen Ängste sein, vielleicht auch Wut. Mehr als Spekulationen
erlaubt er aber (bisher) nicht. Sein Selbstheilungsversuch besteht in letzter
Konsequenz darin, sich Irritationen und Störungen vom Leib zu halten.
4. Erwerbsarbeit als diagnostischer und therapeutischer Fokus
Unterscheidet man im Leben von Patienten vereinfacht zwischen Erwerbs
arbeit und Nichtarbeit, dann schließen wir uns der Position an, die Chris
tophe Dejours (2012, S. 11 f.) vertritt:
»Die Hauptschwierigkeit auf der Ebene der Ursachenforschung besteht darin, den
Anteil dessen, was in der Ätiologie einer Dekompensation der Arbeit zuzuschrei
ben ist, abzuwägen gegenüber dem, was der Privatsphäre oder gar Intimsphäre
entstammt. […] Denn jene Ursachentrennung ist deswegen so schwer durchzu
führen, weil die Kategorien Arbeit und Nichtarbeit zwar materiell und räumlich
auseinanderfallen. Für das Seelenleben aber ist diese Trennung ohne Belang.«
Ist die Trennung ohne Belang, dann dürfen beide Ursachenfelder weder
theoretisch noch therapeutisch gegeneinander ausgespielt werden. Zwar
136
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
lässt sich der Fokus auf Nichtarbeit oder Erwerbsarbeit richten. Dabei darf
aber nicht vergessen werden, dass es ätiologisch immer um eine Wechselwirkung zwischen den beiden Feldern geht. Wurde dies in der Vergangenheit vernachlässigt, dann meist auf Kosten einer De-Thematisierung des
Beitrags, den die Erwerbsarbeit für psychische Gesundheit und Krankheit
hat.
Auch in dieser Hinsicht schließen wir uns der Position von Dejours
(ebd., S. 53) an und teilen seine Beobachtungen und seine Kritik:
»Nur allzu oft fehlt in den ärztlichen Unterlagen jeder Hinweis auf konkrete
Besonderheiten der ausgeübten Tätigkeit und auf den beruflichen Werdegang,
jede genauere Angabe über die subjektive Beziehung zur Arbeit und ihre Ent
wicklung – abgesehen von der knappen Erwähnung des gegenwärtig ausgeübten
Berufs auf dem Bogen mit den Verwaltungsangaben, sofern das überhaupt vor
gesehen ist. […] Abgesehen von besonderen Situationen, in denen Patienten ein
psychisches Leiden von vornherein spontan mit Arbeit in Verbindung bringen,
wirken die Betroffenen meist selbst daran mit, diesen Zusammenhang auszublen
den, da sie der Meinung sind, dass ihr Berufsleben ihren Arzt ›nichts angeht‹,
soweit nicht vorübergehende Auswirkungen ihres Gesundheitszustandes auf ihre
Arbeitsfähigkeit zu bewerten sind.«
Nimmt man diese Kritik ernst, dann folgt daraus die Notwendigkeit einer
sorgfältigen Untersuchung der Erwerbsarbeit eines Patienten. Denn sie ist
für dessen gesamtes psychisches Leben relevant. Deshalb gilt es in Anamne
se und Therapie herauszufinden, inwieweit die Erwerbsarbeit für einen Pa
tienten ein Risikofaktor oder ein Resilienzfaktor ist. Dabei reicht es nicht,
sich ein grobes Bild von seinem Beruf zu machen. Um die latente subjekti
ve Bedeutung einer Erwerbsarbeit zu erfassen, bedarf es einer genauen Vor
stellung der »konkreten Besonderheiten der ausgeübten Tätigkeit«. Denn
letztlich sind sie es, die im Berufsalltag bewusste und unbewusste Grati
fikationen bereithalten.
Gleiches gilt für eine Wiedereingliederung in das Berufsleben. Patien
ten können nur dann nachhaltig reintegriert werden, wenn sie genau die
Gratifikationen erhalten, die sie für ihre psychische Stabilität benötigen.
Folglich gilt es, auch in Wiedereingliederungsgesprächen und in einer re
gelmäßigen Beurteilung der psychischen Gefährdung am Arbeitsplatz dar
auf zu achten, dass die latente subjektive Bedeutung der konkreten Arbeits
tätigkeiten zum Thema wird und Thema bleibt.
137
Ute Engelbach und Rolf Haubl
5. Erwerbsarbeit: ein zu Unrecht vernachlässigtes Thema
in der Psychotherapie
Wird die »Zentralität von Arbeit« (Dejours/Deranty 2010) in Erkrankung
und Heilung grundsätzlich anerkannt, dann verlangt dies auch, dass Psychotherapeuten ihre eigene Einstellung zur Erwerbsarbeit selbstkritisch
reflektieren. Das schließt eine Reflexion der eigenen Berufswahlmotive
ebenso ein wie eine Reflexion der professionellen Deformationen, die aus
einer unkritischen Identifikation mit sakrosankten Wissensbeständen re
sultieren. So teilen wir die Erfahrungen, die Hiller und Hillert (2014, S. 44)
beschreiben:
»In psychoanalytischen oder tiefenpsychologisch fundierten Therapien wurde
und wird der Krankheitstheorie entsprechend der Fokus auf die frühe Entwick
lung beziehungsweise die in der aktuellen Auslösersituation aktivierten früh
kindlichen Konflikte gelegt. Wenn im Beruf Probleme eskalieren, dann liege der
eigentliche Grund dafür viel früher. Und wenn der Patient über berufliche Prob
leme berichte, hätten diese zu einer neurotischen Kompromissbildung sowie zur
Aktualisierung der frühkindlichen Konflikte geführt, und er vermeide damit die
Auseinandersetzung mit den viel wichtigeren Themen seiner frühen Biographie.
Gelegentlich gelten Patienten, denen eine Auseinandersetzung mit ihrer beruf
lichen Situation wichtig ist, als nicht hinreichend motiviert und introspektions
fähig für eine Psychotherapie.«
Eine solche Haltung wird nicht selten dadurch begünstigt, dass sich vie
le Psychotherapeuten mit der Erwerbsarbeitsgesellschaft kaum auskennen
und deshalb nur rudimentäre Vorstellungen davon haben, welche Grati
fikationen sie bietet und wo sie dazu nötigt, psychische Überforderungen
und daraus resultierende Überlastungen zu riskieren. Das verwundert
letztlich nicht, da solche Themen in den Curricula zur Ausbildung von Psy
chotherapeuten oder Psychoanalytikern so gut wie nie vorkommen (vgl.
den Aufsatz von Sabine Flick in diesem Buch, »›Das würde mich schon
auch als Therapeutin langweilen‹ – Deutungen und Umdeutungen von Er
werbsarbeit in der Psychotherapie«).
138
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
6. Berufsbezogene Gruppenpsychotherapie?
Erwerbsarbeit und die mit ihr verbundenen psychischen Belastungen
fanden in den letzten Jahren durchaus Eingang in psychotherapeutische
Behandlungsmanuale. Insbesondere in Rehabilitationsbehandlungen, in
denen es zunehmend um die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit eines Patienten geht, wurden verhaltenstherapeutische und tiefenpsychologische Gruppenpsychotherapieprogramme konzipiert, die Erwerbsarbeit fokussieren
(vgl. Hillert/Koch/Hedlund 2007; Koch et al. 2006; Heitzmann/Helfert/
Schaarschmidt 2008; Harrach 2007; Beutel et al. 2002).
Am bekanntesten sind die Programme »Stressbewältigung am Arbeitsplatz« (SBA) und »Berufsbezogene Therapiegruppe« (BTG). Beide wurden
in das Programm »Gesundheitstraining. Stressbewältigung am Arbeitsplatz« (GSA) integriert (Beutel et al. 2006b).
SBA ist eine verhaltenstherapeutisch ausgerichtete manualisierte Gruppenintervention. Das Programm wird zusätzlich zur stationären Standardtherapie angeboten und ist auf insgesamt acht Doppelstunden angelegt,
von denen jeweils zwei Sitzungen ein inhaltlich homogenes Modul zu den
Themen Motivation, soziale Kompetenz, Stress sowie Transfer bilden. Es
erfolgen eine Auseinandersetzung mit Funktionen der Arbeit und die Präsentation eines Erklärungsmodells (Belastungskreislauf), aus dem Ansätze
zur Belastungsreduktion abgeleitet werden.
Es werden Stressanalysen und Grundlagen der Stressbewältigung vermittelt, hinzu kommt eine Reflexion beruflicher Anspruchshaltungen und
Zufriedenheitserlebnisse, einschließlich Pausen und Erholungsverhaltens.
Sozial kompetentes Verhalten und das Führen von Konfliktgesprächen
werden anhand konkreter Beispiele der Teilnehmer und mit verschiedenen
Techniken, wie zum Beispiel Rollenspielen, erarbeitet. Persönliche beruf
liche Stärken und Möglichkeiten der Weiterentwicklung sind Thema.
Was die Evaluation des Programms betrifft, so zeigt sich das SBA bei
einem Vergleich von Interventions und Kontrollgruppe in puncto berufsbe
zogener Behandlungszufriedenheit als überlegen, nicht aber in puncto beruf
licher Belastungs und Bewältigungseinschätzungen. Folglich fehlt ein spe
zifischer Wirkungsnachweis für die SBAIntervention. Deutlich überlegen
ist sie allerdings in puncto einer Reduktion von Berentungsabsichten (vgl.
Koch et al. 2006; Koch/Geissner/Hillert 2007; Hillert/Koch/Hedlund 2007).
139
Ute Engelbach und Rolf Haubl
Die BTG entstammt der Tradition tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und stellt bei der Behandlung berufsbezogener Probleme insbesondere die Gruppendynamik der Teilnehmer als wirkmächtig heraus (vgl.
Beutel et al. 2002). Die auf vier Wochen konzipierte, zweimal wöchentlich
90-minütige Gruppentherapie beginnt mit einer Motivationsphase, in der
das Interesse an einer Auseinandersetzung mit berufsbezogenen Konflik
ten innerhalb der ersten zwei Termine entwickelt werden soll.
In der folgenden Bearbeitungsphase sollen die Interaktion zwischen
den Gruppenmitgliedern stimuliert, eine kathartische Mitteilung von Ge
fühlen ermöglicht, eigene Konfliktanteile gespiegelt und Übertragungen
bewusst gemacht werden. Dabei dient die Therapiegruppe der ReInszenie
rung von Konflikten und bietet den Patienten zahlreiche Möglichkeiten,
sich auseinanderzusetzen, die therapeutisch aufgegriffen werden können
(vgl. Beutel et al. 2006a). Übertragungsphänomene im Kontakt zu Vorge
setzten und Mitarbeitern sowie biographische Prägungen mit Auswirkun
gen in der Arbeitswelt werden bearbeitbar.
Eine Schwierigkeit resultiert aus der Doppelrolle des Therapeuten, der
nicht nur therapiert, sondern auch eine abschließende sozialmedizinische
Beurteilung erstellt. Das verführt dazu, den Therapeuten als Retter zu se
hen, der arbeits(un)fähig schreibt, Rentenanträge befördert, Umsetzungen
befürwortet.
Als mögliche Widerstände gegen die Bearbeitung berufsbezogener
Probleme wurden eine gewisse Erholungs oder Kureinstellung, einseitige
externale Attribuierungen von Konflikten am Arbeitsplatz oder Wünsche
nach konkreter Hilfe bei der Durchsetzung von arbeits oder sozialrechtli
chen Ansprüchen beschrieben. Dann werden Gruppenleiter von den Grup
penmitgliedern nicht als Therapeuten adressiert, sondern zum Beispiel als
Fachleute für arbeitsrechtliche Probleme.
In berufsbezogenen Gruppen lassen sich dementsprechend besonde
re Konstellationen von Übertragung/Gegenübertragung beobachten, wie
etwa projektive Identifizierungen, mit denen Patienten versuchen, The
rapeuten zu ihren »Bundesgenossen« zu machen. Gelingt es ihnen nicht,
werden diese sofort zu »Gegnern« und als solche »bekämpft« (Beutel et al.
2002).
Evaluationen des BTG zeigen, dass die Teilnahme an diesem Programm
insgesamt zu einer günstigeren Bewertung der Behandlung und einer op
140
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
timistischeren Haltung bezüglich der Rückkehr an den Arbeitsplatz führt
(vgl. Beutel et al. 2006a).
Vom Grundsatz her ist das Angebot einer berufsbezogenen Psychotherapie zu begrüßen. Freilich fragt sich, wie sich die Fokussierung auf Erwerbsarbeit rechtfertigen lässt. Ist das Therapieangebot additiv, besteht die
Gefahr einer realitätsfremden Trennung von Arbeit und Privatsphäre, was
zumindest reflektiert werden muss, um einer dauerhaften Spaltung vorzu
beugen.
Für eine berufsbezogene Gruppenpsychotherapie sprechen Überlegun
gen, wie sie aus störungsspezifischen Gruppenpsychotherapien bekannt
sind. So darf angenommen werden, dass Patienten, die sich mit ähnlichen
Problemen abmühen, auf gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz tref
fen, was nicht nur die Gruppenkohärenz erhöht, sondern auch etliche Mo
delle bietet, wie mit den Problemen praktisch umgegangen werden kann.
Unserer Auffassung nach sind nur dann nachhaltige Therapierfolge zu
erzielen, wenn Erwerbsarbeit und (übriges) Leben zusammen in eine bio
graphische Rekonstruktion eingebettet werden, die sich für die latenten
subjektiven Bedeutungen der Arbeitstätigkeiten interessiert. Es sind diese
Bedeutungen, von denen es bei gegebener Vulnerabilität abhängt, ob sich
die Arbeitstätigkeiten als Selbstheilungsversuch eignen oder nicht.
Ein solcher Versuch bleibt stets riskant. Denn eine gelungene Abwehr
schützt zwar vor psychischer DeStabilisierung, aber nur so lange, wie sie
greift, wodurch sie überwertig wird. Fallen selbstheilende Arbeitstätigkei
ten weg, gerät Erwerbsarbeit zu einer schwer erträglichen psychischen Be
lastung. Statt zu stabilisieren, labilisiert sie.
Wird als Therapieziel verlangt, Patienten wieder arbeitsfähig zu ma
chen, so darf dieses Ziel nicht verfolgt werden, ohne es für den individu
ellen Fall zu problematisieren. Denn in einer Gesellschaft, in der sich die
Gesellschaftsmitglieder über Erwerbsarbeit definieren, bieten Arbeitstätig
keiten vielfältige Situationen, sich zu bewähren oder zu scheitern. Und das
nicht nur äußerlich. Denn die jeweiligen Arbeitstätigkeiten formen die psy
chische Realität der Arbeitnehmer, so wie sich deren psychische Realität in
der Art und Weise manifestiert, wie lust und leidvoll sie arbeiten.
141
Ute Engelbach und Rolf Haubl
Literatur
Beutel, Manfred E./Gerhard, Christine/Kayser, Egon/Gustson, Dirk/Weiss,
B./Bleichner, Franz (2002): Berufsbezogene Therapiegruppen für ältere
Arbeitnehmer im Rahmen der tiefenpsychologisch orientierten psychosomatischen Rehabilitation. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 38, S. 313–34.
Beutel, Manfred E./Knickenberg, Rudolf J./Krug, Barbara/Mund, Sandra/
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Beutel, Manfred E./Zwerenz, Rüdiger/Hillert, Andreas/Koch, Stefan/Kni
ckenberg, Rudolf J./Schattenburg, Lothar (2006b): Gesundheitstraining
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Rehabilitation. Manual. Klinik für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie der Universität Mainz und MedizinischPsychosoma
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studien. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.
Dejours, Christophe/Deranty, JeanPhilippe (2010): The centrality of work.
In: Critical Horizons 11, H. 2, S. 167–180.
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rufstherapie. In: Lindner, Joachim/Angenendt, Gabriele/Tschuschke,
Volker (Hrsg.): Gruppentherapie in der psychosomatischen Rehabili
tation. Grundlagen, Therapiekonzepte und Perspektiven. Gießen: Psy
chosozialVerlag, S. 251–276.
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Beruf. AVEMgestütztes Patientenschulungsprogramm zur beruflichen
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In: Der Neurologe & Psychiater 15, H. 1, S. 44–52.
142
Erwerbsarbeit im Dienste der Selbstheilung
Hillert, Andreas/Koch, Stefan/Hedlund, Susanne (2007): Stressbewältigung am Arbeitsplatz. Ein stationäres berufsbezogenes Gruppenprogramm. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Koch, Stefan/Geissner, Edgar/Hillert, Andreas (2007): Berufliche Behand
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rufsbezogenen Gruppentherapie im Zwölfmonatsverlauf. In: Zeit
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Koch, Stefan/Hedlund, Susanne/Rosenthal, Susanne/Hillert, Andreas
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Siegrist, Johannes/Dragano, Nico (2008): Psychosoziale Belastungen und
Erkrankungsrisiken im Erwerbsleben: Befunde aus internationalen
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licher Gratifikationskrisen. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheits
forschung – Gesundheitsschutz 51, H. 3, S. 305–312.
143
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
Anspruch und Wirklichkeit
Rolf Haubl
Psychische Belastungen am Arbeitsplatz resultieren nicht nur aus der primären Aufgabe, sondern auch aus den formellen und informellen Beziehungen, in welche die Aufgabe eingebettet ist. Formelle Arbeitsbeziehungen regeln, wer wem auf wessen Anweisung wie zuarbeitet. Dagegen sind
Arbeitnehmer in informellen Arbeitsbeziehungen über Sympathie und
Antipathie verbunden. Beide Regelungen können konvergieren, aber auch
zu Konflikten führen.
Der Einfachheit halber sei aus der Perspektive eines Arbeitnehmers zwi
schen Vorgesetzten und Kollegen unterschieden. Zusammen bilden sie ein
Netzwerk betrieblicher Integration. Sind die Beziehungen »gut«, so darf an
genommen werden, dass sich die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz
verringern. Dagegen werden sie durch »schlechte« Beziehungen vermehrt.
Wann Beziehungen gut oder schlecht sind, ist dabei freilich immer
auch eine Frage des Selbstverständnisses: So mag ein Arbeitnehmer einen
Kollegen schätzen, weil der ihn kommentarlos machen lässt, was er will,
während es ein anderer Arbeitnehmer in der gleichen Situation gut findet,
von seinem Kollegen frühzeitig vor drohenden Fehlern gewarnt zu werden.
Vorgesetzte und Kollegen können drei Arten von sozialer Unterstüt
zung bieten: kognitive, emotionale und praktische. Welche dieser Hilfen ein
Arbeitnehmer benötigt, hängt von seiner konkreten Situation am Arbeits
platz ab. Er kann sie einfordern, aber auch ablehnen, wenn sie ihm angebo
ten werden. Idealerweise bekommt er, was er braucht. Aber Vorgesetzte und
Kollegen können seinen Bedarf auch falsch einschätzen und ihm deshalb
eine Hilfe anbieten, die nicht hilft. Es kann sogar sein, dass der Arbeitnehmer
selbst nicht genau weiß, was er benötigt, um seine Situation zu verbessern.
145
Rolf Haubl
1. Vorgesetzte
Vorgesetzte bestimmen maßgeblich mit, wie groß die psychische Belastung
eines Arbeitnehmers ist, indem sie ein Matching zwischen Arbeitsanforderungen und Arbeitsfähigkeit – bei vorausgesetzter Arbeitsbereitschaft – an
streben.
Eine solche Passung muss immer wieder neu überprüft und eingerichtet
werden. Ernsthaft betrieben, ist sie gesundheitsrelevant. So weisen Arbeit
nehmer, die sich von ihren Vorgesetzten hinreichend sozial unterstützt
fühlen, ein geringeres arbeitsbezogenes BurnoutRisiko auf als diejenigen,
denen es an einer solchen Unterstützung mangelt (vgl. Hollmann 2010).
Allerdings wissen Vorgesetzte häufig nicht, wie sie Einfluss auf die psy
chische Gesundheit ihrer Mitarbeiter nehmen können (vgl. Schulte/Bam
berg 2002), spielen gelegentlich sogar herunter, dass sie überhaupt über
einen solchen Einfluss verfügen. Oft realisieren sie zu wenig, dass ihnen
eine Vorbildfunktion zukommt, ob sie wollen oder nicht: Wie sie mit sich
selbst und insbesondere mit ihren eigenen psychischen Belastungen (vgl.
KuhnkeWagner/Heidenreich/Brauchle 2011) umgehen, setzt praktische
Standards.
2. Kollegen
Kollegialität ist eine Form praktischer Solidarität, die Konkurrenz nicht
ausschließt, aber ruinöse Konkurrenz verhindert. Wenn sich Arbeitnehmer
als Kollegen verstehen, dürfen sie von der begründeten Erwartung ausge
hen, bei Bedarf die Hilfen und den Schutz, formell wie informell, zu erhal
ten, die sie benötigen – allerdings nur dann und so lange, wie zu erwarten
steht, dass sie in vergleichbaren Situationen bereit sind, ebenso zu handeln.
Von ihrer Gruppendynamik her ist Kollegialität ein arbeitsethisch
basierter Gruppendruck, der deviantes Arbeitshandeln erschwert oder es
korrigiert. Sie ermöglicht aber auch, Widerstand gegen Vorgesetzte zu mo
bilisieren, die unzumutbare Forderungen stellen oder sonst wie ihre Macht
missbrauchen (vgl. Haubl 2005).
Empirisch betrachtet (Eurofound 2010) hat der Prozentsatz derjenigen
Arbeitnehmer, die von regelmäßiger kollegialer Hilfe bei der Arbeit be
richten, von 65 Prozent im Jahre 2005 auf 71 Prozent im Jahre 2010 zuge
146
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
nommen. Im selben Zeitraum sind Hilfestellungen durch Vorgesetzte von
58 auf 47 Prozent gesunken.
Kollegialität hat ihre Grenzen: Untereinander darauf zu achten, dass
niemand psychisch überfordert wird und sich dadurch psychisch überlastet, ist mehr, als erwartet werden darf.
Frau A
Frau A hat im Abstand von einem Jahrzehnt zwei Gesundheitskrisen er
lebt, die sie von sich aus als Burnout bezeichnet. Die erste Krise, die sich
als Erschöpfung mit einer Vielzahl von unspezifischen psychosomatischen
Symptomen manifestiert, hat sie ohne professionelle Hilfe durchgestanden.
Die zweite Krise, die sie in die Klinik führt, zeigt dasselbe Störungsbild,
weshalb sie sich dieses Mal an ihre Hausärztin wendet, die ihren Zustand
aber wohl nicht ernst genug nimmt, sodass Frau A erneut allein zurecht
kommen muss, was ihr aber nicht gelingt. Erst als eine gute Freundin ihr
nachdrücklich rät, sich um professionelle Hilfe zu kümmern, sucht sie eine
Psychotherapeutin auf, die sie für eine kurze Zeit ambulant behandelt. Von
ihr lässt sie sich überzeugen, einem Klinikaufenthalt zuzustimmen.
Dass es Frau A so schwerfällt, professionelle Hilfe in Anspruch zu neh
men, schreibt sie selbst einem Verhaltensmuster zu, das sie von sich gut
kennt. Sie erlebt sich als eine Person, der es vor allem daran gelegen ist, die
völlige Kontrolle über sich und ihr Leben zu haben. Und die dementspre
chend Angst hat, die Kontrolle zu verlieren. Deshalb, betont Frau A, sorge
sie – beruflich wie privat – stets dafür, dass andere nicht wirklich realisie
ren, wie schlecht es ihr geht. Selbst ihrer Hausärztin macht sie etwas vor.
Es hat den Anschein, als versuche sie, ihre Schwäche nicht nur vor an
deren, sondern auch vor sich selbst zu verbergen. So geht sie immer wieder
krank zur Arbeit, obwohl sie sich sicher ist, dass weder ihre Vorgesetzten
noch ihre Kolleginnen dies von ihr erwarten! Mehr noch: Frau A ist sich
sicher, dass sie auf volles Verständnis treffen würde, da sie das Betriebskli
ma in ihrer Abteilung, in der sie seit Langem arbeitet, als sehr gut erlebt.
Da sie krank zur Arbeit geht, kommt es zu Fehlern. Merken es die Kolle
ginnen, bügeln sie diese Fehler stillschweigend aus. Eine offene Aussprache
darüber findet aber offenbar nicht statt, da Frau A den Eindruck erweckt,
keinesfalls auf ihre Überlastung angesprochen werden zu wollen. Das lässt
ein leistungszentriertes Selbstbild vermuten, das sie dazu zwingt, sich als
grenzenlos belastbar darzustellen. Krank zu sein bedeutet für sie, die Kon
147
Rolf Haubl
trolle zu verlieren. Und da sie sich ihre Kontrollillusion erhalten will, darf
sie sich nicht eingestehen, krank und deshalb leistungsgemindert zu sein,
was aber ihre Überlastung steigert, womit sie in einen Teufelskreis gerät.
»Ich hatte mehr das Gefühl, ich sei in einer Art Hamsterrad, und wenn ich das
jetzt zulasse, dass ich aufhöre zu rennen in diesem Rad, bricht alles ein. […] weil,
umso mehr Ruhe ich mir gegönnt hab, umso schlimmer wurde auch der körper
liche, ähm, Schmerz, sag ich mal, den man dann auf einmal wahrnimmt. […] Für
mich war das wie eine Art, ähm, Versagen, wenn ich das zugebe, dass ich gesund
heitlich nicht mehr kann.«
Wenn ihre Kolleginnen Frau A zwar ansprechen, es aber bei deren Erklä
rung, es gehe ihr gut, belassen, machen sie ein Dilemma deutlich. Still
schweigend die Fehler auszubügeln ist einerseits Ausdruck ihrer Kolle
gialität, zugleich halten sie damit aber – ungewollt – einen untragbaren
Zustand aufrecht.
»Auch meine beiden Zimmerkolleginnen haben [meine Überlastung] dann ir
gendwann schon gemerkt. Und haben mich auch angesprochen. Und selbst da
wollte ich es immer noch nicht zugeben und auch nicht gerne hören und hab
gesagt: ›Okay, macht euch keine Gedanken‹«.
Kollegialität ist noch keine Freundschaft, folglich gibt es vergleichsweise
enge Grenzen für persönliches Engagement. Und so verwundert es nicht,
wenn es erst eine »gute Freundin« von Frau A wagt, die Situation offen
anzusprechen.
Im Unterschied zu manchen Kolleginnen, die ihren Vorgesetzten gegen
über ihre grenzwertige Belastung herausstellen, habe sie, sagt Frau A, das
nie getan. Heute wisse sie, »dass es scheinbar ab und zu doch angebracht
sein kann, das zu äußern, damit, ähm, der andere zumindest ungefähr ’nen
Wind davon kriegt, ähm, wie grad die Lage ist«.
Wer soziale Unterstützung am Arbeitsplatz benötigt, muss sich seinen
Bedarf eingestehen, darum bitten und sie schließlich auch annehmen. Wie
der Fall von Frau A belegt, ist dies nicht selbstverständlich. Ein überhöhtes
IdealSelbst kann verhindern, sich rechtzeitig Hilfe zu holen.
»Den Druck mach ich mir auch zum großen Teil selbst, weil meine eigenen An
forderungen, mh, immer sehr hoch sind und ich es dann nicht so erfüllen kann,
wie ich es gerne hätte.«
148
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
Nachdem sie dem Rat ihrer Freundin gefolgt ist und sich in die Klinik
begeben hat, kann Frau A mit ihrer Erschöpfung offener umgehen: Ihre
Vorgesetzten und ihre Kolleginnen sind über ihren Klinikaufenthalt infor
miert, zeigen Verständnis für ihre Situation und bieten ihr an, sie auf dem
Laufenden zu halten. So richten sie einen kontinuierlichen EMailKontakt
und auch Besuche ein, an denen sich sogar einer ihrer Chefs beteiligt.
Der Arbeitgeber will sie halten, und auch Frau A selbst lässt keinen
Zweifel daran, dass sie beabsichtigt, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.
Wenn sie sich eine Veränderung vornimmt, dann eine Reduzierung der
überwertigen Bedeutung, die das Unternehmen für ihr Leben hat:
»Weil, die Firma war zumindest so eine Konstante in meinem Leben, die ich auch
immer hoch priorisiert habe. Also die Firma kam quasi direkt nach meinem Ehe
mann, und erst dann kam ich. Und da hab ich mich immer sehr ins Zeug gelegt,
dass zumindest die Firma funktioniert.«
Ob und wieweit es ihr gelingt, ihren guten Vorsatz umzusetzen, bleibt ab
zuwarten. Denn sie verweist darauf, dass in der Unternehmenskultur, die
in ihrer Branche herrscht, viele Arbeitnehmer unterwegs sind, die freiwil
lig an die Grenze ihrer Belastbarkeit gehen:
»Die Leute treffen dann eben auch ihre eigene Entscheidung und sagen: ›Du
kannst mir jetzt fünfmal sagen, ich soll jetzt ’ne Pause machen, ich entscheide es,
mein Job, meine Arbeit, ich bleibe jetzt sitzen.‹«
Frau K
Frau K arbeitet in einem Baumarkt, in dem seit Jahren ein Personalabbau
stattfindet. Zum einen sind es generell weniger Mitarbeiter, zum anderen
werden Fachkräfte zunehmend durch Aushilfskräfte ersetzt. Diese haben
eine sehr viel geringere kollegiale Bindung, was sich dadurch bemerkbar
macht, dass sie sich bei jeder passenden Gelegenheit der Verantwortung
zu entziehen suchen. Dadurch entsteht für Frau K und andere Fachkräfte
eine Mehrarbeit, wozu auch gehört, sich mit Kunden auseinandersetzen
zu müssen, die verärgert sind, weil sie keine oder nur unzureichende Be
ratung erhalten. Bei den wenigsten Vorgesetzten findet sie für die daraus
resultierende Überforderung die soziale Unterstützung, die sie benötigt.
So berichtet sie von einem Vorgesetzten, mit dem sie an einem früheren,
149
Rolf Haubl
aber strukturgleichen Arbeitsplatz konfrontiert war, der keinerlei Pausen
zuließ.
»Er war sehr grenzüberschreitend, also [er ist] mit bis in den Aufenthaltsraum
[gefolgt]. Hat immer geguckt, wenn wir nicht im Laden waren, wo wir sind. Hat
die Zeit gestoppt, wie lange wir auf der Toilette waren, ja, so. Hat auch immer
hinter einem gestanden, also wenn man irgendwas gemacht hat, so mit ein bisschen Distanz hat er da immer beobachtet, wie man es macht und wie schnell oder
wie genau.«
Aber unabhängig von einem solchen Vorgesetzten ist es die steigende Kundenzahl pro Mitarbeiter, die ausreicht, um überfordert zu sein:
»Also da war ziemlich viel Kundenandrang, kein Personal wie überall. Und ich
hab’s gespürt, das wird mir zu viel, aber ich hab viel zu spät wieder reagiert. Man
denkt ja immer, man muss weitermachen, es wird schon wieder, ja. […] zu spät
um Hilfe gebeten […] man hätte ja vielleicht sagen können: ›Hier, das ist mit einer
Person nicht zu schaffen.‹«
Vorgesetzte frühzeitig zu informieren und soziale Unterstützung einzu
klagen, fällt ihr nicht leicht. Da ist zum einen die Angst vor Kündigung:
»Wer es nicht schafft, kann gehen«. Zum anderen ist es die Erwartung an
die eigene Leistungsfähigkeit, die enttäuscht wird und beschämt: »›Warum
schaffst du das nicht, und warum klappt das nicht?‹«
Schlägt die Beschämung in Wut um – »Bei mir ist auch viel Wut, ja« –,
dann kann es sein, dass sie sich nunmehr für ihre Wut schämt. Denn sie
hat keinen Ort, an dem sie diese äußern könnte. Auf die Frage, wo sie mit
ihrer Wut hingehe, antwortet sie resigniert: »in meinen Körper«. Folglich
wendet sie ihre Aggressionen gegen die eigene Person.
Die Kollegenschaft erlebt sie nicht als Hilfe. Zwar gebe es Mitarbei
ter, die »robuster« seien und auch mal Widerstand leisten würden, – »die
lassen sich nichts sagen, die geben gleich Widerworte, die – ja, die treten
auch mal mit dem Fuß auf«, die meisten verhielten sich aber genauso ein
geschüchtert wie sie selbst: »Aja, weil jeder seinen Job braucht, weil jeder
sein Geld braucht, ja.« Und kommt es zu einem Wutausbruch, dann –
nimmt man Frau K beim Wort – in einer kindlichen Form. Wer mit dem
Fuß auftritt, ist ohnmächtig und verletzt eher sich selbst als den, der die
Macht hat.
150
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
3. Die Realität sozialer Unterstützung
Das Bild, das unsere Interviewpartner von sozialer Unterstützung entwerfen, ist zwiespältig. So schildern sie Kollegen und Vorgesetzte, die ihre zunehmende psychische Belastung gar nicht wahrnehmen, dann diejenigen,
die sie zwar wahrnehmen, aber nicht ernst nehmen oder sogar aus eigenen
Interessen heraus schönreden, schließlich diejenigen, die bereit sind, Unterstützung zu bieten, aber nicht wissen, wie sie das bewerkstelligen sollen,
ohne die Betroffenen zu kränken.
Fasst man die Aussagen in den Interviews zusammen, so haben sich die
meisten Interviewpartner in der Zeit, bevor es zu ihrem Zusammenbruch
gekommen ist, zwar soziale Unterstützung von Kollegen und Vorgesetzten
gewünscht, aber oftmals Schwierigkeiten gehabt, eine solche Unterstüt
zung auch erfolgreich einzufordern. Damit einher geht eine Unsicherheit,
wo denn in den Organisationen der geeignete Ort ist, das Thema der psy
chischen Überlastung anzusprechen. Relevante Akteure, wie Betriebsärzte
und Betriebsräte, tauchen in unseren Interviews – auch auf Nachfrage –
nur am Rande auf.
Die meisten unserer Interviewpartner behandeln ihre psychische Über
lastung am Arbeitsplatz zunächst als ein individuelles Problem zu geringer
psychischer Belastbarkeit. Die Überlastung auf überfordernde Arbeits
bedingungen zurückzuführen, thematisieren sie oft erst dann, wenn sie
darauf angesprochen werden. Dementsprechend kommt es in den Fällen
einer anstehenden Wiedereingliederung auch so gut wie nicht vor, dass
die betroffenen Arbeitnehmer vorhaben, über weniger belastende Arbeits
bedingungen zu verhandeln. Eher beabsichtigen sie, den Arbeitgeber zu
wechseln, was ein Hinweis darauf sein mag, dass sie eine solche Verhand
lung als beschämend erleben, gepaart mit der antizipierten Enttäuschung,
damit sowieso keinen Erfolg zu haben.
4. Familiarisierung
Sind die Beziehungen eines Arbeitnehmers zu seinen Kollegen und Vor
gesetzten als Ressourcen sozialer Unterstützung zu betrachten, so bestehen
sie nicht losgelöst von deren privaten Beziehungen, vor allem in der Fami
lie. »Gute« familiäre Beziehungen können »schlechte« Arbeitsbeziehungen
151
Rolf Haubl
entschärfen – und umgekehrt. Besonders gefährdet sind Personen, die über
keine Kompensationsmöglichkeiten verfügen. Bedrohlich wird es, wenn
sich psychische Belastungen aufgrund unbewältigter Beziehungskonflikte
in beiden Lebensbereichen wechselseitig verstärken.
Frühe Beziehungserfahrungen eines Menschen schlagen sich in Bezie
hungsmustern nieder, die dann die kommenden Beziehungen vorstruk
turieren. Die Psychoanalyse nennt diesen Vorgang Übertragung (Herold/
Weiß 2014). Übertragungen sind konservativ, das heißt: Sie tendieren –
gegen die bekundeten Intentionen – dazu, neue Beziehungen so zu gestal
ten, wie es die vorhergehenden waren. Dadurch werden aber die aktuellen
Beziehungen mehr oder weniger stark verkannt.
So kann es am Arbeitsplatz zu einer Familiarisierung (Erdheim 1992)
kommen. Wo sie besteht, werden Arbeitsbeziehungen nach dem Vorbild
familiärer Beziehungen erlebt und gestaltet. Dadurch können rätselhafte
Konflikte auftreten, die man erst versteht, wenn bewusst wird, dass zum
Beispiel ein Arbeitnehmer deshalb immer wieder einen Streit mit sei
nem Vorgesetzten vom Zaun bricht, weil er sich unbewusst an ihm für
die Unterwerfung zu rächen versucht, die er durch seinen Vater erlitten
hat.
Frau I
Frau I ist Sozialarbeiterin in der Suchthilfe. Sie stammt aus einem Eltern
haus, das sie selbst als verwahrlost beschreibt. Bis heute werde sie von
ihren Eltern ausgenutzt, ohne deren Aufmerksamkeit und Anerkennung
zu bekommen, wonach sie sich aber sehnt, weshalb es ihr nicht dauerhaft
gelingt, sich von dieser Vergangenheit zu lösen. In einer der ambulanten
Psychotherapien, die sie gemacht hat, wird ihr bewusst, dass sich in ihrer
Berufswahl ihre Familiengeschichte spiegelt. Sie sei, wie sie selbst es formu
liert, immer auch die Sozialarbeiterin ihrer Herkunftsfamilie gewesen. So
sehe sie viele Parallelen zwischen den Verhaltensweisen ihrer Eltern und
den Verhaltensweisen ihrer Klientel.
»Dass ich mir so Bereiche suche, wo das immer so an meine Vergangenheit irgend
wie so – also, dass ich das so irgendwie in Verbindung bringe. Mir war das bisher
nicht bewusst.«
152
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
In dem Team, in dem sie arbeitet, findet sie bei den Kollegen keine Unter
stützung. Im Gegenteil: Sie beobachtet eine missbräuchliche Verstrickung
zwischen ihren Kollegen und deren Klientel.
»[Die Kollegen haben] private Kontakte mit Klienten. Dass die zu Geburtstagen
eingeladen werden oder so. […] die gehen halt alle da zusammen viel Bier trinken,
sind auch gerne mal betrunken, gemeinsam. Also manchmal – ich sage es jetzt
ganz offen – manchmal habe ich auch [die Vorstellung], also, dass auch die Sucht
verbindet.«
Wegen solcher unprofessioneller Verhaltensweisen möchte Frau I eigentlich
den Arbeitsplatz wechseln. Auch gibt sie an, ihre Klientel immer schlechter
zu ertragen, denn die Süchtigen seien, Krankheit hin oder her, schlicht
asozial. Sie würden nicht arbeiten wollen, sondern richteten sich in einer
parasitären Existenz ein, weshalb die Sozialarbeit erfolglos bleibe.
Nun läge es nahe, dass sich Frau I an ihre Vorgesetzte wenden würde,
um sie über diese Situation und ihre Unzufriedenheit zu informieren. Aber
sie sucht das Gespräch mit ihr nicht. Denn in ihrer Wahrnehmung ist die
Vorgesetzte keine Vertrauensperson, sondern selbst jemand, der unbere
chenbar agiert und alle Bemühungen bestraft, die Situation aufzuklären.
Genau das, so Frau I, habe eine ihrer Freundinnen erleben müssen.
Für Frau I kommt hinzu, dass die Geschäftsführerin sie an ihre Mutter
erinnert, was ihre Hemmung verstärkt, sich Hilfe suchend an sie zu wen
den.
»Also jetzt, ohne dass ich wieder vom Elternhaus anfangen will – aber die hat
auch so Allüren an sich, die mich schwer an meine Mutter erinnern; und – ach.
Aber das ist die Geschäftsführerin, mit der muss ich reden, wenn ich da was än
dern will; und seit zwei Jahren schiebe ich das vor mir her, ja, ja, ja, hm.«
Frau I wünscht sich, in der Klinik so mutig zu werden, dass sie sagt, was zu
sagen ist, auch auf die Gefahr hin, gekündigt zu werden.
Beschreibt Frau I ihre Situation treffend, befindet sie sich in einem so
zialen System, das – von wenigen Ausnahmen abgesehen – geschlossen ist.
Ihre Kollegen und ihre Vorgesetzten sind derart miteinander verstrickt,
dass sie auf keine soziale Unterstützung von ihnen zu hoffen braucht. Im
Gegenteil: Frau I ist diejenige, die als gestört erscheint. Sie fürchtet sich,
dagegen vorzugehen, weil ihr dann die Kündigung drohe. Zudem hat sie
auch deshalb große Schwierigkeiten, sich zu behaupten, weil sie permanent
153
Rolf Haubl
an ihre Kindheit erinnert wird. So erkennt sie in der wahrgenommenen
Asozialität ihrer Klientel und ihrer Kollegen, die sich vor jeder Verantwortung drücken, ihre Eltern wieder, von denen sie sich von Kindheit an ausgenutzt fühlt.
So ohnmächtig und alleingelassen, wie sie sich als Kind in ihrer Familie
gefühlt haben dürfte, so ohnmächtig und alleingelassen fühlt sie sich an
ihrem Arbeitsplatz. Da alle miteinander verstrickt sind, weiß sie nicht, an
wen sie sich wenden kann:
»Also, sagen wir mal, wenn ich jetzt vielleicht mal, wenn wir einen anderen Betriebsrat hätten, hätte ich mich vielleicht schon mal im Laufe der Jahre – also ich
hätte zumindest mal eine Beratung, wie ich mich da verhalten soll.«
So quält sie sich mit Phantasien, endlich einmal allen zu sagen, was sie
wirklich über deren empörendes Verhalten denkt: »Klar habe ich Aggres
sionen.« Aber sie traut sich nicht, was dazu führt, dass sie im Hinblick auf
ihre Klientel fast schon zynisch erklärt, es sei ihr »Job, das denen nicht zu
sagen«. Und so verzichtet sie auf Konfrontationen, aus »Angst, das die mir
kündigen«, wenn sie auf Konfrontationskurs ginge, wie es zu ihrem Selbst
verständnis als Suchtberaterin gehört. Wenn sie sich für »beratungsmüde«
hält, verwundert das in Anbetracht des Dilemmas, in dem sie sich befindet,
nicht.
Freilich wird Frau I, solange sie mitspielt, nicht wissen, ob ihre Ängste
berechtigt sind. Da sie aufgrund ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen
aber Sanktionen für wahrscheinlich hält, wenn sie nicht mitspielt, scheut
sie eine Realitätsprüfung. Vom Klinikaufenthalt erwartet sie sich die sozia
le Unterstützung für eine Konfrontation, die sie am Arbeitsplatz – wie in
ihrer Herkunftsfamilie – scheut.
Frau I ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass sich traumatische und
konflikthafte Familienverhältnisse am Arbeitsplatz reinszenieren, was es
auch für die Betroffenen selbst schwer macht, den Realitätsgehalt ihrer
Wahrnehmungen zu ermessen. Frau I hat vermutlich aufgrund ihrer Psy
chotherapieerfahrungen eine ungefähre Vorstellung von dieser Übertra
gungsdynamik, bleibt aber vorerst in ihr gefangen. Sich aus dieser Gefan
genschaft zu befreien lässt sich als Therapieziel ausmachen: Mut zu fassen
und zu zeigen, wer sie ist, wenn sie sich nicht länger verstellt und aufhört,
gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
154
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
5. Stigmatisierung und Selbststigmatisierung
Wie Vorgesetzte und Kollegen mit Arbeitnehmern umgehen, die am
Arbeitsplatz erkennbar sozial auffällig werden, weil sie psychisch überlastet
oder gar psychisch krank sind, hängt unter anderem von den Vorurteilen
ab, die sie haben. Vorurteile sind Vorstellungen, die aus einer Gemenge
lage von realistischen und verzerrten Erwartungen an das Fühlen, Denken
und Handeln der Betroffenen bestehen. Dabei kommt es nicht selten vor,
dass ihre Kollegen und Vorgesetzten so mit ihnen umgehen, dass sie nicht
anders können, als sich auffällig zu verhalten. Ist das der Fall, liegt eine sich
selbst erfüllende negative Prophezeiung vor.
Vorurteile über psychische Überlastungen und Erkrankungen kön
nen die Chancen der Betroffenen auf Erfolg im Arbeitsleben erheblich er
schweren: bei der Stellensuche, bei der Laufbahnentwicklung und bei der
Wiedereingliederung am Arbeitsplatz nach Beendigung eines Klinikauf
enthalts.
Leiden Arbeitnehmer an psychischen Überlastungen, dann kommen
zu den dadurch verursachten Leistungsdefiziten noch die Angriffe auf
ihren Selbstwert hinzu, die von vorurteilsbeladenen Kollegen und Vorge
setzten ausgehen.
•
•
•
•
Befragungen von Arbeitgebern zeigen, dass sie psychisch kranke Arbeit
nehmer eher nicht einstellen würden, wenn sie um deren Erkrankung
wüssten, gleich, wie arbeitsfähig und arbeitsbereit die Betroffenen zum
Zeitpunkt der Einstellung sind (Baer 2007).
Angenommen, zwei gleich gut qualifizierte Arbeitnehmer würden sich
auf dieselbe Stelle bewerben, der eine somatisch, der andere psychisch
krank, dann bekäme der somatisch Kranke sehr wahrscheinlich den
Vorzug (Brohan et al. 2012).
Dabei bestehen Unterschiede in der Stigmatisierung gemäß dem vor
liegenden Krankheitsbild. Während Arbeitgeber bei Bewerbern, die an
einer Depression leiden, schon sehr zurückhaltend sind, sinken die Ein
stellungschancen bei einer Schizophrenie gegen null (Manning/White
1995).
In vielen Fällen geht die Stigmatisierung von Personen mit einer psychi
schen Überlastung oder Krankheit mit deren Selbststigmatisierung ein
her: So würden auch die Betroffenen selbst in der (vorgestellten) Rolle
155
Rolf Haubl
•
eines Arbeitgebers keine arbeitsfähigen und arbeitsbereiten Bewerber
einstellen, wenn sie von deren Erkrankung wüssten.
Selbststigmatisierung ist ein Handicap, das den Selbstwert und das
Selbstwirksamkeitsgefühl des Betroffenen weiter mindert (Corrigan/
Watson/Barr 2006). Oft erzeugt sie eine sich selbst erfüllende negative
Prophezeiung, die zu Fehlwahrnehmungen verleitet: Indem die Betrof
fenen erwarten, diskriminiert zu werden, übersehen sie, dass Diskri
minierungen tatsächlich nur in einem Bruchteil der Fälle vorkommen
(Stuart 2006).
Alles in allem tragen Stigmatisierung und Selbststigmatisierung, indem sie
Defizite betonen, maßgeblich dazu bei, dass die Betroffenen ihr Leistungs
potenzial nicht annähernd ausschöpfen können – und es meist auch gar
nicht erst versuchen.
6. Selbstenthüllen oder Verschweigen?
Die Angst vor Stigmatisierung kann dazu führen, dass psychisch überlaste
te und kranke Arbeitnehmer ihre Situation so lange wie möglich zu verber
gen suchen. In der Tat besteht ein Dilemma: Die Überlastung offenzulegen
kann entlasten, aber auch mehr belasten. Entlastung entsteht zum Beispiel
dadurch, dass ein Verhalten, das als Leistungsverweigerung erscheint,
nunmehr eine Erklärung findet, die soziale Unterstützung mobilisiert.
Eine Offenlegung kann aber auch die psychische Belastung erhöhen, weil
nunmehr die stigmatisierenden Vorurteile von Kollegen und Vorgesetzten
greifen. Selbst wenn diese nicht sonderlich ausgeprägt sind, kann es zu Ver
unsicherungen in der Kommunikation kommen.
Einer englischen Untersuchung zufolge würden drei Viertel der be
fragten Arbeitgeber sich wünschen, um die psychische Überlastung und
Erkrankung eines Arbeitnehmers zu wissen (Henderson et al. 2013). Was
mit diesen Informationen geschieht, entzieht sich aber der Kontrolle des
Betroffenen, weshalb absolute Freiwilligkeit gewährt sein muss.
Und da Arbeitgeber stets daran interessiert sind, ihr Humankapital pro
fitabel einzusetzen – oder anders gesagt: da Arbeitsplätze keine herrschafts
freien Räume sind –, ist zu Recht Vorsicht geboten. Dies bestätigt eine Be
fragung von 317 deutschen Psychiatern, die aufgrund ihrer Erfahrungen
156
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
geschätzt haben, wie es in der Praxis um psychisch kranke Arbeitnehmer
steht (Mendel/Hamann/Kissling 2010):
•
Nur 16 Prozent der berufstätigen Patienten informieren ihren Vorgesetzten darüber, dass sie an einer psychischen Erkrankung leiden. (Alle
Prozentangaben sind Mittelwerte der Schätzungen.)
Denn:
•
•
•
•
•
•
27 Prozent der Patienten werden von ihrem Vorgesetzten aufgrund ihrer
psychischen Erkrankung stigmatisiert, 31 Prozent von ihren Arbeitskollegen;
23 Prozent werden gemobbt;
22 Prozent erhalten eine plötzliche Aufgabenänderung ohne Rücksprache mit ihnen;
18 Prozent werden gegen ihren Willen in eine andere Abteilung versetzt;
39 Prozent der Vorgesetzten zeigen eine mangelnde Bereitschaft, die
Arbeitsbedingungen des Patienten an dessen momentane Belastbarkeit
anzupassen;
18 Prozent der Patienten drängen auf Kündigung.
Deshalb:
•
38 Prozent der befragten Psychiater raten ihren Patienten davon ab, ihre
Vorgesetzten am Arbeitsplatz über ihre psychische Erkrankung zu informieren.
Frau F
Frau F hat eine Lebensgeschichte, die in ihrem Rückblick von Vernachläs
sigungen, physischer und psychischer Gewalt sowie tiefen Enttäuschungen
über ihre engen Bezugspersonen geprägt ist. In beruflicher Hinsicht finden
sich große Anstrengungen, um sich ständig weiterzuqualifizieren, was in
einem abgeschlossenen Studium gipfelt, mit dem sie eine »gehobene Stel
lung« zu erreichen sucht. Aber es gelingt ihr nicht. Kennzeichnend für ihr
Berufsleben ist eine Reihe von mehr oder weniger langfristigen Arbeits
verträgen, die meist vorzeitig enden, weil der Arbeitgeber sie ohne eine
157
Rolf Haubl
Option auf Weiterbeschäftigung auslaufen lässt oder ihr kündigt. Erhält sie
eine Begründung, dann zeigt die stets das gleiche Muster:
»›Sie sind nicht mehr tragbar […] Sie stören den Betriebsfrieden, Sie verursachen
zu viele Gerüchte‹ […] sie halten mich dafür nicht reif genug und ich würde mich
nicht gut benehmen können.«
Frau F selbst fühlt sich ungerecht behandelt und dafür bestraft, dass sie
sich als Einzige traue, auf Missstände in den Arbeitsbedingungen hinzu
weisen, über die ihre Kollegen hinwegsehen. Aus diesem Verhalten zieht
sie einerseits ein gewisses Selbstbewusstsein, andererseits hat sie sich auch
nicht unter Kontrolle: Sie sei nun einmal »nicht diplomatisch«.
Die Vorfälle, die Frau F erzählt, sind nicht ohne Plausibilität. In allen
Organisationen wird strategischtaktisch gehandelt, um sich eigene Vor
teile zu verschaffen. Offene und verdeckte Konkurrenz ist an der Tagesord
nung, Solidarität nicht unbedingt zu erwarten. Diese »dunkle Seite« (vgl.
Ortmann 2010) einer Organisation wird aus guten Gründen so lange wie
möglich auch in der Dunkelheit belassen, da bedingungslose Aufrichtig
keit die Zusammenarbeit nicht leichter macht, sondern die Komplexität
der Interaktionen erhöht. Vor diesen Hintergrund gestellt, vertritt Frau F
einen Anspruch, der alle überfordert, weil er den Latenzschutz, den Orga
nisationen einrichten (vgl. Haubl 2010), einzureißen droht. Dass sie dabei
auf sich selbst keine Rücksicht nimmt, sondern sich schadet, präsentiert sie
als Authentizitätsmarker.
Frau F beklagt, dass ihre Kollegen für ihre feige Anpassung belohnt
würden, während man ihren Mut und ihre Leistungen nicht anerkenne.
Und das von jeher. So leidet sie an einem kumulierten Anerkennungsman
gel, aus dem sie ableitet, endlich die Belohnungen erhalten zu müssen, die
sie verdient habe. Sie ist voll ohnmächtiger Wut, um die sie weiß, die sie
aber nicht kontrollieren kann:
»Es gibt so einen Zusammenhang zwischen dieser maßlosen Wut über Ungerech
tigkeiten, und dann fall ich in ein totales Tief. […] dass ich mit meiner Wut nicht
klarkomme.«
Aus dieser Wut heraus entwertet sie ihre Kollegen und Vorgesetzten per
manent, sodass diese auch keinen Grund haben, sich konstruktiv mit ihr
auseinanderzusetzen.
158
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
Selbst positiven Zuwendungen misstraut Frau F. So berichtet sie etwa,
sie sei in einem Fall von einer Personalreferentin nur deswegen eingestellt
worden, weil diese sich damit an der Geschäftsleitung habe rächen wollen:
»Die hat mich eingestellt, und sie ist gegangen […] meine Vermutung war, weil,
die hat eine Rechnung mit denen zu begleichen gehabt. […] Unbewusst. Sie hat
mich rausgesucht, weil nämlich anhand meiner Zeugnisse man den Eindruck be
kommt, ich bin ein Querdenker und Stressmacher.«
Vermutlich braucht Frau F ihre Wut, um ihre Verzweiflung in Schach zu
halten, die sie gepackt hält. Folgerichtig bricht sie dann auch in einem Mo
ment zusammen, kann mit Weinen nicht mehr aufhören, in dem sie keine
Hoffnung mehr sieht, dass ihr – so wie sie es erlebt – jemals Gerechtigkeit
widerfahren wird.
»Hoffnungen, die ich mal in meinem Leben hatte, sind weg. […] Und ich glaube
nicht mehr dran, dass man jemals anerkennen wird, was ich kann, dass ich wer
bin.«
Zu diesem Zeitpunkt hat sie eine Vorgesetzte, der sie halbwegs vertraut,
vermutlich deshalb, weil sie weiß, dass es in deren Familie auch jemanden
mit einer psychischen Erkrankung gibt. Ihr berichtet sie von ihrer Situ
ation, findet Verständnis und nimmt deshalb deren Rat an, sich in eine
Klinik zu begeben.
Dort erhält sie die Diagnose »emotional instabile Persönlichkeit vom
impulsiven Typ«, die sie für sich in die Diagnose »Borderline« übersetzt,
da sie diese – während einer früheren ambulanten psychotherapeutischen
Kurztherapie – recherchiert und für sich als zutreffend erkannt hat:
»Und ich hab das früher befürchtet und wollte das aber nie vertiefen und mich da
nie damit beschäftigen. Ich denke, es stimmt. Das macht mich echt fertig.«
Inzwischen ist Frau F aber bereit, sich ernsthaft mit ihren psychischen Pro
blemen auseinanderzusetzen. Hat sie in der früheren Therapie die Deutung
ihrer Therapeutin, sie entwerte ihre Vorgesetzten und Kollegen, als »un
verschämt« zurückgewiesen und sofort einen Abbruch der Therapie erwo
gen, nimmt sie sich nunmehr vor, zugänglicher zu sein und anzuerkennen,
»dass ich […] manchmal [mit meiner Kritik] unter die Gürtellinie gehe.
159
Rolf Haubl
Aber ich mache es nicht sozialverträglich, ich mach es aggressiv. Subtil aggressiv. Das weiß ich.«
Ein Ziel von Frau F wird sein müssen, sich ihrem destruktiven Neid (vgl.
Haubl 2014) zu stellen. Denn der bringt sie dazu, Vorgesetzten und Kollegen
alle Verdienste abzusprechen und sie als Hochstapler zu entlarven.
»Ich komm damit nicht klar […], ich halte sie [Vorgesetzte und Kollegen] für lang
nicht so professionell und qualifiziert und so toll, wie sie auftreten und meinen,
dass sie das wären. Und es gibt nicht wenige Leute, die so sind. Grad wenn sie län
ger in irgendeinem Berufsbereich sind oder in irgendeiner Stelle und merken, sie
haben ihre soziale Hierarchie, ihren Platz in dieser Hierarchie, der sehr machtvoll
ist, auch gefestigt. Und solche Leute sind für mich die pure Provokation. […] Und
wo ich merke, man versucht, mich irgendwie so in eine Struktur hineinzuholen,
wo ich so Untergebene sein soll. Aber ich mach das nicht mit.«
7. Führung psychisch kranker Arbeitnehmer
Handelt es sich wie im Fall der hier vorgestellten ichstrukturell gestörten
Patientin um eine gravierende psychische Erkrankung, dann ist anzuneh
men, dass ein sechs bis zwölfwöchiger Aufenthalt in einer Klinik nicht
ausreicht, um sie zu kurieren. Insofern kehrt ein solcher Arbeitnehmer
nicht »nach der Krankheit« an seinen Arbeitsplatz zurück, sondern eher –
wie etliche unserer Fälle zeigen – als ein psychisch Kranker, der gebessert
und damit wieder leistungsfähiger ist, aber weiterer psychotherapeutischer
Begleitung bedarf.
Auf die Arbeitssituation bezogen heißt das: Die Wunschvorstellung
greift zu kurz, dass mit dem formalen Abschluss der betrieblichen ReInte
grationsphase kein weiterer Unterstützungsbedarf bestünde. Je schwerer die
psychische Erkrankung ist, desto länger anhaltend sind ihre Folgen. Unsere
Befunde legen nahe, zwei Phasen zu unterscheiden: die Phase der Reinte
gration im engeren arbeitsrechtlichen und arbeitstechnischen Sinne und
die Phase einer Nachsorge, die in einer achtsamen Begleitung besteht. (Vgl.
dazu auch den Aufsatz von Haubl und Engelbach in diesem Buch, »Raus aus
der Klinik, rein ins Leben – Überlegungen zum Entlassungsmanagement
nach stationärer psychosomatischpsychotherapeutischer Behandlung«.)
Die Führung psychisch vulnerabler Arbeitnehmer müsste zu den Aufga
ben ihrer Vorgesetzten gehören. Soweit unsere Erfahrungen reichen, zählt
160
Soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen
es aber bislang nicht zu deren Kernkompetenz, mit Betroffenen hinreichend
sensibel über bleibende psychische Gesundheitsrisiken zu sprechen.
Wer immer in einem Unternehmen ein aufrichtiges Interesse daran
hat, psychisch kranke Arbeitnehmer zu halten, der sollte – neben unbe
dingter Freiwilligkeit – eine bestimmte Haltung einnehmen und folgende
Gesprächsregeln beachten:
•
•
•
•
•
•
•
Vermeiden Sie psychosomatische Laiendiagnosen.
Sprechen Sie konkrete arbeitsbezogene Verhaltensweisen an, die – in
jüngster Zeit – negativ aufgefallen sind.
Vermeiden Sie es, alle diese Verhaltensweisen auf die Erkrankung des
Arbeitnehmers zurückzuführen.
Zeigen Sie Gesprächsbereitschaft, ohne Druck auszuüben.
Vermeiden Sie eine Bagatellisierung, aber auch eine Dramatisierung der
Situation.
Drohen Sie dem kranken Arbeitnehmer nicht mit Sanktionen, machen
Sie ihm aber zu gegebener Zeit klar, was Sie von ihm – auch an Bereit
schaft, sich professionell behandeln zu lassen – erwarten.
Bieten Sie ihm an, dazubeizutragen, die benötigte professionelle thera
peutische Hilfe zu finden.
Darüber hinaus ist an Maßnahmen zu denken, die die gesamte Belegschaft
betreffen:
•
•
•
Holen Sie psychisch kranke Arbeitnehmer aus einer drohenden Isola
tion heraus, indem sie ihrer Belegschaft geeignete Fortbildungsmöglich
keiten anbieten, die deutlich machen, wie viele Menschen von psychi
schen Erkrankungen betroffen sind.
Informieren Sie sich und Ihre Belegschaft im Rahmen solcher Fortbil
dungen darüber, was von einem Arbeitnehmer mit einem bestimmten
Krankheitsbild realistischerweise (nicht) zu erwarten ist.
Bauen Sie langfristig ein Netzwerk von inner und außerbetrieblichen
Institutionen auf, die für Prävention und Rehabilitation als Teil einer
salutogenen Organisationskultur zur Verfügung stehen.
Inzwischen gibt es zahlreiche Aufklärungsprogramme, die genutzt werden
können. Allerdings sind keine Wunder zu erwarten. Untersuchungen zei
161
Rolf Haubl
gen, dass die vorhandenen Programme nur mäßig erfolgreich sind (Szeto/
Dobson 2010). Zu den minimalen Erfolgsbedingungen gehört: Die Programme müssen an den Ängsten ansetzen und dürfen Probleme in der
Aufgabenerfüllung wie in der sozialen Integration am Arbeitsplatz nicht
herunterspielen.
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163
Perspektive 2
Therapie und Klinikaufenthalt
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
Subjektive Krankheitstheorien und Behandlungserwartungen
von Patienten einer psychosomatischen Klinik
Nora Alsdorf
Verschlechtert sich der Gesundheitszustand eines Menschen, so bildet er
eine Theorie bezüglich seines Leidens und dessen Ursache. Lange bevor
jemand in das ärztliche Expertensystem eintritt, hat er mit seinem Alltagswissen versucht, eine Erklärung für seinen Zustand zu finden. In der
modernen Gesellschaft gehen in diese subjektiven Krankheitstheorien so
wohl soziokulturelle Annahmen über die Krankheit und ihre Wirkungs
zusammenhänge als auch Versatzstücke abgesunkener wissenschaftlicher
Theorien ein. Faller (1993, S. 357) definiert sie »als die gedankliche Kon
struktion Kranker über das Wesen, die Entstehung und Behandlung ihrer
Erkrankung«.
Als Laientheorien weichen diese subjektiven Krankheitstheorien mehr
oder weniger stark von wissenschaftlichen Krankheitskonzeptionen ab
(vgl. Furnham 1988). Sie reduzieren verunsichernde Komplexität und sug
gerieren ein Gefühl von Kontrolle, indem sie Inhalte rationalisieren (vgl.
Lavery/Clarke 1996). Subjektive Krankheitstheorien sind insbesondere für
das individuelle Gesundheitsverhalten relevant. In dem Maße, in dem Pa
tienten versuchen, den Grundsätzen ihrer Theorie Folge zu leisten, wirken
sie auf die Krankheitsverarbeitung als »Gesamtheit der Prozesse, um be
stehende oder erwartete Belastungen im Zusammenhang mit Krankheit
emotional, kognitiv oder aktional aufzufangen, auszugleichen oder zu
meistern« (Muthny 1989, S. 6), ein.
Für Betroffene ist zudem die Sichtbarkeit ihres Leidens von hoher Be
deutung, denn sie entscheidet mit über den Zeitpunkt des Eintritts in das
medizinische Expertensystem. Je sichtbarer und bedrohlicher die Anzei
167
Nora Alsdorf
chen einer Erkrankung, die Intensität des Schmerzes und die Einschränkung im Alltag sind, desto schneller erfolgt der Eintritt in das Hilfesystem
(vgl. Cockerham 1998). Wirken Krankheitssymptome dagegen zu bedrohlich und überfordernd für die vorhandenen psychischen Bewältigungsstrategien, kann es auch zu einer Verleugnung kommen, die den Zeitpunkt der
Hilfesuche hinauszögert (vgl. Siegrist 2005).
Durch die Konstruktion einer subjektiven Krankheitstheorie ist ein
(kranker) Mensch in der Lage, Vorhersagen über seinen Krankheitsverlauf
zu machen und Entscheidungen über den Umgang und die Therapie der
Krankheit leichter treffen zu können (vgl. Salewski 2002, S. 159). Diese
Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien für die therapeutische Praxis
steigt mit zunehmender Thematisierung von Gesundheit und Krankheit
in der medialen Öffentlichkeit. Besonders via Internet sind Informationen
zu Diagnosen und Behandlungen abrufbar, die früher nur eingeschränkt,
zum Beispiel durch einen Arztbesuch, verfügbar waren.
Der erleichterte Informationszugang verändert die Haltung gegenüber
ärztlichen Diagnosen, da viele Patienten schon eine ausgeprägte Theorie
bezüglich ihrer Beschwerden haben, wenn sie sich an einen Experten wen
den. In der Behandlung kann dies zur Herausforderung für den Therapeu
ten werden, denn erfolgreiche Behandlungen zeichnen sich auch dadurch
aus, dass Behandler und Patient ein Modell für die Entstehung und den
Verlauf der Belastung teilen (vgl. Frank 1987). Das gilt insbesondere für die
Erwartung an die Behandlung, die der Patient unausgesprochen an den
Therapeuten heranträgt, denn die laientheoretischen Metaphern steuern
das Fühlen, Denken und die Handlungsbereitschaft.
In ihrer Summe erzeugen sie ein Feld kollektiver Verständigung, wofür
die protowissenschaftliche Kategorie »Burnout« beispielhaft steht. Mit Ein
tritt in das Expertensystem werden die Laientheorien überformt, in den
seltensten Fällen gänzlich ersetzt; gelegentlich existieren Laientheorie und
Expertentheorie auch nebeneinander. Bezieht man dies auf das therapeuti
sche Setting, so lernt der Patient, sich in den Kategorien des Therapeuten
zu beschreiben, und der Therapeut versucht, Kategorien zu wählen, die an
die Alltagssemantik der Patienten anschließen.
Aus soziologischer Perspektive und vor dem Hintergrund der Dis
kussion um die »Subjektivierung von Arbeit« (z. B. Moldaschl/Voß 2002;
Voswinkel 2001) ist die Rolle der Erwerbsarbeit in subjektiven Krank
heitstheorien von Interesse. Werden die psychosozialen Belastungsrisiken
168
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
spätmoderner Arbeit – steigender Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung,
zunehmende Befristung von Arbeitsverträgen – zum Thema individueller
Verantwortlichkeit gemacht, stehen oftmals Erfahrungen von Erschöpfung
und Scheitern an der Stelle einer erfolgreichen Bewältigung.
Für den vorliegenden Beitrag wurden Interviews mit Patienten einer
psychosomatischen Klinik geführt und im Hinblick auf die subjektiven
Krankheitstheorien ausgewertet. Bestehende Untersuchungen zu subjek
tiven Krankheitstheorien, die sich auf somatische Beschwerden beziehen
(z. B. Leventhal/Nerenz 1985), haben unter anderem die Ursachenzuschrei
bung als relevanten Parameter subjektiver Krankheitstheorien identi
fiziert.1 Auch für psychische Leiden sind diese zunächst retrospektiv an
gelegten Kausalattributionen von hoher Relevanz, da sie in Gestalt von
Erwartungen und Handlungsbereitschaften auch prospektiv Wirkung ent
falten. Des Weiteren beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit subjekti
ven Interpretationen bezüglich des psychischen Zustands und der Trag
weite der mit ihm verbundenen Dynamiken: Wie versteht der Patient sein
Leiden, seine Erkrankung, und welche Erwartungen oder Widerstände
resultieren aus diesem Verständnis?
1. Deutungstypen und Fallbeispiele
Bei der Analyse der Interviews wurde deutlich, dass sich einige Vorstel
lungen und Zuschreibungen der Patienten ähnelten, während andere sich
deutlich voneinander unterschieden. Um diese Vielfalt zu bündeln und auf
relevante Merkmalskombinationen zu reduzieren, wurde eine Typisierung
vorgenommen (vgl. Kluge 1999). Jedem Typus liegt eine Merkmalskonfigu
ration zugrunde, die ihn von anderen abhebt, wenngleich es auch zu Über
schneidungen kommt. Die Erwartung an die Klinik bietet sich aus der For
schungsperspektive als zentraler Parameter an.
Die von den Betroffenen auf die Klinik gerichteten Hoffnungen sind
eng verbunden mit der Kausalattribution ihres Leidens und nehmen Ein
1 | Subjektive Krankheitstheorien umfassen nach Leventhal/Nerenz (1985) fünf
Dimensionen: Kausalattribution, Hypothesen bezüglich der Dauer der Erkran
kung und der antizipierten Konsequenzen, Kontrollüberzeugungen, Einschät
zungen der Heilungschancen und allgemeine Konsequenzen.
169
Nora Alsdorf
fluss auf den späteren Therapieverlauf, indem sie die Haltung des Patienten
im therapeutischen Setting wesentlich prägen. Auf Basis der Interviews
lassen sich vier Deutungstypen zur Bedeutung des Klinikaufenthalts unter
scheiden: Erholung, Reparatur, Selbstfindung und Krankheitseinsicht.2
1.1 Deutung: Erholung
Die Patienten fühlen sich erschöpft und erhoffen sich durch die Klinik eine
Auszeit, um sich erholen zu können.
Die Aussage, sich mit dem Klinikaufenthalt eine »Auszeit« zu gönnen, um
sich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen, wurde immer wieder
getroffen. Hinter der Aussage steht offenbar die Vorstellung, die bevorste
hende Therapie sei vergleichbar mit einem Erholungsurlaub oder Kurauf
enthalt, und in der Tat wurden diese von den Patienten vielfach parallel
beantragt. Vom stationären Setting erhoffen sie sich eine Distanz zu ihren
alltäglichen Problemen, die in ihrem Alltag nicht gelingt. Viele der Pa
tienten haben sich vor dem Entschluss, in die Klinik zu gehen, einige Zeit
krankschreiben oder beurlauben lassen, um sich zu regenerieren und an
schließend gestärkter zu sein. In diesen Fällen war diese Strategie jedoch
nicht ausreichend, um die aktuelle Krise zu bewältigen und die Belastung
zu reduzieren, weshalb nun doch eine (teil)stationäre Therapie helfen soll.
Der Typ »Erholung« umfasst Patienten, die einen so gravierenden Er
schöpfungszustand aufweisen, dass sie zunächst zu Kräften kommen
wollen, bevor sie in die eigentliche therapeutische Arbeit gehen möchten
(z. B. die Verbesserung der eigenen Abgrenzungsfähigkeit). Diese Patienten
zeichnen sich vorrangig durch einen regenerativen Fokus aus und sind in
unserem Sample vorwiegend durch Frauen vertreten. Im Durchschnitt wa
ren die Patienten 37,8 Jahre alt.
Erwerbsarbeit war im Leben dieser Patienten insofern bedeutungs
voll, als Anerkennung zwar erhofft, jedoch nicht in zufriedenstellendem
Maße empfangen wurde. Die aus dem unerfüllten Anerkennungswunsch
resultierende Kränkung hatte ein resignatives Abwenden vom Arbeitsplatz
und eine Neuverteilung der Prioritäten zur Folge: Zukünftig soll die Arbeit
2 | Ein Überblick zu den Typen und ihren Merkmalen findet sich in tabellari
scher Form am Ende des Artikels.
170
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
dem Privatleben untergeordnet und durch weniger Verantwortung Belastungspotenzial reduziert werden.
Die Patienten beklagen sich darüber, seit einiger Zeit unglücklich zu
sein und sich aus diesem Zustand nicht wirksam befreien zu können:
»Also, ich hab seit fünf Jahren irgendwie keine Glücksgefühle mehr. […]
Und es hat jetzt angefangen mit der Arbeit, also die Arbeit war jetzt so der
Hauptgrund, warum das Ganze ausgelöst wurde.« (Herr H) Der Arbeits
platz wird als Mitverursacher für den Erschöpfungszustand gedeutet, der
im Verbund mit alltäglichen Belastungen – etwa Vereinbarkeit von Familie
und Beruf oder Pflege Angehöriger – in den Zusammenbruch führte.
Insgesamt soll die Therapie als Erholungsort, aber auch als Motivator
für mehr Lebensenergie fungieren. Die Klinik soll zur Verbesserung der
aktuellen psychischen Lage beitragen, die Bearbeitung tiefer liegender
Konflikte steht zunächst nicht im Vordergrund. Die Wünsche, die sich an
die Klinik richten, entsprechen den Belastungsbeschwerden: Die Patienten
hoffen darauf, gekräftigt zu werden, mehr Energie und Lebensfreude zu
spüren und im besten Fall methodisch geschult zu werden, um zukünftig
vor einer solchen Situation bewahrt zu bleiben.
Vor allen Dingen zu Beginn steht dabei eine passive, reaktive Haltung,
welche dem Bild der Erholung entspricht: Die Veränderung soll von außen
kommen, während die Patienten ihren Beitrag durch eine Schonung der
Kräfte, durch eine Auszeit leisten. Zugespitzt formuliert, wird der Thera
peut bei einem solchen Therapieverständnis zu einer Art »Refresher«, der
die Lebensenergie der Patienten wieder auffrischen soll. Aus therapeuti
scher Sicht ist eine Haltung gefragt, die Verständnis für den akuten Er
schöpfungszustand aufbringt und behutsam mit dem subjektiven Krank
heitsverständnis der Patienten umgeht: Die Bereitschaft, tiefer gehend
therapeutisch zu arbeiten, muss in solchen Fällen überhaupt erst geschaffen
werden.
Fallbeispiel: Frau C
»Ich denk einfach, dass ich ein bisschen überfordert bin mit allem und einfach
mal wieder ein bisschen zur Ruhe kommen muss.« (Frau C)
Frau C ist mittleren Alters, Kauffrau und arbeitet seit einem Jahr in einem
Industrieunternehmen. Sie ist alleinerziehend und beklagt sich darüber,
171
Nora Alsdorf
Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu haben. Sie
werde ihrem Sohn, der eigentlich einen erhöhten Betreuungsbedarf habe,
nicht mehr gerecht. Zudem sei die Beziehung zu ihrem jetzigen Freund
durch dessen Schichtarbeitsdienst beeinträchtigt und eine gemeinsame
Zeit durch die familiäre und berufliche Situation nur sehr reduziert mög
lich. Frau C berichtet, früher sportlich aktiv gewesen zu sein oder Spazier
gänge mit ihrem Vater unternommen zu haben, wozu sie aber nicht mehr
komme. Inzwischen habe sie das Gefühl, ihr »ganzes Umfeld nicht mehr
auf die Reihe zu bekommen«.
Ihre berufliche Situation beschreibt Frau C als anstrengend, oft gebe es
Ärger, und es sei sehr stressig. Es falle ihr schwer, Arbeit zu delegieren, Pau
sen mache sie inzwischen gar nicht mehr. Anerkennung, Unterstützung
und Mitgefühl vonseiten der Kollegen oder des Arbeitgebers erhofft sie sich
zwar, diese würden ihr aber nicht entgegengebracht.
Die ersten Erschöpfungserscheinungen zeichneten sich bereits vor
zwei Jahren ab. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Unternehmen, für das
sie arbeitete, aufgekauft und umstrukturiert. Zunächst hatte Frau C sich
davon neue Aufstiegsmöglichkeiten erhofft, die sich aber recht schnell zer
schlugen. Stattdessen verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand in
folge der neuen Arbeitssituation, Symptome wie Panikattacken nach dem
Schlaf, Schweißausbrüche und Herzrasen traten auf. Sie hat daraufhin den
Arbeitsplatz gewechselt, aber auch dort sind die Symptome nach einiger
Zeit wieder aufgetreten und haben sich teilweise sogar verschlimmert. Im
Zuge dessen habe sie sich in den letzten Monaten »komplett abgekapselt«
und sei gar nicht mehr aus dem Haus gegangen, Freunde und Familie hät
ten sich schon Sorgen gemacht.
Frau C beklagt sich über eine anhaltende Antriebslosigkeit, die dazu
führe, dass sie nur noch die nötigsten Aufgaben erledige und ein perma
nentes Bedürfnis nach Erholung verspüre.
Das ausschlaggebende Ereignis für ihre Entscheidung, die Klinik auf
zusuchen, sei ein Nervenzusammenbruch mit starken Schweißausbrüchen,
Zittern und Erbrechen im Beisein ihres Freundes gewesen, der sie darauf
hin gedrängt habe, sich professionelle Hilfe zu holen. Da habe sie die »Not
bremse« gezogen und sich um einen Klinikplatz bemüht. Frau C hat sich
für die Tagesklinik entschieden, da sie sich um ihren Sohn kümmern muss.
Sie beschreibt die Therapie als einen Erholungsort für Gleichgesinnte:
172
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
»Das ist halt wie so ein Krankenhaus, ich hab da so Therapien, ich krieg da Massagen und kann mich ausruhen und rede dann halt mal mit ein paar Leuten, denen
es auch vielleicht nicht so toll geht wie mir […].«
In der Klinik, hofft Frau C, werde sie nachhaltig zur Ruhe kommen, um
mit neuen Kräften ihr Leben wieder motivierter gestalten zu können:
»Ich erhoffe, dass ich halt vielleicht ein bisschen lerne, dadurch ruhiger zu werden
[…] ja, vielleicht, dass ich durch so was irgendwie geweckt werde – ei, jetzt reg
dich doch nicht über so was auf, du weißt ja, es gibt ja viel Schlimmeres, bleib mal
ruhiger – ja, und durch die Gespräche, denk ich mal, hoffe ich mal, dass ich da ir
gendwann mal wieder so an den Punkt komme, wo ich mal war – wär schön, sich
mal wieder auch auf Sachen zu freuen, mal wieder – ja, Freude dran zu haben,
mal was zu unternehmen.«
Für die Zukunft hofft Frau C, entspannter an Stresssituationen herantreten
zu können, sie will sich auch schützen, indem sie den anerkennungsarmen,
kränkenden Arbeitsplatz verlässt und zukünftig die Anzahl der Arbeits
stunden reduziert. Auch wenn dieser Vorsatz zunächst einen selbstfürsorg
lichen Gedanken nahelegt, so hat er auch einen passiven, resignativen An
teil. Frau C denkt auch darüber nach, zukünftig eine Tätigkeit zu wählen,
bei der sie weniger Verantwortung trägt und dadurch psychisch weniger
belastet ist:
»Vielleicht, wenn’s halt für den Anfang wirklich was Entspanntes ist und wenn
ich halt wirklich nur irgendwo ein paar Regale einräume oder Bestände zähle
oder mich halt auch mal an die Kasse setze […] irgendwas, wo ich halt auch nicht
so viel denken muss oder die Angst haben muss, wenn jetzt was schiefgeht: ›Oh
mein Gott, das ist ja wieder mit immensen Kosten verbunden, dann kommt dein
Chef wieder und dann gibt’s wieder Terror‹ […].«
Ihr Konzept für die zukünftige Lebensführung sieht vor, Überforderung
im Umfeld zu reduzieren (oder womöglich ganz zu vermeiden) und gleich
zeitig eine innere Haltung anzunehmen, die es erlaubt, entspannter mit
auftretendem Stress umzugehen.
Mit den Belastungen am Arbeitsplatz möchte Frau C sich in der Thera
pie aber explizit nicht beschäftigen:
»Den Punkt will ich jetzt echt mal irgendwie zur Seite schieben und gar nicht drü
ber nachdenken. Das ist für mich jetzt erst mal irgendwie so ein bisschen zweit
173
Nora Alsdorf
rangig; also, jetzt geht es erst mal um mich und meinen Sohn und dass das alles
mal wieder so ein bisschen ›glatt‹ wird, sag ich mal.«
Sie möchte sich mehr ihrem Sohn widmen können und mit ihm daran
arbeiten, die aufgetretenen Probleme zu mildern. Die Ursache ihres geschwächten Zustands schreibt sie der Arbeit und dem damit verbundenen
Stress zu, sodass die Suche nach einer Beschäftigung, die über ein geringes
Maß an Verantwortung mehr Energie für das Privatleben übrig lässt, nur
folgerichtig erscheint.
1.2 Deutung: Reparatur
Die Patienten haben das Gefühl, nicht mehr zu funktionieren, und erhoffen sich, von der Klinik wiederhergestellt zu werden.
Patienten dieses Deutungstyps haben einen ähnlich hohen Leidensdruck aufgrund ihrer belastenden Symptomatik wie die anderen Patienten,
heben sich aber insbesondere dadurch von diesen ab, dass sie die Therapie
möglichst zügig hinter sich bringen und schnellstmöglich an ihren Arbeitsplatz zurückkehren möchten. Dieser Typus stellt mit durchschnittlich 32
Jahren die jüngste Altersgruppe.
Die Hoffnungen und Vorstellungen bezüglich des bevorstehenden Kli
nikaufenthalts sind sachlichen Charakters: »Mit dieser Behandlung hier
jetzt vier bis sechs Wochen hat man es vielleicht, auf Deutsch gesagt, weg
therapiert irgendwie, die Symptome.« (Herr W) Die instrumentelle Sicht
weise auf die Therapie passt zu der Deutung der Krankheitsursache: Es
war einfach nur »zu viel«. Die Patienten haben sich ihrer Darstellung nach
selbst überlastet oder nicht über ausreichend wirksame Selbstfürsorgestra
tegien verfügt.
Generell herrscht ein subjektiviertes Verständnis von Selbstfürsorge
und Arbeitsorganisation vor: Dem Arbeitsplatz wird, wenn überhaupt, nur
eine Teilschuld im Sinne anspruchsvoller oder anstrengender Anforderun
gen angelastet. Die Hauptlast der Verantwortung trägt der Arbeitnehmer
selbst: »Das hat was mit der Branche zu tun und dadurch, dass jeder so
unter Zeitdruck ist. Und da muss sich jeder um sich selbst kümmern.«
(Frau A)
Salopp formuliert, soll die Klinik für diesen Deutungstypus »es wieder
richten«. Infolge eines erlebten Funktionsverlustes werden Hilfsmaßnah
174
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
men eingeleitet. Die pragmatische Haltung führt dazu, dass diese Patienten
der Therapie noch mit Vorsicht oder sogar Misstrauen gegenüberstehen:
»Also ich wär ja auch lieber, jetzt sag ich mal, in eine [Schmerz-]Klinik gegangen,
wie ich das im Grunde mein Leben lang mache, oder zum Arzt und der verschreibt mir dann irgendwelche Blocker wieder, und dann geht’s dann weiter […]
wenn ich mir vorstelle, da acht Wochen zu batiken, mich selbst zu finden, dann
bräuchte ich nach einer Woche die, keine Ahnung was, also das pack ich, glaub
ich, nicht.« (Frau E)
Das Zitat verdeutlicht, dass Patienten wie Frau E mit einer – vermutlich –
somatoformen Störung nicht automatisch zu einer Behandlung mit psy
chologischem Schwerpunkt bereit sind (vgl. auch Hiller 2005).
Die meisten Patienten befinden sich auf Anraten des Hausarztes in der
Klinik, da die bisherigen Maßnahmen nicht (mehr) zu einer Verbesserung
des Zustands verhelfen konnten. Joraschky (1998) stellt in diesem Zusam
menhang fest, dass psychische Einflüsse umso mehr abgelehnt werden, je
stärker die subjektive Krankheitstheorie auf ein somatisches Modell fest
gelegt ist. Für die Entstehungshintergründe der Symptomatik interessieren
sich diese Patienten weniger als für die Symptombehandlung selbst. Sie
möchten zudem bessere Selbstfürsorge oder eher Durchhaltestrategien
erlernen: »Ich erwarte mir, na ja, schon viele Tipps und Hilfestellungen.«
(Frau A)
Auch wenn Wünsche wie Abgrenzungsfähigkeit und Stressmanage
ment nicht nur bei diesem Typus zu finden sind, so ist ihre Motivation eine
andere. Es geht nicht um die psychische Gesundheit, sondern um die Wie
derherstellung der eigenen Funktionsfähigkeit und um die Optimierung
noch nicht zufriedenstellender Kompetenzen. Entsprechend der individua
lisierten Ursachenzuschreibung wird nicht auf der Ebene des Arbeitsplat
zes über Veränderungen nachgedacht, sondern dieser wird als unveränder
bar empfunden, und der Arbeitnehmer muss sich anpassen.
Für die therapeutische Praxis bedeutet eine solche Erwartungshaltung,
dass für den Patienten eine schnelle Linderung der Symptome im Vorder
grund steht und die Analyse der Ursache zweitrangig ist. Da kein Zusam
menhang zwischen Symptomatik und Psyche hergestellt wird, sind Wi
derstände in der Behandlung erwartbar. Die Bereitschaft, die Psyche und
ihren Schutz miteinzubeziehen, besteht eher im Sinne eines Präventionsge
dankens. Im Vergleich zum ersten Typus sind diese Patienten motiviert, an
175
Nora Alsdorf
sich zu arbeiten, auch wenn dies auf funktionalistischen Motiven beruht
und weniger einer reflexiven als einer instrumentellen Haltung entspricht.
Dem Therapeuten kommt in dieser Denkweise die Rolle eines neolibera
len »Tuners« zu, der das »System« wieder zum Laufen bringen soll und im
besten Falle optimiert.
Fallbeispiel Frau A
»Ich brauche jetzt akut Hilfe, weil es zieht ja auch immer mehr Zeit vorüber,
und es passiert nix. Das ist ja für mich Zeitverschwendung. Ich will bald wieder
arbeiten gehen, deswegen hätte ich das gerne alles ein bisschen schneller gehabt.«
(Frau A)
Frau A ist mittleren Alters und eine von drei Assistentinnen der beiden
Chefs einer großen internationalen Agentur. Ihre Situation deutet sie selbst
als »Burnout« – es sei inzwischen ihr zweiter, vor neun Jahren habe sie
schon einmal einen gehabt.
Sie habe sich auf Druck ihrer Freundin für die Klinik entschieden, da
sich ihr gesundheitlicher Zustand nicht mehr verbesserte. Frau A leidet
unter immer wiederkehrenden Erkältungen und fühlt sich erschöpft. Sie
hat sich für die Therapie entschieden, da sie keine weitere Zeit mehr ver
lieren wollte, denn in zweieinhalb Monaten will sie wieder fit und an den
Arbeitsplatz zurückgekehrt sein.
Ihre Arbeitssituation beschreibt sie als schnelllebig und hektisch, ver
weist allerdings darauf, dass dies ein Charakteristikum der Branche sei.
Schwierigkeiten bereitet ihr besonders die Anforderung, auf die unvorher
sehbaren Anliegen der ständig verreisten Chefs reagieren zu müssen, die
wiederum selbst den Wünschen der Kunden und wirtschaftlichen Ent
wicklungen zu folgen hätten. Weil sie sich nicht richtig konzentrieren kön
ne, mache sie dabei in letzter Zeit immer wieder Fehler. Dass sich an ihren
Arbeitsbedingungen etwas ändern ließe, kann sie sich nicht vorstellen. An
ihrem Arbeitgeber übt sie keine Kritik, sondern schildert ihn mitsamt den
Kolleginnen und Chefs als insgesamt positiv. Wurde sie am Arbeitsplatz
auf ihren Gesundheitszustand angesprochen, tat sie so, als sei sie am Abend
zuvor ausgegangen und nur deshalb angeschlagen: »Für mich war das wie
’ne Art Versagen, wenn ich das zugebe, dass ich gesundheitlich nicht mehr
kann.«
176
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
Sie habe bemerkt, dass sich ihr Zustand nicht besserte, aber Angst gehabt, das »Hamsterrad« zu verlassen. Sie befürchtete, dann würde »alles«
zusammenbrechen. Stattdessen lenkte sie sich mit noch mehr Arbeit ab:
»Umso mehr Ruhe ich mir gegönnt hab’, umso schlimmer wurde auch der
körperliche Schmerz, sag ich mal, den man dann auf einmal wahrnimmt.«
In dieser Perspektive war die Arbeit zwar überfordernd, aber zugleich das,
was einen Zusammenbruch verhinderte.
Andererseits berichtet Frau A, wie schwierig es war, beim Hausarzt mit
ihren Beschwerden ernst genommen zu werden und eine Überweisung in
die Klinik zu erhalten. Ihr Arzt habe sie zu früh – nach sechs Wochen –
nicht mehr krankschreiben wollen und auch ihre Suche nach einer Thera
peutin nicht unterstützt. Professionelle Hilfe habe sie sich dann selbst über
das Internet gesucht. Eigentlich wollte sie einen männlichen Therapeuten,
da sie sich eher als einen »rationalen« Menschen sieht und Bedenken hat,
mit einer Frau zu »gefühlsmäßig« arbeiten zu müssen. Doch die Suche er
wies sich als schwieriger als vermutet, weshalb sie nun doch bei einer The
rapeutin untergekommen ist.
Frau A beschreibt sich selbst als einen Menschen, der immer perfekt
sein will: »Ich glaube [dass ich] auch so ein bisschen daran verzweifelt bin,
da ich immer alles gerne perfekt gestalten wollte, was aber in der Branche
kaum möglich ist, weil das alles so schnell vorangeht, dass man nicht die
Zeit hat […].« Die Erwartungen an die Therapie entsprechen einem Funk
tionsfähiggemachtWerden, um wie bisher weiterarbeiten zu können – mit
effektiveren Abgrenzungs und Selbstfürsorgestrategien. Frau A erhofft
sich konkrete »Tipps« und »Hilfestellungen« zum Umgang mit Stress, will
zukünftig mehr auf sich selbst achten, sich klarer und abgegrenzter ausdrü
cken und nicht mehr versuchen, »everybody’s darling« zu sein.
Ihrer Deutung zufolge liegt die Verantwortung für eine Verbesserung
ihrer Situation bei ihr selbst, ebenso wie die Ursache für die Krise in den
eigenen Defiziten liege. Die belastenden Faktoren der Arbeit werden als
unvermeidlich angesehen; dass sie im Erkrankungsprozess eine Rolle spie
len, wird hingenommen und dethematisiert. Ziele sind die Behandlung
der Symptome und die Entwicklung einer wirksamen Strategie, um einen
Rückfall zu unterbinden. Eine Analyse möglicher tiefer liegender Themen
spricht Frau A nicht an.
177
Nora Alsdorf
1.3 Deutung: Selbstfindung
Die Patienten äußern das Gefühl, sich durch die Arbeit entfremdet zu haben, und möchten in der Therapie wieder zu sich finden.
Patienten dieses Deutungstyps kamen vermehrt mit einer starken Frus
tration in die Klinik. Die Arbeit war bislang der zentrale Bestandteil ihres
Lebens, und die persönliche Aufopferungsbereitschaft war sehr groß. In
einigen Fällen wurden über Jahre persönliche Belastungsgrenzen über
schritten und der private Lebensbereich vernachlässigt. Familie, Freund
schaften und Beziehungen mussten – sofern vorhanden – zurückstecken
oder gerieten vollends ins Abseits. Dementsprechend sind private Netz
werke schwach ausgebildet und Anerkennungsräume außerhalb der Arbeit
kaum vorhanden.
Die Patienten beschreiben, früher »Spaß« an ihrer Arbeit gehabt zu ha
ben, einige von ihnen seien auch »stolz« gewesen, für ihr Unternehmen zu
arbeiten. Im Laufe der Zeit sei jedoch ein Ungleichgewicht zwischen der
erbrachten Arbeit und der erfahrenen Gratifikation entstanden. Umstruk
turierungen, inkonsistente und willkürliche Regelungen, schwierige Kolle
gen oder Vorgesetzte und Unterbesetzung sind nur einige der genannten
Gründe.
Einige Patienten deuten ihren Arbeitsplatz inzwischen als einen Ort,
der krank mache, wenn keine ausgeprägten persönlichen Bewältigungsstra
tegien vorhanden seien: »Das System krankt irgendwie, und keiner küm
mert sich drum. Vielleicht muss man auch irgendwie den Tunnelblick ent
wickeln […], aber ich schaff das nicht …« (Herr D) Andere beschreiben
moralische Dilemmata, die darin bestehen, dass die Ausübung der Tätig
keit daran hindert, dem eigenen Selbstbild entsprechend zu agieren.
Allen Fällen ist das Gefühl gemein, sich durch die Arbeit vernachlässigt
und von sich selbst entfremdet zu haben, ein Gefühl, das die Patienten ver
unsichert: »Also, ich werde sozusagen vom Stein zum Schwamm. Und das ist
für mich ziemlich ernüchternd und in gewisser Weise auch schockierend.«
(Herr N) Dies sind Prozesse, die – den Beschreibungen nach – schleichend
eingetreten sind. Häufig wurde, was sich zum belastenden Dauerzustand
entwickelt hat, zu Beginn noch als Herausforderung empfunden. Anfangs
noch mit Spaß bei der Sache, gerieten die Patienten im Laufe der Zeit in
eine Belastungsfalle, aus der sie sich nicht erfolgreich befreien konnten.
178
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
Die Hoffnung, die diese Patienten an die Klinik richten, resultiert aus
dem Gefühl, sich selbst fremd geworden zu sein, sich in der Arbeit verloren
zu haben: Infolge der Kränkung, (zu) viel investiert, jedoch wenig zurück
bekommen zu haben, stehen nun Selbstwiederfindung und persönliche
Weiterentwicklung im Mittelpunkt. Die Patienten erhoffen sich in der Kli
nik eine Stabilisierung ihres emotionalen Zustands und darüber hinaus
eine Begleitung auf dem Weg, wieder die Person zu werden, die sie frü
her in sich gesehen haben. Zugleich erkennen sie, dass sie auch gewisse
Abgrenzungskompetenzen benötigen, um nicht wieder in eine ähnliche
Situation zu geraten.
Ein Großteil der Patienten würde am liebsten den Arbeitsplatz wech
seln; einige haben den Entschluss, nicht mehr an ihren bisherigen Arbeits
platz zurückzukehren, bereits gefasst. Sie haben das Bedürfnis, sich Zeit
für sich zu nehmen, sich selbst zu stärken und zu stabilisieren, um eine
Balance der Lebensbereiche herzustellen, bevor sie zurück in die Arbeit
gehen. Die Arbeit wird – so nehmen sie es sich vor – zukünftig nicht mehr
der Lebensmittelpunkt sein, weil der erlebte Selbstverlust zu groß war. Auf
die therapeutische Praxis wird in diesen Fällen die Erwartung gerichtet
sein, emotional stabilisiert und mit Lebensbewältigungs und Selbstfür
sorgestrategien versorgt zu werden. Die hohe Frustration gegenüber dem
Arbeitsplatz verlangt zudem ein vorsichtiges Herantasten an das Thema
Wiedereingliederung, da sich Patienten anderenfalls in ihrer Belastung
nicht ernst genommen und zu schnell in die Arbeit zurückgeschoben füh
len könnten.
Bildlich gesprochen, kommt dem Therapeuten hier die Funktion eines
»Advisers« zu, der den Patienten die Möglichkeit eröffnet, sich selbst zu
finden, und ihnen bei Schwierigkeiten mit Ratschlägen und Unterstützung
zur Seite steht.
Fallbeispiel: Herr U
»Erwartungen habe ich schon davon, dass ich auf jeden Fall erst mal gefestigter
bin, dass ich wieder mehr ich selbst bin.« (Herr U)
Herr U ist mittleren Alters und Buchhalter. Bereits zu Beginn des Interviews
betont er, zurzeit in einem äußerst labilen Zustand zu sein und möglicher
weise nicht alle Fragen beantworten zu können. Er weint häufig und insbe
179
Nora Alsdorf
sondere dann, wenn er auf seinen aktuellen Zustand zu sprechen kommt
und etwa beschreibt, dass er inzwischen so instabil sei, dass er kaum mehr
Telefonate, geschweige denn persönliche Gespräche führen könne, ohne
dabei in Tränen auszubrechen.
Herr U ist seit über 13 Jahren bei seinem gegenwärtigen Arbeitgeber.
Die ersten Jahre sei sein Arbeitsplatz »super« gewesen: Das Team habe gut
funktioniert, jeder habe seinen Aufgabenbereich gehabt, und er als Sach
bearbeiter konnte seine Arbeit in einer für ihn zufriedenstellenden Weise
erledigen. Die Firma habe sich außerdem bemüht, den Mitarbeitern durch
aufwendige Weihnachtsfeiern und gemeinsame Kurzurlaube eine Wert
schätzung für die geleistete Arbeit zu zeigen.
Vor etwa drei Jahren hat Herr U die Stelle seines früheren Vorgesetzten
übernommen, nachdem dieser sich mit der Firma überworfen hatte. Die
neue Position erschien zunächst als positive Entwicklung, denn Herr U
habe sich durch sie finanziell verbessern können. Doch zeitgleich expan
dierte das Unternehmen, und der Zuständigkeitsbereich von Herrn U
wuchs beträchtlich, ohne dass weitere Mitarbeiter eingestellt worden wä
ren. Die Arbeitsintensität stieg spürbar, während Sondervergütungen aus
blieben.
Herr U sieht die Arbeit als ausschlaggebenden Faktor für seinen Zu
stand. Der Druck auf der Arbeit sei schwer zu ertragen gewesen, und er
habe den Anforderungen nicht mehr gerecht werden können. An allen
Ecken habe es »gebrannt«, während weitere Projekte hinzukamen. Irgend
wann, so sagt er, habe er sich lediglich den akuten Krisen gewidmet: »Das
ist ja nicht ein Problem im Monat, sondern es sind Tausende Probleme
pro Tag.« Dieser Zustand habe dazu geführt, dass es Herrn U nicht mehr
möglich war, seine Tätigkeiten zu überblicken und zu strukturieren: »Ein
Arbeitstag von mir sieht eigentlich relativ unstrukturiert aus. Das heißt im
Endeffekt: Ich warte auf die Katastrophen, die da einfallen.«
Er bekomme Tausende von EMails pro Woche, habe aber keine Zeit,
sie zu bearbeiten. Hinzu kämen vermehrt obligatorische Meetings, die für
Herrn U lediglich einen Zeitverlust bedeuten, der nach Feierabend ausge
glichen werden muss. Herr U berichtet, dass keine Planbarkeit mehr mög
lich sei. Bedingt sei dies durch die internationale Vernetzung, aber auch
durch ungeklärte Zuständigkeiten im Standort selbst. Niemand habe für
die anstehenden Prozesse die Verantwortung übernehmen wollen, weshalb
fortwährend weiterdelegiert wurde. Er beschreibt das Dilemma, mit den
180
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
täglich zu treffenden Entscheidungen immer eine Gratwanderung machen
zu müssen, da Struktur und Ressourcen des Unternehmens nicht den An
forderungen der Expansion angepasst worden seien.
Fasst man die Schilderungen von Herrn U zusammen, so wird deut
lich, dass seine größte Belastung in dem Gefühl besteht, nicht mithalten
und sich keinem der zahlreichen Projekte und Aufgaben zufriedenstellend
widmen zu können. Prägend ist auch seine Angst, dass die fragile Struktur
des Unternehmens jederzeit zusammenbrechen könnte. Der Versuch, die
sen Druck zu kompensieren, ging auf Kosten seiner Gesundheit: »Ich bin
fertig! Ich bin absolut fertig! – Seit Januar gehe ich auf Volllast.« Urlaube
seien dagegen kaum möglich gewesen. Urlaub hätte bedeutet, seine Abtei
lung im Stich zu lassen, weshalb Herr U selbst noch weiterarbeitete, als er
bereits spürte, dass es zu viel wurde.
Herr U möchte aktuell nicht zurück an seinen Arbeitsplatz und ver
handelt anwaltlich bezüglich einer Abfindung. Er überlegt, ein Jahr zu pau
sieren und seine Diplomarbeit fertigzustellen, zu der er aufgrund des Jobs
nicht kam. Da die Arbeit seiner Deutung nach die Verursacherin seiner
aktuellen Lage ist, hat Herr U es nicht eilig, zurückzukehren. Trotzdem
sieht er auch eine eigene Teilschuld, da er sich selbst überfordert habe: »Ich
setz mich natürlich selber unter Druck […] ich hab immer funktioniert.«
Als alternative Tätigkeit schlägt er spontan Landschaftsgärtner vor – einen
Beruf, den erstaunlich viele Patienten der Studie benannten. Zum Symbol
des Gegenteils der bisherigen Tätigkeit auserkoren, steht dieser Beruf – ab
gesehen von romantisierenden Vorstellungen von Entschleunigung, Ruhe
und natürlichem Wachstum – vor allem für eines: gut zu bewältigende Auf
gaben, die sinnstiftend sind und wertgeschätzt werden.
In der Therapie will Herr U seine Stabilität zurückgewinnen. Er will
»gefestigter« werden und wieder mehr der Mensch sein, der er noch vor
einigen Jahren war: »Ich bin auch so normal ein emotionaler Mensch; aber
es ist jetzt nicht so, dass ich immer am Boden zerstört bin und immer rum
heule. […] Ich kenne mich so selber nicht. Und das ist für mich halt ganz
schrecklich, ja.« Er hat die Hoffnung, in der Klinik die »Basis« schaffen zu
können, die es ihm ermöglicht, über den Klinikaufenthalt hinaus auch im
Alltag bestehen zu können.
181
Nora Alsdorf
1.4 Deutung: Krankheitseinsicht
Einige Patienten vermuten, dass die Arbeit zwar der Auslöser, aber nicht die
Ursache für ihre Situation ist. Diese soll in der Therapie gefunden werden.
Die Patienten dieses Typs haben bemerkt, dass sie in ihrem Leben
immer wieder in ähnlich dilemmatische und oftmals psychisch überfordernde Situationen geraten. In der Therapie wollen sie herausfinden, wie
es dazu kommt, damit sie zukünftig anders handeln können. Sie sind in
unserem Interviewsample durchschnittlich die ältesten Befragten. Mit
einem Durchschnittsalter von 46 Jahren sind sie berufsbiographisch und
hinsichtlich ihrer Krankengeschichte die erfahrensten Patienten. Viele von
ihnen berichten, bereits lange oder sogar »schon immer« unter psychischen
Beeinträchtigungen – wie beispielsweise Depressionen oder starken Stim
mungsschwankungen – zu leiden.
Einige schildern, unter traumatischen Verhältnissen aufgewachsen zu
sein. Alle Patienten dieser Gruppe haben Therapieerfahrung und möchten
den Klinikaufenthalt nutzen, um die bisherigen Selbsterkenntnisse zu ver
tiefen. Auch dieser Deutungstyp beschreibt belastende Arbeitssituationen,
die oftmals durch Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten hervorgerufen
wurden. Dabei vermuten sie, dass es etwas mit ihnen selbst zu tun haben
könnte, sei es durch eine mangelhafte Abgrenzungsfähigkeit oder, im um
gekehrten Sinne, eine konfliktprovozierende Haltung.
In dieser Patientengruppe besteht zunächst eine hohe Bereitschaft
gegenüber der therapeutischen Arbeit. Bei einigen therapieerfahrenen Pa
tienten, die zuvor eine Art »AhaEffekt« in der Behandlung erlebt haben,
gibt es die Hoffnung, diesen nun wieder zu erleben oder an ihn anzuknüp
fen. So beschreibt eine Patientin, durch den ersten Klinikaufenthalt wieder
einen Zugang zu ihren Gefühlen bekommen zu haben. Dies wertet sie als
positive Entwicklung, jedoch mit der Einschränkung, dass sie nun noch
einen Weg finden müsse, mit diesen Gefühlen umzugehen:
»[D]as Problem ist jetzt, durch die erste stationäre Therapie sind die Gefühle wie
der geweckt worden, ich spüre die wieder, ich spüre den Ärger wieder und die Un
geduld und die Unzufriedenheit, und jetzt muss ich die managen. Und dadurch,
dass das so viel ist und diese neuen Gefühle kommen, kam ich nicht damit klar
und geriet ganz schnell wieder in, diesmal nicht mit Atemnot, diesmal bekam ich
ganz heftige Kreuzschmerzen, Schwindelgefühle.« (Frau P)
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»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
Die Auseinandersetzung mit einer als belastend empfundenen, manchmal
sogar traumatisierenden Vergangenheit ist nicht leicht und in einem Zeitrahmen von acht bis zwölf Wochen in der Klinik nur begrenzt zu leisten.
Auch wenn auf der kognitiven Ebene eine Auflösung der Grundkonflikte
gewünscht wird, ist der Prozess an sich nicht widerstandsfrei. Zu diesem
Typus gehören auch Patienten, die ein Störungsbild aufweisen, bei dem
eine vollständige Genesung ungewiss ist. Im Fokus der therapeutischen
Arbeit läge es in solchen Fällen, Möglichkeiten zu finden, den Alltag trotz
fortexistierender Probleme gut bewältigen zu können.
Die Patienten haben den Wunsch, Kontrolle über ihr Leben (wieder)
zu gewinnen. Zur Krankheitseinsicht gehört die Einsicht, womöglich
selbst Mitverursacher der eigenen Lebenssituation zu sein. Dies kann zu
nächst frustrieren, denn nicht jede Ursache ist gleich gut vor sich selbst
oder dem sozialen Umfeld vertretbar oder handhabbar. In solchen Fällen
kann es bereits ein Therapieerfolg sein, eigene Bedürfnisse für sich defi
nieren und einklagen zu können oder den Eigenanteil in Konfliktsitua
tionen auszuhalten. Der Therapeut wird, bildlich gesprochen, in diesem
Zusammenhang als eine Art »Explorer« adressiert, der gemeinsam mit den
Patienten auf die Suche nach den Konfliktursachen geht. Dabei kann es
passieren, dass er selbst Teil des Konfliktes wird: Diesen Prozess gemein
sam mit dem Patienten auszuhalten und zu reflektieren kann ein erster
Therapieerfolg sein.
Fallbeispiel Frau F
»Also, ich wünsche vor allem, dass ich besser mit meinen Gefühlen klarkommen
kann, weil auch auf der Arbeit die Leute darunter, ich will nicht sagen, leiden –
die gehen dann weg von mir.« (Frau F)
Frau F ist mittleren Alters und in der Verwaltung tätig. Sie ist in die Klinik
gekommen, weil sie »nicht mehr aufhören konnte zu weinen«. Nachdem
ihr 19jähriger Sohn ausgezogen ist und sie sich auf der Arbeit ausgegrenzt
fühlt, erleidet sie einen Zusammenbruch, woraufhin ihre Chefin sie an die
psychiatrische Ambulanz verweist. Es ist das erste Mal, dass Frau F statio
när aufgenommen wird, wenngleich sie bereits Therapieerfahrung hatte
und über längere Zeiträume Antidepressiva einnahm. Frau F beschreibt,
schon immer unter »depressiven Verstimmungen« gelitten zu haben. Mit
17 Jahren beginnt sie ihre erste ambulante Psychotherapie, mit 25 setzt
183
Nora Alsdorf
sie diese wegen ihrer Essstörung fort, mit Anfang 30 unterzieht sie sich
einer psychoanalytischen Therapie. Vor etwa vier Jahren folgt eine weitere
Kurzzeittherapie als »Krisenintervention«, da sie auf der Arbeit gemobbt
wurde. Nach dieser Intervention habe sie es dann »allein schaffen« wollen
und habe gegen den Rat der Therapeutin die Therapie nicht fortgesetzt.
Nachträglich wertet sie ihre Entscheidung ab: »Aber ich sehe ja, was das
Ergebnis war. (Lacht) Ich finde es sehr schwierig, festzustellen, dass ich an
scheinend doch schwerer gestört bin, als ich immer dachte.«
Frau F beschreibt eine schwierige Kindheit. Der Vater trennt sich von
der Mutter, als Frau F fünf Jahre alt ist, und gründet eine zweite Familie,
aus der sie nahezu ausgeschlossen worden ist. Frau F muss bei ihrer unter
Depressionen leidenden Mutter bleiben. Die Beziehung zwischen Mutter
und Tochter spitzt sich mit der Zeit zu: »Seitdem ich zwölf Jahre alt war,
haben wir uns fast jeden Tag geprügelt und angeschrien.« Mit 18 Jahren
geht Frau F für ein Jahr in ein Internat und zieht im Anschluss in eine
Wohngemeinschaft. Diesem Versuch ist ebenfalls kein Erfolg beschieden:
»Und für die [Mitbewohnerinnen] war ich ein Horror. Ich konnte nichts.
Ich war voll asozial auch. Ich hab echt alles stehen und liegen lassen,
nichts geputzt, anderen Leuten das Zeug weggefressen. Das war mir echt
egal.« Nach dem Abitur geht Frau F für ein Jahr ins Ausland, wo sie sich
verliebt. Sie kehrte mit dem Mann nach Deutschland zurück, heiratet
und wird schwanger. Die Ehe geht schon nach kurzer Zeit in die Brüche,
und sie zieht – wie bereits ihre Mutter – ihr Kind alleine auf. Frau F sagt,
sie liebe ihren Sohn, aber er habe ihr auch viele Möglichkeiten im Leben
genommen.
Im Gesprächsverlauf wird deutlich, dass Frau F bereits einige Beschäf
tigungsverhältnisse hatte. In allen wurde sie ihrer Selbstbeschreibung nach
gemobbt und anschließend entlassen. Sie räumt ein, dass sie an den Ereig
nissen eine Mitschuld trug, indem sie sich unangemessen gegenüber ihren
Vorgesetzen und Kollegen verhalten habe: »[…] also sie [Vorgesetzte] hat
gemeint, ich würde Grenzen überschreiten; ich glaube auch, dass ich das
manchmal tue; ich bin jemand, die große Probleme hat, Autoritäten zu
akzeptieren.«
Ihre momentane Arbeitssituation sei angespannt, obwohl sie sich mit
ihrer Vorgesetzten gut verstehe und auch die Kolleginnen weitestgehend
»okay« seien. Ihrer Einschätzung nach hat sie sich unbeliebt gemacht, weil
sie ihre derzeitige Stelle eingeklagt hat. Ihre Hoffnung, ihren geschädigten
184
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
Ruf im Laufe der Zeit durch gute Leistung rehabilitieren zu können, erfüllte sich aber nicht. Nach drei Jahren habe sie feststellen müssen, dass sie
das Fremdbild über sich nicht ändern könne. Sie fühlt sich stigmatisiert,
ungerecht behandelt und einsam.
Frau F leidet darunter, dass sie sich ungewollt als (Mit)Verursacherin
ihrer immer wieder entstehenden Konflikte erlebt: »Ich vergälle mir da
mit eben auch damit eigentlich Beziehungen zu Personen, die ich sehr
interessant und nett finde und auch mag.« Sie habe Schwierigkeiten, ihre
Gefühle zu kontrollieren: »Und ich merk auch, dass dahinter so eine Ge
walt und so eine Wut steht und dass ich was loswerden will und dass ich
dem anderen was reindrücken will. Und das mach ich unabhängig, wer
auch immer das ist. Das ist – kann ich nicht so gut – hab ich nicht gut
im Griff.«
In der Klinik möchte Frau F mehr innere Ruhe finden und hofft auf
neue persönliche und berufliche Perspektiven. Vor allem aber wünscht sie
sich mehr emotionale Stabilität und dass »[ich] vielleicht was über das Ver
hältnis von mir und anderen irgendwie herausfinde, was vielleicht hilfreich
ist für die Zukunft. Dass ich da vielleicht besser mit umgehen kann«.
2. Die Typologisierung in der Übersicht
Nach der Erhebung aller Erstinterviews zeichnete sich ab, dass die Erwar
tungen an den bevorstehenden Klinikaufenthalt sowie die subjektiven
Krankheitstheorien und Kausalattributionen – wie zuvor geschildert –
erhebliche Unterschiede aufwiesen. Im Auswertungsprozess wurden die
Interviews codiert3, paraphrasiert und anschließend anhand der zuvor
festgelegten Merkmale typisiert. Ziel des angewandten Verfahrens ist, eine
möglichst hohe Homogenität innerhalb eines Typs und zugleich eine hohe
Heterogenität (Trennschärfe) hinsichtlich einer Abgrenzung zu den ande
ren Typen zu erhalten (vgl. Kelle/Kluge 2010).
3 | Die Interviews wurden zunächst mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse
computergestützt codiert und anschießend typologisiert. Die Typisierung ent
stand anhand einer Codierung und Auswertung gemäß einer Inhaltsanalyse nach
Mayring (2008). Die computergestützte Analyse erfolgte mit MaxQDA.
185
Nora Alsdorf
Es wurden Realtypen gebildet, die im Gegensatz zu Idealtypen nicht
aus der Theorie hergeleitet, sondern als Abbilder sozialer Realität abduziert wurden (vgl. Reichertz 2013), was bedeutet, dass sie aus den konkreten Patientenerzählungen empirisch gewonnen wurden. Um die Gesamtheit der einem Typ zugeordneten Patienten darstellen und zugleich
von den anderen Typen abgrenzen zu können, sind die Typen in ihrer
Konzeptualisierung zum Teil prägnanter, als sie im Einzelfall tatsächlich
vorkommen. Zudem unterliegen Typisierungen anhand narrativer Interviews der Besonderheit, dass nicht in allen Interviews die gleichen Fragen thematisiert werden, wie es etwa bei einer quantitativen Studie der
Fall ist; somit sind in der Auswertung nicht alle Merkmale eines Typs in
einem Interview enthalten. Um dennoch eine Typisierung vornehmen zu
können, wurde daher nach konstitutiven (notwendigen) und fakultativen
(möglichen) Merkmalen unterschieden: Bestimmte Merkmale, wie beispielsweise die, die Erwartungen an die Klinik beschreiben, mussten auf
der konstitutiven Ebene stimmig sein, um abschließend einem Typ zugeordnet zu werden.
Abbildung 1: Verteilung der Patientenerwartungen an die Klinik
Quelle: eigene Darstellung
186
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
Das Schema in Abbildung 1 trägt diesem Umstand Rechnung. Es bildet
sowohl die typologisch relevanten Merkmalskonfigurationen ab als auch
die Überschneidungen, die sich in Gestalt von Grenzfällen manifestieren.
In Abbildung 1 wird deutlich, dass der Typ »Erholung« ein Grundbedürf
nis der Patienten bei der Einweisung in die Klinik darstellt. Nahezu alle
Patienten beschreiben im Erstinterview einen Erschöpfungszustand und
ein Bedürfnis nach Stabilisierung, welche den Wunsch nach Erholung
nachvollziehbar machen. Die meisten der Patienten formulieren darüber
hinausgehende persönliche Ziele oder Wünsche. Sei es, dass sie sich persön
lich optimieren wollen, um zukünftig besser arbeiten zu können (Typ »Re
paratur«), dass sie den Fokus zunächst auf sich selbst richten wollen (Typ
»Selbstfindung«) oder mehr über den Selbstanteil ihrer Krankheit erfahren
wollen (Typ »Krankheitseinsicht«).
Anmerkung: Der Wunsch nach Erholung stellte ein Grundbedürfnis
der Patienten bei Betreten der Klinik dar und ist somit ein übergreifendes
Merkmal im Interviewsample. Wurden über dieses Bedürfnis hinaus keine
weiteren Vorhaben benannt, sei es aus der persönlichen Haltung heraus
oder auch aufgrund der akuten Erschöpfung, wurden die Patienten dem
Typ »Erholung« zugeordnet. In den meisten Fällen äußerten die Patienten
jedoch Erwartungen, die zumindest eine Tendenz zu einem der anderen
Typen aufwiesen. Deutlich wird auch, dass ein Großteil der Patienten in
»Grenzgebieten« verortet wurde. Hier sind in den Merkmalen Überschnei
dungen gegeben.
Neben dem regenerativen Fokus des »Erholungstyps« lassen sich auch
den anderen Typen spezifische Foki zuweisen: Während der Typ »Repara
tur« einer instrumentellen Logik folgt, entsprechen die Typen »Selbstfin
dung« und »Krankheitseinsicht« einem reflexiven Fokus. In wenigen Fällen
wagen die Patienten auch einen Gedanken an einen »Neuanfang«, weshalb
dieser als Prototyp schematisch mitgedacht wird, jedoch keine Patienten
zuordnung erhält. In Tabelle 4 finden sich die gebildeten Typen in einer
tabellarischen Übersicht. In den Zeilen abgetragen sind die Merkmalskon
figurationen der Typenbildung.
187
Nora Alsdorf
Tabelle 4: Subjektive Krankheitstheorien: Deutungstypen und Erwartung an
die Klinik
Typus
1.
»Erholung«
2.
»Reparatur«
Merkmal
3.
»Selbstfindung«
4.
»Krankheitseinsicht«
Auslöser
Vorübergehende
Überlastung
Individuelle Un- Langjährige
zulänglichkeit Überlastung
Ungelöste
biographische
Konflikte
Erwartung an
die Klinik
Auszeit
Optimierung
Achtsamkeit
Selbsterkenntnis
Selbstbeteiligung
Passiv:
Aktiv:
Bedürfnis nach Aneignung von
Ruhe
Werkzeugen
und Strategien
Aktiv:
Veränderungswunsch und
-bereitschaft
Aktiv:
Konfliktklärung
Erwerbsarbeit
Eher ja
als Erkrankungsursache
(Belastung
wahrgenommen durch
Gratifikationskrise)
Eher nein
Eher ja
Eher nein
(Belastung
aufgrund
ineffektiver
Bewältigungsstrategien)
(Belastung durch
Selbstschutz
überfordernde
Arbeitsbedingungen)
(Belastung
durch interpersonelle
Konflikte)
Fokus
Regenerativ
Instrumentell
Reflexiv
Reflexiv
Kausalattribution bezüglich
der Erkrankung
Extern
Intern
Extern
Intern
Rollenerwartung an den
Therapeuten
»Refresher«
»Tuner«
»Adviser«
»Explorer«
Quelle: eigene Darstellung
In einer Gesellschaft, in der psychische Leiden immer häufiger werden, kom
men Patienten vermehrt mit einem vorgebildeten Krankheitsverständnis und
entsprechenden Erwartungen in die Behandlung. Dies erscheint angesichts
der eingeschränkten Objektivierbarkeit psychischer Leiden nachvollzieh
bar, zumal das massenmediale Informationsangebot diese Wissenslücken
zu schließen verspricht. Küchenhoff et al. (2004) gehen von der Annahme
aus, dass die Diagnostik, aber auch die Behandlung durch diskrepante Vor
188
»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
annahmen und unterschiedliche Ursachenbewertungen von Patienten und
Ärzten erschwert werden, weshalb eine Erforschung der subjektiven Krankheitstheorien und der damit verbundenen Therapiemotivation der Patienten4 hoch relevant ist und deshalb noch intensiver betrieben werden sollte.
Anzunehmen ist darüber hinaus, dass die eingehende Beschäftigung
mit der eigenen Erkrankung durch die im Zuge einer subjektivierten Leistungsethik formulierten Postulate nach individuell zu leistender Selbstfürsorge verstärkt wird. Die vorgestellte Typologie zeigt mögliche Parameter
solcher subjektiven Krankheitstheorien beispielhaft auf. Deutlich wurde,
dass unterschiedliche Interpretationen bezüglich der Krankheitsursache
und des Zusammenhangs mit der Erwerbsarbeit bestehen. Allen gemeinsam ist die Erfahrung einer persönlichen Kränkung, sei es im Sinne einer
mangelnden beruflichen Anerkennung oder im Kontext biographischer Kon
flikte. Dies spiegelt sich in unterschiedlichen Therapiewünschen wider: Möch
te dieser Patient stabilisiert werden, um schnellstmöglich wieder arbeiten
(»Reparatur«) oder um den Lebensalltag bewältigen zu können (»Krankheits
einsicht«), sucht jener einen Raum, um zur »Ruhe zu kommen« (»Erholung«)
oder um sich aktiv mit der eigenen Person zu konfrontieren (»Selbstfindung«).
Leiden ist objektiv schwer messbar, besonders wenn es psychisch ist. Es
ist ein individuelles und subjektives Phänomen und wirkt sich von Mensch
zu Mensch unterschiedlich aus. Jedoch ist die jeweilige Theorie davon, was
hilfreich und womöglich »heilend« sein kann, hochbedeutsam. Für eini
ge Patienten ist bereits die Suche nach professioneller Unterstützung als
aktive Handlung entlastend und trägt dazu bei, sich aus einer subjektiv
empfundenen Hilflosigkeit zu befreien. Andere sehen sich dringend auf die
therapeutische Hilfe angewiesen. Wieder andere müssen von der eigenen
Hilfsbedürftigkeit erst noch überzeugt werden. Eines gilt dabei in jedem
Fall: So unterschiedlich die Erwartungen an die Klinik im Kontext subjek
tiver Krankheitstheorien sind, so unterschiedlich sind die therapeutischen
Strategien und Herangehensweisen, die sie nahelegen.
Um die Laienätiologie in der therapeutischen Arbeit berücksichtigen
und den Patienten dementsprechend behandeln zu können, sollte der
Therapeut eine Vorstellung davon haben, welche Erwartungen ihm dabei
4 | Ebenso relevant und bedeutsam wäre auch eine Erforschung der Experten
theorien durch die Ärzte und wie diese mit denen der Patienten vereinbar sind.
(Hierzu auch der Artikel von Sabine Flick in diesem Buch.)
189
Nora Alsdorf
begegnen können. Die vorgestellten Deutungstypen geben hierbei einen
ersten Eindruck, welches Spektrum auftreten kann. Zu berücksichtigen ist
jedoch auch, dass die Wünsche, die die Patienten im Interview geäußert
haben, auf einer rationalen Ebene getroffen wurden. Dies ist in der tatsäch
lichen therapeutischen Arbeit nicht immer gegeben. Die Patienten mögen
an diesen Wünschen in der Therapie zwar festhalten, können sie aber wo
möglich gar nicht zulassen.
Hierzu ein kurzes Beispiel: Ein Patient des Typus 4, Krankheitseinsicht,
möchte an seiner Beziehungs und Abgrenzungsfähigkeit arbeiten. Auf
grund traumatisierender Erfahrungen in der Vergangenheit verfolgen ihn
Panikattacken, die unerträglich für ihn werden, wenn er in konflikthafte
Situationen gerät. In der Therapie möchte er an seinem Trauma arbeiten,
um dem Alltag standhalten zu können. Als dort die traumatischen Erleb
nisse besprochen werden, erleidet der Patient einen Zusammenbruch, der
seine Stabilisierung erforderlich macht und die psychoanalytische Arbeit
nur noch sehr bedingt ermöglicht. Das Beispiel zeigt auf, dass sich die
Typen auch innerhalb der Behandlung verändern können. Von Bedeutung
ist, dass Patient und Therapeut nicht gänzlich konträre Therapie und
Zielvorstellungen aufweisen und auch diese Änderungen gemeinsam re
flektieren.
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»Ich brauche jetzt akut Hilfe!«
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191
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
Psychodynamische Überlegungen
zu einer pragmatischen Lösung
Ute Engelbach
Das Thema »Abgrenzung« wurde in der vorliegenden Untersuchung besonders in den Interviews am Ende der Behandlung (t2) von der Mehrzahl der Patienten eingeführt und stellte sich als eine Art Hoffnungsträger
heraus, eine zentrale Erkenntnis zur Überwindung ihrer Probleme oder
zumindest als der identifizierte Mangel in der Entstehung der aktuellen
Krise. In wiederkehrenden Schlagworten, mit denen Patienten ihre Thera
pieerfolge reflektierten, beschrieben sie sich entweder als noch in der Phase
des Erarbeitens neuer Strategien befindlich, »Wie sag ich Stopp?« (Frau E),
oder als diesen Schritt bereits vollzogen habend, »Indem ich einfach mal
sage: Stopp, jetzt reicht’s!« (Herr N)
Es erscheint neben der Selbstakzeptanz als die zentrale Botschaft, die
aus der Behandlung extrahiert wird, ob wie bei Frau K zumindest anteilig
die Krise in einem »extrem grenzüberschreitenden Chef« attribuiert wird
oder bei Frau G, die als Erkenntnis »immer nur für alles Ja sagen« verant
wortlich macht, oder als Schlüssel zum Weg in die Veränderung: »Ich will
das lernen, mich abzugrenzen« (Frau I), »Du musst da raus, du musst dich
abgrenzen, du musst Nein sagen!« (Frau L), »Das muss sicherlich geändert
werden, also es müssen früher Grenzen gesteckt werden« (Herr U), »Auf
Pausenzeiten achten« (Frau K), »Mich durchzusetzen, Grenzen zu setzen«
(Herr H), »Nicht gleich zu allem Ja sagen« (Frau A).
Zu dem Thema lassen sich zahlreiche Ebenbilder in den Arztberichten
wiederfinden – zumeist deckungsgleich bei denselben, aber zuweilen auch
bei den Patienten, die das Thema nicht eigenständig eingeführt haben. In
den Verläufen wird berichtet von Schwierigkeiten in der Abgrenzung zu
193
Ute Engelbach
Mitpatienten, Reflexionen über mangelnde Abgrenzung als destabilisie
renden Faktor vor psychischer Dekompensation, über psychodynamische
Überlegungen zu mangelnder Abgrenzung aufgrund der persönlichen
Biographie oder Reflexionen über dysfunktionale Grundannahmen dazu,
über eine resultierte bessere Wahrnehmung eigener Grenzen im Rahmen
der Behandlung bis hin zum Einüben von konkreten Strategien.
»Sichabgrenzen« und »Neinsagen« sind von den Patienten wahrgenom
mene notwendige Überlebensstrategien, insbesondere in der heutigen
(Arbeits)Welt. Internet und Ratgeberregale sind gefüllt mit Titeln, Tipps
und Thesen zu diesem Thema: »Nein sagen ohne Schuldgefühle«, »Nein
sagen […] für Frauen, für Männer, für Kinder […] im Beruf, im Alltag […]«.
Mitunter wird bei diesen Angeboten der Anschein erweckt, dass es sich
in erster Linie um einen Soft Skill im Sinne einer erlernbaren Kommu
nikationsfähigkeit handeln müsse. Gleichermaßen halten verschiedene
Therapieschulen Übungen oder Module vor, die genau diese Bedürfnisse
befriedigen bzw. diese Kompetenz trainieren sollen, so zum Beispiel im
Sozialen Kompetenztraining (vgl. Alsleben/Hand 2013; Hinsch/Pfingsten
2007), im Fertigkeitentraining im Rahmen der DialektischBehavioralen
Therapie (Linehan 1996) oder auch in den Körpertherapien (z. B. Waibel/
JacobKrieger 2009).
Neben dem Wunsch nach einem souveränen Nein in der Abgrenzung,
das sich vermeintlich hinter oben beschriebener Erkenntnis verbirgt, lässt
sich über verschiedene Bedeutungen hinter dem Neinsagen spekulieren:
Eine Haltung des Neinsagens im Sinne des Trotzes – solche Neinsager
könnten alles zum Erliegen bringen. Jasagen und Neinsagen können als
ritualisierte Haltung der Entlastung dienen, weil dadurch keine Situa
tionsflexibilität erforderlich ist, das hieße Reduktion von Komplexität und
Ersparnis des Nachdenkens. Nein kann als verkapptes Ja fungieren, dem
man eigentlich misstraut, ein hilfloses Nein aus Überforderung sein, Nein
kann als »fishing for compliments« oder zu politischen, strategischtakti
schen Gründen eingesetzt werden. Die Beweggründe hinter den Worten
»Du musst Nein sagen!« bzw. die Schwierigkeiten, die die untersuchten Pa
tienten mit der Abgrenzung innerpsychisch hatten, sollen im Folgenden
herausgearbeitet werden.
194
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
1. Einzelfallanalysen in Bezug auf das Thema »Abgrenzung«
Für die erste Analyse wurde das Material aus der Einzelfallanalyse einer
Patientin ausgewählt, die gewissermaßen eine Art »Prototyp« des NichtNein-sagen-Könnens in der Patientenstichprobe darstellte. Bereits im Erstinterview formulierte sie selbst ihre Abgrenzungsschwäche als zentralen
Auftrag an die Behandlung, deren psychodynamischer Fokus vornehmlich
auf der Konfliktachse (Arbeitskreis OPD 2006) lag. Kontrastierend dazu
wurde eine zweite Analyse eines Patienten ausgewählt, dessen Behand
lungsfokus vorrangig im Bereich der Strukturthemen (ebd.) angesiedelt
war.
Frau A
Frau A, mittleren Alters, Assistentin zweier Chefs in einer Beratungsorgani
sation, stellt sich schon im Erstinterview als jemand vor, der viel zu oft »Ja«
und viel zu selten »Nein« sagt. Sie formuliert als Wunsch an die Behand
lung, sich besser abgrenzen zu können. Dies schließt aus ihrer Perspektive
ein, fürsorglicher mit sich umzugehen, besser ihre Leistungsgrenzen see
lisch wie körperlich zu spüren und nicht über diese Grenzen hinwegzu
gehen. Offenkundig erhofft sie sich konkrete Hilfestellungen ähnlich der
gängigen Ratgeberliteratur, zum Beispiel, sich klarer, weniger »schwam
mig« auszudrücken. Sodann, so hofft sie, fordern die anderen nicht noch
mehr Freizeit oder Hilfsbereitschaft ein, nimmt sie nicht mehr jede Aufga
be an. Als Gründe für ihre Abgrenzungsproblematik vermutet sie, dass sie
niemanden verletzen, immer ganz besonders höflich sein möchte, Angst
davor habe, den anderen vor den Kopf zu stoßen, zu enttäuschen, Angst,
nicht »everybody’s darling« zu sein.
Frau A entwirft von sich das Bild einer Frau, die perfekt sein will, sich
keine Schwäche zugestehen kann, dem anderen gefallen oder Dinge recht
machen möchte. Schwäche zeigen könnte Kontrollverlust bedeuten. Sie
habe bereits ein schlechtes Gewissen bekommen, als sie gemerkt habe, we
gen der Erschöpfung statt bis 20 Uhr nur noch bis 18 Uhr voll leistungs
fähig zu sein, klar denken zu können. Oft sei sie über ihre Grenzen gegan
gen, auch wenn der Körper eigentlich müde oder krank ist und nicht mehr
will, sich trotzdem dazu gezwungen, noch joggen zu gehen, aufzustehen,
zu arbeiten. Dabei scheint sie fortwährend nach Aktionismus zu streben,
immer auf der Suche, etwas zu erleben. Stille scheint ihr unangenehm zu
195
Ute Engelbach
sein, gleichbedeutend mit Leere. So muss sie immer Ziele haben, irgendetwas sportlich oder beruflich erreichen. Wenn das Ziel erreicht ist, dann
erfährt sie aber keine Befriedigung. Sie beschreibt sich wie in einer Art
»Hamsterrad«, bei dem sie fürchtet, wenn sie aufhört zu rennen, dass alles
einbricht. Das würde sie als Scheitern erleben, das sie sich nicht eingeste
hen will, und fürchtet, dann die Kontrolle zu verlieren. In dieser Ahnung
sieht sie sich bestätigt, weil sich ihre Beschwerden nach der Krankschrei
bung verschlimmert haben. Sie kommt aus einer schnelllebigen Branche,
wirkt beschleunigt: Auf eine Kur zu warten wäre Zeitverschwendung, sie
will bald wieder arbeiten gehen. Es offenbaren sich hohe Erwartungen an
die Klinik, gepaart mit Entwertungen gegenüber denjenigen, von denen sie
die Fürsorge erwartet.
Frau A beschreibt, sie sei als Einzelkind bei ihren Eltern nach eigenem
Dafürhalten sehr behütet aufgewachsen. Die Mutter sei empfindlich, kör
perlich angeschlagen, leide seit jungen Erwachsenenjahren an Epilepsie
mit monatlich mindestens einem Anfall, worüber in der Familie nicht ge
sprochen, sondern was möglichst vertuscht worden sei. Des Nachts habe
Frau A als kleines Mädchen die Mutter aus dem benachbarten elterlichen
Schlafzimmer gehört, für sie erschreckend, beängstigend, während der Va
ter die scheinbar nach Luft ringende Mutter beruhigt habe. In der Familie
seien Schwächen nicht gezeigt worden. Der Vater sei ein Kämpfertyp nach
dem Motto: Aushalten, durchhalten, das wird schon wieder! Auch er kön
ne schlecht Nein sagen.
Frau A scheint identifiziert mit ihrem Vater, fühlt sich seelenverwandt,
schwach wie die Mutter wollte sie unter gar keinen Umständen sein. Im
Grundschulalter habe sie dann erstmals einen Anfall der Mutter im Super
markt miterlebt. Sie habe die Mutter gestützt, das gemacht, was der Vater
in solchen Situationen getan habe. Zu Beginn ihrer Ausbildung sei der Va
ter arbeitslos geworden, eine Schwäche bei dem zuvor identitätsstiftenden
Objekt, nun musste beides verschwiegen werden: die kranke Mutter und
der arbeitslose Vater.
In der Jugend sei sie mit ihrem Freund und späteren Ehemann zusam
mengekommen. Niemand habe ihn gemocht. Er sei der »böse Bube« gewe
sen: laut, aggressiv, viele Schlägereien, rechtsradikal, mit einem Hang zum
Alkohol; sie hingegen ein »Engel«, die ihn wohl durch ihre Liebe zu retten
und vor allem zu kontrollieren suchte. Vermeintlich besetzte der ExGatte
die Rolle eines Alter Egos, so konnte sie die Gute bleiben, die Aggression
196
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
bei ihm. Die Trennung sei von ihr nach einer Realitätsprüfung der gemeinsamen Zukunft anlässlich einer gemutmaßten Schwangerschaft nach zwölf
gemeinsamen Jahren der Partnerschaft abgewogen worden, innerlich alleine mit sich ausgemacht, kalkuliert und in einer gezielten Aktion durchgezogen. Die Fassade scheint bis zuletzt gewahrt, der emotionale Ausdruck
vermieden, vermutlich aus Angst vor der aggressiven Auseinandersetzung.
Vermutlich wurde das »Nein zur Ehe« so möglich – eine angemessene Aus
einandersetzung hätte das Nein eventuell infrage stellen können.
Der frühere Freundeskreis sei zu großen Teilen weggebrochen. Ihre
Freizeit gestalte Frau A vornehmlich mit Kollegen oder ehemaligen Kolle
gen, da – so vermutet sie – sich andere auf ihren Lifestyle mit seiner Schnell
lebigkeit und Flexibilität nicht gut einlassen können. Zum Zeitpunkt der
aktuellen Verschlechterung hätten zwei Freundinnen noch ihre privaten
Probleme bei ihr abgeladen. Sie sei förmlich an den Problemen der ande
ren erstickt, ihrem Selbstanspruch, Lösungen zu finden, nicht mehr nach
und mit der eigenen Situation nicht mehr klargekommen. Sich die Sorgen
und Nöte der anderen anhören erinnert ein bisschen an die Rolle, inner
halb deren sie zwischen ihren Eltern vermittelt hatte. Unterm Strich stelle
sie nach solchen Gesprächen fest, eigentlich ging es die ganze Zeit um den
anderen, etwas, das sie enttäuscht zurücklässt.
Auch während der Behandlung wiederholt sich dieses Muster im Kon
takt zu den Mitpatienten laut Dokumentation: Frau A erlebt sich belastet
davon, ununterbrochen negative Lebensgeschichten, Belastungen und Lei
den zu hören, kann sich nicht distanzieren, grübelt nachts darüber, kommt
in eine altruistische Position, wird erneut zum Kümmerer. Sie beschäftigt
sich viel mit den anderen, ihre eigenen inneren Themen kann sie kaum in
die Gruppen einbringen. Es fällt ihr schwer – möglicherweise aus Angst –,
die Kontrolle zu verlieren, etwas von sich zu zeigen.
Grenzen oder Abgrenzung tauchen wiederholt als Themen in den
Therapien auf. In der Einzeltherapie berichtet sie über zwei Episoden von
Grenzüberschreitung von Männern, einer davon ihr Praktikumschef, als
sie in noch minderjährigem Alter war. In beiden Fällen habe sie erst spät ihr
Recht auf Abgrenzung wahrgenommen, sich selbst zu schützen vergessen.
Hierüber konnte das Böse und Aggressive in der Therapie kurz thematisch
werden, dessen Existenz im Gegenüber schien für Frau A nur schwerlich
vorstellbar, Hilflosigkeit auslösend, eine Existenz im Selbst abgewehrt und
197
Ute Engelbach
undenkbar. Denkbar wäre, dass nach den früheren Erfahrungen die Tatsache, zwei Chefs zuzuarbeiten, ihr auch einen gewissen Schutz suggerierte.
Nach der Behandlung ist sie zuversichtlich gestimmt: Sie habe zwar keinen exakten Plan, wann sie »Nein« sagen solle – das müsse aus der Situation
entstehen. Sie habe sich vorgenommen, nicht gleich zu allem »Ja« zu sagen,
sondern klarer zu entscheiden, achtsamer zu entscheiden, zu priorisieren,
was noch heute schaffbar ist. Weiterhin nimmt sie mit, dass sie sich stark
über den Kopf steuert, das könne sie ja auch mal in die andere Richtung
tun. Sie vergleicht sich zur Entlastung mit Kollegen, die weniger arbeiten,
es sei schließlich auch nicht ihr Unternehmen. Sie thematisiert auch Ängs
te bezüglich der Umsetzung, zum Beispiel Arbeiten nicht verschieben zu
können, weil der nächste Tag zu voll sein könnte, oder die Angst, der Chef
könnte beleidigt sein, weil er anderes von ihr gewohnt sei.
Letztlich scheint sie einen gewissen Abstand durch die Krankheit und
Zeit in der Klinik gefunden zu haben und stellt Überlegungen zu Verände
rungen an, nämlich dass sie das jetzt acht Jahre gemacht habe, diese »Party«
mitgefeiert, das sei lustig gewesen, aber jetzt wolle sie das nicht mehr. Sie
wolle sich demnächst eventuell umorientieren, könne sich etwas im sport
lichen oder kreativen Bereich, zum Beispiel FitnessKauffrau, oder auch
eine Position mit mehr Verantwortung, eine Führungsposition, vorstellen.
In der Rückschau auf beschriebene Episoden lassen sich bei Frau A ver
schiedene Gründe für ihre Abgrenzungsschwierigkeiten herausarbeiten:
Sie selbst benutzt das Bild des Hamsterrades, ihr Aktionismus erscheint
wie eine Verausgabung ohne konkretes Ziel, sozusagen ein rasender Still
stand, eine individualisierte Perspektive der dynamischen Stabilisierung
(vgl. Rosa 2005). Sich immer mehr mit Aktivitäten zu beladen passt als
Gegenteil des Neinsagens zu dem Aktionismus, wirkt innerlich stabilisie
rend, unterstützt im Grunde die Abwehr der antizipierten Gefühle von
Leere oder Langeweile und eventuell dahinterliegender Traurigkeit oder
Angst.
Was passiert, wenn acht Jahre Party mutmaßlich im Schutz der kollek
tiven Abwehr beendet werden? Mit Dejours gesprochen »lässt die ›strate
gische Geselligkeit‹ Arbeit und Nichtarbeit völlig ineinander übergehen,
[…] die moderne Form einer berufsspezifischen Lebensweise […]: eine
neue Form von Verknechtung« (Dejours 2012, S. 137). »Die vorgebliche Ge
selligkeit konstituiert eine Kultur der Einsamkeit« (ebd., S. 147). Extreme
Beschleunigung dient als Abwehr der Endlichkeit der Zeit, somit der Sterb
198
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
lichkeit und der Todesangst, bedrohliche Themen, für die entsprechend
ihrer Biographie kein Raum eröffnet werden konnte.
Gleichzeitig besteht eine Verleugnung der eigenen Begrenztheit, die
Illusion der unendlichen Belastbarkeit – ein »Nein« hieße, auch dies zu ak
zeptieren. Psychodynamisch finden sich bei Frau A zentrale Konfliktmus
ter um den Selbstwert und die Versorgung (Arbeitskreis OPD 2006), beides
biographisch gut verstehbar. Sowohl die notwendige Stabilisierung des
Selbstwerts durch den anderen als auch die früh angelegte Verpflichtung
zum altruistischen Einsatz verunmöglichen in ihrem bisherigen Konzept
ein Nein zum Gegenüber.
Konflikte um Autonomie, Kontrolle und Schuld (ebd.) sind in geringe
rer Ausprägung erkennbar, werden ebenfalls in die Logik integriert, indem
die Autonomie scheinbar darüber hergestellt wird, dass sie zum Beispiel ihr
angeratene Pausen nicht wahrnimmt oder aus Angst vor Kontrollverlust
und schlechtem Gewissen Präsentismus betreibt. Sie zeigt sich als jemand,
der wenig Zugang zu den eigenen Emotionen hat, vor allem die Aggression
scheint vollends abgewehrt, im Alter Ego deponiert, eventuell im Schuldge
fühl gebunden. Für eine Abgrenzung ist es aber notwendig, Aggression in
gesunder, konstruktiver Art differenzieren und mitteilen bzw. nach außen
ausleben zu können.
Herr H
Herr H ist mittleren Alters und arbeitet im Kundenkontakt, wie er sagt,
in einem Traumberuf für ihn. Er sucht die Klinik nach einem Zusammen
bruch auf, während dessen er gar nicht mehr aufgehört hatte zu weinen.
Er beschreibt seine aktuelle Arbeitssituation als nicht mehr erträglich, weil
seine Vorgesetzte ihn und seine Kolleginnen mobbe, körperlich und verbal
Grenzen überschreite. Sie fordere Überstunden ein, gleichzeitig zwinge sie
die Mitarbeiter, sich zuvor auszustempeln. Bei Missachtung dessen mahne
sie ab. Keiner in der Abteilung traue sich, sich zur Wehr zu setzen, keiner
vertraue niemandem. Beim Meeting habe er das angesprochen. Kollegen,
die sich zuvor aufgeregt hätten, seien ihm in den Rücken gefallen. Er be
schreibt eine rebellische, vielleicht sich opfernde, zuweilen auch brüllende,
gewissermaßen sich wehrende oder abgrenzende Seite: Er gehe nach Hause
und steche sich bei Überstunden nicht vorzeitig aus. Aber die Chefin sehe
das gar nicht gern.
199
Ute Engelbach
Die beiden kennen sich schon lange, hätten vor zehn Jahren zeitgleich
in der Firma hierarchisch auf Augenhöhe angefangen und seien per Du.
Die hierarchischen Grenzen werden in seinen Schilderungen zeitweilig unscharf: Mal stellt er sich mindestens auf Augenhöhe, möglicherweise sogar
über sie, mal wird er ganz klein, wie ein kleiner Junge, seinen Schilderungen nach mache sie ihn auch vor Kunden oder Mitarbeitern klein. Ein
anderes Mal suchte er das Gespräch, dort habe er »angesprochen, was ihr
Problem ist«. Sie sei dann gar nicht auf seine Belange eingegangen. Wiederholt erlebt er die Chefin als erbarmungslos, wie seinen Vater, das heißt sehr
autoritär und bedrohlich.
Herr H ist der Erstgeborene, der Vater sei immer sehr gewaltbereit ge
wesen, im Prinzip habe Herr H täglich teilweise brutale Prügel erfahren.
Auch die Mutter habe dem nichts entgegensetzen können, sei ebenfalls
massiv geprügelt worden. Der Vater wirkt fast sadistisch, Herr H habe mit
erleben müssen, wie der Vater die Mutter fast umgebracht habe. Aggression
wurde anscheinend ausschließlich destruktiv gelebt. Die Schilderungen
von Herrn H bleiben aber frei von Rachephantasien, Missachtung oder
Anzeichen von Enttäuschungswut. Sie sind eher geprägt durch Vergebung
und enttäuschte Traurigkeit, es finden sich vorrangig kindliche Wünsche
und Bedürfnisse: Der drei Jahre jüngere Bruder sei besser weggekommen,
sei immer kränklich gewesen und habe mehr Aufmerksamkeit bekom
men, sei von der Mutter bevorzugt worden. Sie habe ihn später auch zum
Geschäftsführer ihres Unternehmens ernannt oder bei seinen Machen
schaften gedeckt.
Trotz geschilderter Schwierigkeiten verharrt Herr H auffallend lange in
der Familie – wesentlich wegen der Phantasie, die Mutter vor dem gewalt
tätigen Vater schützen zu können. Dennoch wird er von der Mutter ver
nachlässigt und hintergangen: zum Beispiel, als sie über ihn einen Kredit
aufgenommen habe, ausgewandert sei und ihn mit den Schulden sitzen
gelassen habe. Auch sein Bruder habe ihn betrogen, indem er beispielswei
se über ihn Bestellungen bei Versandhäusern getätigt und die Ware dann
weiterverkauft habe. Inzwischen ist Herr H in der Privatinsolvenz. Letzt
lich scheint er bis heute nicht richtig gelöst von der Mutter. Im Rahmen der
Behandlung wurde dies thematisiert, gab es erste Versuche von Herrn H,
sich etwas von ihr zu lösen. Die Mutter reagiert manipulativ auf diese Be
mühungen, indem sie ihm gegenüber äußert, dass es ihr deswegen schlecht
gehe.
200
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
Herr H lebt mit seinem Partner zusammen, eine Beziehung, die in
seiner Beschreibung stark durch Objektabhängigkeit und Kontrolle bzw.
Machtausübung geprägt ist. Nach anfänglicher Idealisierung der Partner
schaft werden im Verlauf der Behandlung zunehmend schwierige Seiten
des Partners deutlich, indem er sich beispielsweise Konfliktsituationen
entziehe oder sich tagelang nicht melde. Der Freund sperre ihn ein, sei
übergriffig, habe zudem eine App installiert, um immer zu wissen, wo sich
Herr H befinde. Er hat in der Beziehung deutliche Schwierigkeiten, seine
Bedürfnisse zu kommunizieren oder vielleicht überhaupt sie zu kennen. In
seiner Schilderung wirken die Auseinandersetzungen kindlich. Während
der Behandlung konnte er die Idealisierung mehr und mehr aufgeben, die
Spaltung wurde deutlich.
Dies lenkte den Fokus weg von Arbeit und Chefin als alleiniger Ursache
der DeStabilisierung zunehmend auch auf die konflikthafte Beziehung,
in der er unterwürfig sei, oft übergangen werde, sich alles gefallen lasse.
Gleichzeitig scheint er sich immerzu abhängig in der Beziehung gefühlt
zu haben, auch wegen der finanziellen Abhängigkeit, sodass er in seinem
Erleben quasi gar nicht allein existieren kann. Dementsprechend wurden
am Anfang der Behandlung angesichts der durch die stationäre Behand
lung bedingten Trennung vom Freund, des Heimwehs, der Angst – auch
des Freundes –, den anderen wegen der aktuellen räumlichen Trennung
oder des Doppelzimmers in der Klinik verlieren zu können, beruhigende
Interventionen notwendig. Herr H kümmerte sich in der Gruppe der Mit
patienten viel um die anderen, ließ sich mitreißen und war unterhaltsam,
wirkte ausgleichend, war ein geschätzter Mitpatient. Im Konflikt jedoch
ließ er sich durch Dominanz schnell einschüchtern, wirkte dann fast devot.
Gleichermaßen scheint Disharmonie zwischen zwei Mitpatienten für
Herrn H nur schwer erträglich und sofort Erinnerungen an streitende El
tern und brutale Gewalt zu triggern, löst bei ihm Hilflosigkeit aus und
versetzt ihn sozusagen in einen kindlichen Zustand. Er könne gar nicht
mehr zuordnen, »was ist jetzt wahr, was ist jetzt nicht mehr wahr, […] habe
immer Misstrauen«, beschreibt er sein Empfinden. Objektwelten scheinen
sich zu vermischen, erinnern an Muster, die in beobachteten konflikthaf
ten Szenen mit seiner Chefin und einem seiner Kollegen aktiviert wurden.
Neben der besonderen Erfahrung, das erste Mal ein Gefühl der Zugehörig
keit zu und Anerkennung von einer Gemeinschaft erlebt zu haben, sind
eben die biographische Verknüpfung solcher Ereignisse und das Training
201
Ute Engelbach
der sozialen Kompetenz, zum Beispiel mit Rollenspielen, für Herrn H
wichtige Schlüssel in der Behandlung, um nicht im Kontakt zu Autoritä
ten eine sofortige Vermischung der Objekte zu erfahren und in der Über
tragung vollends von kindlichen Anteilen »gesteuert« zu sein. Er hat das
Gefühl, dass ihm der Klinikaufenthalt sehr geholfen habe, plant, zurück
an seinen Arbeitsplatz zu gehen und sich dort den Herausforderungen zu
stellen. Wenn es wirklich gar nicht gehe, müsse er sich eine neue Stelle
suchen, schließlich sei es ja am Ende »nur Arbeit«.
Resümierend irritiert Herrn Hs Erkenntnis aus der Behandlung zu
nächst, dass er lernen müsse, »[s]ich durchzusetzen, Grenzen zu setzen«.
Darauf angesprochen erläutert er, dass er nun gestärkt für den belastenden
Kampf und gegen die Angst vor Abmahnung, eventuell im Sinne einer Ver
geltungsangst, sei. Schließlich erlebt er die Chefin – selbstverständlich in
ihrer Funktion versehen mit Autorität – wiederholt im Konflikt wie die El
tern, dann wird der Integrationsgrad bezüglich der Objektwahrnehmung
deutlich geringer (Arbeitskreis OPD 2006).
Es entstehen projektive Identifikationen1 und Bedrohungserleben, wo
rauf sich seine Abgrenzungsthematik bezieht. Seine Wiedergutmachungs
wünsche sind kaum erfüllbar, Misstrauen scheint zur Sicherheitsstrategie
zu werden. Ähnlich ihm, der an der eigenen Realitätswahrnehmung zwei
felt, wird auch der Leser misstrauisch, validiert, hinterfragt, deckt Wider
sprüche auf. Ob Herr H sich wirklich gegen die Chefin zur Wehr setzt
oder sich vielleicht doch, wie im Konflikt auf Station beobachtbar, devot
verhält? Wurde die Erzählung vielleicht nur ausgestaltet, fraglich eine der
dramatischen Geschichten, die in den Interviews zuweilen kontextlos prä
sentiert werden, oder inszeniert Herr H sich heldenhaft als Einziger, der in
der Firma aufbegehrt?
So könnte er im Dienste der Selbstwertregulation die Gratifikation als
Opfer erhalten, vermeintlich wie bei seiner Überschuldung, mittels deren
er vielleicht der Mutter zu beweisen hoffte, der bessere Sohn zu sein. Ab
grenzung scheint bei Herrn H punktuell zu funktionieren, jedoch nicht
bei Ansprüchen aus der Familie, von der er sich hintergangen und aus
genommen fühlt. Darüber existiert bei ihm lediglich Schmerz, die zu er
wartende Aggression scheint in der Depression gegen das Selbst gerichtet.
1 | Unbewusster Abwehrmechanismus, bei dem Teile des Selbst abgespalten und
auf eine andere Person projiziert werden.
202
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
Seine fehlende abgrenzende Selbstbehauptung drückt sich in verschmelzenden Beziehungen und unklaren Selbst-Objekt-Grenzen aus, richtet sich
im Rahmen projektiver Identifikationen gegen die Objekte, teilweise aber
auch unterworfen, am ehesten zu deuten im Rahmen einer mangelnden
Triangulierung2 mit fehlender Ablösung und Autonomieentwicklung.
Exkurs: Das Nein in der kindlichen Entwicklung
Triangulierung kann als eine grundlegende Voraussetzung für die Ab
grenzungserfahrung verstanden werden. Lacan (1997) konzeptualisierte in
diesem Zusammenhang den Vater in seiner symbolischen Funktion.3 Im
Übergang zur Stufe der Objektbeziehungen kommt es mit zunehmender
Aktivität des Kleinkindes zu vermehrten Versagungen, dem folgen Frus
tration und die affektive Besetzung des verbietenden Neins des Erwachse
nen, der aber gleichermaßen als Identifikationsfigur zur Bewältigung der
Außenwelt zur Seite steht. Die NeinGeste, das von René Spitz beobachtete
verneinende Kopfschütteln des Kleinkindes ab dem 15. Lebensmonat, stellt
ein identifikatorisches Verbindungsglied mit dem libidinösen Objekt dar,
sie »dient dazu, innerhalb des Abwehrmechanismus der Identifikation mit
dem Angreifer die Aggression auszudrücken« (Spitz 1959, S. 44).
Dem Aggressor oder versagenden Objekt wird nun sein eigenes Nein
entgegengeschmettert. Durch die Fähigkeit des Kindes, alles, was ihm be
gegnet und was es erlebt, zu verneinen, verändert sich sein Verhältnis zur
Realität grundlegend, das psychische System erhält ein neues Organisations
niveau, innerhalb dessen gleichermaßen eigene Grenzen erfahrbar und
frühkindliche Wünsche nach Grandiosität beschieden werden. Differenz
wird erstmals erlebbar, das UrTeilen, entsprechend der von Freud (1982)
beschriebenen Polarität: Bejahung ist als Ersatz der Vereinigung dem Eros
und Verneinung als Nachfolge der Ausstoßung dem Destruktionstrieb zu
gehörig.
2 | Triangulierung bedeutet, »dass in einem Dreiecksverhältnis das Verhältnis
zwischen zwei Polen durch die Bezugnahme auf den dritten Pol reguliert wird«
(Grieser 2011, S. 15).
3 | Als »nom du père/non du père« bezeichnet Lacan (1997) das väterliche Ge
setz, das das »Nein« zur imaginierten Verschmelzung des Kindes mit der Mutter
ausdrückt, wie auch der »Name« des Vaters als Symbol das Kind in die Welt der
Symbole und der Sprache einführt.
203
Ute Engelbach
Um eine eigene Identität auszubilden, muss das kindliche Subjekt Abstand zu seiner primären Bezugsperson bekommen bzw. die Differenz er
fahren. Angriffs oder Zerstörungsbereitschaft, vermeintlich lust, dienen
dabei als Veränderungskraft, sozusagen als offensives Potenzial einer krea
tiven Grenzziehung des Subjekts oder als Triebkraft für Separation und
Individuation. Für die weitere Entwicklung ist es häufig sogar notwendig,
über die Grenzen zu gehen oder dieselben zu überwinden.
2. (Abgrenzungs-)Themen der Patienten
mit konfliktbezogener therapeutischer Ausrichtung
Betrachten wir nun die anderen Patienten der Untersuchung im Hinblick
auf die von ihnen geschilderten Abgrenzungsschwierigkeiten, so lassen
sich die in der Einzelfallanalyse von Frau A dargestellten Themen ähnlich,
in mancher Hinsicht sogar eindeutiger einem einzelnen Konfliktmodus
(Arbeitskreis OPD 2006) zuordenbar finden. Da taucht zum Beispiel das al
truistische Motiv augenfällig bei Frau L auf. Sie habe nie vermittelt bekom
men, sich um sich selbst zu sorgen. Andere zu versorgen habe sie für das
höchste Gut gehalten. Sie äußert entsprechend ihrem zentralen Konflikt:
»Es ist in Ordnung, […] nicht mehr an sich selbst zu denken.« Bereits die
Mutter hat ihren Beschreibungen zufolge im Konfliktmodus Versorgung
vs. Autarkie (ebd.) gehandelt, wird von Frau L als zu eng und zu klammer
haft beschrieben, »dass ich eigentlich nie so richtig die Chance hatte, mich
meiner Mutter gegenüber abzugrenzen«.
Derselbe zentrale Konfliktmodus verhindert bei Herrn N das Neinsa
gen. Einen diesbezüglichen Erfolg der Behandlung belegend kontrastiert er
zu früheren Zeiten, indem er mehrere Geschichten anbietet, zum Beispiel
wie er sich nun in der Straßenbahn in seiner Rolle als immer Zuhörender
distanzieren konnte, als eine alte Dame ihm einfach das Herz ausschüttete.
Er stellt im Sinne der Triangulierung erstaunlich klar heraus: »Dadurch,
dass ich mich selbst nie wirklich wahrgenommen hab, konnte ich auch […]
meine Grenzen nie so richtig definieren«, beschreibt sich dabei selbst als
durchlässig. Statt mit aggressiver Selbstbehauptung reagiert er mit Rück
zug. Aggression ist nach seiner Beobachtung gleichzusetzen mit Gewalt
tätigkeit »und das hab […] [ich] aber nie«.
204
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
Frau K, die sich beschämt vorwirft, warum sie selbst es nicht schaffe,
sich zu wehren, agiert vorrangig in einem passiven Modus des Konfliktes
Unterwerfung vs. Kontrolle (ebd.). Sie erzeugt im Gegenüber ein Gefühl,
dass man alles ohne Gegenwehr mit ihr machen könne. Anscheinend pas
siert das nur allzu oft, sie berichtet dieses Unterwerfungsverhalten auch
von ihrem Arbeitsplatz. Untergründig spürbar ist die Verärgerung, die ag
gressiven Energien für einen potenziellen Widerspruch sind in ihrem Mo
dus gebunden, vermeintlich in der Depression gegen das Selbst gerichtet.
Ebenfalls im Konfliktmodus Unterwerfung vs. Kontrolle ist das Abgren
zungsproblem von Herrn M zu verstehen, der bei dominantgewalttätigem
Vater seine aggressiven Gefühle zeitlebens abwehren musste. Im Beruf ließ
er sich dominieren, aversive Gefühle sind abgespalten, fanden Ausdruck in
einer »dunklen Seite«. Während der Behandlung deuten sich in einem Kon
flikt mit einer externen Autoritätsfigur kurzzeitig seine eruptiven Poten
ziale an, werden so thematisierbar, mit der Angst vor Kontrollverlust ver
knüpfbar. Aggression und Feindseligkeit anzuerkennen bleibt aber schwer.
Ähnlich gestaltet es sich bei Herrn R. Selbst nicht in der Lage, sich zu be
haupten, lässt er sich dominieren. Gleichzeitig entwertet er, bekommt nicht,
was er meint zu verdienen, klagt nichts ein, beschreibt das Gefühl, sich
für die Sache aufzuopfern, versorgend, altruistisch zu sein, kann seinem
grenzüberschreitenden arbeitsverweigernden Kollegen nichts entgegenset
zen. Seine Beschreibung mutet projektiv an. Dabei sind seine Affekte über
steuert. Es dominieren Wut, Trauer und Enttäuschung, die gleichermaßen
kontrolliert, wahrscheinlich zu großen Teilen verleugnet werden.
Frau G bezeichnet sich kategorisch als Jasagerin. Einer gewalttätigen
Kindheit mit schlagendem Vater folgt eine deutlich schuldhafte Unter
werfung in wichtigen Beziehungen. Krankmelden oder eine Schicht aus
schlagen ist für sie undenkbar wegen eines strengen VaterIntrojekts, dann
kommt das »Bild meines Vaters vor Augen, der es mir nicht erlaubt […]
Vielleicht bin ich das irgendwie meiner Mutter schuldig, immer zu funk
tionieren. Um zu zeigen: Guck mal, ich halte auch durch wie du!« Dabei
herrscht wenig Achtung vor den eigenen Bedürfnissen. Wie eine selbstauf
erlegte Strafe wirkt das durchgängige SichschlechtbehandelnLassen, in
ihren Beschreibungen erscheint sie mehr wie eine Bedienstete denn eine
Partnerin für den verstorbenen Partner.
Der Schuldkonflikt (Arbeitskreis OPD 2006) könnte auch bei Frau I
eine zentrale Bedeutung für die Abgrenzungsschwierigkeiten haben. Beim
205
Ute Engelbach
Versuch, Nein zu sagen, »kommt so ein schlechtes Gewissen auf«. Sie hat
zudem Angst, wenn sie sich gegenüber ihrer Vorgesetzten für ihre Rechte
einsetzt, dass ihr gekündigt werden könnte. Neben dem Schuldkonflikt
wird ein Selbstwertkonflikt (ebd.) deutlich. Im Rahmen dessen sind Angst
vor Bloßstellung wie auch der Versuch, im helfenden Beruf den Selbstwert
zu stabilisieren, verstehbar. Stellvertreterkonflikte bilden sich im Material
ab, phasenweise durchlässigere SelbstObjektGrenzen.
Herr D indes tut sich in seiner hochbesetzten Autonomie offenbar
schwer mit dem Jasagen. Obwohl er innerlich nie Ja zu seinem Beruf ge
sagt hat, gerät er gleichzeitig wegen seiner manischphilobatischen sowie
narzisstischen Abwehr mit überhöhten eigenen Leistungserwartungen im
Rahmen eines Selbstwertkonfliktes in Abgrenzungsprobleme gegenüber
Vorgesetzten.
Auch Herr U hat als zentralen Konfliktmodus einen Selbstwertkon
flikt. Ähnlich Herrn D oder auch Frau A sind die unerbittlichen Ansprü
che an sich selbst. Abgrenzung heißt Schwäche zeigen, und Schwäche ist
intolerabel. Profilierung durch Arbeit dient scheinbar der Regulierung des
Selbstwerts und verunmöglicht das Neinsagen. Herr U thematisiert aller
dings auch einen anderen wichtigen Aspekt: »Selbst wenn ich Nein gesagt
habe, kamen die Arbeiten trotzdem.« Die Reaktion des anderen muss dann
auch verkraftet werden. Die Folgen des Nein könnten womöglich nicht
bewältigbar sein.
Mit dem Nein beginnt eigentlich eine Interaktion, zumeist wird aller
dings nicht weiter ausgeführt, wozu die Patienten Nein, und viel weniger
noch, wozu sie Ja sagen, sondern es bleibt reaktiv. Wie Frau G in ihrem
kategorischen Ja das Nein ausgeschlossen hat, scheint verschiedentlich im
Nein allerdings das Ja, das heißt, sich auf etwas einzulassen, kategorisch aus
geschlossen. Das birgt die Gefahr, dass das Nein zum Klischee wird, eine
therapeutische Auseinandersetzung wird dadurch erschwert, die schein
bare Lösung respektive Utopie »Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
könnte so einem psychodynamischen Erkenntnisprozess zuwiderlaufen.
Indem die eine Position, das Nein, derart betont wird, könnte die andere,
das Ja, verdeckt werden. Nein zur Fremdbestimmung hieße Ja zur Selbst
bestimmung oder eben, sich zu positionieren. Schließlich ist den Patienten
trotz unterschiedlichen Konfliktmodus eine Hemmung der Aggression ge
meinsam (Herr D mit Einschränkung), oder um mit Herrn N zu sprechen:
»Ich wollte natürlich niemanden vor den Kopf stoßen.«
206
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
3. (Abgrenzungs-)Themen der Patienten
mit strukturbezogener therapeutischer Ausrichtung
Bei Frau J hingegen scheint wie bei Herrn H, auch wenn alle dieselbe Meta
pher, nämlich nicht Nein sagen zu können, verwenden, Abgrenzung punk
tuell gut zu funktionieren. Das Gute und das Böse wechseln schnell, mit
unter innerhalb derselben Objekte, Größenphantasien schimmern durch,
vermeintlich im Dienste der Selbstwertregulierung (Arbeitskreis OPD
2006). In ihrem Selbstbild kann sie sich abgrenzen, den anderen interes
siert es aber nicht. Das referiert auf ihre »Erfahrung halt oft in meinem Le
ben, dass, wenn ich Nein sage, dass das einfach nicht akzeptiert wird«. In
ihrer Biographie scheinen Abgrenzungsschwierigkeiten kein durchgängiges
problematisches Muster darzustellen, sondern gleichbedeutend mit Schutz
gegen Missbrauch zu sein. Aus bestimmten Konstellationen, in denen ande
re sie zur Bedürfnisbefriedigung missbrauchen, kann sie sich nicht befreien,
fühlt sich bedroht, vermischt innerlich mit alten Schemata, was sich auch
während der Behandlung reinszeniert.
Im Selbstbild ist ebenfalls Frau E ohne Abgrenzungsproblem, gleichzei
tig berichtet sie über eine regulierend eingreifende Vorgesetzte, weil Frau E
wiederholt über ihre Grenzen arbeitet; in den Behandlungsprotokollen
tauchen Schuldgefühle als Hemmnis für das Neinsagen auf. Größenphan
tasien, das Gefühl der Unabkömmlichkeit und die Akzeptanz der eigenen
Begrenztheit scheinen wichtige Motive für die fehlende Abgrenzung.
Eine mangelnde SelbstObjektDifferenzierung (ebd.), insbesondere in
Bezug auf das mütterliche Objekt, wird auch bei Frau P deutlich. Ihre Abgren
zungsthematik ist auch klar umschrieben, reinszenierte sich während der Be
handlung in den Gruppen, dann schien sie geflutet, Objektwelten schienen sich
zu vermischen, sie konnte die Andersartigkeit des anderen nicht dulden. »Es
wird deutlich, dass sie es nicht aushalte, wenn die andren sich nicht überzeu
gen ließen oder etwas Ungerechtes unangesprochen stehen gelassen würde.«
Auch Herr B fühlte sich wiederholt im stationären Setting von anderen
real bedroht, hatte das Gefühl, andere gingen über seine Grenzen. Er erträgt es
kaum, jemanden räumlich hinter seinem Rücken zu wissen. Grenzen werden
in seinen Schilderungen wenig flexibel gestaltet, wenn es dann zur Grenzabste
ckung kommt: »Okay, hier ist meine Grenze. Und da hab ich ihm auch einen
Finger gebrochen.« Als es dicht in den Therapien wurde, begann er ticartige
Zuckungen zu entwickeln, schlug sich und zog sich innerlich zurück.
207
Ute Engelbach
4. Das Thema »Abgrenzung« im Vergleich: Konflikt vs. Struktur
Folgt man der Kontrastierung, scheinen sich die Beweggründe für die Abgrenzungsproblematik sowie deren Ausgestaltung bei den Patienten mit
gut oder mäßig integriertem Strukturniveau respektive einer eher grundsätzlich konfliktbezogenen, therapeutischen Ausrichtung von denen der
auf geringer integriertem Strukturniveau befindlichen Patienten mit vor
rangigem Strukturfokus (Arbeitskreis OPD 2006) zu unterscheiden. Denk
bar wäre natürlich eine gemischte therapeutische Ausrichtung respektive
eine Kombination mit einer Tendenz zur einen oder anderen Achse. Wäh
rend sich die erlebten Schwierigkeiten bezüglich der Abgrenzung bei Ers
teren im Rahmen ihres Konfliktmodus zumeist in Verbindung mit einer
Aggressionshemmung verstehen ließen, schienen sie bei Letzteren durch
Verzerrungen bei den SelbstObjektGrenzen sowie durch internalisierte
bedrohliche und verfolgende Objektvorstellungen motiviert. Das Problem
stellte sich bei Letzteren punktueller dar. In einigen Bereichen klappte die
Abgrenzung nämlich gut, dann kippte es, und das Böse musste meistens
projektiv bekämpft werden.
Je deutlicher bei Patienten strukturelle Themen (Arbeitskreis OPD
2006) nach der klinischen Einschätzung im Fokus der Behandlung waren,
desto bedrohlicher schienen zuweilen die »Angreifer«, die die Grenzen zu
überschreiten drohten, desto mehr galt die Abgrenzung den vermeintlich
projektiv identifikatorischen Anteilen. »Der Hauptzweck der Projektion
liegt hier in der Externalisierung der ›total bösen‹, aggressiven […] Selbst
und Objektimagines, und als wichtige Folge dieses Vorgangs entstehen ge
fährliche vergeltungssüchtige Objekte, gegen die der Patient wiederum sich
zur Wehr setzen muß« (Kernberg 1995, S. 51).
Innerhalb der jeweiligen Logik einzelner Konfliktmuster bzw. der
Selbststruktur kann zudem im Hinblick auf die Abgrenzungsproblema
tik zwischen einem Subjekt und einem Objektpol unterschieden werden:
sich der Zumutungen von anderen versus sich der eigenen Ansprüche oder
Selbst und Objektimagines nicht erwehren können.
Auffallend ist auch, dass Neinsagen mitunter im Sinne einer Interak
tionsfigur präsentiert wurde, die ein Anerkennen seitens des anderen, näm
lich dass ein »Nein« für alle Gültigkeit hätte, impliziert. Eine Reflexion
der Interessen anderer oder eine Antizipation ihrer Reaktion fehlt bei die
208
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
ser Haltung. Wann ist es überhaupt legitim, Nein zu sagen? Wie gestaltet
sich dies in Abhängigkeitsverhältnissen? »Kann ich Nein sagen, wenn der
Chef Ja sagt?« Was heißt das für die Zusammenarbeit mit Kollegen: »Wenn
ich Nein sage, haben die anderen mehr zu tun.« Das heißt, bei steigender
Arbeitsbelastung ist das Neinsagen ein Schritt aus der individuellen Perspektive, dem eine Umverteilung der Arbeit im Team folgt.
Das Thema »Abgrenzung« birgt die Gefahr einer reduzierten Sichtweise auf das Problem, ignoriert eventuell interpersonelle Probleme, kann
im Interaktionellen zur schnellen Scheinlösung – ähnlich der klischeehaf
ten Anwendung – werden, indem weder versucht wird, eigene Anteile zu
hinterfragen, noch das Verhältnis zum Kollegen zu verändern. Letztlich
könnte Neinsagen als Identifikation mit dem Therapeuten, gewissermaßen
als dessen antizipiertes Therapieergebnis im Sinne einer Konvention um
gesetzt werden, ausgedrückt in einem Loyalitätskonflikt: »Nein zum Chef
ist Ja zum Psychotherapeuten.«
5. Was heißt das für die Arbeit mit den Patienten?
In den Einzelfallanalysen lassen sich Unterschiede in Bezug auf die als sol
che wahrgenommene Abgrenzungsproblematik zwischen den Patienten
mit eher strukturbezogener therapeutischer Ausrichtung bzw. Schwierig
keiten bezüglich der Selbststruktur und den Patienten mit neurotischen
Konflikten herausarbeiten. Möchten Patienten eine bessere Fähigkeit
zur »Abgrenzung« – ungeachtet des Diskurses über die Entgrenzung der
Arbeitsverhältnisse – erreichen, lohnt es, sich diesem Begriff tiefgründiger
zuzuwenden. Die unterschiedlichen Themen, die sich dahinter verbergen,
implizieren nämlich auch unterschiedliche Herangehensweisen für eine
therapeutische Bearbeitung, die ebenso entsprechende diagnostische psy
chodynamische Überlegungen vorab nahelegen.
Patienten mit gering integriertem Strukturniveau (Arbeitskreis OPD
2006), die sich gleichermaßen auf der Ebene der Spaltung4 befinden, prä
4 | Entsprechend André Green lassen sich drei Abwehrformen als Negations
arbeit zusammenfassen: die Ebene der Verdrängung, die Ebene der Spaltung und
Verleugnung und die Ebene der Verwerfung (vgl. Küchenhoff 2013). Auf Letztere
wird in den folgenden Überlegungen nicht weiter eingegangen, da die zugehörige
209
Ute Engelbach
sentierten in unserer Untersuchung als Ursache des Abgrenzungsproblems
vorrangig eine Unschärfe in den Selbst-Objekt-Grenzen sowie internalisierte bedrohliche und verfolgende Objektvorstellungen, häufig begleitet von
projektiven Identifikationen. Bei Patienten mit gut oder mäßig integrierter
Struktur im Sinne der OPD bzw. tendenziell unbewussten Konfliktmus
tern als Hauptfokus ließen sich die Schwierigkeiten im Rahmen ihres Kon
fliktmodus zumeist in Verbindung mit einer gewissen Aggressionshem
mung verstehen. Die entsprechende Abwehrform kommt der Ebene der
Verdrängung gleich, dem Leitmechanismus einer neurotischen Struktur.
Nach Küchenhoff (2013) richtet sich die Verneinung auf der Ebene der
Verdrängung vor allem auf Aspekte des abzulehnenden Begehrens, das
heißt abgewehrte Motive und Befürchtungen in der Logik des jeweiligen
Konfliktmusters. Diese Muster werden vorzugsweise dann der therapeuti
schen Bearbeitung zugänglich, wenn sich der Konflikt in der Therapie – für
eine stationäre Behandlung hieße das in den Beziehungen auf der Psycho
therapiestation – und somit im Hier und Jetzt aktualisiert. Die zentralen
Elemente des Konfliktes werden mit zunehmender Intensität in Szene ge
setzt und können dann vom Therapeuten deutend aufgenommen und be
arbeitet werden.
Zu diesem Zweck verhält sich der Therapeut möglichst abstinent gegen
über der unbewussten ReInszenierung, mittels derer die Mitmenschen –
scheinbar der Sicherheit dienend – in die innere und äußere Welt des Pa
tienten verwickelt werden. In der therapeutischen Beziehung können neue
Erfahrungen möglich werden. Dieses konfliktorientierte Vorgehen fokus
siert auf die Klärung der »eigentlichen« abgewehrten Motive und Bedürf
nisse hinter dem Symptom respektive der Schwierigkeit mit dem Thema
»Abgrenzung«.
Unabhängig von dem vorrangigen Konfliktthema war relativ durch
gängig eine gewisse Aggressionshemmung im Sinne einer Übersteuerung
in der Affektdifferenzierung und toleranz (Arbeitskreis OPD 2006) be
obachtbar. Die Thematisierung von Aggression oder potenzieller Destruk
tivität bekam in den therapeutischen Beziehungen im Material unserer
Untersuchung wenig Raum. Desgleichen blieb wahrscheinlich die wichti
ge Erfahrung im therapeutischen Prozess unzureichend, dass Separations
Patientengruppe aufgrund von Ausschlusskriterien nicht vertreten war, sie ent
spricht der psychotischen Struktur.
210
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
und Abgrenzungstendenzen ertragbare Reaktionen in der Beziehung nach
sich ziehen können und die Beziehung wahrscheinlich nicht zerstören.
Wird die Aggression im Übertragungskontext aber nicht besprechbar,
ist die Möglichkeit für eine diesbezügliche Veränderung alter Beziehungsmuster eingeschränkt. Extreme Haltungen in der therapeutischen Beziehung, wie zum Beispiel ausschließlich die »gute Mutter« zu sein oder die
Wut gemeinsam gegen die Eltern auszuagieren, bewirken, dass ambivalente, eventuell auch destruktive Phantasien meist außen vor bleiben. Sicherlich bergen negative Aspekte in der therapeutischen Beziehung jenseits
einer spiegelnden Haltung eine psychische Verletzungsgefahr. Zudem ist
Neinsagen nicht einseitig der inneren Dynamik des Subjekts zuzuordnen,
das heißt, der Therapeut sollte sich als ein Gegenüber anbieten, gerade auch
dort, wo die Vernichtung als Thema in die Beziehung kommt. »Die Fähigkeit, Nein zu sagen, und die Fähigkeit, Nein zu hören, spielen ineinander – so dass sie letztendlich nicht einer Seite allein zuzuschreiben sind«
(Küchenhoff 2013, S. 108).
In diesem Kontext wäre ein Ziel therapeutischer Arbeit das Anerken
nen der Differenz bzw. Andersheit, das heißt, das Fremde oder die Wider
sprüche im eigenen Selbst ebenso wie die Andersheit des anderen anzu
erkennen (ebd.). Die Möglichkeit zur Differenzerfahrung referiert auf
gelungene Triangulierungserfahrungen. Diesbezügliche Defizite hemmen
vermeintlich ein reifes Anerkennen, eine Entwicklung dessen sollte län
gerfristig, das heißt über den stationären Kontext hinausgehend wichtiger
Bestandteil therapeutischer Arbeit sein.
Patienten mit Störungen der Selbststruktur oder gerade auch trauma
tisierte Patienten weisen vielfach eine verminderte Fähigkeit auf, Grenz
überschreitungen in beiden Rollen, aktiv wie auch passiv, angemessen
wahrzunehmen. Situationen triggern dann unerträgliche emotionale Zu
stände, die sie aus traumatisierenden Szenen kennen, sodass es zur Flutung
von damaligen Ohnmachts, Verlassenheits, Schuld und Schamgefüh
len sowie Bedrohungserleben kommt. Manchmal rechtfertigen negative
Überzeugungen noch die grenzüberschreitenden Handlungen. Statt einer
kraftvollen Umsetzung der durchaus um die Abgrenzungsnotwendigkeit
wissenden erwachsenen Anteile kommt es zur Aktivierung früher emotio
naler Persönlichkeitsanteile. Die zumeist ohnehin wenig differenzierten
SelbstObjektGrenzen vermischen sich, es kommt zur Spaltung, zu Ver
schmelzungsphantasien, zu projektiven Identifikationen.
211
Ute Engelbach
Das »Objekt des Begehrens [ist] verzerrt, reduziert auf einen ungemischten Anteil des affektiven Lebens. Zugleich aber muss es die Projektionen aufnehmen,
um die mühsam aufrechterhaltene Ordnung weiter zu gewährleisten. Das Objekt
wird als schützendes und begrenzendes, nicht mehr als Übertragungsobjekt ge
sucht.« (Ebd. S. 98)
Ein klares Gefühl für eigene Grenzen zu entwickeln könnte diese Patien
ten vor Reviktimisierung in Beziehungen schützen. Ein Behandlungsziel
wären bei diesen Patienten neben der Differenzierung der SelbstObjekt
Grenzen das Erkennen der projektiv identifikatorischen Anteile als solcher
sowie deren Integration ins eigene Ich, zum Beispiel durch Anerkennung
der eigenen abgelehnten Anteile.
Einfache Fähigkeiten, sich selbst zu stabilisieren, sind diesen Patienten
oft nicht zugänglich, da sie in früheren, insbesondere traumatisierenden
Situationen als nicht zweckmäßig erlebt wurden, es bleibt dann schwei
gendes Hinnehmen oder innerer Rückzug, ein fehlendes Gespür für klare
SelbstObjektGrenzen. Hier kann das Einüben konkreter Techniken ein
hilfreicher erster Schritt sein, zum Beispiel durch das imaginative Ausstat
ten mit robusten Grenzen und die dafür passende Entwicklung von Sym
bolen, Bereitstellung von »HilfsIchFunktionen«, sich als Gegenüber zur
Verfügung stellen, die Erarbeitung innerer Helferfiguren oder konkrete
Distanzierungstechniken vor als unkontrollierbar erlebter, zerstörerischer
Wut, um Ärger angemessen äußern zu können (vgl. Rudolf 2004; Wöller
2013). Zudem kann die stationäre Behandlung zu einer Art »gutem Objekt«
werden und dadurch eine stabilisierende Erfahrung ermöglichen, hervor
gehoben in den Schilderungen der Patienten durch das Gefühl, angenom
men zu sein.
Bleibt es im Laufe der Therapie nur bei der oberflächlichen »Bearbei
tung« des SichAbgrenzens, so bedient dies sicher den häufig zu findenden
Wunsch nach der schnellen Lösung des Problems. Sicher hat dies auch eine
Berechtigung im Sinne einer vermeintlichen Wiederherstellung oder als
Abbau defizitärer IchFunktionen mithilfe ressourcenaktivierender Techni
ken bei traumatisierten oder früh gestörten Patienten. Für eine tiefgreifen
dere Veränderung durch die Psychotherapie ist es aber nötig, sich dysfunk
tionalen Mustern, wie zum Beispiel Feindseligkeit oder Entwertungen,
sowie den die Übertragungsbeziehung negativ färbenden und durchzu
arbeitenden latent negativen Beziehungsaspekten zu widmen. Um das Ich
212
»Ich muss nur besser Nein sagen lernen«
zu etablieren und zu festigen, braucht es eine Integration der aggressiven
Selbstanteile, die die Grenzen verteidigt.
Literatur
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214
»Das würde mich schon auch
als Therapeutin langweilen«
Deutungen und Umdeutungen von Erwerbsarbeit
in der Psychotherapie
Sabine Flick
Das Zentrum psychotherapeutischer Praxis stellen gemeinhin das Leiden
der Patienten und dessen Linderung und Heilung dar. Psychotherapie ist
schließlich dann indiziert, wenn eine nach dem ICD (International Classification of Diseases, Internationale statistische Klassifikation der Krank
heiten und verwandter Gesundheitsprobleme, WHO) diagnostizierte psy
chische Erkrankung vorliegt. Dabei ist es relevant, welche Krankheits,
Genesungs und Gesundheitsvorstellungen Therapeuten verfolgen. Mit an
deren Worten, welche Krankheitsursache sie identifizieren. Die Ätiologie
entscheidet über die Behandlung und den psychischen Zustand, in dem
Patienten als »geheilt« entlassen werden.
Wenn sich Patienten in eine stationäre oder teilstationäre Behandlung
in einer psychosomatischen Klinik begeben, dann ist der ärztliche Behand
lungsauftrag klar geregelt: Behandlungsziel muss neben der Besserung der
individuellen Leiden stets die Arbeitsfähigkeit des Patienten sein.1 Somit
ist das zentrale Interesse der Kostenträger die Wiedereingliederung der
1 | Dies regelt für Deutschland beispielsweise die Reichsversicherungsordnung.
Arbeitsunfähigkeit liegt dann vor, wenn ein Versicherter infolge des regelwid
rigen Körper oder Geisteszustands nicht oder nur unter der Gefahr, diesen Zu
stand zu verschlimmern, imstande ist, seiner bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit
nachzugehen (vgl. Bley 1975). Erwerbsarbeit ist allerdings kein obligatorisches
Thema im Anamnesegespräch, welches die Therapeuten routinemäßig anspre
chen, es muss vom Patienten angesprochen werden, oder es kommt nicht vor.
215
Sabine Flick
Patienten in den Arbeitsmarkt, womit ein überindividuelles Ziel für jede
Therapie vorgegeben ist: Arbeitsfähigkeit muss ein Ergebnis der therapeutischen Behandlung sein. Artikuliert der Patient beispielsweise deutlich den
Wunsch nach der Frühverrentung, also nach einem Aussteigen aus dem
Erwerbsleben, so hat dies Folgen für die Behandler: Es ist nun davon auszugehen, dass im Patienten zweierlei Wünsche wirken, der eine, wieder gesund zu werden, der andere, in diesem Sinne »krank« zu bleiben, um einen
Ausstieg aus der als belastend empfundenen Erwerbsarbeit vorzubereiten.
Das professionelle Setting der Therapeuten wiederum ist auf die Arbeit mit
und an den Patienten beschränkt.
Therapeuten sind also mit einem Dilemma konfrontiert: Sie können
den Arbeitsbezug des Leidens, wie er möglicherweise von den Patienten
hergestellt wird, nicht diagnostizieren. Ihnen stehen zugleich in der aktuellen Organisation von psychosomatischen Kliniken keine Mittel, vor
allem keine therapeutischen Mittel zur Verfügung, auf die Arbeitssituation
der Patienten einzuwirken. Darüber hinaus können sie einem Patientenwunsch, aufgrund der übergreifenden Belastung ganz aus dem Erwerbsleben auszusteigen, therapeutisch nicht nachkommen. Was geschieht also
mit den Relevanzsetzungen der subjektiven Krankheitstheorien der Patienten?
Generell lassen sich vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher
Entwicklungen sowie den Ergebnissen der hier in den Blick genommenen
Studie zwei Tendenzen aufzeigen: Zum einen greift eine Kultur der Selbstbezüglichkeit auch für die Patienten in der Studie mehrheitlich um sich,
die sich durch eine große Bereitschaft zeigt, in der eigenen Deutung der
psychischen Krise vieles, wenn nicht alles an sich selbst zurückzubinden.
Daneben gibt es aber zum anderen auch eine Gruppe von Patienten (vgl.
Nora Alsdorfs Beitrag in diesem Buch, »›Ich brauche jetzt akut Hilfe!‹ –
Subjektive Krankheitstheorien und Behandlungserwartungen von Patien
ten einer psychosomatischen Klinik«, Deutungstypen 1 & 2), die explizit
ihre Arbeitsbedingungen und die damit verbundenen Belastungen zum
Thema machen und als ursächlich für ihr eigenes akutes Leiden deuten.
Der medial zuletzt stärker aufgegriffene Diskurs um eine überarbeitete
und daher erschöpfte Gesellschaft, verbunden mit öffentlichen Bekennt
nissen von Leistungsträgern aller Art, an einem Burnout erkrankt zu sein,
trägt sicherlich mit dazu bei, einen Bezug der eigenen Krise zum allgemein
etablierten »Leiden an der Arbeit« herzustellen. Ob diese Deutungen der
216
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
Patienten nun tatsächlich so sind oder nicht, wird im Folgenden jedoch
nicht interessieren, ebenso wenig, ob die therapeutische Deutung tatsächlich den Kern der Krise trifft oder nicht. Vielmehr zeigt sich eine therapeu
tische Praxis des Deutens und Umdeutens, die in der Folge zweierlei mit
sich bringt: Sie verstärkt die vorhandene Tendenz der Selbstbezüglichkeit,
anstatt sie ggf. aufzuheben, und Arbeit wird in der Folge der therapeuti
schen Praxis in diesem Sinne unsichtbar.
1. Die Arbeit der Therapie
Als Grundlage für die Entscheidung, ob der Seelenzustand eines Menschen
pathologisch ist, dienen Manuale zur Diagnosestellung. Der Zustand des
Krank oder Gesundseins orientiert sich also nicht ausschließlich am sub
jektiven Leiden, sondern an den in den Manualen ausformulierten Diagno
sen.2 Das Leiden wird im Prozess der Diagnostik also medizinalisiert und
somit behandelbar gemacht.
Die Manuale unterlagen erheblichen Veränderungen in den letzten 50
Jahren. War das ursprüngliche Diagnosekonzept eher biologieorientiert,
wird durch die anschließende Prominenz der Psychoanalyse eher das In
nere der Person fokussiert bzw. dessen Entstehen durch frühkindliche So
zialisation. Dies wird in den 1970er/80er Jahren abgelöst durch eine eher
auf Verhaltensweisen abzielende Krankheitslehre. Diese erfährt vor dem
Hintergrund der Dominanz neurowissenschaftlicher Forschung heute
eine Ergänzung um genetische und physiologische Aspekte als Ursachen
psychischer Erkrankungen (Dellwing 2010). Der Begriff »Krankheit« wird
im Kontext psychischer Leiden 1991 abgelöst durch den Begriff der »Stö
rung«, und psychiatrische wie psychotherapeutische Forschung konzen
trieren sich mehr und mehr auf subjektive Krankheitskonzepte. Dies kor
respondiert mit einem generell veränderten Gesundheitskonzept, wie es
die WHO im Laufe der Zeit entwickelt hat: »Health is a state of complete
2 | Es gibt zwei Manuale: ICD und DSM. Die International Statistical Classifi
cation of Diseases and Related Health Problems wird von der Weltgesundheits
organisation herausgegeben, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental
Disorders ist ein Klassifikationssystem der American Psychiatric Association, die
es erstmals 1952 in den USA herausgegeben hat. Aktuell liegt die fünfte Auflage
DSM5 vor, die im Mai 2013 veröffentlicht wurde.
217
Sabine Flick
physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.« (WHO 1948)
Psychotherapeutische Konzepte betonen heute übergreifend, dass
psychische Gesundheit und ihre Störung nur prozesshaft zu verstehen
seien und jedem psychischen Leiden eine »gestörte Beziehung zu sich
selbst und anderen« zugrunde liege (APA 2016). Psychische Gesundheit
definiert die WHO so: »a state of wellbeing in which every individual re
alizes his or her own potential, can cope with the normal stresses of life,
can work productively and fruitfully, and is able to make a contribution
to her or his community« (WHO 2001, S. 1). Psychische Gesundheit ist
also ein Zustand, in dem es gilt, Potenziale zu erkennen und auszuschöp
fen. Daneben gilt es, produktiv arbeiten und einen Beitrag zur Gemein
schaft leisten zu können.
Auch die arbeitspsychologischen Beiträge unterliegen begrifflichen
Konjunkturen. Vor einiger Zeit wurde im Kontext von Arbeit und Psycho
therapie vor allem über »Abhängigkeit« gesprochen (Oats 1971; Quinones/
Griffith 2015; Andreassen 2014) und als Hauptproblem die Tendenz zum
exzessiven und zwanghaften Arbeiten analysiert (Workaholics; Schaufeli/
Taris/van Rhenen 2008). Dann folgte eine Phase, in der das Team und seine
Schwierigkeiten im Zentrum standen (Stichwort Mobbing; Askew/Schlu
ter/Dick 2013). Heute ist es nun das individuelle Ausgebranntsein, das von
(zu viel) Arbeit hervorgerufen werde (Stichwort Burnout; Maslach/Schau
feli/Leiter 2001). Diese Konjunkturen müssten sich, so sollte man anneh
men, in therapeutischer Praxis niederschlagen.3
Die Frage nach der Bedeutung von Erwerbsarbeit im diagnostischen
und psychotherapeutischen Setting psychischer Erkrankungen ist jedoch
bisher kaum untersucht. Auch im Rahmen diagnostischer Richtlinien
spielt Erwerbsarbeit keine Rolle. Die Begriffe »Arbeit«, »Erwerbsarbeit«
oder inhaltlich verwandte Begriffe kommen im ICD10GM im Bereich F
Psychische und Verhaltensstörungen (F00F99) so gut wie nicht vor
(ICD10, eigene Recherche). Arbeit als eigene Dimension von psychischen
Diagnosen ist nicht formuliert. Einzig die Pseudodiagnose Burnout wird
3 | Allein ein kurzer Blick auf die in PubMed gelisteten Veröffentlichungen stärkt
diese Lesart: Während 180 Artikel zu Workaholics aufgeführt sind und ca. 550 zu
Mobbing (›workplace bullying‹), belegt Burnout mit über 6000 Artikeln klar den
ersten Platz (eigene Recherche der Autorin).
218
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
als Zusatzdiagnose Z73 aufgelistet, hat aber wenig klinisch-therapeutische
Relevanz.
Dazu gesellt sich der Umstand, dass zwar in den letzten Jahren eine
immense Anzahl medizinischer und psychologischer Beiträge zu Burn-out
vorgelegt wurden, die aber beinahe alle keine einheitliche Definition von
dem vorlegen können, was genau Burnout eigentlich ist (vgl. Heinemann/
Heinemann 2013). Untersuchungen zur Wirkung von Psychotherapie rich
ten ihren Fokus schulenübergreifend nicht auf die Relevanz von Erwerbs
arbeit in der Therapie. Die Aufmerksamkeit richtet sich häufig auf die so
genannten »Arbeitsstörungen« (vgl. Hoffmann/Hofmann 2009).
Gemeint sind hiermit jedoch keine Störungen, die man aufgrund von
Arbeit erleidet, sondern Störungen der Arbeitsfähigkeit selbst. Hier wird
das Feld der Erwerbsarbeit also explizit Gegenstand des therapeutischen
Settings, ohne dass aber der Blick auf die Gesundheitsbelastungen durch
oder im Zusammenhang mit Arbeit gerichtet wird. Der externe Kontext
wird kaum zum Thema, im Zentrum der therapeutischen Maßnahmen
steht der Patient mit seinen Fähigkeiten. Was genau aber geschieht in der
therapeutischen Praxis?
2. Deuten und Umdeuten
Psychotherapie umfasst freilich sehr viele, unterschiedliche Verfahren,
Praktiken und Settings, als dass sie sich als die Psychotherapie vorstellen
ließe, formal lässt sie sich aber zunächst als ein Kommunikationsraum für
Selbstthematisierungen fassen. Psychotherapie ist dabei heute die zentrale
Institution, in welcher Individuen sich selbst zum Thema machen können,
aber auch sollen (vgl. Schützeichel 2010; Abbott 1988).
Dabei stellt sie einen Raum für Subjektivitätsmuster zur Verfügung,
wobei gewisse präferiert werden, insbesondere solche, die auf eine erhöh
te Reflexivität und Selbstorientierung der Individuen zielen. »Das Indivi
duum soll Organ seiner Selbsttransformationen sein« (Schützeichel 2010,
S. 138). Diese Selbsttransformation als therapeutisch ermöglichte Selbstver
wirklichung scheint also heute einer Idee von psychischer Gesundheit zu
entsprechen und löst dabei gleichzeitig die Anforderungen der Leistungs
gesellschaft ein, wie oben entlang der heutigen Gesundheitsdefinition der
WHO deutlich wurde.
219
Sabine Flick
Die soziologischen Analysen, die sich mit der Kultur des Therapeutischen auseinandersetzen, extrahieren aus dieser Kultur ein neues Verständnis von Gesundheit. Gesund sein bedeutet dann, sich selbst zu verwirklichen. Eva Illouz beschreibt dies im Anschluss an die Ideen von Carl Rogers
und Abraham Maslow wie folgt: »Im Ergebnis lief dies darauf hinaus, eine
neue Kategorie von Menschen zu definieren: Wer hinter jenen psychologi
schen Idealen der Selbsterfüllung zurückblieb, war nun krank […] Damit
war der Zuständigkeitsbereich der Psychologen enorm ausgeweitet, nicht
nur verlegten sie sich von psychischen Störungen auf das wesentlich grö
ßere Feld des neurotischen Unglücks, sondern nun auch vom neurotischen
Unglück auf die Vorstellung, Gesundheit und Selbstverwirklichung seien
Synonyme.« (Illouz 2011, S. 270)
In diesem Sinne bietet Psychotherapie den Individuen Möglichkeiten
an, ihre Lebensgeschichten in kohärente Narrationen zu transformieren
(vgl. ebd.). Dieser Transformation wiederum geht auf professioneller Seite
allerdings eine (Um)Deutung des Leidens des Patienten in medizinische
Diagnosen voraus, um das Leiden »behandelbar« – im Sinne des kassen
ärztlichen Dienstes: abrechnungsfähig – zu machen. Wovon im therapeu
tischen Setting also auszugehen ist, sind zumindest zu Beginn der Behand
lung existierende gegenseitige nicht kongruente Erwartungen bis hin zu
möglichen Deutungsmusterkonflikten zwischen Patient und Behandler.
Damit ist auch die von Parsons ausformulierte Pflicht des Patienten, die
Krankenrolle einzunehmen, angesprochen (vgl. Parsons 1951).
Nicht nur hat der Patient die Pflicht, sich kooperativ in Behandlung zu
begeben und deutlich einen Genesungswunsch vorzutragen, er wird auch
für seinen gesundheitlichen Zustand nicht verantwortlich gemacht und ist
für die Zeit seiner Erkrankung von sozialen Normen befreit. Für den Be
reich der Medizin und Psychiatrie sind zu diesen Problemen zu Beginn
einer Behandlung bereits viele Analysen vorgelegt worden (vgl. Dellwing
2010). Prominent ist sicherlich die für die Psychiatrie ausformulierte Höl
lenhundThese: Vor der Klinik sitzen für den Patienten zwei Höllenhunde,
die es zu füttern gilt: Krankheitseinsicht (der Patient denkt wie der Arzt)
und Compliance (der Patient tut, was der Arzt von ihm verlangt). Nur wer
beide »füttert«, erhält die Leistungen des psychiatrischen Systems, so Bock
(2003).
Für den Bereich der Psychosomatik, in welchem also leichte bis mit
telschwere psychische Erkrankungen, zum Teil mit körperlichen Symp
220
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
tomen behandelt werden, ist der Deutungsmusterkonflikt nicht so dras
tisch zu illustrieren. Eine Krankheitseinsicht kann vorausgesetzt werden
zumindest insofern, als die Patienten freiwillig mit subjektiven Leiden in
die Kliniken kommen. Der Konflikt kann sich allerdings entlang der sub
jektiven Krankheitstheorie des Patienten und der Diagnose und Deutung
durch den Therapeuten zeigen. Betrachtet ein Patient sein Leiden als vor
allem durch äußere Umstände hervorgerufen, so wird er irritiert auf eine
Deutung des Therapeuten reagieren, die seine Probleme in seinem Inne
ren verortet.
Den Prozess der Deutung durch den Psychotherapeuten kann man auch
als Praxis der professionellen Aneignung des jeweiligen Falles beschreiben.
In der Deutung bzw. Umdeutung der Leiden wird eine Beschreibung des
Leidens hergestellt, die die Behandlung durch einen Psychotherapeuten le
gitimiert. Diese (Um)Deutung liegt allerdings quer zur gemeinhin für die
Professionen konstatierten nötigen »Übersetzung« der Professionsseman
tik in die Sprache des Laien, wie beispielsweise für die anwaltschaftliche
Praxis beschrieben (vgl. Cain 1983). Vielmehr geht es um ein »Sichzustän
digMachen« als Profession.
Unabhängig von den konkreten Leidensinhalten der Patienten ist
also davon auszugehen, dass dieser Umdeutungsprozess immer stattfin
det, sobald sich Patienten ins Medizinsystem begeben. 4 Die Frage nach
dem Leiden an der Arbeit stellt allerdings einen besonderen Fall dar, da
hier mit der subjektiven Krankheitstheorie des Patienten ja bereits eine
Ätiologie konstruiert wird – die Erwerbsarbeit hat krank gemacht –, die
die alleinige Zuständigkeit der Therapeuten eigentlich infrage stellt. Coa
ches oder Betriebsräte wären in dieser Perspektive womöglich ebenso An
sprechpartner. Wie gehen nun aber Therapeuten mit Patienten um, die
ihre eigene Arbeitssituation als ursächlich oder auslösend für ihre Krise
benennen?
4 | Die Umdeutung/Übersetzung als Überführung eines Gegenstandes in ein
spezifisches Wissenssystem findet in diesem Sinne freilich immer statt, auch die
der Deutungen in das Verständnis der Soziologie.
221
Sabine Flick
3. Rekonstruktionen therapeutischer Deutungen
Die therapeutischen Verfahren in den Kliniken umfassen aufdeckende und
stabilisierende, verbale und nonverbale Therapieformen. Kunst-, Musik- oder
Achtsamkeitstherapie zielen in erster Linie auf das emotionale Erleben, das
nicht versprachlicht wird oder werden kann. Die tiefenpsychologischen
Einzelgespräche und Gespräche in einer Gruppe zielen auf Artikulationen
der Patienten und ihre Deutungen durch den Therapeuten bzw. die Gruppe, die verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Therapie zielt auf Kognition
und eine erwünschte Wahrnehmungsveränderung. Parallel zur Analyse
der subjektiven Krankheitstheorien der Patienten wurden die arbeitsbezogenen Deutungen der psychotherapeutischen Behandler dieser Patienten
rekonstruiert. Diese Rekonstruktionen bilden den Kern der hier vorgestellten Argumentation.
Die Behandler in den psychosomatischen Kliniken sind mehrheitlich
Mediziner mit einer psychotherapeutischen Facharztausbildung und psychologische Psychotherapeuten, die nach einem Regelstudium Psychologie
eine Ausbildung in einer der drei von den Krankenkassen akzeptierten Psychotherapierichtungen absolviert haben. Die Verfahren, die von den Kassen übernommen werden, sind die Psychoanalyse, die analytische Tiefenpsychologie, die vor dem gleichen Paradigma operiert, und die Kognitive
Verhaltenstherapie.
Die Mehrzahl der Therapeuten, die im Projekt beteiligt waren, hat eine
ursprünglich psychodynamische therapeutische Ausrichtung und mehrjährige klinische Erfahrung. Im Rahmen ihrer beruflichen Praxis leiten sie
gruppentherapeutische Sitzungen und führen mehrmals pro Woche Thera
pien im Einzelsetting durch. Die behandelten Patienten bleiben im Durch
schnitt sechs bis zwölf Wochen in der Klinik, und sie werden meist parallel
zu den therapeutischen Sitzungen zu Stabilisierungszwecken medikamen
tös behandelt (Schlafmittel, Neuroleptika, Antidepressiva).5
5 | Sechs bis zwölf Wochen umfasst die maximale Behandlungsdauer in Kli
niken, die in Deutschland von Kassen finanziert wird. Sie entspricht also nicht
den Ergebnissen der jeweils konkreten therapeutischen Situation, sondern hängt
vielmehr mit dem Indikations und in diesem Sinne Begründungsdruck für eine
weitergehende Kostenübernahme der Behandlung durch die Krankenkassen
zusammen.
222
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
3.1 Drei (Um-)Deutungen
Die Ergebnisse der unterschiedlichen Materialanalysen6 zeigen zunächst
Folgendes: Erwerbsarbeit ist kein Thema der psychotherapeutischen Ausbildung. Die Therapeuten haben überwiegend ein naturwissenschaftliches
Studium (Medizin/Psychologie) absolviert, bei welchem das neurowissenschaftliche und das lerntheoretische Paradigma dominieren. Mit psychodynamischem Denken sind diejenigen, die mit diesem Schwerpunkt als
Behandler tätig sind, erst im Rahmen ihrer psychotherapeutischen Weiterbildung in Berührung gekommen. Auch im Rahmen dieser Ausbildung
spielte Erwerbsarbeit als Thema keine Rolle. Nur wenige Therapeuten haben im Studium ein Seminar zu Arbeits- und Organisationspsychologie
belegt.
Außer der eigenen klinischen Arbeitserfahrung erhalten die Therapeuten keine Einblicke in aktuelle Arbeitsbedingungen, bilden sich diesbezüglich auch nicht weiter. Mehrheitlich fühlen sich die Therapeuten für
ihre Arbeit anerkannt in der Klinik und haben ausreichend Möglichkeiten,
sich, wenn nötig, mittels Super- oder Intervision zu entlasten. Sie beschreiben sich als sehr identifiziert mit ihrer Tätigkeit und haben in diesem Sinne
ein eher protestantisches, auch grenzüberschreitendes Arbeitsethos, was sie
nicht negativ konnotieren.
Die Arbeitssituation der jeweiligen Patienten wiederum wird nicht
thematisiert, sofern der Patient dieses Thema nicht in die Sitzungen ein
bringt. Selbst wenn dies der Fall ist, wird so gut wie nie nach der kon
kreten Tätigkeit gefragt. Die Therapeuten wissen also wenig über die kon
kreten Arbeitsbedingungen ihrer eigenen Patienten. Aus diesem Grund,
so zeigt sich das insbesondere in den Supervisionen, ist die therapeutische
Deutungspraxis in Bezug auf die Erwerbsarbeit in besonderem Maße frei
schwebend. In der Gruppentherapie wird Arbeit als eigenständiges Thema
selten eingebracht und meist erst dann angesprochen, wenn sich das Ende
des stationären Aufenthalts nähert.
Zum Ende des jeweiligen Aufenthalts des Patienten thematisieren die
Behandler im Auftrag der Krankenkassen die sogenannte »berufliche Wie
dereingliederung«. Dabei verlassen diese Gespräche das traditionelle thera
6 | Die Erhebungs und Auswertungsmethoden sowie einige Anmerkungen zum
Material finden sich im Methodenglossar am Ende des Bandes.
223
Sabine Flick
peutische Setting und beziehen meist die Kliniksozialarbeit mit ein. Das
Resultat der Mehrheit dieser Gespräche liegt in der Empfehlung für eine
stufenweise Wiedereingliederung, die zeitlich organisiert ist.7
Die Ergebnisse der Auswertung, also die generelle Thematisierung von
Erwerbsarbeit, lassen sich zu drei Varianten der (Um-)Deutungen verdichten, die folgend dargelegt werden. Jede Variante bzw. jeder Deutungstyp
berührt dabei drei nur analytisch trennbare Ebenen. Ebene 1 umfasst die
Frage nach der Ursachenanalyse durch die Therapeuten, Ebene 2 zielt auf
die normativen Vorstellungen von Arbeit, die in den Deutungen der Therapeuten deutlich werden, auf der Ebene 3 liegt das professionelle Selbstverständnis der Therapeuten im Hinblick auf ihr Wirken in die Gesellschaft.
3.2 Dethematisierung: Infragestellung und Irrelevanzsetzung
Die dominante (Um-)Deutung der Psychotherapeuten im Zusammenhang
mit der Arbeitssituation der Patienten beinhaltet eine Infragestellung der
Arbeitserzählung, was mit einer gleichzeitigen Irrelevantsetzung arbeitsbezogener Themen einhergeht. Die Schilderungen der Patienten werden
in Zweifel gezogen, und die erzählten Arbeitsbelastungen werden bereits
als Ausdruck der Pathologie betrachtet. Schildert eine Patientin beispielsweise mehrfach ihr Ungerechtigkeitserleben angesichts des Umstands, dass
man im Team stets ihr die unangenehmen Aufgaben überlasse und ihre
Urlaubs- und Wochenendzeiten zudem nicht respektiere, so deutet dies der
behandelnde Therapeut als »Wunsch, gebraucht zu werden«. Die geläufige
Praxis der Entgrenzung durch Vorgesetzte, dass per EMail oder Textnach
richt tatsächlich permanent Kontakt zum Arbeitnehmer gehalten wird –
selbst, wie in der Studie, auch in der Zeit des stationären Aufenthalts in
der Klinik –, wird für die therapeutische Arbeit nicht weiter berücksichtigt.
Die Deutung des Patienten, die externe An und Überforderung sei
en Grund für sein Leiden, wird also umgedeutet. Nicht selten rekurrie
7 | Dies bedeutet, dass der Patient zunächst nur wenige Stunden pro Tag an sei
nen alten Arbeitsplatz zurückkehren soll. Diese Empfehlung geht in den meisten
Fällen jedoch an der Arbeitsrealität der Patienten vorbei, da entweder ihre kon
krete Tätigkeit diese zeitliche Einschränkung nicht zulässt oder Kollegen wie Vor
gesetzte sowie die Patienten selbst die zeitliche Beschränkung unterlaufen (vgl.
Voswinkel 2016 und »Beitrag Betriebliches Eingliederungsmanagement: Verfah
ren und Problemsichten« in diesem Buch).
224
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
ren die Therapeuten bei der Deutung der Arbeitsbelastung der Patienten
in Ermangelung an professionellem Wissen auf ihr eigenes Verhältnis zur
Arbeit. Ihre Arbeitshaltung setzen sie als gesund-normal voraus und deuten
die Abweichung der Patienten als Teil von deren Pathologie. Dieser Rekurs
kommt besonders deutlich in der folgenden Passage zum Ausdruck. Die
Therapeutin Dietrich8 berichtet in der Interviewpassage eigentlich über
ihren eigenen Werdegang und kommt dann auf die Patienten zu sprechen.
»Das ist ja schon auch irre: Die sitzen dann manchmal in der Gruppe, zwölf Wochen lang kommen die nicht zur Arbeit; da muss man ja eigentlich auch mal eine
Ahnung davon haben, dass das die Kollegen echt annervt, wenn man nicht da ist.
Die müssen ja dann die Arbeit mitmachen. – Aber das wird manchmal so ausge
blendet; das ist unglaublich. Aber, ich mein, wir gehen auch jeden Tag arbeiten.
Und ich denke mir immer: Warum sehen die das nicht? Dass das ja nicht nur
ein Feind ist oder so was. Ich glaube, je kränker man ist, desto feindlicher ist die
Arbeit; das würde ich schon sagen.«
Die Umdeutung der Patientenperspektive kommt in diesem Beispiel qua
si einer Umkehrung gleich: Während die Patienten sich von der »feind
lichen« Arbeit belastet fühlen und glauben, dadurch krank geworden zu
sein, dreht die Deutung der Therapeutin diese Kausalität um.
In Fällen, in denen die Deutung des Patienten nicht bezweifelt oder hinter
fragt wird, kommt ihr gar keine Aufmerksamkeit zu. Insbesondere die Aus
wertung der Supervisionen mit den Therapeuten zeigte, dass, selbst wenn
der Supervisor nach Arbeitsthemen fragte, es für die Therapeuten einigen
Erinnerungsaufwand bedeutete, überhaupt die Arbeitssituation der Patien
ten zu rekonstruieren. Nun mag man kritisch einwenden, es handele sich
bei der therapeutischen Infragestellung um eine generelle Handhabung
der therapeutischen Praxis und die Therapeuten seien doch stets mit dem
Dilemma konfrontiert, das Tatsächliche, also die realen Anteile der Patien
tenerzählungen, nicht überprüfen zu können und sich daher schon immer
und ausschließlich auf die mit den Schilderungen einhergehenden Gefüh
le, Phantasien und möglichen Übertragungen konzentrieren zu müssen.
Auffällig für den Fall der Erwerbsarbeit ist allerdings, dass diesen gar
nicht nachgegangen wird. Während, um dies zu verdeutlichen, Erzählun
8 | Alle Namen sind geändert.
225
Sabine Flick
gen aus der Vergangenheit, insbesondere der familialen Beziehungserfahrungen, sehr schnell und dominierend in die Deutungen der Therapeuten
einfließen, kommt den Berichten aus der Arbeitswelt hier keine Bedeutung
zu. Vielmehr noch werden hier, wider die eigentliche therapeutische Praxis
der »frei schwebenden Aufmerksamkeit« und der Offenheit für das, was
der Patient mitbringt, Themen gesetzt und (um)gedeutet. Beispielhaft illus
triert dies der folgende Dialog aus einem Interview mit Therapeutin Bremer:
Bremer: »Bei dem Patienten ist es so, dass ich es dann immer mal wieder versuche,
das Thema Familie reinzuholen; weil das dadurch schon so jede Woche – immer
wieder dieselben Probleme – mich auch sonst mit ihm zusammen zermürbt ir
gendwie.« Interviewer: »Und ist es umgekehrt so, wenn jetzt zum Beispiel Patien
ten kommen, die überhaupt nicht über die Arbeit sprechen, dass Sie das dann
auch aktiv ansprechen?« Bremer: »Ich glaub, so rum würde ich’s nicht so zum
Thema aktiv machen als jetzt vielleicht andersrum.«
Die Therapeuten berichten mehrheitlich davon, dass sie versuchen, das
Thema wieder auf Beziehungsthemen zu lenken. Erwerbsarbeit wird da
durch also als Folge dieser (Um)Deutung und Umlenkung irrelevant und
dadurch dethematisiert.
3.3 Personalisierung und Familialisierung
Sind die Psychotherapeuten offen für die Belastungssituationen der Arbeits
welt ihrer Patienten, so schließen sie, nicht selten in Rückbezug auf sich
selbst, dass es nur Verstrickungen sein können, die jemanden freiwillig in
solch belastenden Arbeitsbedingungen verweilen lassen:
»Ich denke, wenn die dann hier erzählen von ihren Arbeitsabläufen, da denk ich
mir schon: Boah, kann ich voll verstehen – aber psychisch würd ich’s anders lösen,
ich glaube schon, wer dann bleibt, ist krank«,
beschreibt der Therapeut Stern. Wenn jemand in Arbeitsverhältnissen be
schäftigt ist, die ihn so belasten, dass sie ihn dauerhaft leiden lassen, so
liegt die therapeutische Frage nahe: Warum gehen Sie nicht, bzw. warum
sind Sie bisher geblieben? Diese Frage leuchtet insbesondere ein, wenn es
um klassische Beziehungskonflikte geht, setzt aber auch dann die faktische
Möglichkeit voraus, die jeweilige Beziehung zu beenden: den Partner ver
lassen, den Kontakt zu den Eltern abbrechen, die Freundschaft kündigen.
226
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
Wer das dann nicht kann, kann es nicht wegen neurotischer Verwicklungen. Wird dieses Wissen nun auf die Arbeit angewandt, dann suggeriert
dies ebenfalls, man könne Arbeitsplätze ohne Weiteres wechseln. Dies ist
mit Sicherheit auch prinzipiell möglich – was das im Einzelfall jedoch be
deutet und welche strukturellen Verhinderungen dabei auftauchen, wird
von den Therapeuten nicht mehr thematisiert. Wer bleibt, so unterstellt das
psychotherapeutische Deutungsmuster, sucht aus neurotischen Gründen
etwas für sich in diesen belastenden Bedingungen: »Wer bleibt, ist krank.«
Der Fokus der Deutung liegt dann auf den Fähigkeiten/Unfähigkeiten
der Patienten und ihren familienbiographischen Ursachen.
»›Wo Arbeit war, soll Ich sein‹, könnte man folgern. Also, wir bearbeiten sozusa
gen also die Übertragungssituation auf das idealisierte Elternteil, also entweder
ich oder der Chef; also ne, das, würde ich sagen, ist unsere Arbeit«,
erklärt Frau Fokke. Die Professionalisierung der Therapeuten und ihr
Bezug auf Professionswissen, lässt sie ätiologisch vor allem Beziehungsge
flechte als krankheitsauslösend thematisieren. Diese werden besonders im
Falle von psychodynamisch arbeitenden Psychotherapeuten in der Form
des Übertragungsgeschehens analysiert. Die Erwerbsarbeit wird als Folge
der therapeutischen Deutung zur Bühne, auf der all die tatsächlich vorhan
denen Selbstwert und Beziehungsprobleme lediglich aufgeführt werden,
nicht aber, wo sie womöglich auch selbst entstehen.
Das Handwerkszeug insbesondere der Psychodynamiker heißt früh
kindliche Beziehungserfahrungen und deren rezente Übertragungen auf
aktuelles Beziehungsgeschehen. In diesem Sinne kann man diese Umdeu
tung als Familialisierung des Leidens bezeichnen. Kommt familiales Ge
schehen nicht vor, so versucht man, in der therapeutischen Arbeit das The
ma darauf zu lenken, denn sonst werde es »langweilig«. Auf die Frage, in
welchem therapeutischen Setting über Arbeit gesprochen wird, antwortet
beispielsweise Therapeutin Koch:
»Gottseidank jetzt nicht nur im Einzelsetting – ich glaub, das find ich dann auch
arg. Also bei dem einen, da war dann schon – am Anfang war also nur Arbeit,
und ich schon so: Oh, das wird ja zäh, wenn das jetzt – dann sind wir Gottseidank
doch auf so Beziehungsthemen – also, das würd mich schon auch als Therapeutin
langweilen, wenn die da – so. Weil natürlich mich natürlich das, Familie und Be
ziehung, besonders interessieren einfach.«
227
Sabine Flick
Hier zeigt sich der Deutungsmusterkonflikt recht drastisch. Der Patient, der
hier Erwähnung findet, berichtet von ihn massiv belastenden Bedingungen
auf seiner Arbeitsstelle, durch Stellenkürzungen und Druckabgabe nach
unten etc. Dies wird hier nun (um)gedeutet, weil es sie »besonders interes
siert«, professionalisierungstheoretisch könnte man aber auch sagen: weil
Familie und Beziehung retrospektiv das Material sind, mit dem gearbeitet
wird. Die familienbiographischen Erfahrungen sind diejenigen, die die
wirklichen Relevanzen setzen, und an diesen muss nun angesetzt werden.
Die (Um)Deutung ermöglicht also die professionelle Aneignung des Falles,
der dann mit den psychotherapeutischen Diagnosen, Ätiologie und den aus
diesen resultierenden Annahmen für die Therapie behandelt werden kann.
Es wird also nicht eine Gleichzeitigkeit oder Gleichwertigkeit von dem
Zusammentreffen einer individuellen familial geprägten Biographie und
einer aktuellen, ebenso prägenden Arbeitssituation angenommen, sondern
in der Umdeutung in eine Richtung aufgelöst. Dies wiederum ist verbunden
mit der Annahme, dass das Aufdecken frühkindlicher Grundkonflikte sich
langfristig quasi automatisch auch in einer besseren Arbeitsfähigkeit nieder
schlägt, ohne dass Erwerbsarbeit dabei selbst thematisiert werden müsste.
Diese Deutung beinhaltet dann eine personalisierende Betrachtung des
Leidens des Patienten, da aufgrund der Annahme über die familialen Er
fahrungen unterstellt wird, dass der Patient sich selbst wiederholend aktiv
in eine spezifische Situation bringt, die das Verhalten der anderen auslöst.
Hierzu eine Schilderung von Herrn Markus auf die Frage, wie er genau mit
Patienten therapeutisch arbeitet:
»Wenn er jetzt immer wieder in diese Rolle gerät, dass er so belastet ist und immer
wieder und immer wieder, dann einfach zu gucken: Was macht er denn, was ist
sein Part dabei? Wie verhält er sich, was gibt er für einen Anlass, dass der sich so
verhält, der Chef? So. Also, das ist wirklich so schon häufig Thema.«
Die Patientendeutung eines konflikthaft belastenden Verhältnisses wird
hier personalisiert. Zugleich suggeriert diese Deutung, wenn sich das
Patientenverhalten ändere, werde sich darüber auch eine Änderung des
Verhaltens des Vorgesetzten erreichen lassen. Das strukturelle Abhängig
keits und Machtverhältnis zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter spielt
dabei keine Rolle. Die Personalisierung und Familialisierung erlaubt die
professionelle Aneignung des Falles und ermöglicht dabei auch potenziell
Veränderungen zu bewirken.
228
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
3.4 Normalisierung der Ausnahme
»Arbeit ist heute belastend, aber dagegen muss man sich wehren (können).«
Die dritte (Um-)Deutung bezieht sich stärker auf supportive Verfahren, die
gemeinhin dem verhaltenstherapeutischen Spektrum zuzuordnen sind, im
Material jedoch fallübergreifend auftauchen. In diesen Deutungen spielen
die Schilderungen der Arbeit der Patienten als für sie extreme Belastungsfelder eine Rolle. Es geht zentral um die Analyse konkreter Persönlichkeitsmerkmale des Patienten, um diese zur Förderung seiner Resilienz zu
verändern. In der weiteren therapeutischen Deutung verschwindet die Thematisierung der externen Belastung, und die Therapie zielt dann darauf,
sich zukünftig besser abgrenzen zu können.
Diese Deutung transformiert also die externen Belastungen in interne Möglichkeitsräume, was sich nicht allein in verhaltenstherapeutischen,
sondern auch in theoretischen Konzepten der Selbstwirksamkeit (vgl.
Bandura 1997) oder dem Locus of Control (Antonovsky 1987) seit der salutogenetischen Wende in den Gesundheitswissenschaften ähnlich beobachten lässt.9 Nun gilt es, nicht mehr die krank machenden Bedingungen,
sondern vielmehr die gesundheitsförderlichen personalen Ressourcen zur
Widerstandsfähigkeit zu identifizieren und zu stärken.
Meist drehen sich die psychotherapeutischen Annahmen dann um das
Thema Grenzen und Grenzziehungen, die, so scheint es vor allem in den
ärztlichen Behandlungsberichten, das Allheilmittel darstellen.10 Verhin
derte Aneignungen, Entfremdung und sinnlose Arbeit werden dagegen
nicht thematisch. Die in der Soziologie prominente These vom Leiden am
Postulat der Selbstverwirklichung und seiner gleichzeitigen Verunmögli
chung durch heutige Arbeitsverhältnisse findet in diesen Deutungen kei
nen Ausdruck. Verhinderte Aneignung, verlorener Sinn von Arbeit oder
gar Entfremdungsphänomene verschwinden hinter der undifferenzierten
Formel »Grenzen ziehen«. Überdies kommt in den grenzziehungsbezoge
nen Deutungen der Therapeuten die bereits im vorherigen Umdeutungs
muster Personalisierung dargelegte Tendenz zum Ausdruck, die Gründe
9 | Zum Begriff der Resilienz und seiner politischen Wirkung siehe Brunner 2014.
10 | In vielen Patientenakten liefert der Behandlungsbericht Beschreibungen zur
Fähigkeit/Unfähigkeit der Abgrenzung und empfiehlt, diese in einer ambulanten
therapeutischen Weiterbehandlung zu verbessern.
229
Sabine Flick
für eine Entgrenzung, also für das Nichtziehen von Grenzen, in der Person
zu suchen. So erläutert Herr Ohm:
»Manchmal müssen wir auch konkreter an den Sachen arbeiten, dann geht es
schon so darum: Warum trauen Sie sich das nicht zu? Und womit hat es zu tun,
wenn Sie es sich nicht zutrauen, dem Chef zu sagen: Hier, das können Sie nicht
machen! Oder mit den Kollegen so zu sprechen. Warum ist es so schwierig, diese
Portion Aggressivität an den Tag zu legen, um sich da mal – Wie können Sie sich
besser abgrenzen? – Da können wir auch an einer ganz konkreten Ebene arbeiten
und so ein bisschen Rollenspiele, was weiß ich – also sagen: Wenn ich jetzt Ihr
Kollege wär, was würden Sie dann machen? So. Also, da geht’s auch um Kommu
nikationsfertigkeiten und so.«
Bei der in allen Gesprächen auftauchenden Idee, dass man den Patienten vor
allem zu einer besseren Abgrenzungsfähigkeit verhelfen müsse, gerät in den
Deutungen der Therapeuten aus dem Blick, was diese Abgrenzung mögli
cherweise an Folgen für die Patienten mitbringt. Überdies ist die Praxis der
Abgrenzung dann meist mit einem »Nichttun« verbunden: nicht ans Tele
fon zu gehen am Wochenende, nicht die überfordernden Aufgaben zu über
nehmen. Die Überforderung wird dann nicht mehr thematisiert, schon gar
nicht skandalisiert, und auch eine aktive Einbringung und Thematisierung
durch den Patienten im Unternehmen, eine Suche nach möglichen Allian
zen für ihn, wird dadurch nicht aktiviert. Die alltägliche Ausnahme der
Arbeitsbelastung, in welcher sich das Leiden der Patienten und ihre Kritik
an diesen Arbeitsbedingungen begründet, gerät zu einem Normalzustand:
Das Leiden an der Überforderung wird umgedeutet zu einem Leiden an
der mangelnden Abgrenzungsfähigkeit, es wird zum Leiden am Selbst.
Diese (Um)Deutung mag nun angesichts theoretischer Ansätze in der
Tradition von Foucault nicht verwundern. Psychotherapie als gouverne
mentale Subjektivierung in Normalisierungsgesellschaften bringe, so bei
spielsweise Foucault (1973), ein spezifisches Selbstverhältnis hervor, und
diese Praxis gerade der psychoanalytischen Beichtkultur ziele in erster Li
nie auf Normalisierung. In der Praxis des Therapeutischen liege die Norm
zur eigenverantwortlichen Aktivierung, zum »unternehmerischen Selbst«
(Bröckling 2007) oder dem »responsibilisierten Einzelnen« (Rose 1999). Die
hier dargelegte (Um)Deutung zeigt die Normalisierung in einer anderen
Dimension: als Folge einer spezifischen Professionalisierung und mit dieser
einer Invisibilisierung gesellschaftlicher Bedingungen.
230
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
4. Schlussbemerkung
Die eingangs benannte zunehmende Kultur der Selbstbezüglichkeit wird,
so das Ergebnis, durch die therapeutische Behandlung nicht etwa aufgehoben, sondern im Gegenteil nun auch für diejenige Patientengruppen,
die in ihren subjektiven Krankheitstheorien ihre Arbeitsbedingungen in
den Blick nehmen, verstärkt. Zielt psychotherapeutisches Arbeiten dem
eigenen Selbstverständnis zufolge auf eine Verbesserung der »Selbstrefle
xivität« des Patienten, so resultiert aus den hier dargelegten Deutungen
vielmehr eine Verstärkung der »Selbstreferenzialität«. Der Unterschied
ist folgender: Selbstreflexivität beschreibt eine Selbstbetrachtung, die
sowohl interne als auch externe Bedingungen nicht nur zur Kenntnis
nimmt, sondern auch differenzieren kann. Das schließt auch die Akzep
tanz von Bedingungen ein, die sich nicht durch eine Selbstveränderung
ändern lassen.
Selbstreferenzialität hingegen beschreibt eine Selbstbetrachtung der
Selbstbezichtigung, die mit dem Ausblenden von Strukturen und der De
thematisierung von überindividuellen Anforderungen einhergeht. Selbst
referenzialität verweist dabei auf die Imagination von Selbstwirksamkeit
und Handlungsfähigkeit. Externe oder überindividuelle Strukturen, dem
Selbst äußerliche und von ihm zum Teil unbeeinflussbare Strukturen wer
den in dieser Perspektive zu internen Strukturen umgewandelt (vgl. Flick
2013a).
Dies führt im eigenen Selbsterleben möglicherweise produktiv dazu,
dass man nun, da man selbst im Zentrum der Wahrnehmung und der
Strukturen steht, sich als handlungsfähig erleben kann. Zugleich korres
pondiert Selbstreferenzialität mit Selbstanklage, welche wiederum typisch
für depressive Muster ist. Dies inkludiert Schuldgefühle und Ohnmacht in
erneuten belastenden Arbeitssituationen, denn schließlich weiß man doch
nun, wie man sein sollte.
Wenn die Patienten, anstatt sich sowohl über sich selbst als auch über
die Strukturen, in denen sie arbeiten und leben, klar zu werden, nur noch
über sich selbst in Beziehungen und ihre Biographie reflektieren, entsteht
ein doppelter Effekt: die Dethematisierung des Sozialen als einer externen
Struktur mit Eigenlogik und machtvollen Effekten und zugleich die Illu
sion von Autonomie und Handlungsfähigkeit, wenn die Patienten durch
231
Sabine Flick
die therapeutische Umdeutung erfahren, dass man sich verändern und/
oder aus den Bedingungen herausbewegen kann.
Es zeigt sich, dass eine Ätiologie, die ohne Bezug zur Erwerbsarbeit auskommt, eine therapeutische Behandlung in Gang setzt, die Arbeit nicht als
relevante Dimension des Leidens in Betracht zieht, wenngleich die Arbeitsfähigkeit Ergebnis der Behandlung sein soll. Arbeits(un)fähigkeit wird also
paradoxerweise behandelt, ohne Arbeit thematisch wirklich in den Blick
zu nehmen.
Wie lassen sich diese Ergebnisse nun abschließend verstehen? Zwei Gedanken liefern womöglich Erklärungen. Zum einen ist von einer nach wie vor
vorhandenen Professionalisierungsbedürftigkeit der Therapeuten und vor
allem dem spezifischen und ihre eigene Tätigkeit stark limitierenden Set
ting auszugehen. Zum anderen lässt sich die Umdeutungspraxis der Thera
peuten womöglich auch als – wenngleich paradoxe – Verwirklichung des
therapeutischen Credos deuten, nicht nach Vorgaben zu behandeln.
Zunächst zum ersten Punkt: Das spezifische psychotherapeutische
Setting ist auf eine kurze, zeitlich sehr knappe und überschaubare Krisen
intervention angelegt, an die sich, so zeigt die Studie, stets die Empfehlung
für eine Fortführung der in der Klinik angefangenen therapeutischen Be
arbeitung in ambulanter Form anschließt. Als Problem erweist sich der
Umstand, dass die den Behandlern zur Verfügung stehende Behandlungs
dauer nicht selbst bestimmt und dem jeweiligen Fall gemäß gestaltet wer
den kann, sondern von den Richtlinien der Krankenkassen limitiert wird.
In diesem Sinne lässt sich die Praxis der Therapeuten hier auch als »Anthe
rapieren« bezeichnen.
Somit kommt den Psychotherapeuten in den Kliniken die Rolle derjeni
gen zu, die die Leiden der Patienten ins Medizinsystem überführen und in
diesem Sinne medizinalisieren. Dies ist wiederum mit einem Widerspruch
verbunden, der sich angesichts der Grenzen der Richtlinien der Kranken
kassen derzeit für die Therapeuten ergibt: Wenn die schnellstmögliche
Reintegration ins Erwerbsleben den Behandlungsauftrag der Therapeuten
in diesem Sinne klar vorgibt, so schränkt dies den Spielraum für die Be
handler stark ein, können sie doch so nicht mehr nach eigenen Standards
behandeln und steht ihnen dadurch zudem doch auch nur ein verkürzter
Zeitraum zur Verfügung, das Behandlungsziel zu erreichen.
232
»Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen«
In der Konsequenz, bedingt durch die professionelle Aneignung der jeweiligen Patientendeutungen, lässt sich allerdings eine paradoxe Entwicklung beschreiben: Das Nichtthematisieren bzw. Umdeuten der Erwerbsbezüge der Patienten läuft einer baldigen Reintegration in die Erwerbsarbeit
womöglich zuwider. Wenn lediglich am nahenden Endpunkt einer Behandlung die Organisation der Wiedereingliederung begleitet wird, die
Arbeitsorganisation selbst aber in diesem Sinne nicht in den Blick gerät,
bleiben der Behandlungsauftrag und seine Erfüllung fragwürdig.
Im Wissen um eine eigentlich zu knappe Behandlungsdauer und die
starken Vorgaben der Krankenkassen gerät die Arbeit der Therapeuten beinahe zur reinen Dienstleistung für die Kassen. Die Idee der Psychotherapie,
den Patienten in seiner Krise in seinem Sinne zu behandeln, wird dadurch
nicht nur konterkariert, es entsteht angesichts der hier in den Blick genommenen Studie zudem der Eindruck, dieser extern vorgegebene Rahmen
werde mehrheitlich übernommen und nicht mehr hinterfragt. Die Professionalisierung bestünde nun in erster Linie in einer stärkeren Autonomie
der Behandler im Rahmen klinischer Settings, die die normative Vorgabe
der Kostenträger sowie die limitierte Behandlungsdauer zum einen betreffen, zugleich ließe sich auch in die andere Richtung eine stärkere Professionalisierung denken: Arbeit als Thema in psychotherapeutischen Ausbildungen, Fortbildungen für etablierte Behandler im Bereich Wandel der
Erwerbsarbeit etc.
Die Professionalisierung der Psychotherapie selbst, die mit dem Ausschluss anderer Fachrichtungen als den medizinisch-psychologischen verbunden war, mag einen Teil dazu beigetragen haben, dass diese Themen
nicht mehr disziplinär eingebracht werden (vgl. Ottersbach 1980). War zumindest im deutschsprachigen Raum vormals auch Geistes-, Erziehungsund Sozialwissenschaftlern der Zugang zum Therapeutenberuf im Medizinsystem gestattet, sind diese nun aus den Kassenleistungen seit mehr als
15 Jahren exkludiert (vgl. Flick 2013b; 2017).
Demgegenüber ließe sich allerdings auch Folgendes vermuten: Gerade
weil es dem psychotherapeutischen Credo zuwiderläuft, im Rahmen der
Behandlung eine normative Zielvorgabe, die außerhalb der vom Patienten
selbst formulierten Ziele liegt, zu erfüllen – nämlich die schnellstmögliche
Reintegration in die Erwerbsarbeit –, lassen sich die hier beschriebenen
Umdeutungen womöglich auch als ein Versuch interpretieren, diese Vorga
be zu unterlaufen. Im Versuch, sich dem Patienten individuell zu widmen
233
Sabine Flick
und sich nicht den Effizienzvorgaben der Kassen zu unterwerfen, läge es
nahe, die konkreten Erwerbsarbeitsanforderungen nur als nachrangig zu
behandeln, wenn davon ausgegangen wird, die »eigentlichen« Probleme
seien anders gelagert und ohnehin nicht in der Kürze der Zeit zu lösen.
Tragisch mutet es jedoch auch in diesem Falle an, wenn dieses Umdeu
ten als Ausdruck des professionellen Ethos der Psychotherapeuten dann in
der Folge Konsequenzen für die Patienten mit sich bringt, die deren Leiden
womöglich verlängern, wenn sie im Laufe der Behandlung noch stärker auf
sich selbst und noch weniger auf ihre strukturelle Umgebung referieren.
Aus dem Blick geraten dadurch zumindest all jene Ansätze, in denen die
»Krankheit« der Patienten als Ausdruck ihrer kranken bzw. krank machen
den Umgebung verstanden wurde, im Sinne von Rosenhans These: Sie sind
»gesund in kranker Umgebung« (Rosenhan 1973). Galt also das Postulat,
»dem Leiden Gehör zu verschaffen«, mutet es besonders paradox an, wenn
die psychotherapeutischen Deutungen nun einem Behandlungsauftrag der
Krankenkassen unkritisch nachkommen müssen. Das Paradigma der Effi
zienz, der schnellen Lösungen sowie der beschleunigten Selbstverhältnisse,
die womöglich das Leiden der Patienten erst hervorgerufen haben, wird
dadurch jedenfalls nicht infrage gestellt.
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Perspektive 3
Zwischen Klinik und Betrieb
Nach der Klinik ohne Arbeit
Defizite in der Nachsorge
Andreas Samus
Nach der Entlassung aus der Klinik schlagen die Patienten in der Regel
einen von zwei Wegen ein: Entweder kehren die Patienten unmittelbar nach
der Entlassung in die Erwerbsarbeit zurück. oder es beginnt eine Übergangsphase der Nichterwerbsarbeit, in der die Patienten auf ihre Rückkehr
in die Berufstätigkeit warten. Die Gründe für eine Wartezeit nach der Klinik sind vielfältig: Eine fortwährende Krankschreibung des Patienten, der
Patient möchte nicht an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren und meldet sich arbeitslos, oder ein Aufhebungsvertrag mit dem alten Arbeitgeber
beseitigt zeitweise die Notwendigkeit zu arbeiten. Zwar ist die Situation in
der Übergangsphase ähnlich der Situation einer klassischen Arbeitslosig
keit, jedoch unterscheidet sie sich in einem wichtigen Punkt: Die Patienten
leiden bereits an einer psychischen Erkrankung und sind somit anfälliger
für psychische Belastungen, die durch das Fehlen von Erwerbsarbeit ent
stehen.
Der Fokus dieses Kapitels liegt auf der Übergangsphase zwischen Ent
lassung aus der Klinik und Wiedereinstieg in den Beruf. Der speziellen
Situation der Nichterwerbsarbeit und deren Belastungen für die Patienten
soll hier Rechnung getragen werden, während ein besonderes Augenmerk
auf dem institutionellen Rahmen in der Übergangsphase liegen soll. Somit
dient dieser Aufsatz auch als Grundlage für den folgenden Aufsatz von Rolf
Haubl und Ute Engelbach, »Raus aus der Klinik, rein ins Leben – Überle
gungen zum Entlassungsmanagement nach stationärer psychosomatisch
psychotherapeutischer Behandlung« in diesem Buch, der sich Ansätzen zur
Überwindung der Schnittstellenproblematik widmet.
241
Andreas Samus
1. Belastungen durch Arbeitslosigkeit
und den Verlust der Institution Klinik
Die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit
wurden in der psychologischen Forschung ausgiebig untersucht, wobei die
Qualität psychosozialer Funktionen der Arbeit für das psychische Wohlbefinden heraussticht. Bereits in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhun
derts zeigte die in der Sozialforschung berühmte »Marienthalstudie« von
Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933) die schädlichen Auswirkungen von
Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit. Jahoda (1983, S. 136) fasst
später die psychosozialen Funktionen von Arbeit so zusammen:
»Sie gibt dem Tag eine Zeitstruktur, sie erweitert die sozialen Beziehungen über
Familie und Nachbarschaft hinaus und bindet die Menschen in die Ziele und
Leistungen der Gemeinschaft ein […], sie weist uns sozialen Status zu und klärt
die persönliche Identität.«
Eine Reihe von Studien belegt die Kausalität von Arbeitslosigkeit für psy
chische Beanspruchung. In einer Metaanalyse zeigten Paul und Moser
(2001), dass Arbeitslosigkeit psychische Symptome verursacht und diese
Symptome den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer
Belastung erklären. Zudem zeigten die Forscher, dass psychisch belastete
Menschen länger in der Arbeitslosigkeit bleiben. Im Vergleich zu einem
gesunden Arbeitnehmer, der arbeitslos wird, ist die Ausgangssituation der
Patienten, die aus der Klinik in die Nichterwerbsarbeit entlassen werden,
besonders: Die bereits ausgeprägte psychische Erkrankung könnte die Be
anspruchung durch die Abwesenheit der psychosozialen Funktionen von
Arbeit verstärken. So zeigen verschiedene Studien, dass ein Teil der Patien
ten die gesundheitlichen Verbesserungen durch den Klinikaufenthalt nach
der Entlassung wieder verliert (für eine Übersicht siehe Kordy et al. 2006).
Die Mehrheit der Patienten in unserem Sample verlässt die Klinik in
einem besseren gesundheitlichen Zustand im Vergleich zu dem Beginn des
Klinikaufenthalts und kann unmittelbar nach der Entlassung die Wieder
eingliederung in den Arbeitsplatz beginnen. Der Teil der Patienten, deren
gesundheitlicher Zustand noch nicht ausreicht, um an den Arbeitsplatz zu
rückzukehren, muss jedoch mit der Entlassung von einem auf den anderen
Tag den Verlust der Institution Klinik mit all ihren Ressourcen bewältigen.
Denn die Klinik selbst erfüllt einige wichtige psychosoziale Funktionen,
242
Nach der Klinik ohne Arbeit
auf die die Patienten dann keinen Zugriff mehr haben: einen geregelten Ta
gesablauf, soziale Kontakte zu Mitpatienten und die medizinische, psycho
logische und sozialpädagogische Betreuung. Der unmittelbare Anschluss
einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung könnte hier den
Patienten unterstützen, insbesondere weil viele Patienten nach ihrer Ent
lassung oft noch nicht vollständig geheilt sind. Jedoch ist es unwahrschein
lich, einen Therapieplatz unmittelbar nach dem Austritt aus der Klinik zu
bekommen.
Eine Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (2011) zeigt, dass
die Wartezeit auf ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten bei etwa
12,5 Wochen liegt. Die an unserer Studie teilnehmenden Kliniken bieten
den Patienten zwar an, einen in ihrem Haus tätigen Sozialarbeiter zu kon
sultieren, jedoch endet auch hier die Zuständigkeit mit dem Austritt aus
der Klinik. Somit können die Sozialarbeiter nur Probleme der Übergangs
phase adressieren, die bereits bestehen oder von den Patienten, Therapeu
ten oder Sozialarbeitern antizipiert werden. Der starke Kontrast zwischen
Klinik und Übergangsphase lässt jedoch vermuten, dass Probleme erst mit
ihrem Auftreten nach der Klinik interventionsfähig werden.
2. Fallbeispiele
Im vorliegenden Kapitel werden die Probleme und Herausforderungen von
vier Patienten in der Übergangsphase zwischen Entlassung aus der Klinik
und Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit dargestellt. Zusätzlich sollen Be
wältigungsstrategien, die bei der Überwindung dieser Probleme geholfen
haben, aufgezeigt werden. Als Datenbasis dient das dritte Interview mit
den Patienten, welches bei den hier vorliegenden Fällen fünf bis acht Mo
nate nach der Entlassung aus der Klinik geführt wurde. Die vier Patienten
befanden sich zu dieser Zeit alle in der Nichterwerbsarbeit. Zuletzt werden
vor dem Hintergrund der beschriebenen Fälle die zentralen Belastungen
der Patienten diskutiert.
Herr Q
Herr Q fühlt sich gesundheitlich noch nicht bereit, wieder in das Arbeits
leben zurückzukehren, denn er hat auch im Anschluss an den Klinikauf
enthalt psychosomatische Beschwerden, die die Büroarbeit unmöglich
243
Andreas Samus
machen. Die an den Klinikaufenthalt anschließende Verhaltenstherapie ist
bereits fünf Monate nach der Entlassung beendet, und er ist auf der Suche
nach einem Therapieplatz bei einem psychoanalytischen Psychotherapeuten. Nach seiner Entlassung verschlechtert sich sein psychisches Wohlbefin
den, und erst nach vier Monaten fühlt er sich wieder so gesund wie zu der
Zeit seiner Entlassung.
»Weil, ich hab ja auch festgestellt, in der stationären Klinik war – da ging’s zwar
relativ steil bergauf, aber auf dem Level, auf dem ich da war, da bin ich ja erst mal
wieder runtergegangen. Und ich hab relativ lange gebraucht, um da wieder hoch
zukommen. Und hab dann ja eigentlich gesagt, dass im, ich glaub, Januar […]
war ungefähr der Zeitpunkt erreicht, wo ich wieder auf dem Standpunkt war, wo
ich im September nach der Klinik war. Das heißt, außerhalb und innerhalb der
Klinik ist immer ein sehr großer Unterschied.«
Herrn Qs ungewisse berufliche Situation ist eine Belastung für ihn, denn
er ist sich nicht sicher, ob er an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren
möchte: Auf der einen Seite reizt ihn das vertraute Umfeld seines alten
Arbeitsplatzes, und eine Alternative hierzu ist nicht vorhanden. Auf der
anderen Seite ist sein alter Arbeitsplatz mit sozialen Ängsten verbunden,
da er mögliche Konflikte mit seinem Vorgesetzten fürchtet. Zudem ist die
Arbeit sinnentleert: Seine Stelle bezeichnet er als »nichts Halbes und nichts
Ganzes«, sie ist keine Herausforderung für ihn, es ist nicht genug zu tun,
und es fehlt ein kollegiales und strukturiertes Umfeld. Über die Alternati
ven zu seinem Beruf und darüber, was er machen will, ist er sich aber sehr
unsicher und erwägt deshalb, sich von einem Lebenslaufcoach beraten zu
lassen. Außerdem hat Herr Q kaum positive Erfahrungen bei der Bewälti
gung von anspruchsvollen Aufgaben in seinem Alltag, sodass er sich nicht
bereit für die Arbeit fühlt.
Herr Q berichtet von guten Phasen, in denen er sich gesund fühlt,
die jedoch nur sehr kurz sind. Diese Phasen werden durch Sport, soziale
Kontakte und Aktivität ausgelöst. Er schafft sich selber Struktur dadurch,
dass er das Aufstehen und Zubettgehen zeitlich regelt und seine Aktivi
täten plant: Lesen, Fahrrad fahren, Sportverein und mit Freunden treffen.
Außerdem hat er noch Kontakt zu den ehemaligen Mitpatienten: Regel
mäßig trifft er sich mit einem Mitpatienten und nimmt an Gruppentreffen
teil.
244
Nach der Klinik ohne Arbeit
Frau I
Frau I bleibt nach der Entlassung aus der Klinik aufgrund einer Depression
krankgeschrieben. Trotzdem fühlt sie sich in den ersten Monaten nach dem
Ende des Klinikaufenthalts sehr gut und kann eine Tagesstruktur aufrecht
erhalten. Frau I möchte nicht an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren
und beantragt eine berufliche Rehabilitation bei der Rentenversicherung
mit dem Ziel, bei der Wiedereingliederung in einen anderen Arbeitsplatz
unterstützt zu werden. Nach etwa fünf Monaten Wartezeit wird der Antrag
abgelehnt, und von diesem Zeitpunkt an verschlechtert sich ihr psychisches
Befinden. Zudem wartet Frau I lange auf eine Entscheidung des Versor
gungsamtes bezüglich ihres Antrags auf Schwerbehinderung. Erst als der
Antrag, ebenfalls erst nach einigen Monaten, bewilligt wird, kann Frau I die
Gleichstellung zur Schwerbehinderung bei der Agentur für Arbeit bean
tragen. Dies ist nötig, um die vollumfängliche Unterstützung des Integra
tionsfachdienstes bei Fragen zur beruflichen Umorientierung zu erhalten.
Nach dem Klinikaufenthalt nimmt der Arbeitgeber in Person der Che
fin Kontakt mit Frau I auf und droht mit einer betriebsbedingten Kündi
gung. Frau I glaubt, dass ihr Arbeitgeber sie aufgrund ihres höheren Alters
loswerden möchte. Das Gespräch mit ihrer Chefin ist für Frau I in den
nachfolgenden Wochen eine psychische Belastung, die sich auch in Schlaf
problemen äußert. Nach der Entlassung aus der Klinik bewirbt sich Frau I
im sozialen Bereich auf verschiedene Stellen, die jedoch vom Tätigkeitsfeld
ihres alten Berufes in der sozialen Arbeit abweichen. Ablehnungen ihrer
Bewerbungen, aber auch Vorstellungsgespräche und Probearbeit zeigen ihr
die Schwierigkeiten eines Berufswechsels auf.
Denn in einer neuen Stelle würde sich ihr Gehalt erheblich verschlech
tern, und sie müsste ein befristetes Arbeitsverhältnis eingehen, was vor
dem Hintergrund ihres Alters für sie nicht infrage kommt. Im Gegensatz
hierzu verspürt sie den Drang, in einem ganz anderen Bereich, außerhalb
der sozialen Arbeit, zu arbeiten. Denn in der Klinik hat Frau I gelernt, dass
ihr kreative Arbeit in ihrem Beruf fehlt. Somit äußert sie den Wunsch, sich
selbstständig zu machen. Jedoch glaubt sie nicht, diesen Wunsch verwirk
lichen zu können, da ihr die nötigen Fähigkeiten fehlen, sich selbstständig
zu strukturieren.
»Ich habe irgendwie, also ich habe das Gefühl, ich habe keine andere Wahl [als
den Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens zu wechseln]. Wenn ich jetzt 30
245
Andreas Samus
wäre, wäre das etwas anderes. Dann würde ich sagen: Okay, dann unterschreibe
ich halt einen Auflösungsvertrag. Aber mit, in meinem Alter. Es heißt immer:
Huh, ältere Arbeitnehmer sind gerne gesehen, aber halt für sehr wenig Geld.«
Zu den Belastungen, die sich aus ihrer ungewissen beruflichen Zukunft
ergeben, kommt eine schwierige finanzielle Situation. Denn mit einem
Krankengeld von 1200 Euro im Monat ist sie zu einem sehr sparsamen Le
bensstil verpflichtet. Zusätzlich belastet sie die ausbleibende Wirkung des
Antidepressivums: Zum einen führt das Medikament, auch mit einer Erhö
hung der Dosierung, nicht zu der gewünschten Erhöhung ihres Antriebs,
und zum anderen ist es mit physischen Nebenwirkungen verbunden. Ihren
Tiefpunkt erlebt Frau I in der Zeit um Weihnachten, denn zu dieser Zeit
»wird nichts entschieden, dann geht es irgendwie nicht vorwärts, stagniert
dann halt alles so«.
Herr T
Herr T verlässt die Klinik in einer euphorischen Stimmung, die ihn noch
etwa zwei Wochen nach seiner Entlassung trägt. Doch den abrupten Ver
lust wichtiger psychosozialer Funktionen der Klinik kann er in seinem neu
en Alltag nicht kompensieren und fällt in ein Stimmungstief. Besonders
belastend ist der Verlust von Struktur, Aktivität und sozialen Kontakten.
Außerdem verliert er mit dem Klinikaustritt jegliche Form psychologischer
Betreuung, denn er findet nach seiner Entlassung keinen Therapieplatz.
»Na ja, nach der Klinik, wie das halt so ist in solchen Kliniken, ist ja euphorisch
und alles, ha, und das Leben ist toll, und es wird alles rund und es klappt alles, ja –
das hat dann noch irgendwie 14 Tage angehalten, auch mit Sport und mit allem
und so weiter. Wobei halt dann der Effekt der Klinik rauskommt; das heißt, in der
Klinik hat man diese Geborgenheit, diesen Antrieb, dieses, dass man jeden Tag al
les macht – strukturiertes Ding. Dann bin ich heimgekommen, ja – da war nichts
mehr mit der Struktur; das heißt, ich hätte sie mir selber machen müssen, ja. Aber
das ging dann irgendwie noch – war dann 14 Tage gut, danach sind aber die – ja,
also ich sag jetzt mal, die sozialen Kontakte, die man so in der Klinik halt ständig
hat – das tägliche Reden und so weiter, das ist ja dann alles da – langer Rede kur
zer Sinn: Da fällt man dann sehr schnell in ein Loch; und das bin ich definitiv, so.«
Die Zeit der Nichterwerbsarbeit stellt für Herrn T einen starken Kontrast
zu der Zeit der Berufstätigkeit dar: Die meiste Zeit verbringt er zu Hause
und versucht sich zu entspannen. Seine psychische Erkrankung führt in
246
Nach der Klinik ohne Arbeit
seinen Augen zu einer Lethargie und Starre, die es ihm erschwerten, einen
geregelten Tagesablauf aufzubauen. Durch das Fehlen von Struktur verliert
er auch seinen Schlafrhythmus und bleibt oft bis tief in die Nacht wach,
um dann bis mittags zu schlafen. Als er versucht, das zu ändern, ändert
sich sein Schlafrhythmus in das Gegenteil: Er steht um fünf Uhr morgens
auf und geht bereits um acht Uhr ins Bett. Kleinste Anforderungen, wie
zum Beispiel ein Arztbesuch, sind eine große Belastung für ihn. Diese Erfahrungen lassen ihn an einer erfolgreichen Rückkehr in das Arbeitsleben
zweifeln.
Eine weitere Belastung ist die fehlende Erfahrung von Anerkennung
und Kompetenz. Dies hat Auswirkungen auf die Selbstwirksamkeitserwartungen und das Selbstwertgefühl von Herr T, was wiederum zur Vermei
dung von sozialen Kontakten führt. Offenbar bestehen Bewertungsängste
aufgrund seiner Inaktivität und Nichterwerbstätigkeit.
»Also draußen fühl ich mich schon sehr minderwertig – wie soll ich das erklären?
Also ich sag jetzt mal so: Wenn ich jetzt irgendwo mit anderen Leuten, außerhalb
der Klinik, die es jetzt verstehen können oder die vielleicht irgendwo – hab ich
immer das Gefühl im Moment so nach dem Motto – na ja, ich weiß zwar, dass ich
das nicht haben soll, aber ich hab das Gefühl: Du hast nichts, du kannst nichts, du
bist nichts […] Also so nach dem Motto: Mir fehlt der Job im Moment, wo – ich
kann nicht mitreden, kann sagen: Ja, ich komm heute auch von der Arbeit. – Nee,
ich sitz daheim.«
Herr T denkt über einen Berufswechsel nach, da er in seinem alten Be
ruf nichts »Produktives« macht. Mit seinem alten Arbeitgeber hat er einen
Aufhebungsvertrag geschlossen. Somit bekommt er noch für ein Jahr sein
volles Gehalt ausgezahlt und kann im Anschluss in eine Beschäftigungs
gesellschaft eintreten. Sollte er eine neue Stelle finden, so würde er den An
spruch auf die Fortzahlung seines Gehalts verlieren. Außerdem würde er
voraussichtlich weniger Geld als in seinem alten Beruf verdienen und sich
der Gefahr einer Kündigung in der Probezeit aussetzen. Diese Situation
mindert seine Motivation, die nötigen Schritte für die berufliche Umorien
tierung einzuleiten. Neben diesen Umständen attribuiert er seinen fehlen
den Antrieb auf den bereits oben beschriebenen Mangel an Selbstwert und
Anerkennung sowie die Abwesenheit von Sinnhaftigkeit in seinem Leben
als Erwerbsloser. Außerdem hindert ihn die Unsicherheit, welchen Beruf er
in Zukunft ausüben möchte, daran zu handeln.
247
Andreas Samus
Für Herrn T sind die sozialen Kontakte in der Klinik eine wichtige
Quelle seines Selbstwertgefühls. Andere Patienten können sich in seine Si
tuation einfühlen und loben seine Fortschritte in der Therapie. Durch die
Kontakte zu den Mitpatienten empfindet er zum ersten Mal in einer lan
gen Zeit wieder Spaß an sozialen Aktivitäten und verspürt positive Emo
tionen wie Freude. Doch diese für ihn wichtige Quelle von Anerkennung
verschwindet mit dem Austritt aus der Klinik. In den ersten Wochen nach
dem Klinikaustritt nimmt er zwar an Stammtischen mit einigen ehemali
gen Mitpatienten teil. Die Fortführung der Treffen scheitert jedoch daran,
dass Stammtischmitglieder, die privat besser sozial eingebunden sind, nach
einer Weile das Interesse am Stammtisch verlieren und die Organisation
der Treffen durch die Mitglieder selbst nicht funktioniert.
»Das heißt also, die eigentliche – eine Aufwertung durch halt ständigen sozialen
Kontakt, das ist schon was. […] Und diese soziale Komponente, das ist eigentlich
das, was mir am meisten gebracht hat; und das ist auch, sag ich mal, der krasseste
Absturz, also aus der Klinik raus – weil, man kommt raus, und dann waren die
vier Wände, und dann war nix, ja. Und dann war irgendwie – und dieses Gefühl,
so nach dem Motto – das, was mir hier eigentlich fehlt auch wieder, psycholo
gisch – dass ich komplett und perfekt hinhaue, wenn ich jetzt irgendwo keine
Leute hab und ständig mir jemand sagt: ›Du bist gut!‹ und: ›Dann klappt’s schon!‹,
und: ›Es geht schon!‹ – Also ohne irgendwie dieses ständige Lob.«
Herr N
Kurz nach seiner Entlassung aus der Klinik wird Herr N von seiner Thera
peutin und seinem Hausarzt als wieder arbeitsfähig befunden und wech
selt somit seinen Status von krankgeschrieben zu arbeitslos. Herr N ist sich
sicher, dass er in seinen alten Beruf nicht zurückkehren kann. Auch auf
Empfehlung seines Therapeuten ist eine Umschulung für ihn die einzige
Option, und er hat auch schon eine Vorstellung von seinem neuen Beruf.
Auf seinen Antrag auf Umschulung reagiert die Rentenversicherung erst
nach fünf Monaten mit einem Angebot für eine Rehabilitation. Diese lehnt
er aufgrund seiner bereits wiederhergestellten Arbeitsfähigkeit ab und war
tet seit diesem Zeitpunkt auf eine Antwort auf seinen Antrag. Zum Zeit
punkt des Interviews befindet sich Herr N mehr als sieben Monate in der
Arbeitslosigkeit, und die Euphorie, mit der er die Klinik verlassen hat, ist
abgeklungen.
248
Nach der Klinik ohne Arbeit
»Und ich – das ist wirklich auch das –, ich meine, ich hab noch den Willen, den
unbedingten Willen, was zu machen und, ja, da irgendwie aktiv zu werden und
tätig zu werden und raus aus dem Trott, in dem ich mich grad befinde. Aber diese
Energie, die ich im letzten Jahr hatte nach meiner Krankenhausentlassung, die ist
zum größten Teil weg; die ist aufgebraucht. Die hab ich, ganz ehrlich, zu Hause
auf der Couch mit Warten verbracht.«
Besonders frustriert ist Herr N bei der Suche nach beruflicher Umorien
tierung von der fehlenden institutionellen Verantwortlichkeit für ihn: Das
Arbeitsamt fühlt sich nicht zuständig, obwohl es noch Arbeitslosengeld
zahlt, die Rentenversicherung reagiert nicht auf seine Briefe, EMails oder
Anrufe, und die Sozial und Kirchenverbände können ihm auch nicht wei
terhelfen. Eine vorübergehende Arbeitstätigkeit in seinem alten Beruf oder
in einem anderen Beruf ist keine Alternative, da er fürchtet, seinen An
spruch auf eine berufliche Umschulung zu verlieren.
»Hätte ich jemanden, der mir meine Fragen beantwortet, würde ich zum Beispiel
besser schlafen – zumindest das stelle ich mir vor, also das würde helfen – und das
tut es nicht. Und es ist wirklich dieses Gefühl – und das ist was, was ich mit allen
meinen ehemaligen Mitpatienten teile –, dieses Gefühl des Alleingelassenwerdens
ist ziemlich, ja, beängstigend und desillusionierend und deprimierend! Weil, ich
meine: Gut, wir sind alle erwachsene Menschen, die da mit mir waren, und wir
wurden eben als geheilt, wie auch immer – oder zumindest stabil – entlassen;
aber es ist niemand mehr so in der Stimmung, in der Situation, wie er damals bei
der Entlassung war. Alle, sämtliche Mitpatienten, sind wieder in einer ähnlich
schlechten Stimmung wie damals, als sie ins Krankenhaus kamen.«
Die lange Wartezeit von sieben Monaten ist eine psychische Belastung für
Herrn N: Seine in der Klinik verbesserte psychische Gesundheit verschlech
tert sich zunehmend nach der Entlassung. Zum einen fehlt ihm ein gere
gelter Tagesablauf, und zum anderen grübelt er bis spät in die Nacht über
seine Situation und den drohenden Ablauf des Arbeitslosengeldes. Somit
schläft er oft bis nachmittags und verliert seinen Tagesrhythmus gänzlich.
Dies wiederum führt zu Antriebslosigkeit, was auch seine sozialen Aktivi
täten beeinträchtigt.
Eine wichtige Ressource nach der Entlassung aus der Klinik sind für
Herrn N ehemalige Mitpatienten. Zu einer Mitpatientin hat er regelmäßi
gen und zu weiteren zwei bis drei Patienten pflegt er einen losen Kontakt.
Aufgrund ihrer gemeinsamen Erfahrung bringen die Mitpatienten viel
249
Andreas Samus
Verständnis für seine Situation auf, und er kann sich über seine Therapieerfahrung austauschen. Außerdem tut ihm die Mitgliedschaft in einer politischen Partei gut: Er kann mit anderen Menschen diskutieren, unter anderem auch über die Herausforderungen, die er bewältigen muss.
3. Diskussion
Die vier oben beschriebenen Fälle stellen einen kleinen Teil unseres Samples dar. Viele Patienten aus unserem Sample haben in der Klinik ihren
gesundheitlichen Zustand verbessert und gehen gestärkt an ihren Arbeitsplatz zurück, auch wenn bei vielen eine psychotherapeutische Weiterbehandlung indiziert ist. Auffällig ist jedoch, dass der Teil der Patienten, der
nicht unmittelbar in die Arbeit zurückkehren will oder kann, eine Ver
schlechterung der psychischen Gesundheit erfährt. Auch wenn wir die
Probleme der Patienten in der Übergangsphase nicht quantitativ erfassen,
sind die subjektiven Belastungen während der Übergangsphase ein Aus
schnitt aus der Realität eines nicht unerheblichen Teils der Patienten und
wichtig für das Verständnis der Ursachen. Insbesondere die Tatsache, dass
die Patienten einen großen Teil der Probleme teilen und ähnliche Attribu
ierungen vornehmen, zeigt, dass eine individuumzentrierte Betrachtung
der Probleme nicht ausreichend ist. In unseren Fällen konnten wir vier zen
trale Belastungen identifizieren, die die Stabilisierung der psychischen Ge
sundheit nach der Entlassung aus der Klinik maßgeblich beeinträchtigen.
1. Berufliche Identität in der Krise
2. Gefühl des Alleingelassenwerdens
3. Fehlende Selbstwirksamkeitserwartungen und mangelndes Erleben von
Kompetenz und Anerkennung
4. Kontrast zwischen Klinikalltag und Zuhause
3.1 Berufliche Identität in der Krise
Hat der Patient in der Klinik erkannt, dass sein Arbeitsplatz oder Beruf sei
ne psychische Erkrankung bedingt, er aber an der Arbeitssituation nichts
ändern kann, ist eine Rückkehr an den alten Arbeitsplatz oder Beruf un
wahrscheinlich. Mit dieser Erkenntnis beginnt eine Suche nach Informa
250
Nach der Klinik ohne Arbeit
tionen in zwei Richtungen. Zum einen richtet sich der Blick auf Informationen aus der Umwelt, zum Beispiel auf das Angebot des Arbeitsmarktes
oder die Unterstützung bei einer beruflichen Umschulung. Hier steht die
Frage »Was kann ich machen?« im Vordergrund. Zum anderen richtet sich
der Blick in das Innere, auf die Interessen, Fähigkeiten und Ziele, also die
Frage »Was will ich machen?«.
Mit dem Blick ins Innere wird auch die Frage nach der eigenen Identi
tät aufgeworfen, die maßgeblich vom Beruf beeinflusst wird. Eine Psycho
therapie könnte den Patienten hier unterstützen, ist aber am Beginn der
Übergangsphase möglicherweise noch nicht vorhanden. Zudem kann eine
Psychotherapie zwar den Patienten bei der Introspektion unterstützen und
ihm zu Klarheit verhelfen, sie erfüllt jedoch nicht die Funktion einer Be
rufsberatung. Im Gegensatz dazu bezieht die Berufsberatung der Arbeits
agentur oder Rentenversicherung zwar eine Berufseignungsdiagnostik mit
ein, erfüllt aber nicht den Anspruch an eine auf die psychischen Vulnerabi
litäten des Patienten zugeschnittene psychologische Beratung.
Auch deshalb erwägt Herr Q, sich von einem »Lebenslaufcoach« bera
ten zu lassen. Viele der Patienten stellen die Frage nach der Sinnhaftigkeit
ihres Berufs, wenn sie ihre Arbeit als »nichts Halbes und nichts Ganzes«
(Herr Q) oder als »nicht produktiv« (Herr T) beschreiben. Zudem kann
die Motivation, einen neuen Beruf zu erlernen, durch Antriebslosigkeit
(Herr T), das hohe Alter (Frau I) oder finanzielle Implikationen eines Wech
sels des Arbeitsplatzes (Herr T und Frau I) beeinträchtigt werden. Beson
ders belastend für Frau I und Herrn N sind lange Wartezeiten bei Anträ
gen, die eine Unterstützung bei der beruflichen Umorientierung durch die
Rentenversicherung ermöglichen sollen.
3.2 Gefühl des Alleingelassenwerdens
Der Austritt aus der Arbeitswelt ist ein Schritt weg von der Normalität, die
sich unsere Patienten wünschen, hin zu einem Leben, in dem sie alltäglich
daran erinnert werden, dass sie, in der Definition der Leistungsgesellschaft,
kein normales Leben führen. Der Verlust sozialer Kontakte auf der Arbeit
ist schwer durch private Kontakte zu kompensieren, da der fest geregelte
Alltag von Freunden und Bekannten schlecht mit dem Tagesablauf eines
Nichterwerbstätigen zu vereinbaren ist. Außerdem ist es fraglich, ob die Pa
tienten mit ihren Freunden offen über ihre Probleme sprechen können, da
251
Andreas Samus
sie auf fehlendes Verständnis treffen oder eine Bedrohung durch mögliche
Stereotypisierung aufgrund ihrer Krankheit empfinden könnten (Herr T).
In unseren Interviews zeigten sich die Mitpatienten als wichtige soziale
Ressource während des Klinikaufenthalts. Durch ihre eigenen Erfahrun
gen mit Arbeit und psychischer Belastung können Mitpatienten Empathie
aufbringen und sich gegenseitig stärken. Somit haben sie möglicherweise
einen eigenständigen Therapieeffekt. Für einige unserer Patienten war das
Kennenlernen der Mitpatienten von großer Bedeutung, weil sie zum ersten
Mal erfuhren, dass sie nicht alleine sind mit ihren durch die Arbeit ver
ursachten psychischen Problemen. Mit dem Austritt aus der Klinik jedoch
verschwindet diese soziale Ressource, und Vergleichsprozesse mit Mitpa
tienten, die in die Arbeit zurückkehren, können das Gefühl der Einsamkeit
verstärken. Alle vier Patienten haben versucht, nach dem Klinikaufenthalt
den Kontakt mit Mitpatienten zu halten. Jedoch scheitert die Aufrecht
erhaltung des Kontakts teilweise an organisatorischen Herausforderungen
oder der Antriebslosigkeit der Patienten.
Aus den hier beschriebenen Herausforderungen für die Patienten ergibt
sich die wichtige Frage nach der institutionellen Verantwortung nach dem
Klinikaufenthalt. Mit Klinik, Arbeitsagentur, Rentenversicherung, Kran
kenkasse etc. haben oft mehrere Institutionen Berührungspunkte mit den
Patienten. Jedoch verschreibt sich nach unserem Wissen keine Institution
explizit der Nachsorge von Patienten nach einem psychotherapeutischen
oder psychosomatischen Klinikaufenthalt. Insbesondere für Patienten,
die nach dem Klinikaufenthalt durch die Nichterwerbsarbeit mit vielen
neuen Herausforderungen konfrontiert sind, könnte in erster Instanz eine
Anlaufstelle mit beratenden Tätigkeiten, ähnlich wie die Sozialarbeiter in
unseren kooperierenden Kliniken, eine große Unterstützung sein.
So sahen das auch die Sozialarbeiterinnen in den mit uns kooperie
renden Kliniken, deren eigene Handlungsmöglichkeiten bei psychosoma
tischen Patienten mit dem Ende des Klinikaufenthalts enden.1 Außerdem
hat sich der Einsatz von internetbasierten Nachsorgeangeboten im An
schluss an eine stationäre Behandlung als wirksam erwiesen. Zum Beispiel
konnten im Projekt »Internetbrücke« Teilnehmer, die sich für zwölf bis 15
Wochen wöchentlich in einem Chatraum trafen, ihre in der Klinik erreich
1 | Sofern es sich nicht um psychiatrische Fälle handelt, gibt es offenbar für psycho
somatische Patienten kaum Nachsorgeangebote für die Bewältigung des Alltags.
252
Nach der Klinik ohne Arbeit
ten positiven Entwicklungen besser aufrechterhalten als eine Vergleichsgruppe (vgl. Kordy et al. 2006).
3.3 Fehlende Selbstwirksamkeitserwartungen
und mangelndes Erleben von Kompetenz und Anerkennung
Die Funktion von Arbeit als Quelle von Kompetenzerleben und Anerkennung wird bei unseren Patienten in der Übergangsphase besonders deutlich. Dies ist auch der bereits ausgebildeten und nach dem Klinikaufenthalt
fortbestehenden psychischen Erkrankung geschuldet. Immerhin erfahren
die Patienten während des Klinikaufenthalts durch Therapeuten und Mitpatienten Anerkennung für ihre Arbeit an sich selbst. Mit der Entlassung aus
der Klinik reduzieren sich diese Arbeit und Quelle von Anerkennung oder
fallen gänzlich weg. Nachdem die Patienten bereits in der Klinik mehrere
Wochen nicht »produktiv« im Sinne ihrer Arbeitsrolle waren, sondern sich
»reparieren« mussten, fehlt es jetzt an Aufgaben, die positive Selbstwirksamkeitserwartungen ermöglichen. Diese Erfahrungen sind wichtige Schritte
auf dem Weg zurück in die Arbeitsfähigkeit, weil der Patient merkt, dass er
sich wiederherstellt und für eine Rückkehr in den Arbeitsalltag bereit ist. So
zweifeln Herr Q und Herr T an einer erfolgreichen Rückkehr in die Arbeit,
da sie nicht glauben, den Herausforderungen ihrer Arbeit gewachsen zu sein.
Auch wenn die Rückkehr in die Arbeit durch ein BEM begleitet wird,
könnte der Patient aufgrund seiner langen Abwesenheit und des Fehlens
von Selbstwirksamkeitserwartungen von seinen Arbeitsaufgaben über
fordert sein. Denn auch die Begleitung des Wiedereinstiegs in die Arbeit
durch ein BEM gewährleistet nicht eine Anpassung der Arbeit an die Vul
nerabilitäten der Patienten, da das BEM oft als einzige Veränderung eine
zeitweilige Reduktion der Arbeitszeit vornimmt (vgl. auch den Aufsatz von
Stephan Voswinkel, »Betriebliches Eingliederungsmanagement: Verfahren
und Problemsichten« in diesem Buch).
3.4 Kontrast zwischen Klinikalltag und Zuhause
Mit einem stationären oder teilstationären Aufenthalt sind Patienten zeit
lich und emotional sehr stark eingebunden in das Klinikmilieu. Mit der
Entlassung werden sie von einem auf den anderen Tag mit einer neuen
Situation konfrontiert, die viele Gegensätze zum Klinikalltag aufweist.
253
Andreas Samus
Einige dieser Gegensätze sind: Aktivität vs. Inaktivität; strukturierter Alltag vs. unstrukturierter Alltag; psychische Erkrankung als Normalität vs.
psychische Erkrankung als Stigma; viele soziale Kontakte vs. wenige soziale Kontakte; Fokussierung auf Probleme des Selbst vs. Fokussierung auf
Probleme des Alltags. Die aufgeführten Veränderungen für die Patienten
nach der Entlassung können zu den hier beschriebenen Belastungen in der
Übergangsphase beitragen. Ein Kontrast, der Verlust eines strukturierten
Alltags, sticht jedoch heraus. Ein Tag in der Klinik ist gut organisiert und
mit Terminen gefüllt: regelmäßige Mahlzeiten, Gruppentherapie, Einzeltherapie, Musiktherapie, Kunsttherapie und vieles mehr.
Mit dem Ende des Klinikaufenthalts verschwindet diese Struktur und
weicht einem Alltag, der vom Patienten selbst mit Terminen gefüllt werden muss. Die fehlende Möglichkeit, durch Gespräche mit Therapeuten
oder Mitpatienten zu externalisieren, sowie der neue Problemfokus auf die
Umwelt (mit Fragen zur beruflichen Zukunft) führen bei Herrn N dazu,
dass er bis spät nachts wach bleibt und somit seinen Tagesrhythmus gänz
lich verliert. Bei Herrn T hingegen bewirkt die Abwesenheit körperlicher
Auslastung tagsüber durch Aktivitäten und soziale Kontakte, dass er nicht
einschlafen kann.
4. Schlussbemerkung
Mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 37,4 Tagen der Patienten
in Krankenhäusern der psychotherapeutischen und psychosomatischen
Medizin (Statistisches Bundesamt 2012) ist ein stationärer sowie ambulan
ter Aufenthalt mit erheblichen monetären Kosten für die Krankenkassen
verbunden. Ebenso sind die Kosten für die Patienten wesentlich: Der Pa
tient muss bei einem stationären Aufenthalt sein gewohntes Umfeld und
gegebenenfalls sogar seine Familie zurücklassen. Außerdem muss er sich
in seinem sozialen Umfeld mit seiner Erkrankung »outen«, wenn er den
Klinikaufenthalt nicht verbergen kann. Kann der Patient nach dem Klinik
aufenthalt nicht in die Erwerbsarbeit zurückkehren, ist er in seinem Alltag
mit verschiedenen potenziellen Belastungsfaktoren konfrontiert, die den
Erfolg des kostspieligen Klinikaufenthalts gefährden.
In einer Reihe von Studien hat Kobelt (für eine Übersicht siehe Kobelt
2008) gezeigt, dass 30 Prozent der Patienten, die eine medizinischpsycho
254
Nach der Klinik ohne Arbeit
somatische Rehabilitation abschließen, als arbeitsunfähig entlassen werden,
wobei insbesondere Rentenantragsstellern, Arbeitslosen, Migranten und
Patienten mit einer klinisch relevanten Erkrankungsschwere der Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit selten gelingt. Vor diesem Hintergrund scheint
eine Nachsorge, die sich der spezifischen Situation der Patienten widmet, im
unmittelbaren Anschluss an den Klinikaufenthalt umso wichtiger. Zudem
sollte aufgrund der Vielfältigkeit der Belastungsfaktoren unter Nachsorge
nicht nur eine psychotherapeutische Unterstützung verstanden werden,
sondern es sollten den Patienten auch sozialpädagogische, berufsberatende
oder rechtliche Unterstützungsangebote zugänglich gemacht werden.
Literatur
Bundespsychotherapeutenkammer (2011): BPtKStudie zu Wartezeiten
in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Berlin, http://
www.bptk.de/uploads/media/110622_BPtKStudie_Langfassung_War
tezeiteninderPsychotherapie_01.pdf (Abruf am 2.2.2017).
Jahoda, Marie (1983): Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und
Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert. Weinheim: Beltz.
Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul F./Zeisel, Hans (1933): Die Arbeitslosen von
Marienthal. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Kobelt, Axel (2008): Nachsorge. In: SchmidOtt, Gerhard/WiegandGrefe,
Silke/Jacobi, Claus/Paar, Gerhard/Meermann, Rolf/Lamprecht, Fried
helm (Hrsg.): Rehabilitation in der Nachsorge. Versorgungsstrukturen –
Nachsorge – Qualitätsmanagement, Stuttgart: Schattauer, S. 380–405.
Kordy, Hans/Golkaramnay, Valiollah/Wolf, Markus/Haug, Severin/Bauer,
Stephanie (2006): Internetchatgruppen in Psychotherapie und Psycho
somatik: Akzeptanz und Wirksamkeit einer Internetbrücke zwischen
Fachklinik und Alltag. In: Psychotherapeut 51, S. 144–153.
Paul, Karsten/Moser, Klaus (2001): Negatives psychisches Befinden als
Wirkung und als Ursache von Arbeitslosigkeit: Ergebnisse einer Meta
analyse, in: Zempel, Jeannette/Bacher, Johann/Moser, Klaus (Hrsg.):
Erwerbslosigkeit. Ursachen, Auswirkungen und Interventionen, Opla
den: Leske & Budrich; S. 83–110.
Statistisches Bundesamt (2012): 20 Jahre Krankenhausstatistik. In: Statisti
sches Bundesamt (Hrsg.): Wirtschaft und Statistik. Wiesbaden.
255
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Verfahren und Problemsichten
Stephan Voswinkel
»Durch die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten soll ein betriebliches Eingliederungsmanagement geschaffen werden, das durch geeignete
Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft sichert«
(Deutscher Bundestag 2003, Drucksache 15/1783). So lautete eine Begrün
dung der Bundesregierung für die gesetzliche Einrichtung des Betriebli
chen Eingliederungsmanagements (BEM) im Jahre 2003. Wie die Textstelle
deutlich macht, war mit dem BEM die Erwartung verbunden, etwas zur
Gesundheitsprävention beizutragen.
Allerdings richtet sich dieser Präventionsgedanke nach der Art des Ver
fahrens auf die Prävention wiederkehrender oder dauerhafter Erkrankung
eines bestimmten Arbeitnehmers; das BEM soll der Gefahr einer Chro
nifizierung der Krankheit und eines krankheitsbedingten Arbeitsplatz
verlustes vorbeugen. Es handelt sich insoweit nicht um ein Verfahren zur
Prävention von Erkrankungen am Arbeitsplatz durch eine allgemeine ge
sundheitsgerechte Gestaltung der Arbeit. Diese Art der Prävention ist das
Ziel der Sollvorschriften des Instruments der Gefährdungsbeurteilung.
Seit dem Jahre 2004 schreibt der § 84 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches IX
vor, dass alle Arbeitgeber verpflichtet sind, ihren Beschäftigten ein BEM
Verfahren anzubieten, wenn sie innerhalb von zwölf Monaten mindestens
sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind. Die
Initiative hat also der Arbeitgeber zu ergreifen. Die Teilnahme ist für die
Arbeitnehmerin1 freiwillig, sie kann das Verfahren ablehnen.
1 | Bei der Verwendung der männlichen wie der weiblichen Form ist in diesem
Aufsatz das andere Geschlecht in der Regel mitgemeint.
257
Stephan Voswinkel
Allerdings verzichtet sie damit auf eine gewisse Schutzfunktion des
BEM gegenüber einer krankheitsbedingten Kündigung, gegen die sie mit
dem Argument rechtlich vorgehen könnte, dass nicht zuvor ein BEM-Verfahren durchgeführt worden sei. Für die personelle Zusammensetzung
des BEM-Teams ist gesetzlich nur festgelegt, dass der Arbeitgeber mit
der zuständigen Interessenvertretung – im Falle der Schwerbehinderung
außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung – kooperieren soll; die In
teressenvertretung kann die Einleitung des Verfahrens verlangen. Weitere
Personen und externe Vertreter können hinzugezogen werden.
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat inzwischen ausge
führt, dass das Hauptziel des BEM zunächst die Anpassung des bisheri
gen Arbeitsplatzes und, sofern dies unmöglich ist, die Beschäftigung auf
einem anderen Arbeitsplatz ist. Im Hinblick auf diese Ziele sind medizini
sche Bescheinigungen wichtig, die hierfür Vorgaben machen können. Zur
Anpassung des Arbeitsplatzes gelten Maßnahmen des Arbeitsschutzes, die
Gestaltung der Arbeitszeit und das Verfahren der stufenweisen Wiederein
gliederung als typisch. (Vgl. zu den rechtlichen Bestimmungen ausführlich
Kohte 2016.)
Das BEM gilt für physische und psychische Erkrankungen gleicherma
ßen. Da die Erkrankten nicht verpflichtet sind, ihre Diagnose offenzulegen,
gibt es keine gesicherten quantitativrepräsentativen Erkenntnisse über den
Anteil der psychischen Erkrankungen an den BEMVerfahren. Spezifische
Regelungen für psychische Erkrankungen existieren im BEM nicht.
In diesem Aufsatz werde ich mich mit Erfahrungen mit dem BEM be
fassen, in denen bestimmte Problemkonstellationen sichtbar werden, die
insbesondere bei psychischen Erkrankungen bedeutsam sind. Es geht nicht
um eine Überprüfung der Umsetzung rechtlicher Vorschriften. Die folgen
den Ausführungen beruhen vielmehr in erster Linie auf den Erfahrungen
betrieblicher BEMAkteure, die wir in Expertengesprächen mit Beteiligten
an den BEMVerfahren gewinnen konnten, bei denen nicht (nur) die for
malen Verfahren, sondern die praktischen Vorgehensweisen und Probleme
im Vordergrund standen.
Wir haben in der ersten Phase unseres Projektes insgesamt mit 16 Be
teiligten in BEMVerfahren in insgesamt elf überwiegend größeren Betrie
ben bzw. Verwaltungen Gespräche geführt, die erfahrungs und themen
orientiert angelegt waren, zum Teil als Gruppengespräche stattfanden und
zwischen ein und zwei Stunden dauerten. Die BEMBeauftragten waren
258
Betriebliches Eingliederungsmanagement
in zwei Stadtverwaltungen, in vier Unternehmen der Großchemie, in
einem Bergbaubetrieb, einem Automobil- und einem Elektronikbetrieb,
bei einem Verkehrsdienstleister und in einem Einzelhandelsbetrieb tätig.
Es handelt sich überwiegend um Vertreter der Personalabteilung, des
Betriebs- bzw. Personalrats und der Schwerbehindertenvertretung sowie
um Betriebsärzte. Die Auswahl ist keineswegs repräsentativ, uns ging es
darum, im Vorfeld unserer Forschung Erkenntnisse über Erfahrungen und
Problemsichten der Praxis zu erlangen. Hinzu kommen Gespräche mit
einem Experten eines überbetrieblichen Betriebsärztedienstleisters und
mit den Sozialarbeiterinnen der beiden kooperierenden Kliniken. Zudem
werde ich einen kurzen Blick auf die Erfahrungen der von uns interviewten Patientinnen mit der betrieblichen Wiedereingliederung werfen.
Im Folgenden werden zunächst unterschiedliche Varianten der BEM-Verfahren unterschieden (1) und der Umgang mit den zeitlichen Rahmen erläutert, die beim BEM insbesondere bei psychischen Erkrankungen bedeutsam
sind (2). Hieran anschließend werde ich darstellen, wie die BEM-Experten
ihre Rolle unterschiedlich definieren und die Ursachen psychischer Er
krankungen deuten (3). Ein wesentliches Problem des BEM bei psychi
schen Erkrankungen besteht in der Vertrauensunsicherheit und der Sorge
vor Stigmatisierung im betrieblichen Umfeld (4). Die Eindrücke, die wir in
den Gesprächen mit den Patientinnen über deren Wahrnehmung des BEM
gewinnen konnten, werde ich skizzieren (5) und zwei Schnittstellenpro
bleme benennen: zum einen die Schnittstellenprobleme zwischen Klinik
und Betrieb (6), zum anderen diejenigen zwischen BEM und Gefährdungs
beurteilung (7). Abschließend folgen resümierend einige kurze Betrachtun
gen über Verbesserungsbedarf (8).
1. Varianten des BEM-Verfahrens
Die Verfahren, die von den Experten aus den verschiedenen Betrieben dar
gestellt wurden, unterscheiden sich vor allem in drei Hinsichten: erstens in
der Zahl der am BEMVerfahren Beteiligten, zweitens darin, ob das Ver
fahren von einem festen Team oder von einem Team durchgeführt wird,
das eher einzelfallbezogen zusammengesetzt wird. Drittens schließlich
unterscheiden sich Grad und Art der Formalisierung des Verfahrens. Diese
259
Stephan Voswinkel
Unterschiede haben nichts mit der Frage zu tun, ob es sich um psychische
Erkrankungen handelt. Neben betriebsbezogen, pragmatischen Gründen
(Verfügbarkeit von Personen und überkommenen Routinen) drückt sich in
den Unterschieden auch ein unterschiedliches Verständnis vom BEM aus.
Während die Mehrheit für ein eher kleines Team plädiert, gibt es auch
Teams, an denen mehrere Akteure beteiligt sind. Für eine geringe Größe
des Teams wird vorgebracht, dass die Erkrankte nicht einer großen Zahl
von Zuständigen gegenübersitzen soll, weil dies sie einschüchtern und sie
sich in eine Prüfungssituation versetzt sehen könne. Kleine Teams, die zum
Beispiel nur aus einem Vertreter der Personalabteilung und einem Mitglied
des Betriebsrats oder einem Betriebsarzt bestehen können, könnten ja im
Bedarfsfalle Personen des Vertrauens oder solche hinzuziehen, die für die
jeweilige Problematik besonders relevant sind (etwa den Vorgesetzten des
Erkrankten oder einen Vertreter des Integrationsamtes).
Für eine größere Zahl regelmäßig Beteiligter wird hingegen argumentiert, um unterschiedliche Gesichtspunkte und Interessenlagen von vornherein einzubeziehen und um später möglicherweise entstehende Hindernisse und Widerstände von vornherein zu berücksichtigen bzw. auszuräumen.
Die Verfahren unterscheiden sich zum anderen danach, ob die Beteiligten regelmäßig an allen Verfahren teilnehmen oder einzelfallspezifisch
bestimmt werden. Diese Varianten unterscheiden sich nicht grundsätzlich,
sondern graduell. In ihnen kommt aber ein unterschiedlich ausgeprägtes
Professionalisierungsziel zum Ausdruck. Mit der einzelfallbezogenen Zu
sammensetzung soll eine möglichst große Nähe zum Betroffenen und zur
Spezifik des Falles hergestellt werden, um das Vertrauen der Erkrankten zu
stärken und keine Routine aufkommen zu lassen. Für die Konstanz der Zu
sammensetzung sprächen hingegen die größeren Möglichkeiten, sich im
Verfahren zu professionalisieren.
Insbesondere wird auch darauf hingewiesen, dass Hilfe für Betroffene
besser geleistet werden könne, wenn die Mitglieder des BEMTeams gut
vernetzt seien – mit Kliniken, mit Krankenversicherungen, Ansprech
partnern für RehaMaßnahmen oder auch kooperierenden Ärzten sowie
mit anderen Akteuren im Betrieb. Diese Vernetzung erfordere Zeit und
Kontinuität. Kontinuierliche Tätigkeit in BEMVerfahren mache die Ak
teure auch eher zu Ansprechpartnern für Betroffene und andere Akteure
im Betrieb selbst und sie erhöhe ihre Durchsetzungsfähigkeit im Interesse
260
Betriebliches Eingliederungsmanagement
der Betroffenen. Schließlich sei sie auch eine Voraussetzung für die Verzah
nung des BEM mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement insgesamt.
Nahezu immer ist ein Vertreter der Personalabteilung am BEM betei
ligt. In der Regel geht von ihm auch die Initiative für das Verfahren aus,
schon deshalb, weil hier die Informationen über die Zeiten der Arbeitsun
fähigkeit zusammenkommen. Häufig ist ein Vertreter des Betriebs oder
Personalrats beteiligt, nicht selten auch der Schwerbehindertenvertretung.
Dies ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass die BEMRegelung des
SGB IX aus den bereits zuvor bestehenden Regelungen der Schwerbehin
dertenintegration hervorging und auch an der entsprechenden Stelle im
SGB IX integriert wurde. Hier gibt es also bereits häufig eine längere Tra
dition der Aktivität in der Wiedereingliederung. Betriebsärzte sind in eini
gen unserer Betriebe beteiligt, in anderen nur in besonderen Fällen.
Das scheint nicht zuletzt mit der Positionierung des Betriebsarztes in
der Organisation und mit dem Vertrauen zu tun zu haben, das die Beschäf
tigten ihm entgegenbringen. Der Vorgesetzte wird in den meisten Organi
sationen nur im besonderen Falle und mit Einverständnis des Betroffenen
hinzugezogen, da Vorgesetzte häufig Teil der krankheitsfördernden Kon
stellationen sind; gerade das aber kann ihre Beteiligung auch im positiven
wie im negativen Sinne erfolgskritisch machen.
Ein Beispiel für ein zugleich großes wie fest institutionalisiertes Team
ist das Betriebliche Eingliederungsteam (BET) in einem großen Elektronik
betrieb, das regelmäßig aus der Schwerbehindertenvertreterin, einer Ver
treterin der Personalabteilung, einem Betriebsarzt und dem Sozialberater
besteht und üblicherweise von einem Betriebsrat des Vertrauens ergänzt
wird. In einem anderen Großbetrieb füllt der Betriebsarzt die Rolle des
zentralen BEMBeauftragten aus. Ein »Koordinator für Gesundheitsförde
rung und Eingliederungsmanagement«, der direkt der Werksleitung zu
geordnet ist, nimmt nahezu in Eigenregie unterschiedliche Aufgaben des
Gesundheitsmanagements, darunter auch die BEMVerfahren, in einem
weiteren Betrieb wahr. Auch bei einer Stadtverwaltung wird seit Kurzem
die Aufgabe der BEMLeitung in Personalunion von einem Angehörigen
der Personalabteilung ausgeführt, der als Koordinator für Arbeitsschutz,
Gesundheitsförderung und BEM fungieren soll; das BEM soll auf diese
Weise auch hier mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement insge
samt verzahnt werden.
261
Stephan Voswinkel
Klein- und Mittelbetriebe, so die Darstellung einer Gesprächspartnerin
in einem Einzelhandelsunternehmen und eines Experten einer Betriebsärzteorganisation, kennen häufig gar kein BEMVerfahren; entsprechend
existieren hier auch keine BEMBeauftragten.2 Manchmal übernehmen
betriebsexterne Betriebsärzte, die auf vertraglicher Basis für eine größere
Zahl von Betrieben tätig sind, auch bestimmte Aufgaben im BEMProzess,
wenn dieser in Einzelfällen einmal erforderlich wird.
Auch im Grad der Formalisierung der Verfahren zeigen sich Unter
schiede. Während die einen eine formelle Dokumentation der erzielten
Vereinbarungen mit Unterschrift auch des Erkrankten anfertigen, ver
suchen die anderen, den Grad der Verschriftlichung möglichst gering zu
halten. Für eine möglichst geringe Dokumentation spricht das Ziel, den
Betroffenen die Angst davor zu nehmen, dass die Inhalte des BEM festge
halten und eines Tages gegen sie verwandt werden könnten. Für eine um
fassendere Dokumentation wird hingegen die damit erreichte Verbindlich
keit der Vereinbarungen auch in der Durchsetzung im Betrieb angeführt.
Wir haben es offenbar mit einem Zielkonflikt zwischen Verbindlichkeit
und Misstrauensvermeidung zu tun.
Von besonderer Bedeutung ist das Anschreiben, mit dem die Erkrankte
über das Angebot eines BEMVerfahrens informiert wird. Es wird in der
Regel von der Personalabteilung versendet. Die Gesprächspartner berichten
davon, dass die Betroffenen oft zunächst erschrecken, wenn sie ein Schrei
ben von der Personalabteilung bekommen; sie entwickelten dann manch
mal Abwehrhaltungen, die überwunden werden müssten.
Der Stil der Anschreiben, so eine Betriebsärztin, sei auch ein wenig
bürokratisch und autoritär. Um einen solchen bürokratischen Eindruck
zu vermeiden, greift der »Koordinator für Gesundheitsförderung und Ein
gliederungsmanagement« in einem Betrieb meist zum Telefon, um die
2 | Befunde aus Befragungen bestätigen dies: Eine Befragung im Auftrag des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ergab im Jahre 2008, dass 55 Prozent
der Betriebe mit über 250 Beschäftigten, aber nur 23 Prozent der Betriebe mit
weniger als 50 Beschäftigten ein BEM durchführen. Diese Zahlen beziehen sich
auf BEM allgemein (Niehaus et al. 2008, S. 33 f.). Eine Studie aus dem Jahre 2013
geht von einem »Bekanntheitsgrad« des BEM in Kleinunternehmen von nur 30
Prozent aus. Die »Umsetzung« wird bei höchstens 10 Prozent veranschlagt (Kno
che/Sochert 2013, S. 52).
262
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Betroffenen selbst anzusprechen. Hier ist zu berücksichtigen, dass er häu
fig bereits in früheren Phasen der Erkrankung Ansprechpartner war und
häufig Kontakte zu Ärzten oder zu einer Klinik hergestellt hat, sodass die
telefonische Kontaktaufnahme nicht unbedingt als Übergriff verstanden
werden muss.
2. Zeitstruktur des BEM
Den BEMVerfahren liegen zeitliche Vorgaben zugrunde, die von den Ex
pertinnen nicht in jeder Hinsicht als angemessen betrachtet werden und
mit denen sie auch unterschiedlich umgehen. Das betrifft zum einen die
SechsWochenFrist, nach der (bei einer einmaligen Krankheit) ein BEM
Verfahren initiiert werden muss. Und es betrifft zum anderen den Abschluss
des Verfahrens.
Ein BEMVerfahren ist den Beschäftigten anzubieten, die mindestens
sechs Wochen in einem Jahr arbeitsunfähig waren. Bei einer zusammen
hängenden Zeit der Arbeitsunfähigkeit entspricht dies der Dauer der
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber. Mit dieser
Frist wird sehr unterschiedlich umgegangen. Einige Experten befürwor
ten, nicht erst sechs Wochen abzuwarten, bevor der erste Schritt unternom
men wird.
In der Praxis bedeute dies nämlich, dass das Verfahren dann oft erst
sehr viel später – eine Gesprächspartnerin sprach von etwa zehn Wochen –
wirklich beginne. Sei der Erkrankte dann bereits wieder an die Arbeit zu
rückgekehrt, seien bis zum Beginn des BEM dann schon Fakten geschaffen,
er müsse ja in irgendeiner Weise beschäftigt werden, ohne dass diese Ein
gliederungsphase von einem BEM begleitet werde. Daher sei es sinnvoll,
bereits das Verfahren einzuleiten, wenn eine Rückkehr an die Arbeit abseh
bar sei. Das setzt natürlich voraus, dass während der Erkrankung mit den
Betroffenen Kontakt gehalten wird.
Andere BEMBeteiligte werden erst aktiv, wenn die Betroffene ihre
Arbeit wieder aufnimmt. Erst dann könnten konkrete Schritte unternom
men werden, und man wolle sich nicht in der Zeit der Krankschreibung
aufdrängen. Allerdings kann das bedeuten, dass bis zur Wiederaufnahme
der Arbeit sehr viel Zeit vergehen kann. Gerade psychische Erkrankun
gen dauern oft sehr lange. Durch eine lange Abwesenheit kann sich eine
263
Stephan Voswinkel
Fremdheit zwischen Betroffenen und Betrieb entwickeln. Betriebe sehen
nun keinen Bezug zu den Erkrankten mehr, wenn sie ihnen nicht mehr
den Lohn fortzahlen müssen.
Der Experte der außerbetrieblichen BetriebsärzteOrganisation be
richtete, es komme oft vor, dass diejenigen Beschäftigten, die schon länger
Krankengeld beziehen, vom Betrieb nahezu vergessen werden. Wenn sie
sich dann – oftmals erst beim Auslaufen auch des Anspruchs auf Kranken
geld – beim Betrieb melden, um wiederbeschäftigt zu werden, seien oft
Fakten geschaffen, die alte Tätigkeit mit jemand anderem besetzt oder neu
organisiert worden.
Auf der anderen Seite meiden gerade depressiv Erkrankte den Kontakt
zur Arbeitsstätte von sich aus; manchmal entwickeln sie nach Ergebnissen
empirischer Untersuchungen auch eine ausgeprägte Angst vor der Rück
kehr an den Arbeitsplatz (Linden/Muschalla 2007). Sie orientieren sich vor
dem Hintergrund dieses Vermeidungsverhaltens auf die Frühverrentung
um und verlieren den Mut, eine Weiterbeschäftigung anzustreben. Haben
die Betriebe ihrerseits den Kontakt zu den Erkrankten verloren, kann es
sein, dass sie dann diese Haltung als Problemlösung hinnehmen.
Hier stehen sich also zwei jeweils nachvollziehbare Gesichtspunkte
gegenüber. Auf der einen Seite gibt es gute Gründe dafür, bereits vor der
Rückkehr an die Arbeit zumindest Vorbereitungen für das BEMVerfahren
zu treffen und dem »organisationalen Vergessen« entgegenzuwirken, in
dem Personal und Arbeitsplanung die zu erwartende Rückkehr des Er
krankten berücksichtigen. Das setzt voraus, während der Erkrankung im
Kontakt mit dem Betroffenen zu bleiben. Auf der anderen Seite spricht
auch manches dafür, Erkrankte während ihrer Erkrankung nicht zu kon
taktieren.
Die Betroffenen reagierten hierauf recht unterschiedlich: Manche fühl
ten sich bedrängt und kontrolliert. Einige unserer Patientinnen berichte
ten von regelmäßigen Anrufen aus dem Betrieb während ihres Klinikauf
enthalts und von der unverhohlenen Erwartung, per Handy oder EMail
erreichbar zu sein, um kurzfristig arbeitsbezogene Fragen beantworten
zu können. Darin scheint sich in einigen Fällen auszudrücken, dass eine
psychische Krankheit nicht als »vollwertige« Erkrankung und eine psy
chosomatische nicht als eine »richtige« Klinik aufgefasst werde (vgl. hier
zu auch meinen Aufsatz über die »Krankenrolle und Stigmatisierung bei
psychischen Erkrankungen« in diesem Buch). Manchmal aber freuen sich
264
Betriebliches Eingliederungsmanagement
die Patienten auch, wenn sie Informationen aus dem Betrieb erhalten und
ihnen ihre Unverzichtbarkeit demonstriert wird.
Es ist also schwierig zu bestimmen, welches Vorgehen generell angemessen ist. Ein flexibles Eingehen auf den Einzelfall und insofern auch eine
Flexibilität im Umgang mit den Fristen bei der Einleitung des BEMVer
fahrens dürfte sinnvoll sein.
Über den Abschluss eines BEMVerfahrens gibt es keine rechtlichen
Vorgaben. Die Expertinnen gehen hiermit auch unterschiedlich um. Gera
de bei psychischen Erkrankungen wird oft angenommen, dass sie – hierin
manchmal chronischen Erkrankungen ähnelnd – nicht endgültig ausge
heilt sind, sondern zumindest die Gefahr besteht, dass sie wieder manifest
werden. Betroffene nehmen die Arbeit wieder auf, wenn sich die Symp
tome vermindert haben und die manifesten Arbeitsprobleme verschwun
den sind. Gerade bei Depressionen aber kann eine Vulnerabilität bestehen
bleiben. Die Betroffenen bleiben besonders verletzbar durch belastende Er
fahrungen, sei es in der Arbeit, sei es im privaten Bereich, sei es aufgrund
der Verunsicherung durch vorangegangene depressive Episoden. Aufgrund
dieser Unabgeschlossenheit bzw. der möglichen Latenz psychischer Er
krankungen ist es also schwierig, einen Zeitpunkt zu identifizieren, an
dem das BEMVerfahren abgeschlossen werden kann.
Die meisten BEMBeteiligten legen jedoch generell als Kriterium für
die Beendigung des BEMVerfahrens an, dass über eine bestimmte Zeit kei
ne oder nur geringfügige Fehlzeiten mehr aufgetreten sind.3 Ein BEMBe
auftragter aus dem Personalwesen formuliert dies so:
»Wenn die Fehlzeiten des Betroffenen signifikant nach unten gegangen sind und
dauerhaft unten bleiben. Weil, dann sag ich, dann haben wir das erreicht, was
wir eigentlich erreichen wollen, den Mitarbeiter wieder weitgehend störungsfrei
arbeitsfähig zu machen.«
Abgesehen davon, dass schon generell wegen des verbreiteten Präsentismus
(vgl. Gerich 2015; Kocyba/Voswinkel 2007; Steinke/Badura 2011) das Aus
bleiben von Fehlzeiten nicht unbedingt als Indiz für Gesundheit gelten
kann, muss gerade bei psychischen Erkrankungen damit gerechnet wer
den, dass Krankheitszeichen – auch aus Sorge vor einer neuen Manifesta
tion – übergangen werden.
3 | Das berichten auch Niehaus et al. 2008, S. 88.
265
Stephan Voswinkel
Einige Experten führen regelmäßig nach drei Monaten oder einem halben Jahr ein Folgegespräch, um sich zu vergewissern, »ob alles so passt«
und das Befinden sich nachhaltig verbessert hat. Auf diese Weise wird eine
gewisse Nachsorge betrieben, wobei man sich aber in der Regel darauf be
schränkt, sich punktuell nach dem Befinden zu erkundigen. Gerade bei
psychischen Erkrankungen ist es aber häufig sinnvoll, die weitere Entwick
lung der Betroffenen zu begleiten, um vor der Neumanifestation massiver
Beschwerden Probleme zu identifizieren und den Betroffenen bei der Re
integration in die Arbeit – und der Anpassung des Arbeitsplatzes an die
spezifischen Bedürfnisse des Erkrankten – zu begleiten.
Aber auch hier ist wiederum im Hinblick auf den Einzelfall abzuwä
gen zwischen der nachsorgenden Ansprache und Begleitung und der da
mit möglicherweise verbundenen Gefahr, dass die Betroffenen gerade hier
durch fortdauernd etikettiert werden.
3. Definition der eigenen Rolle der BEM-Beteiligten
und Deutungen psychischer Erkrankungen
Wie verstehen nun die BEMBeteiligten selbst ihre Aufgaben und ihre Rol
le? Sie sind ja zum einen Vertreter des Betriebs gegenüber den Erkrankten,
nehmen – als Mitglieder der Personalabteilung oder als Betriebsratsmit
glieder – unterschiedliche Positionen in den institutionalisierten Arbeits
beziehungen ein und sollen im BEMProzess zugleich die Interessen der
Betroffenen im Auge haben. Diese verschiedenen Rollen zu vereinbaren ist
nicht einfach.
So ergeben sich Anforderungen, verschiedene Perspektiven zu verknüp
fen, bereits daraus, dass die Erkrankung zu Leistungseinschränkungen
führt, deren Folgen sich als Belastungen auf diejenigen auswirken können,
mit denen die Erkrankte zusammenarbeitet: auf die Kolleginnen und den
Vorgesetzten. Daraus kann bereits für das Betriebsratsmitglied ein Konflikt
zwischen den Bedürfnissen der Erkrankten auf Rücksichtnahme und der
Kolleginnen auf Belastungsbegrenzung resultieren. Personaler haben nicht
nur die Krankheitskosten für den Betrieb, sondern auch die Folgen für die
Belastungen der Vorgesetzten und der Arbeitsorganisation im Auge, wenn
sie zugleich zu einer gelingenden Wiedereingliederung mit Rücksicht auf
die krankheitsbedingte Vulnerabilität beitragen sollen. Diese und weitere
266
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Rollenkonflikte werden von den verschiedenen Beteiligten unterschiedlich
bearbeitet, und man kann annehmen, dass die Umgangsweise damit auch
vom Verhalten der Erkrankten selbst wesentlich beeinflusst wird.
Ich will aber hier auf einen bestimmten Aspekt des Rollenselbstver
ständnisses hinweisen, der mit der Spezifik psychischer Erkrankungen in
besonderer Weise zusammenhängt. Um dies verdeutlichen zu können,
muss ich zunächst darlegen, wie die BEMAkteure psychische Erkrankun
gen und ihre Ursachen deuten.
Die Gesprächspartnerinnen nennen zum einen eine Vielfalt von Fakto
ren, die im Bereich der Arbeit die Entstehung psychischer Erkrankungen
fördern, zum anderen weisen sie auf Ursachen im Privatleben hin. Als ty
pische Belastungen in der Arbeit, die zu psychischen Erkrankungen bei
tragen können, werden genannt:
•
•
•
•
Die zunehmende Arbeitsverdichtung, die zu negativem Stress und zum
Verlust von Erholungsphasen führt, die es erlauben würden, bei gesund
heitlichen Beschwerden oder Stresserleben »einen Gang runterzuschal
ten«.
Diese Arbeitsverdichtung geht einher mit einem zunehmenden Perso
nalmangel oder wird durch diesen gefördert. Zu den fehlenden Zeitre
serven kommen also mangelnde Personalreserven. Wegen der »auf den
Leib geschneiderten« Personaldecke fielen psychische Erkrankungen
heute auch mehr auf, so ein Betriebsarzt, weil sie im Team nicht mehr
kompensiert werden könnten. Insofern könne es sein, dass gar nicht die
Zahl psychischer Erkrankungen zugenommen habe, sondern dass sie
im Arbeitsalltag weniger verdeckt werden könnten.
Diese Entwicklungen mindern die Bereitschaft von Vorgesetzten und
Kolleginnen, Leistungseingeschränkte – und insofern auch psychisch
Erkrankte – eine Zeit lang »mitzutragen«, also auf sie Rücksicht zu neh
men, indem sie Arbeiten mit übernehmen. »Man kann keine Rücksicht
mehr nehmen auf andere, weil man sich selbst ja ständig irgendwie ver
sucht, hier zu sichern.« (Betriebsratsmitglied Einzelhandel)
Die Rücksichtnahme gegenüber Leistungseingeschränkten wird zusätz
lich durch den Abbau von »Schonarbeitsplätzen« erschwert. »So viele
Pförtnerstellen, wie wir eigentlich bräuchten, haben wir leider nicht«,
lautet die zugespitzte Feststellung einer Personalrätin, um zu verdeut
lichen, dass die Schwierigkeiten auch der Wiedereingliederung aus dem
267
Stephan Voswinkel
•
•
Mangel an Arbeitsplätzen resultiert, auf denen gesundheitlich Belastete
weniger unter Druck stünden.
Ein Schwerpunkt psychischer Belastung wird in der Arbeit mit Kunden
und Klienten gesehen. Hier könne man sich der belastenden, konflikt
reichen Situation nicht entziehen, müsse eine Fassade zur Schau tragen,
die der inneren Stimmungslage nicht entspreche, und die Gefahr sei
groß, dass man Probleme mit nach Hause nehme. In der Stadtverwal
tung wird hier insbesondere auf den Bereich der Sozialverwaltung hin
gewiesen.
Ein weiterer Ursachenkomplex wird in den häufigen Reorganisationen
gesehen und in der Notwendigkeit für viele Beschäftigte, sich immer
wieder in neuen Arbeitskontexten zurechtfinden zu müssen:
»Man kommt vielleicht morgens zur Arbeit und möchte im Betrieb A arbeiten,
und dann heißt es: ›Nee, bei C fehlt gerade einer!‹ Der hat sich vielleicht auf die
Chemie in dem einen Bereich vorbereitet und muss nun in dem anderen arbei
ten.« Das, so der BEMExperte eines Chemiewerks, belaste nicht nur wegen der
Umstellungsanforderung, sondern auch wegen der fehlenden Eigenkontrolle:
»Weil über einen mehr bestimmt werden kann.«
•
•
Psychisch belastend könne auch die Angst um den Arbeitsplatz sein.
Das betrifft Situationen, in denen Personalabbau im Betrieb befürchtet
wird. Aber die Angst kann auch aus gesundheitlichen Einschränkungen
resultieren, die mit körperlichen Einschränkungen und altersbedingt
nachlassendem Leistungsvermögen im Zusammenhang stehen. Aus die
ser Sicht resultieren psychische Erkrankungen wie Depression also aus
berechtigten oder unberechtigten Sorgen vor dem Umgang des Betriebs
mit körperlichen Erkrankungen oder Einschränkungen. Depressionen
entwickelten beispielsweise auch Kollegen, die mit den körperlichen Be
lastungen unter Tage nicht mehr zurechtkommen, dies aber aus Sorge
davor, nicht mehr dort arbeiten zu können, nach außen zu verbergen
versuchten, so der BEMBeauftragte des BergbauUnternehmens.
Mehrfach wird auf die besonderen Probleme alternder Beschäftigter
hingewiesen. Dabei gehe es nicht nur um die körperlichgesundheitli
chen Einschränkungen, sondern auch um den Verlust des Selbstwert
gefühls, der aus Umorganisationen und neuen Anforderungen resultie
re. Im Angestelltenbereich wird häufiger auf neue Informations und
Kommunikationstechnologien verwiesen, die den Arbeitsstil und das
268
Betriebliches Eingliederungsmanagement
•
•
Kommunikationsverhalten immer umfassender bestimmen. Mit diesen
kämen manche älteren Kollegen nur schlecht zurecht. Das gilt auch für
die Umstellung auf die zunehmende Anforderung, perfekt in englischer
Sprache zu kommunizieren. Auch hier bestehe die Belastung nicht zuletzt darin, dass man glaubt, sich entsprechende Schwächen nicht anmerken lassen zu dürfen. Alternde Beschäftigte fühlten sich – ob be
rechtigt oder nicht – häufig nur noch wenig anerkannt und unter dem
Druck, ihre Position verteidigen zu müssen. Eine typische Gefährdungs
situation für psychische Reaktionen sei es, wenn erfahrene Mitarbeiter
mit einem jungen Chef konfrontiert würden.
Für den Ingenieurbereich wird beispielhaft darauf hingewiesen, dass
manche hoch kompetenten Mitarbeiter eine große Angst entwickelten,
wenn sie, was vermehrt gefordert sei, vor Publikum etwas präsentieren
müssten. Eine Betriebsärztin berichtet von mehreren derartigen Proble
men aus dem Ingenieurbereich eines Automobilwerks, als die Teilnah
me bei entsprechenden Fortbildungen erwartet wurde.
Und schließlich seien es immer wieder Konflikte mit dem Vorgesetzten,
unfähiges Führungsverhalten, aber auch Konflikte im Team bis zum
Mobbing, die als Ursachen psychischer Erkrankungen auszumachen
seien.
Psychische Erkrankungen werden aber keineswegs nur – und überwiegend
auch nicht in erster Linie – auf Faktoren in der Arbeitswelt zurückgeführt.
Vielmehr sehen die meisten Gesprächspartnerinnen die Ursachen auch
und gerade im privaten Bereich.
Es sind aus der Sicht vieler BEMExperten besonders Krisen und Kon
flikte in privaten sozialen Beziehungen, die zur Aktualisierung psychischer
Erkrankungen führten. Konflikte in der Ehe bis zur Scheidung, Schwierig
keiten mit den Kindern, der Tod nahestehender Menschen werden häu
fig als Beispiele genannt, die besonders plausibel scheinen. Diese Beispiele
heben eher auf allgemeine psychische Belastungen des Lebens ab, die zu
oft erheblichen Stimmungsverdunklungen führen und es jedenfalls zeit
weise unmöglich machen, das Leben »normal« zu führen, und es insofern
auch sehr erschweren, mit der Arbeit zurechtzukommen und den Kollegen
angemessen zu begegnen. Die Arbeit könne zur zusätzlichen Belastungs
quelle werden, wenn sie keine Rücksichtsräume biete, die die Betroffenen
auffangen könnten.
269
Stephan Voswinkel
Im engeren Sinne in der Persönlichkeit oder dem Beziehungsverhalten
und der Biographie des Betroffenen liegende Gründe, wie sie in der Thera
pie eine zentrale Rolle spielen, werden weniger genannt. Der Verweis auf
den Privatbereich folgt vielmehr den Assoziationsketten und Erfahrungen
des »common sense«.
Auffällig ist, dass viele Expertinnen darauf verweisen, man könne
arbeitsbedingte und privat bedingte Dimensionen kaum trennen:
»Das kann man gar nicht trennen, weil der Mensch ja eine Einheit ist. Wie sich
das manch einer vorstellt: Die Probleme, die ich zu Hause hab, die hab ich an
der Stempeluhr abzugeben, das geht einfach nicht«, so die Schwerbehinderten
vertreterin in einem Elektronikbetrieb. Sie stellt sowohl die betriebliche wie die
private Seite in den Gesamtzusammenhang einer gesellschaftlichen Entwicklung.
»Gesellschaftliche Verschiebungen« führten dazu, dass mancher heute das Gefühl
habe, »dass er alleine ist, dass ihn niemand auffängt und dass er selbst entscheiden
muss«. Sie stelle »immer wieder hier fest, wie einsam sich der eine oder andere im
Leben vorkommt, egal wie viel Familie er außen drumrum hat oder nicht.«
Diese Einsicht in den Zusammenhang von arbeits und privat bedingten
Faktoren für eine psychische Erkrankung hat nun Konsequenzen für das
Rollenverständnis der BEMBeteiligten. Es stellt sie vor ein Dilemma: Auf
der einen Seite impliziert die Auffassung, dass bei Entstehung und Ent
wicklung psychischer Erkrankungen die Arbeit nicht vom Privatleben zu
trennen ist, dass auch das BEM sich mit dem privaten Leben befassen müss
te. In dieser Hinsicht erschiene es sinnvoll, dass Betroffene auch ihre pri
vate Situation transparent machen sollten, um ihr Verhalten in der Arbeit
verständlich zu machen.
Auf der anderen Seite aber sehen die BEMBeteiligten ihre Aufgabe auf
den Arbeitsbereich beschränkt. Sie sind in diesem Sinne Vertreter des Be
triebs und müssen die Grenze zwischen Arbeit und Privatem respektieren,
der zufolge das Private eben dem Zugriff des Betriebs entzogen sein soll.
Dementsprechend wollen sie sich nicht ins Private einmischen und emp
fänden ein solches Verhalten als übergriffig – ganz abgesehen von allen
Fragen des Datenschutzes und der Freiwilligkeit des Betroffenen, Informa
tionen preiszugeben.
Ein Personalratsmitglied einer Stadtverwaltung formuliert dieses Dilemma tref
fend: »Man muss auch ein Gespür dafür haben, was hat man für eine Persönlich
keit vor sich und mit wem musst du vielleicht auch mal umgehen, als wärst du
270
Betriebliches Eingliederungsmanagement
seine Mutter.« Sie weiß aber auch: »Auch als Personalvertreterin bin ich Repräsentant des Arbeitgebers, ich kann’s [mich in das Private einmischen] nicht. […] Da
versuch ich schon, dass ich das an den Integrationsfachdienst gebe. Da können
die sich öffnen, da können die ihr ganzes Privatleben auspacken und sortieren
und angucken.«
Die BEMBeteiligten wissen also um die Grenzen ihrer Rolle als Repräsen
tanten der Arbeitssphäre und auch darum, dass diese Grenze dem komple
xen Zusammenhang der Erkrankung nicht gerecht wird, aber gleichwohl
einen zentralen Wert moderner Erwerbsarbeit darstellt, weil die Beschäf
tigten nicht mit ihrer gesamten Person in die Organisation inkludiert sind.
Dies schließt jedoch nicht aus, sich um Verständnis für die Person des Be
troffenen zu bemühen und manchmal auch Hilfe für notwendige Unter
stützung im privaten Bereich zu vermitteln. So empfehle man in der Stadt
verwaltung durchaus auch einmal, eine Eheberatung aufzusuchen, frage
danach, ob es im Privaten genügend Entspannungsmöglichkeiten gebe.
In der Beschränkung ihrer Rolle kommt aber auch eine professionelle
Selbstbeschränkung zum Ausdruck. Die BEMAkteure sehen sich nicht als
Therapeuten oder Ärzte. Der BEMBeteiligte eines Chemiewerks warnt da
vor, »am Kollegen rumzudoktern«; er stelle »grundsätzlich keine Diagno
se«. Dies sei auch wichtig, damit die Akteure sich nicht selbst überlasteten
und sich von den oftmals bedrückenden Fällen abgrenzten.
4. Vertrauensunsicherheit, Stigmatisierungsangst
und Erfolg des BEM
Die BEMVerfahren setzen grundsätzlich voraus, dass die Erkrankten Ver
trauen ins Verfahren und gegenüber den Beteiligten entwickeln (vgl. hier
zu auch Vater 2016). Das ist nun alles andere als selbstverständlich, ist doch
für die Betroffenen ihre Erkrankung mit der Sorge verbunden, dass der
Betrieb sie nicht mehr als leistungsfähig betrachtet und im schlimmsten
Falle eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses ins Auge fasst. Vor diesem
Hintergrund zu betrieblichen Akteuren Vertrauen zu entwickeln ist durch
aus voraussetzungsreich.
Die Akteure versuchen, in den Verfahren diese Vertrauensproblematik
zu berücksichtigen. Sie weisen auf die Freiwilligkeit hin, versuchen zu ver
deutlichen, dass möglichst wenig dokumentiert wird, dass die Unterlagen
271
Stephan Voswinkel
des BEM-Verfahrens von den üblichen Personalunterlagen getrennt bleiben. Die ärztliche Schweigepflicht ist garantiert, und die Beteiligten sind
verpflichtet, über Informationen aus dem BEMVerfahren Stillschweigen
zu bewahren (zum Datenschutz im BEM vgl. Feldes 2016).
Besonders wichtig ist es, dass die Beschäftigten das BEMVerfahren
klar von den immer noch verbreiteten Krankenrückkehrgesprächen (vgl.
hierzu Kiesche 2016) unterscheiden. Diese »überholte Sozialtechnologie«
(Kiesche 2015, S. 499) hat keine gesetzliche Grundlage, hat sich aber in
vielen Betrieben (auch in Betriebs oder Dienstvereinbarungen verankert)
als regelmäßige Einrichtung etabliert und ist grundsätzlich nicht als frei
willig gestaltet. Eine Verweigerung der Beschäftigten wird häufig mit Ab
mahnungen beantwortet.
Ein Krankenrückkehrgespräch wird in der Regel zunächst vom Vorge
setzten mit einem Beschäftigten geführt, der nach einer bestimmten Zahl
von Arbeitsunfähigkeitstagen wieder zur Arbeit kommt. Als offizielles Ziel
von Krankenrückkehrgesprächen wird häufig das Bestreben angegeben,
zur Vermeidung belastender Faktoren beizutragen. Faktisch wird ihnen
jedoch häufig eine disziplinierende Bedeutung zugeschrieben. Sie werden
als Drohinszenierung verstanden, in der vor weiteren Fehlzeiten gewarnt
wird; Informationen würden gesucht, um die zukünftig zu erwartenden
Fehlzeiten einzuschätzen und damit unter Umständen auch eine krank
heitsbedingte Kündigung vorzubereiten.
In Betrieben existieren manchmal noch Krankenrückkehrgespräche
und BEM nebeneinander; in diesen Fällen ist die Unterscheidung schwie
rig. Aber auch dann, wenn Krankenrückkehrgespräche nicht oder nicht
mehr geführt werden, hat das schlechte Image des Krankenrückkehrge
sprächs manchmal dazu geführt, dass auch das BEM misstrauisch betrach
tet wird.
Das Vertrauensproblem gilt für jede Art von Erkrankung. Es hat aber
bei psychischen Erkrankungen eine besondere Dimension. Hinzu kommt
nämlich hier die Angst vor Stigmatisierung aufgrund der psychischen Er
krankung. Das führt dazu, dass die Betroffenen es meist als riskant an
sehen, die Art ihrer Erkrankung mitzuteilen und sich im BEMGespräch
zu öffnen. Insgesamt berichten die Gesprächspartner von einer durchaus
beträchtlichen Zahl von Beschäftigten, die das BEM ablehnen. Der Auf
stellung einer Stadtverwaltung zufolge hatten im Jahre 2011 nur etwa 20
272
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Prozent derjenigen, denen ein BEM angeboten wurde, dieses in Anspruch
genommen.
Allerdings hatte etwa die Hälfte der Angefragten angegeben, sie hätten
die Krankheit völlig überwunden. Eine explizite Ablehnung formulierte
etwa ein Viertel. Zu berücksichtigen ist, dass diese Zahlen sich auf Erkrankungen allgemein beziehen. Schon aus Gründen der Diagnoseunklarheit
kann es keine speziell auf psychische Erkrankungen bezogenen Zahlen geben.
Aus der Stigmatisierungsangst ergibt sich nun für die Beteiligten ein
Dilemma. Auf der einen Seite nämlich wird eingeräumt, dass die Angst
davor, ausgegrenzt zu werden, keineswegs unbegründet sei; es gebe zweifellos Vorgesetzte, die aus der Mitteilung einer psychischen Erkrankung, etwa
eines »Burn-out«, die Konsequenz zögen: »Der muss dann weg!« (Personalratsmitglied Stadtverwaltung). Eine kleine Minderheit unserer Gesprächspartnerinnen rät daher eher davon ab, die Art der Erkrankung mitzuteilen.
Die Mehrheit ist jedoch davon überzeugt, dass ein Outing in der Regel
richtig sei. Denn nur so könne ein BEM sinnvoll durchgeführt werden.
Wenn keine Kenntnis von der Art der Erkrankung herrsche, könne man
sich auch keine Gedanken über Veränderungen und eine Vermeidung bestimmter Belastungen machen. Das gelte auf jeden Fall für die Mitteilung
gegenüber den BEM-Beteiligten.
Hiervon zu unterscheiden ist die Offenlegung über die BEMBeteilig
ten hinaus. Aber auch hier wird eher geraten, »die Karten auf den Tisch zu
legen«. Denn auch die BEMAkteure könnten gegenüber dem Betrieb, den
Vorgesetzten oder Kollegen nicht viel erreichen, wenn sie die Krankheit
und den damit verbundenen Bedarf an Rücksichtnahme, Arbeitsverände
rungen usw. nicht erläutern könnten, weil sie selbst an die Schweigepflicht
gebunden seien. Die Bereitschaft des Betriebs, bei der Wiedereingliederung
»etwas möglich zu machen«, setze geradezu voraus, dass sich der Betroffene
öffnet.
»Wenn ich mich [als BEMAkteur] natürlich hinstelle und sage: Ich kann gar
nichts sagen, aber ich will dieses, dieses und dieses, dann kann ich es gut ver
stehen, dass die andere Seite sagt: Ja, Moment einmal: Wir sollen geben, kriegen
tun wir gar nichts! Wissen, warum, tun wir auch nicht – Nö!!!« (BEMBeteiligter
Elektronikbetrieb)
273
Stephan Voswinkel
Die Gesprächspartnerinnen rieten aber überwiegend auch dazu, dass
die Betroffenen selbst sich gegenüber dem Arbeitsumfeld öffnen. Gerade
nämlich, weil psychische Erkrankungen sich nicht in eindeutig verständ
lichen Symptomen äußerten – wie bei einem Beinbruch, einem Herzin
farkt oder einer Lungenentzündung –, herrsche im betrieblichen Umfeld
schnell Unverständnis und Unklarheit über die Erkrankung. Das verfüh
re zum Simulationsverdacht und zur Unsicherheit darüber, wie mit den
Betroffenen umzugehen sei. Da das Verhalten nicht verstanden werde, sei
es auch schwierig für die Kolleginnen, sich angemessen zu verhalten. Die
Gesprächspartner waren optimistisch, dass die Kollegen und Vorgesetzten
dann, wenn sie über die Art der Erkrankung informiert seien, eher mit
Verständnis reagierten.
Man mache sich umso unglaubwürdiger, je stärker man sich verstecke.
Wenn die psychische Erkrankung hingegen bekannt sei, werde das Verhal
ten, das Kollegen irritiert und verunsichert, zumindest schon einmal ver
ständlicher. Die Akzeptanz psychischer Erkrankungen sei auch durch den
öffentlichen Diskurs hierüber gestiegen. Deshalb sei es sehr wichtig, in der
betrieblichen Öffentlichkeit über psychische Erkrankungen aufzuklären,
um die Verunsicherung hierüber zu bekämpfen. Auch dem Verhalten der
Vorgesetzten komme eine große Bedeutung zu.
Was Betroffene als Stigmatisierung erlebten, sei häufig eher Verhaltens
unsicherheit. Wer sie noch nicht bei sich oder im näheren Umfeld erlebt
habe, könne die Erkrankung nur schwer nachvollziehen und sich deshalb
in den Betroffenen schlecht hineinversetzen. Die psychische Erkrankung
des Kollegen löse schnell Angst aus, weil man nicht wisse, wie man sich
richtig verhalten solle. Natürlich reagierten viele auch mit Widerwillen:
»Ach, schon wieder der Nervige mit seiner Jammerdepression!« (Betriebs
ärztin), und gingen den Betroffenen eher aus dem Wege. Aber dies geschehe
auch dann, wenn die Diagnose unbekannt sei.
Der Diagnose kommt offenbar eine große Bedeutung zu. Sie beglau
bigt gewissermaßen die Ernsthaftigkeit der Krankheit und legitimiert die
Krankenrolle (vgl. hierzu meinen Artikel über die »Krankenrolle und Stig
matisierung bei psychischen Erkrankungen« in diesem Buch). Mit dem
Medium der Diagnose interveniert das Gesundheits in das Wirtschafts
system. Nach der Erfahrung einiger BEMExperten veranlasst es auch das
Arbeitsumfeld, jedenfalls eine gewisse Zeit lang, den psychisch Erkrankten
als einen Erkrankten in der Krankenrolle zu behandeln. Das mag nicht
274
Betriebliches Eingliederungsmanagement
längerfristig nachhaltig sein, aber es gibt einen gewissen Spielraum für die
Wiedereingliederung.
Was definieren die BEMBeteiligten nun als Erfolg eines BEM? Ich hat
te bereits im letzten Kapitel darauf hingewiesen, dass ein BEMVerfahren
dann nach Auffassung unserer Gesprächspartner beendet werden kann,
wenn die Fehlzeiten dauerhaft zurückgegangen sind und wenn unter Um
ständen auch auf Nachfrage einige Monate später keine Gesundheitsbeein
trächtigungen artikuliert werden. Welche Ziele aber verfolgen die Akteure
mit dem BEM?
Im Vordergrund steht in der Regel die Rückkehr an den Arbeitsplatz.
Erst wenn dieser nicht realisierbar erscheint, wird eine Umsetzung auf
einen anderen Arbeitsplatz ins Auge gefasst. Für die Rückkehr an den
bisherigen Arbeitsplatz spricht nicht nur, dass dies zunächst als normale
Lösung wahrgenommen wird, sondern dass hier auch die Akzeptanz der
Erkrankten in der Regel am höchsten ist, weil sie dort bekannt ist. Dem
gegenüber sei die Eingliederung in einen neuen Bereich schwieriger:
»Deswegen sag ich den Leuten immer: Schau, dass du an dem Platz – egal, wie
schwierig es vorher war – wieder anfangen kannst, weil du im Umfeld, an dem du
jetzt bist, wo die Leut dich kennen, eine ganz andere Bereitschaft hast, auf dich
einzugehen, als in der Abteilung XY dahinten, die auf ihre freie Stelle halt irgend
jemand kriegen, und der soll jetzt gefälligst funktionieren – und kennen tun wir’n
auch nicht.« (BEMBeteiligter Elektronikbetrieb)
Anders sehe es aus, wenn das bisherige Team oder der bisherige Vorgesetzte
Teil des Ursachenbündels für die Erkrankung war. Dann müsse versucht
werden, den Betroffenen woanders zu integrieren. Aber dies wird offen
bar als die zweitbeste Lösung angesehen, gerade auch, weil jemand, der
mit einer Krankheitsvorgeschichte neu hinzukommt, von vornherein als
Belastung wahrgenommen werde. Offenbar verschärft sich hier zudem das
Problem von BEMAkteuren, dass sie auch die Interessen und Belastungen
der (noch) nicht Erkrankten im Blick haben müssen. Sie werden von einem
neuen Umfeld vermutlich noch leichter als Interessengegner wahrgenom
men. Man müsse auch die Kollegen manchmal schützen, so ein BEMBe
teiligter.
Auffällig ist allerdings eines: Eine Veränderung der Arbeitsbedingungen
am bisherigen Arbeitsplatz bzw. im bisherigen Arbeitsumfeld wird nicht
als Ziel des BEM genannt, jedenfalls sofern sie über eine Anpassung an den
275
Stephan Voswinkel
einzelnen Betroffenen hinausgehen würde. Eventuell wird versucht, den
Betroffenen vor bestimmten belastenden Faktoren zu schützen; nicht aber
wird aus dem Erkrankungsfall ein Schluss gezogen auf die grundlegendere
Veränderungsbedürftigkeit des Arbeitsplatzes bzw. umfelds. Ich komme
hierauf noch einmal zurück, wenn ich mich der Schnittstelle von BEM und
Gefährdungsbeurteilung widme.
5. BEM-Erfahrungen der Erkrankten –
stufenweise Wiedereingliederung als Engführung
Auch ein Teil der Patientinnen, mit denen wir Interviews geführt haben,
haben Erfahrungen mit dem BEM bzw. mit der Wiedereingliederung ge
macht. Sie kamen in der Regel in dem dritten Interview zur Sprache, das
wir einige Monate nach dem Klinikaufenthalt mit ihnen geführt haben.
Allerdings kam es aus unterschiedlichen Gründen bei acht der 23 Patien
tinnen, also etwa einem Drittel, nicht zu einem solchen Drittgespräch. Von
den 15 Gesprächspartnerinnen, mit denen wir ein solches drittes Gespräch
führen konnten, stellte sich für sieben Patientinnen das Thema nicht, weil
sie nach dem Klinikaufenthalt nicht mehr zu ihrem bisherigen Arbeitge
ber zurückgegangen sind, sei es, dass ihr Arbeitsverhältnis aufgelöst wurde
und sie auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber waren (wie Herr D
und Herr N) oder einen solchen (vorübergehend) gefunden hatten (Frau J);
sei es, dass eine bestimmte Frist für das Weiterlaufen ihres Arbeitsverhält
nisses bei Fortzahlung der Vergütung (Herr U) und mit Vereinbarung der
anschließenden Übernahme in eine Beschäftigungsgesellschaft (Herr T)
oder die weitere Tätigkeit als Freelancer (Herr M) vereinbart wurde; sei es,
dass sie in den Bezug der Erwerbsunfähigkeitsrente übergegangen waren
(Herr B).
Von den anderen Patientinnen hatten drei nie ein formelles Angebot
für ein BEMVerfahren erhalten. Eine Patientin, die Integrationsassisten
tin Frau E, hatte ein solches Angebot abgelehnt, weil sie nach Gesprächen
mit der Klassenlehrerin den Eindruck hatte, dass vieles in der Arbeit auf
dem Wege der Verbesserung sei und ihre Anliegen aufgenommen würden.
Auch Frau A hatte in einem persönlichen Gespräch mit der Personalleite
rin ihrer Unternehmensberatung eine Vereinbarung erzielen können, von
der sie den Eindruck hatte, dass sich ihre Belastungen dadurch reduzieren
276
Betriebliches Eingliederungsmanagement
würden: Neben einer vorübergehenden Arbeitszeitverkürzung stand hier
ihre neue Zuordnung als Assistentin zu anderen Chefs im Vordergrund,
deren Status in der Organisation etwas niedriger war als derjenige der bisherigen – Frau A zeigte sich überzeugt, dies werde es ihr erleichtern, mit
ihrer Arbeit und drohenden Fehlern entspannter umzugehen.
Nur Frau P, Kassiererin im Supermarkt, berichtete von einem formali
sierten BEMGespräch. Allerdings tat sie dies mit Empörung. Das Gespräch
fand in der regionalen Zentrale des Unternehmens statt; anwesend waren
der Personalchef, die Regional und die (während ihrer Erkrankung neu
gekommene) Marktleiterin sowie ein Mitglied des Betriebsrats, das ihr un
bekannt war.4 Eine Vertrauensperson habe sie ihrer Aussage zufolge nicht
mitbringen können. Dieses Gespräch beschrieb sie als ausgesprochen un
angenehm. Sie habe sich der geschlossenen Front des Gremiums gegen
übergesehen. Dort habe sie ihren Wunsch vorgetragen, in Teilzeit zu wech
seln und nicht mehr in den allgemeinen Schichtplan integriert zu sein; in
ihrem Alter und mit ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen könne sie
nicht mehr samstags bis 22 Uhr arbeiten und montags wieder um halb acht
auf der Arbeit sein. Das Gremium habe ihr dies mit dem Argument ver
wehrt, dies sei unfair gegenüber den Kolleginnen und würde nur weitere
Extrawünsche von anderen zur Folge haben.
Stattdessen, so Frau P, habe man ihr eine stufenweise Wiedereingliede
rung angeboten. Diese sollte in einer zeitweiligen Verkürzung der Arbeits
zeit bestehen, während der sie weiterhin von der Krankenversicherung
ihr Krankengeld bezogen hätte, wie es die Regeln der stufenweisen Wie
dereingliederung vorsehen. Dieser Vorschlag, dem auch das Mitglied des
Betriebsrats zugestimmt habe, verärgerte sie. Zum einen zeige sich ja in
diesem Vorschlag, dass eine Arbeitszeitverkürzung durchaus betrieblich
realisierbar sei. Zum anderen aber bedeute diese Praxis, dass sie anschlie
ßend wieder in derselben Weise mit denselben Zeiten beschäftigt werden
würde, die sie nicht mehr wolle. Eine solche Wiedereingliederung habe sie
schon einmal gemacht, ohne dass diese ihr geholfen hätte. Und drittens
4 | Betriebsräte werden in Unternehmen des Einzelhandels aufgrund der gerin
gen Beschäftigtenzahl der Einzelbetriebe und der Konzentration von Entschei
dungen meist überbetrieblich gebildet, sind also für mehrere Filialen zuständig.
Insofern ist der Umstand, dass das Gespräch nicht an ihrer Arbeitsstätte stattfand
und das Betriebsratsmitglied ihr unbekannt war, nicht ungewöhnlich.
277
Stephan Voswinkel
schließlich sehe sie nicht ein, dass die Krankenkasse die Kosten für eine
solche Lösung tragen solle.
»Wiedereingliederung ist für die [den Arbeitgeber] natürlich ideal, weil – kostet
nix und bringt Produktion. Aber das bringt mir nichts. Ich wollte schon eine Zu
sage bezüglich einer gewissen zeitlichen Eingrenzung.«
Vor diesem Hintergrund lässt sie es eher auf eine mögliche Kündigung an
kommen, wenn sie noch länger krankgeschrieben sein müsse.
Herr S, beschäftigt bei einer Bank, war froh, dass ein angekündig
tes BEMGespräch mit Betriebsrat und Personalabteilung nicht zustan
de kam – er hatte inzwischen eine Vereinbarung mit seiner Chefin über
eine zeitweilige Verkürzung seiner Arbeitszeit bei seiner Rückkehr an den
Arbeitsplatz getroffen. Er habe gefürchtet, seine Erkrankung offenlegen
zu müssen und dann mit Rücksicht und Fürsorge behandelt zu werden,
einer Fürsorge, die allerdings seine Position in der Firma geschwächt hät
te (vgl. hierzu ausführlicher meinen Aufsatz über die »Krankenrolle und
Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen« in diesem Buch). Er war
daher zufrieden, dass mit ihm die Wiedereingliederung mit Arbeitszeit
verringerung vereinbart und von der Krankenversicherung bezahlt wurde,
wodurch ein BEMVerfahren vermieden werden konnte.
Wie Frau P, so lehnte auch Herr M, Immobilienkaufmann, eine stu
fenweise Wiedereingliederung ab, weil er eine dauerhafte, nicht nur eine
zeitweilige Lösung anstrebte. Er nahm daher das Angebot an, zukünftig
mit verkürzter Arbeitszeit als Freelancer weiter für seine Firma arbeiten zu
können, was ihm größere zeitliche Unabhängigkeit und die Möglichkeit
weiteren Nebenverdienstes eröffnete.
Auch die Erfahrung von Frau F mit der Wiedereingliederung ist nicht
positiv, allerdings aus einem anderen Grund. Sie habe sich in die Wieder
eingliederung hineingedrängt gefühlt. Sie sei gesundheitlich noch keines
wegs in der Lage gewesen, wieder zu arbeiten. Von Klinik und Kranken
versicherung gedrängt, habe sie sich darauf eingelassen, die Maßnahme
(drei Arbeitsstunden täglich) aber nach zwei Wochen wegen massiver wei
terer Beschwerden abbrechen müssen. Sie war zum Zeitpunkt des Drittge
sprächs wieder krankgeschrieben und hoffte, einige Wochen später einen
neuen Einstieg in die Arbeit machen zu können. Die Anfrage für ein BEM
Gespräch habe sie daher auch erst einmal auf später verschoben.
278
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Dieses Schlaglicht auf die Erfahrungen unserer Gesprächspartner mit
BEM und Wiedereingliederung ist natürlich in keiner Weise repräsentativ. Allerdings zeigt es, dass das Angebot oder gar die Durchführung eines
BEM keineswegs selbstverständlich ist. Während die BEM-Beauftragten bestrebt sind, das BEM-Verfahren zu institutionalisieren und zu professionalisieren und hierbei ihr Augenmerk auf das Funktionieren des Verfahrens
richten, ist die Perspektive der Betroffenen oft eine andere. Für sie ist das
BEM (wenn es ihnen überhaupt bekannt ist oder ihnen angeboten wird)
ein Instrument unter mehreren im Prozess ihrer Gesundung und ihrer wei
teren Lebensplanung.
Oftmals, das zeigen unsere Beispiele, scheinen andere Maßnahmen sehr
viel näherzuliegen (Wechsel des Arbeitsplatzes, Auflösungsvertrag, infor
melle Vereinbarungen, Erwerbsunfähigkeitsrente usw.). Vom BEM schei
nen viele keine genauen und im Hinblick auf ihren Fall keine konkreten
Vorstellungen zu haben, sodass sie mit diesem nicht immer Hoffnungen
und Erwartungen verbinden können. Manchmal nehmen sie eher das Be
drohliche wahr: als Gefährdung verstandene Fürsorge, die »Vorladung« vor
ein mehrköpfiges Gremium.
Ein zweiter Eindruck wird von unserem Schlaglicht nahegelegt. Wenn
das Thema »Wiedereingliederung« in unseren Gesprächen thematisiert
wurde – und dies geschah manchmal auch in allgemeinerer Weise, ohne
Bezug auf den eigenen Fall –, dann wurde hierunter fast immer die Arbeits
zeitverkürzung im Rahmen der stufenweisen Wiedereingliederung ver
standen. Zugespitzt kann man sagen: Für viele ist Wiedereingliederung
Arbeitszeitverkürzung. Hier deutet sich ein scheinbar einfaches Agreement
an: Für den Arbeitgeber kann es attraktiv sein, wenn bei einer Reduzierung
der Arbeitszeit das »Entgelt« (als Krankengeld) von der Krankenversiche
rung bezahlt und damit das Risiko für ihn minimiert wird.
Für den erkrankten Beschäftigten verspricht diese Art der Wiederein
gliederung immerhin eine konkrete, fassbare Maßnahme, die dem Arbeit
geber keine größeren Kosten verursacht und den Beschäftigten nicht
moralisch verpflichtet. Das spricht keineswegs gegen das Instrument der
stufenweisen Wiedereingliederung, aber es macht auf die Gefahr aufmerk
sam, dass dadurch andere, langfristig möglicherweise nachhaltigere Maß
nahmen aus dem Blick geraten und das BEM in den Hintergrund rückt.
279
Stephan Voswinkel
6. Schnittstellenprobleme zwischen Klinik und Betrieb
Ein zentrales Thema unserer Gespräche mit den BEM-Beteiligten war das
Verhältnis zwischen Kliniken und Betrieb. Dabei ging es besonders um
die Erfahrungen, die aus der Perspektive des BEM mit dem Übergang von
einem Aufenthalt psychisch Erkrankter in einer Klinik in den Betrieb und
mit dem Austausch zwischen Betrieb und Klinik allgemein gemacht wurden. In nahezu allen Gesprächen wurden erhebliche Schnittstellenprobleme und Kooperationsdefizite deutlich. Ich konzentriere mich hier auf die
Schnittstelle zwischen Klinik und Betrieb, andere Defizite im Übergang
aus der Klinik werden in den Aufsätzen von Andreas Samus sowie von Rolf
Haubl und Ute Engelbach in diesem Buch angesprochen.
Zunächst muss unterschieden werden zwischen psychosomatischen
Kliniken wie denen, mit denen wir in unserem Projekt kooperiert haben,
und den Kliniken – in der Regel RehaKliniken –, mit denen größere Be
triebe oder Verwaltungen Kooperationsbeziehungen pflegen. Die Kliniken,
mit denen wir kooperiert haben, stehen nicht in derartigen Kooperations
beziehungen zu einzelnen Erwerbsorganisationen, und es handelt sich auch
nicht um RehaKliniken. Dementsprechend lassen sich die Erfahrungen
unserer Patienten auch nicht unmittelbar mit den nun hier dargestellten
Beziehungen zwischen Betrieben und Kliniken vergleichen.
Einige der Betriebe, in denen wir Gespräche mit BEMExperten geführt
haben, haben derartige Verbindungen zu (Reha)Kliniken aufgebaut. Aus be
trieblicher Sicht sollen damit verschiedene Ziele erreicht werden. Erstens sol
len die Beschäftigten einen schnelleren Zugang zu einem Klinikplatz erhal
ten. Zum Beispiel wird von einem Unternehmen ein Sonderkontingent von
Klinikplätzen mit höheren Vergütungssätzen in einer Klinik unterhalten.
Diese Verbindung wird erleichtert durch die Existenz einer Betriebskranken
kasse. Ähnliche Vereinbarungen gibt es auch zwischen diesem Betrieb und
einzelnen Therapeuten, mit denen ein schnellerer Zugang zu einem Thera
pieplatz ermöglicht wird. Nicht in der gleichen privilegierten Weise, doch
in der Orientierung ähnlich bestehen auch Kooperationen mit Kliniken bei
anderen Betrieben, mit deren BEMVertretern wir gesprochen haben.
Zweitens erhofft man sich von solchen Kooperationen einen besseren
Austausch zwischen Betrieb und Klinik. Es werde möglich, dass die Klinik
ärzte die Arbeitsplätze im Betrieb kennenlernen (etwa indem sie in einen
280
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Bergwerksschacht einfahren) oder doch zumindest durch die Häufung
von Patienten, die aus einem derartigen Betrieb kommen, auf die Dauer
ein besseres Verständnis von der betrieblichen Arbeitswelt bekommen.
Drittens erleichtere die Kooperation es zumindest grundsätzlich, das BEM
bereits während des Klinikaufenthalts vorzubereiten und während des Klinikaufenthalts im Kontakt zu bleiben.
Es komme in letzter Zeit häufiger vor, berichtet eine Betriebsärztin, dass Thera
peuten anrufen und »[…] sagen: Wir entlassen. Wir haben jetzt Herrn oder die
Frau Sowieso hier, und wir denken, wir müssen sie dann jetzt, wollen sie dann
entlassen. Und wie geht das dann bei Ihnen? Und wir hätten eigentlich gerne zum
Beispiel ’ne stufenweise Wiedereingliederung, oder mit dem Schichtdienst, das
geht ja überhaupt nicht, wie ist das denn, können Sie da nicht vielleicht? Und der
Patient hat gesagt, Sie können das (lacht) machen. Und dann sag ich: Das kann
ich so nicht, aber ich kann Ihnen mal berichten, wie das ist. Ich kann auch nur
nachfragen, ob man mal vorübergehend ’ne veränderte Situation machen kann.«
Diese Kooperationsbeziehungen sind zwar auf der einen Seite positiv zu
beurteilen, weil sie den Zugang zu Plätzen erleichtern und den Austausch
zwischen Betrieb und Klinik verbessern können. Aber zweifellos handelt
es sich um eine Verbesserung, die auf der Privilegierung von Großbetrie
ben beruht, die eine solche Kooperation ermöglichen können, denn die
Verbesserung des Zugangs ist natürlich letztlich eine Umverteilung von
Zugangschancen. Diese Praxis lässt sich dementsprechend grundsätzlich
nicht verallgemeinern.
Bemerkenswert ist nun aber, dass auch die BEMExperten in Betrieben
mit praktizierten Klinikkooperationen vehement über die mangelhafte Ko
operation zwischen Betrieb und Ärzten bzw. Therapeuten klagen. Diese
Kritiken, die sich nicht speziell auf psychische Erkrankungen beziehen, be
wegen sich auf verschiedenen Ebenen.
Zunächst wird beklagt, dass die Kontaktaufnahme seitens der Ärzte
und Therapeuten keineswegs selbstverständlich sei oder rechtzeitig erfol
ge. Es wird der Eindruck artikuliert, dass dies nicht als normaler Teil der
therapeutischen Aufgabe behandelt werde. Gravierender aber sind die oft
leidenschaftlich vorgetragenen Kritiken, in deren Zentrum das mangelnde
Verständnis der Kliniker von der Arbeitswelt steht – und dies auch im Falle
der enger vernetzten Betriebe. Die folgende Passage möge die Vehemenz
verdeutlichen:
281
Stephan Voswinkel
»Die Arbeitsplatzempfehlungen der Therapieeinrichtungen sind stellenweise
auch hanebüchen. Die machen sich auch oft – oft, nicht immer – wenig Mühe,
sich vorher auch mal, auch vielleicht so lange der noch dort ist, mit dem Betrieb
mal kurzzuschließen. Da kommen die Leute dann zurück mit so Empfehlungen:
Am Arbeitsplatz sollte keine hohe Konzentration und kein Stress vorherrschen!
Ah, doll, herzlichen Glückwünsch! (Einwurf einer anderen BEMBeteiligten:)
Und wenn’s geht, darf er auch nicht mehr schichten! Und der Mitarbeiter hat so
gar einen KontischichtArbeitsvertrag! (Einwurf des Betriebsarztes:) Oder braucht
einen neuen Vorgesetzten – hatte ich jetzt zwei! (Erster Redner:) Ehrlich? Das ist
aber schön! (Betriebsarzt:) Wie soll man das jetzt umsetzen? (Erster Redner:) Also
völlig losgelöst von jeder Realität. Aber wir basteln uns halt einfach mal zurecht,
und dann soll doch der Betrieb oder Mitarbeiter, den wir entlassen, mal schauen,
wie er das hinkriegt!«
Offenbar wird hier die eigene Realität als die Realität betrachtet. Die Rat
schläge oder Vorgaben der Ärzte werden im Maßstab der eigenen Hand
lungsmöglichkeiten und probleme beurteilt, und was in diesen Maßstab
nicht einzugliedern ist, wird als weltfremd abgetan.
In dem Gruppengespräch, aus dem ich hier zitiere, werden dann sinn
volle Vorschläge, wie man die Arbeitssituation in die Therapie hineinneh
men kann, mit einer Kritik daran verbunden, dass die Therapie an Fragen
ansetze, die mit der Arbeit nicht unmittelbar zu tun zu haben scheinen:
Die Therapeuten »geben sich aber auch wenig Mühe. Die könnten den Patienten,
der ja bei denen ist, mal fragen: Mal doch mal einen Dienstplan auf! Natürlich
können die nach der arbeitsvertraglichen Gestaltung fragen. Die könnten auch
fragen, was es sonst für Modelle gibt; das wissen die Leute ja alles.5 Bloß, wenn sie
nicht abgefragt werden, dann spucken sie es von sich aus ja nicht aus. Und man
kann ja auch den Werksarzt oder den Sozialdienst anrufen. Aber die kümmern
sich dann um die traurige Kindheitsgeschichte, ob der früher zu heiß gebadet
wurde!«
Ich habe diese Passage so ausführlich wiedergegeben, weil sie deutlich
macht, dass die Kommunikationsprobleme zwischen BEMBeteiligten und
Klinikern nicht allein auf fehlenden institutionellen Mechanismen der Ko
operation beruhen; denn gerade dieser Betrieb pflegt eine formalisierte Ko
operation mit einer Klinik. Vielmehr belastet fehlende Perspektivenüber
nahme auf beiden Seiten die Kooperation.
5 | Der Sprecher bezieht sich hier noch auf das Problem der Schichtarbeit.
282
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Während die Betriebsvertreter die Handlungsbedingungen und -logiken des Arbeitskontextes bei der Bewertung des Möglichkeitsraumes anlegen, beziehen sich die Kliniker auf die psychische Struktur des Patienten
und auf seinen Gesundungsbedarf. Beide Parteien legen die Logik ihres
jeweiligen Handlungskontextes bzw. ihres Teilsystems an. Wie auch andere
Studien aus verschiedenen Ländern zeigen (für einen Überblick vgl. Andersen/Nielsen/Brinkmann 2012), stellt das Gesundheitssystem und stellen
Ärzte und Therapeuten als dessen Akteure die Gesundung in den Vordergrund, während es dem Sozialversicherungssystem um eine baldige Rückkehr zur Arbeit geht. Die Betriebe wiederum betrachten den Fall unter
dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Störungen des Arbeitsprozesses
und von krankheitsbedingten Kosten.
Diese Selbstbezüglichkeit der Systeme lässt aber durchaus Spielraum
für eine gewisse Perspektivenübernahme. So können zum einen die Kliniker sich im Interesse der Gesundung deutlich machen, dass die erfolgreiche Reintegration wesentlich für eine nachhaltige Gesundung ist und dass
hierfür wiederum die Möglichkeiten des Arbeitskontextes berücksichtigt,
wenn auch keineswegs vorschnell als Handlungsgrenze hingenommen
werden müssen. Die Betriebsvertreter andererseits sollten den »Fall« nicht
nur in Bezug auf die Möglichkeiten der gegebenen Arbeitsorganisation betrachten, sondern die Erfordernisse einer Gesundung berücksichtigen, für
die unter Umständen auch die Beschäftigung mit der Biographie und der
Beziehungsgeschichte des Patienten ausschlaggebend ist.6
Eine wichtige Rolle könnten im Prinzip die Betriebsärzte bei der Vermittlung zwischen Betrieb und Klinik spielen, weil sie als »Übersetzer«
der jeweiligen »Sprache« und des jeweiligen Perspektivenhorizonts wirken
könnten (vgl. Funk 2011, S. 58 ff.; Glomm 2016). Dies scheint jedoch zu
mindest in den meisten Betrieben unserer Gesprächspartner noch sehr un
zureichend der Fall zu sein. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.
Zum einen ist die Position der Betriebsärzte im betrieblichen Zusam
menhang offenbar sehr unterschiedlich. Dies hat, so unsere Gesprächs
6 | Wie der Aufsatz von Sabine Flick in diesem Buch zeigt, lassen sich die zweifel
los hämischen Bemerkungen im zitierten Gruppengespräch über die biographi
schen Elemente der Therapie nicht nur als Ressentiment abtun, sondern korre
spondieren durchaus mit einer gewissen Dethematisierung der Arbeitswelt bei
vielen Therapeuten.
283
Stephan Voswinkel
partnerinnen, auch etwas mit der Person und dem Rollenverständnis der
Betriebsärzte zu tun. Viele Beschäftigte begegneten den Betriebsärzten mit
Misstrauen, das auch der Hinweis auf die ärztliche Schweigepflicht nicht
immer außer Kraft setzt. Sie werden als Vertreter des Arbeitgebers be
trachtet, vordergründig, weil sie auf dessen Gehaltsliste stehen, aber auch
deshalb, weil sie eine Doppelfunktion haben: Die Beschäftigten begegnen
dem Betriebsarzt das erste Mal im Zusammenhang mit der Eignungsunter
suchung im Einstellverfahren, in dem sie ihn als Gegner erfahren werden,
dem man möglichst wenige Hinweise auf gesundheitliche Beschwerden
geben sollte. Diese Zuschreibung wiederholt sich, wenn der Betriebsarzt
die Aufgabe wahrzunehmen hat, die »wirkliche« Arbeitsunfähigkeit zu
überprüfen. Dass er auch als jemand gesehen wird, an den man sich ver
trauensvoll bei gesundheitlichen Problemen wenden kann, muss sich der
Betriebsarzt erst erarbeiten.
Da wiederum verhielten die Betriebsärzte sich nach Darstellung von
Gesprächspartnerinnen sehr unterschiedlich. Manche kämen nie aus
ihrem Zimmer heraus, andere gingen durch den Betrieb und suchten das
Gespräch. Einige verhielten sich persönlich abweisend, anderen gelinge
es, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Ein besonderes Problem existie
re dort, wo es sich um externe Betriebsärzte handele, die nur zeitweise in
den Betrieb kämen, die Abläufe und Problemlagen auch nicht gut kennen
würden und im Betrieb weitgehend unbekannt blieben. Insgesamt scheint
der Betriebsarzt gerade bei psychischen Erkrankungen eine Randbedeu
tung zu haben. Dies dürfte auch mit seiner Qualifikation zu tun haben,
die meistens nicht im psychosomatischen Bereich liege, wenn auch hier bei
Fortbildungen zunehmend Fortschritte gemacht würden.7
Zum anderen aber ist auch das Verhältnis von Betriebsärzten und nie
dergelassenen Ärzten bzw. Therapeutinnen nicht unproblematisch. Ab
gesehen von Vorgaben der ärztlichen Schweigepflicht8 scheint auch die
Kommunikation zwischen Betriebsärztinnen und klinischen Ärztinnen/
7 | Die Rolle der Betriebsärzte muss nicht marginalisiert sein, wenn sich – wie in
einem unserer Großbetriebe – ein professioneller Werksärztlicher Dienst als zu
gleich pragmatische und kompetente Ansprechstation bei verschiedenen gesund
heitlichen Beschwerden und Problemen etabliert hat.
8 | Auch Mitteilungen aus der Klinik an die Betriebsärzte setzen die Befreiung
von der ärztlichen Schweigepflicht voraus.
284
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Therapeutinnen wenig ausgeprägt. Die Betriebsärzte führen Klage darüber, dass sie äußerst selten aus den Kliniken kontaktiert werden.
Die Arztbriefe aus den Reha-Kliniken seien »ja auch alle nach Schema F, und da
stehen ja auch nicht so viele neue Erkenntnisse meistens nicht drin. Außer dass sie
halt dann ein paar Tests gemacht haben und ich dann weiß, ist er jetzt wirklich
depressiv oder, ja, ist das halt Theater quasi, weil er vielleicht irgendwas erreichen
will«. So die Klage einer Betriebsärztin.
Eine weitere Einrichtung, die potenziell zur besseren Verzahnung von Betrieb und Kliniken beitragen könnte, scheint diese Rolle auch nicht ausfüllen zu können: Der Klinik-Sozialdienst. Nach Darstellung der Sozialarbeiterinnen, mit denen wir in den mit uns kooperierenden Kliniken
gesprochen haben, endet ihre Zuständigkeit mit dem Ende des Klinikaufenthalts. Eine nachsorgende Sozialarbeit sei in der Regel nicht vorgesehen.
Die Aufgaben der Klinik-Sozialarbeit konzentrierten sich auf sozialrechtliche Fragen, die Bearbeitung von Unterkunftsproblemen nach dem Klinikaufenthalt, Probleme nachstationärer pflegerischer Versorgung und even
tuell Vermittlungshilfe bei Rehabilitationen. Kontakte zu Arbeitgebern
kämen durchaus vor, seien jedoch viel basalerer Art: Bisweilen müsse man
nachfragen, ob der Patient seinen Arbeitsplatz noch hat, denn gerade de
pressive Patientinnen öffneten manchmal ihre Post nicht mehr.
Der Sozialdienst nehme auch schon einmal Kontakt zum Arbeitgeber
auf, um darauf hinzuweisen, dass nicht einfach gekündigt werden könne,
sondern die rechtlichen Formen einzuhalten seien und eine Kündigung im
konkreten Fall vermutlich unzulässig sei. Zum anderen werde manchmal
der Arbeitgeber kontaktiert, um (sozialversicherungs)rechtliche Fragen
bei der stufenweisen Wiedereingliederung zu besprechen. Kontakte im Zu
sammenhang mit einem BEM im Allgemeinen kämen hingegen nicht vor.
7. Schnittstellenproblem zwischen BEM
und Gefährdungsbeurteilung
Wir haben festgestellt, dass das Ziel des BEM darin gesehen wird, den er
krankten Arbeitnehmer wieder an seinen Arbeitsplatz zurückzubringen
und es ihm dort zu ermöglichen, seine Arbeit ohne Rückfall in die Er
krankung zu bewältigen. Ist dies nicht möglich, wird als zweitbeste Lösung
285
Stephan Voswinkel
eine Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz ins Auge gefasst. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat das Ziel des BEM etwas anders
nuanciert, indem es von der »Anpassung des Arbeitsplatzes« spricht.
Diese Differenz spricht den Unterschied zwischen einer gesundheits
orientierten Anpassung des Arbeitnehmers an die Bedingungen des
Arbeitsplatzes und einer gesundheitsorientierten Anpassung des Arbeits
platzes an. Vielfach ist dies nur ein Formulierungsunterschied, wenn etwa
einem Arbeitnehmer, der keine Lasten mehr heben kann, eine Vorrichtung
zur Unterstützung der Arbeit installiert wird. Gravierender ist die Diffe
renz jedoch dann, wenn die Anpassung des Arbeitnehmers durch eine zeit
weilige Arbeitszeitreduzierung erfolgen soll. In diesem Falle wird nämlich
nicht der Arbeitsplatz angepasst, indem belastende Bedingungen reduziert
werden, sondern der Arbeitnehmer wird diesen Bedingungen nur in ge
ringerem zeitlichem Umfang ausgesetzt. Diese Problematik betrifft gerade
auch psychische Erkrankungen.
In der unbestimmten Bedeutung der »Anpassung des Arbeitsplatzes« ist
aber noch ein weiterer Aspekt enthalten. Es geht nämlich um die Frage, ob
die Anpassung des Arbeitsplatzes sich auf den individuellen Fall des erkrank
ten Arbeitnehmers bezieht oder ob es um eine Anpassung des Arbeitsplat
zes an die gesundheitlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmerinnen insgesamt
geht. Ist Letzteres der Fall, so ist der betriebliche Arbeitsschutz angespro
chen, und zwar speziell das Instrument der Gefährdungsbeurteilung.
Inzwischen ist in § 5 Abs. 3, Punkt 6 Arbeitsschutzgesetz klargestellt,
dass eine Gefährdungsbeurteilung auch die »psychischen Belastungen bei
der Arbeit« einbeziehen muss. Das soll die Bedeutung psychischer Belas
tungen im Betrieb deutlich machen (BAuA 2014, S. 43). Allerdings ist der
Grad der Umsetzung in der Praxis bislang ernüchternd, denn nur in einer
Minderheit der Betriebe kann hiervon bislang die Rede sein (vgl. Becker et
al. 2011). Auch von unseren Gesprächspartnerinnen wird von einer noch
sehr unentwickelten Praxis bzw. von Implementationsprogrammen gespro
chen.
Hier soll aber ein anderer Gesichtspunkt interessieren: Inwieweit gibt
es eine Verzahnung zwischen BEM und Gefährdungsbeurteilung? Nebe
(2016) sieht im BEM im Einzelfall eine nachgeholte Gefährdungsbeurtei
lung, die auch dann erforderlich wäre, wenn eine institutionalisierte Ge
fährdungsbeurteilungspraxis im Betrieb nicht etabliert ist. Aber darüber
hinaus erkennt sie auch ein Potenzial des BEM, die Gefährdungsbeurtei
286
Betriebliches Eingliederungsmanagement
lung zu unterstützen. Eine Gefährdungsbeurteilung habe »ein hohes Abstraktionsniveau« und erfordere »von den beurteilenden Arbeitsschützern
sowie den betrieblichen Beteiligten ein hohes Maß an Vorhersehbarkeit«.
Hier »veranschaulichen die Einzelfälle in BEM-Prozessen konkret, nach Risiken und Schutzmaßnahmen zu suchen« (ebd., S. 195).
Das setzt eine institutionelle Verzahnung von BEM und Gefährdungs
beurteilung voraus. In diese Richtung bewegen sich die Fälle, in denen
das BEM auch personell mit dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement
insgesamt integriert wird. Erforderlich ist aber auch eine gedankliche Ver
zahnung. Davon kann in den Betrieben, in denen wir mit BEMBeteiligten
gesprochen haben, kaum die Rede sein.
Natürlich wäre es dafür aufseiten der Gefährdungsbeurteilung erst ein
mal nötig, überhaupt psychische Belastungen mit einzubeziehen. Im BEM
würde es aber außerdem voraussetzen, in den Betroffenen nicht nur den
Einzelfall und den Erfolg des BEM nicht nur im Ende von Fehlzeiten zu
sehen. Im Einzelfall müsste vielmehr das zumindest potenziell Beispielhaf
te gesehen werden. Das würde den Blick darauf richten, dass es nicht nur
um die Anpassung des Erkrankten an den Arbeitsplatz und auch nicht nur
um die besondere Anpassung des Arbeitsplatzes an den einzelnen Betrof
fenen gehen muss, sondern dass zumindest mit in den Blick genommen
wird, dass die Arbeitssituation insgesamt möglicherweise gesundheitsge
recht zu verändern wäre. Da psychische Erkrankungen nicht aus den ergo
nomischen Problemen des einzelnen Arbeitsplatzes, sondern eher, sofern
arbeitsbedingt, aus dem Gesamtzusammenhang einer Arbeitssituation re
sultieren, kann es also auch nicht einfach um die Veränderung des einzel
nen Arbeitsplatzes gehen.9
Die BEMAkteure orientieren sich aber nahezu ausschließlich an der
Situation des Einzelnen. Das ist auch nur zu verständlich, denn sie haben
es mit einem leidenden und bedürftigen Arbeitnehmer zu tun, für den eine
kurzfristige Lösung gefunden werden muss, was schwierig und anspruchs
voll genug ist. Es wäre aber sinnvoll, wenn das BEM und die BEMBeteilig
ten enger mit anderen Institutionen des betrieblichen Arbeitsschutzes ver
zahnt würden, um aus den anschaulichen Erfahrungen der BEMVerfahren
9 | In meinem Aufsatz über »Psychisch belastende Arbeitssituationen und die
Frage der ›Normalität‹« in diesem Buch finden sich hierüber einige Ausführungen
in Bezug auf unsere Erkrankungsfälle.
287
Stephan Voswinkel
Konsequenzen für die Gefährdungsbeurteilungen zu ziehen. Dem stehen
allerdings einige Hindernisse im Weg.
Da ist erstens wiederum das Problem der Schweigepflicht zu nennen,
die es zu Recht unmöglich macht, einzelne Erkrankungsfälle in einem ver
allgemeinernden Verfahren zu verwenden. Es müsste also bereits frühzei
tig eine Abstrahierung vom Einzelfall stattfinden.
Zweitens legen die Akteure der Gefährdungsbeurteilung aus verständ
lichen Gründen Wert darauf, zwischen psychischen Belastungen und psy
chischen Erkrankungen zu unterscheiden. Das ist zwar sachgerecht, weil
psychische Belastungen nicht nur zu psychischen, sondern auch zu physi
schen Erkrankungen (die natürlich als psychosomatische ohnehin nicht so
einfach voneinander zu trennen sind) führen können und weil psychische
Erkrankungen von Arbeitnehmern nicht nur aus psychischen Belastun
gen in der Arbeit resultieren müssen. Die Unterscheidung wird aber auch
deshalb betont, weil die Thematisierung psychischer Belastungen in der
Arbeit tabuisiert wird, wenn sie mit psychischen Erkrankungen identifi
ziert werden. So heißt es auch in den Erfahrungen und Empfehlungen der
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA):
»Indem deutlich wird, dass es bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Be
lastung nicht um psychische Störungen einzelner Personen, sondern um mög
liche Störungen etwa des Arbeitsablaufs oder der Kommunikation geht, kann der
für viele nebulöse oder auch negativ besetzte Begriff der psychischen Belastung
sprachfähig werden.« (BAuA 2014, S. 43)
In der Gefährdungsbeurteilung selbst gilt es verbreitet als Kennzeichen
einer »objektiven« Gefährdung, dass sie mehrere Arbeitnehmer betrifft. So
formuliert eine BEMBeteiligte eine mögliche Begründung dafür, dass eine
psychisch Erkrankte nicht an einem gefährdenden Arbeitsplatz eingesetzt
wird, folgendermaßen:
»Man kann natürlich, wenn man Arbeitsplätze so beschreibt, erst mal ganz allge
mein sagen: Das ist ein Arbeitsplatz, bei dem die Mehrheit der Mitarbeiter [Hervor
hebung durch Verf.], so wird man das wohl zum Schluss formulieren müssen, an
dem Punkt das und das erlebt und so und so reagiert, dass man dann sagt: Kann
man diesen kleinen Brennpunkt oder diese Situation, kann man die vielleicht für
diesen Mitarbeiter entschärfen? Muss man ihn auch unbedingt in diesem Punkt
einsetzen?«
288
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Diese Passage ist interessant, weil sie zwei Gedanken verbindet: Zum einen
bringt sie zum Ausdruck, dass nur dann von einem gefährdenden Arbeitsplatz ausgegangen werden kann, wenn »die Mehrheit der Mitarbeiter« von
den Belastungen betroffen ist. Und zum Zweiten wird die Berechtigung,
einen Erkrankten dort nicht weiterzubeschäftigen, nicht an seine eigene
Vulnerabilität gebunden, sondern an die »objektive« Gefährdung für die
Mehrheit der Mitarbeiter. Hier wird also eine Verzahnung von Gefähr
dungsbeurteilungs und BEMLogik in der Weise vorgenommen, dass der
Einzelfall psychischer Erkrankung der Logik objektiver, im Sinne mehr
heitlicher Gefährdung untergeordnet wird.
Aber so weit muss man gar nicht gehen, um festzustellen, dass die Ver
bindung von BEM und Gefährdungsbeurteilung erschwert wird, wenn die
Individuallogik des BEM im Kontrast steht zur Kollektivlogik der Gefähr
dungsbeurteilung.
Der Verzahnung steht aber auch die Deutung psychischer Erkrankun
gen entgegen, dass sie in erheblichem Maße, wenn nicht in der Mehrzahl
der Fälle im privaten Umfeld verursacht seien. Daher sei es fast nicht mög
lich, so ein anderer BEMExperte, eine Einschätzung psychischer Belas
tungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilungen zu geben. Denn jeder
Mensch komme jeden Tag mit einer anderen »psychischen Belastung von
zu Hause« zur Arbeit.
Insgesamt können wir also feststellen, dass BEM und Gefährdungsbe
urteilungen – soweit es sie überhaupt (für psychische Belastungen) gibt –
institutionell und vor allem in ihren jeweiligen Handlungslogiken mitein
ander kaum verbunden sind.
8. Fazit und Verbesserungsbedarf
Insgesamt, so kann man resümierend festhalten, zeigten sich in den Gesprä
chen ein hohes Engagement der BEMBeteiligten und ein oft weitreichen
des und einfühlendes Verständnis für die Zusammenhänge psychischer Er
krankungen. Das ist umso bemerkenswerter, als es sich ja überwiegend um
Laien auf dem Gebiet handelt und die psychischen Erkrankungen noch im
mer die Minderheit der Fälle gegenüber den BEMFällen mit somatischen
Erkrankungen bilden. Wenn hier im Folgenden einige Schlussfolgerungen
gezogen und Überlegungen für Verbesserungsbedarf angefügt werden, so
289
Stephan Voswinkel
ist dies nicht als Kritik an der Arbeit der BEM-Experten zu verstehen; vielmehr sollen strukturell verankerte Probleme aufgezeigt werden.
Hervorzuheben sind die Schnittstellenprobleme, die sich einerseits
zwischen Betrieb und Klinik, andererseits innerhalb der Betriebe zwischen
BEM und Gefährdungsbeurteilungen identifizieren lassen. Ihre Ursachen
sind in den Eigenlogiken der jeweiligen Teilsysteme angelegt; um sie zu
überwinden, bedarf es demzufolge institutioneller Vorkehrungen, die die
Berücksichtigung der Fremdlogiken der anderen Systeme zu einer Erfolgs
bedingung im eigenen System machen. Für die Seite der Kliniken wäre
es notwendig, darüber nachzudenken, wie man die Kommunikation mit
den BEMAkteuren zu einer regulären Anforderung an die Klinik machen
kann, ohne die Priorität der Gesundungsorientierung dabei zu gefährden.
Für die Seite der Betriebe bedarf es eines flexiblen, einzelfallgerechten Um
gangs mit der Zeitstruktur des BEM.
Die SechsWochenFrist muss fallbezogen behandelt werden; bei einer
längeren Erkrankung darf der Betroffene nicht aus dem Gedächtnis des
Betriebs gleiten. Und die potenzielle Unabgeschlossenheit psychischer Er
krankungen erfordert eine betriebliche Nachsorge auch über das formelle
Ende des BEM hinaus. Im Aufsatz von Rolf Haubl und Ute Engelbach,
»Raus aus der Klinik, rein ins Leben – Überlegungen zum Entlassungs
management nach stationärer psychosomatischpsychotherapeutischer Be
handlung« in diesem Buch werden hierzu einige Überlegungen vorgestellt.
Durchaus bedenkenswert ist der Vorschlag eines BEMBeteiligten, dass
auch in der Therapie systematisch die Arbeitsplatzsituation zur Kenntnis
genommen werden sollte. Eine Betriebsärztin schlägt vor, dass der Patient
vielleicht eine Arbeitsplatzbeschreibung mit in die Klinik nehmen solle,
um die Therapeuten zu veranlassen, die Arbeitssituation gleichwertig mit
der privaten Situation zum Gegenstand der Therapie zu machen.10
10 | Problematischer erscheint es demgegenüber, wenn in einem Betrieb dem Er
krankten »Anforderungsprofile« für Arbeitsplätze mit in die Klinik gegeben wer
den und die Klinik überprüfen soll, welche Fähigkeiten noch vorhanden sind und
wo Einschränkungen vorliegen bzw. welche Arbeitsplätze noch infrage kämen.
Dieses Verfahren ist auf somatische Erkrankungen ausgerichtet, scheint aber auch
bei psychischen angewandt zu werden. Auf diese Weise könnte der Klinikaufent
halt zu sehr zur Eignungsprüfung werden, und es könnten auch Probleme mit der
ärztlichen Schweigepflicht entstehen.
290
Betriebliches Eingliederungsmanagement
Zweifellos ist das Instrument der stufenweisen Wiedereingliederung sehr
nützlich, um die Erkrankten wieder an die Arbeit heranzuführen und dem
Arbeitgeber einen Anreiz zu bieten, rücksichtsvoll eine vorsichtige Arbeitsaufnahme zu akzeptieren. Zugleich zeigt sich aber, dass dieses Instrument
den komplexen Ursachen psychischer Erkrankungen und psychischer Belastungen in der Arbeit oftmals nicht gerecht wird. Viele Faktoren der Arbeit
(Probleme im Team und mit dem Chef, moralische Konflikte in der Arbeit,
entgrenzende Arbeitsformen usw.) und in der psychischen Struktur der Be
troffenen bleiben nämlich unverändert, sodass sie mit dem Ende der »Schon
phase« wieder virulent werden können, wenn sie nicht selbst verändert werden.
Die zu beobachtende Fixierung auf die schrittweise Wiedereingliede
rung und deren Reduzierung auf eine verkürzte, von der Krankenversiche
rung weitgehend finanzierte Arbeitszeit als das Instrument der Wiederein
gliederung, wie sie sowohl bei unseren Patienten als auch in den Kliniken
und teilweise auch in Betrieben festzustellen war, ist daher nicht unproble
matisch. Sie kann ein BEM nicht ersetzen, das sich mit den Bedingungen
des Arbeitskontextes insgesamt auseinandersetzt.
Eine Herausforderung bleibt es, das BEM institutionell und von der
Handlungslogik her in das betriebliche Gesundheitsmanagement zu inte
grieren. Mit anderen Worten: Wie kann das BEM zu einem Element der
Verhältnisprävention für den Arbeitskontext insgesamt gemacht werden?
Dies ist eng mit der Frage verbunden, wie die auftretenden psychischen
Erkrankungen thematisiert werden können, ohne zu Stigmatisierungen
und Etikettierungen beizutragen und natürlich ohne den berechtigten An
spruch der Betroffenen auf Diskretion und Schweigepflicht zu verletzen.
Deutlich wird in den Gesprächen mit den BEMBeauftragten, dass das
BEMVerfahren eine individualisierende Betrachtungsweise nahelegt. Weil
es darum geht, den Einzelnen wieder zu integrieren, seine Schwierigkei
ten – und zwar kurzfristig – zu verringern, weil die Empfehlungen aus den
Kliniken sich auf den Einzelnen richten, weil auch der Erkrankte selbst
Hilfe für sich erwartet und weil schließlich eine substanzielle Veränderung
der Arbeitssituation insgesamt als unmöglich und die aktuelle Arbeitspra
xis als im Grundsatz alternativlos gilt, resultiert eine Individualisierung
des Falles. Sie erscheint auch plausibel, weil eben nicht alle, sondern nur
Einzelne unter gleichen Bedingungen erkranken. Dieser Individualisie
rung kann nur entgegengewirkt werden, wenn es gelingt, das BEM zum
Bestandteil der betrieblichen Gesundheitsförderung insgesamt zu machen.
291
Stephan Voswinkel
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293
Raus aus der Klinik, rein ins Leben
Überlegungen zum Entlassungsmanagement nach stationärer
psychosomatisch-psychotherapeutischer Behandlung
Ute Engelbach und Rolf Haubl
Durch die Änderungen im § 39 des fünften Sozialgesetzbuches (SGB V)
wurde »Entlassungsmanagement« zu einem ausdrücklichen und einklag
baren Bestandteil einer Krankenhausbehandlung. Das Versorgungsstruk
turgesetz begründet darüber hinaus einen Anspruch von Patienten, pro
fessionelle Unterstützung bei der Nachsorge zu erhalten, insbesondere was
die Fortsetzung des in der Klinik begonnenen therapeutischen Prozesses
im ambulanten Bereich betrifft. Als Ziel für ein Entlassungsmanagement –
häufig dem Terminus »Pflegeüberleitung« gleichgestellt – gilt im Allgemei
nen, eine zeitige Rückkehr in das häusliche Umfeld zu ermöglichen, erfor
derlichenfalls mit ambulanter Pflege und Betreuung.
Für einen nahtlosen Übergang bedarf es einer umfassenden, frühzeitig
einsetzenden sektorenübergreifenden Planung, um die Kontinuität der Be
handlung und Betreuung sicherzustellen. Zwar bedürfen Patienten nach
einer psychosomatischpsychotherapeutischen Krankenhausbehandlung
zumeist keiner ambulanten Pflege oder Betreuung, trotzdem scheint eine
verbesserte Art der Hilfestellung vonnöten. Da die betroffenen Patienten
nach einem stationären oder teilstationären Klinikaufenthalt meist nicht
»geheilt«, sondern »antherapiert« entlassen werden, ist damit zu rechnen,
dass sich an der Schnittstelle die verbliebene psychische Vulnerabilität ma
nifestiert.
Entlassungsmanagement bei dieser Patientengruppe hat mindestens
drei Aspekte:
295
Ute Engelbach und Rolf Haubl
(a) weitere psychosomatisch-psychotherapeutische Versorgung des Patienten;
(b) seine alltägliche Lebensführung;
(c) seine Wiedereingliederung in die Erwerbsarbeit:
c.1: Rückkehr auf denselben Arbeitsplatz, gegebenenfalls mit veränderten Arbeitsbedingungen;
c.2: Rückkehr auf einen anderen Arbeitsplatz bei demselben Arbeitgeber;
c.3: Wechsel zu einem neuen Arbeitgeber;
c.4: Eintritt in eine kündigungsbedingte (vorübergehende) Arbeitslosigkeit und Arbeitssuche, wobei die Kündigung entweder durch
den Arbeitgeber oder durch den Arbeitnehmer erfolgt;
c.5: Ausscheiden aus dem Erwerbsleben: Frühberentung.
In unserer Untersuchung berichten die befragten Patienten vor allem über
Schnittstellenprobleme zwischen Klinik und ambulanter Therapie (a) sowie zwischen Klinik und Rückkehr an den Arbeitsplatz (c.1, c.2). Vor dem
Hintergrund dieses Befundes soll im Folgenden über idealtypische Lösungen dieser Probleme nachgedacht werden.
1. Die weitere psychosomatisch-psychotherapeutische
Versorgung des Patienten
1.1 Probleme an der Schnittstelle ambulant/stationär
Die Abgrenzung zwischen stationärer und nicht stationärer Behandlung
ist im deutschen Recht fest verankert. Ein Krankenhaus darf lediglich in
einem engen gesetzlichen Rahmen vorstationär (fünf Tage vor Aufnahme)
und nachstationär (zwei Wochen nach Entlassung) behandeln. Eine mögliche Entschärfung der daraus resultierenden Schnittstellenproblematik
könnte darin bestehen, diese strikte Abgrenzung zu lockern und die vorund nach-stationären Behandlungsmöglichkeiten für die Therapeuten in
den Kliniken auszuweiten. Ebenfalls sollte es für psychosomatische Krankenhäuser und Abteilungen die Möglichkeit geben, Ambulanzen ähnlich
den Psychiatrischen Institutsambulanzen einzurichten.
Dies böte für viele Patienten eine Chance auf eine nachhaltigere Versorgung, besonders dann, wenn sie kurzfristige therapeutische und ärztliche
296
Raus aus der Klinik, rein ins Leben
Untersuchungen und Behandlungen benötigen oder aufgrund erschwerender Umstände keinen niedergelassenen Behandler finden. Eventuell könn
te auch eine sektorenintegrierende Versorgung geleistet werden. Die Mög
lichkeit zur Einrichtung psychosomatischer Institutsambulanzen wurden
durch die Veränderungen im Rahmen des PEPPEntgeltsystems1 eingeleitet
und bereits gesetzlich verankert (§ 118 Abs. 3 SGB V).
Idealerweise hat der Kliniktherapeut seinen Patienten über dessen (mög
liche) Anschlussbehandlungen gut informiert (kognitiv) und die Trennung
von ihm besprochen (emotional). Kehrt ein Patient zu seinem ambulanten
Therapeuten zurück, der ihm den Klinikaufenthalt empfohlen hat, oder
steht der ambulante Therapeut bereits fest, der die Nachbehandlung über
nimmt, wäre ein gleitender Übergang denkbar: Der Patient nimmt die
Nachbehandlung bereits auf, während die stationäre oder teilstationäre
Therapie noch läuft (vgl. Huber 1997).
Konkurrenzthemen, die zwischen der Klinik und dem niedergelasse
nen Therapeuten bestehen könnten, sollten antizipiert und reflektiert wer
den. So haben niedergelassene Psychotherapeuten abgeschlossene Weiter
bildungen, oft viele Jahre Berufserfahrung, während in Kliniken zum Teil
weniger erfahrene Kollegen tätig sind. Dafür wähnen diese sich auf dem
neuesten wissenschaftlichen und behandlungstechnischen Stand, während
aus ihrer Sicht die niedergelassenen Therapeuten von überholtem Wissen
zehren. Während Kliniktherapeuten die Patienten den ganzen Tag erleben,
zudem die Möglichkeit haben, die verschiedenen interdisziplinären Sicht
weisen zu integrieren, sehen die Psychotherapeuten im ambulanten Be
reich aufgrund des Settings die Patienten nur eine, selten mehrere Stunden
pro Woche. Dafür erleben niedergelassene Therapeuten die Patienten un
mittelbar in deren Alltag und über einen längeren Zeitraum, was es ihnen
erlaubt, Verläufe zu rekonstruieren und zu berücksichtigen.
Offensichtlich gibt es konträre Auffassungen über die geeigneten Be
handlungsmethoden, ob eher methodenzentriert oder patienten und pro
blemzentriert, und ebenfalls darüber, welche Thematik in der Klinik fokus
siert werden soll.
»Sie reichen von ›Vergangenheit aufarbeiten‹ bis hin zur Beschränkung auf die
Stabilisierung in der aktuellen Konfliktsituation. Niedergelassene Kollegen sagen
1 | PEPP: Pauschalierende Entgelte Psychiatrie und Psychosomatik.
297
Ute Engelbach und Rolf Haubl
beispielsweise: Aus einer bestimmten Klinik kommen die Patienten in einem
offenen, gut ansprechbaren Zustand, man kann mit ihnen ambulant sehr gut
weiterarbeiten. Über eine andere Klinik sagen sie: Von dort kommen Patienten
sehr regrediert und durcheinander, das gehört wohl zu deren Konzept […] Oder
sie beklagen sich über den ›Psychojargon‹ und rationalisierende PseudoEinsich
ten, die Patienten während des Klinikaufenthalts annähmen.« (Piechotta 2000,
S. 31 f.)
Hinter all diesen wechselseitigen Zuschreibungen kann sich eine grund
legende Konkurrenz der Professionellen verbergen, wer von ihnen den Pa
tienten letztlich besser beurteilen und behandeln kann.
1.2 Die Realität der Wartezeiten
Die Wartezeit auf ein ambulantes psychotherapeutisches Erstgespräch unter
scheidet sich laut einer Untersuchung der Bundestherapeutenkammer in
den verschiedenen Bundesländern und zwischen Stadt und Land erheb
lich. In Deutschland müssen über 70 Prozent der Patienten aufgrund der
Auslastung psychotherapeutischer Praxen länger als drei Wochen warten,
fast ein Drittel muss Wartezeiten von über drei Monaten hinnehmen. Mit
längerer Dauer der Wartezeit steigt der Anteil der Therapiebedürftigen, die
die Behandlung gar nicht erst beginnen. Sehr lange Wartezeiten erhöhen
das Risiko der Progression oder des Rezidivs einer psychischen Erkran
kung (BPtK 2011).
Um unzumutbar lange Wartezeiten zu vermeiden, wäre eine Klinik
idealerweise in ein Versorgungsnetzwerk eingebunden, das über Kontak
te zu relevanten Nachsorgeangeboten verfügt, die sich durch Erfahrung
bewährt haben. Denkbar sind ambulante psychotherapeutische Angebote,
wie eine poststationäre Einzeltherapie oder eine poststationäre Kurzzeit
Gruppenpsychotherapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten
(vgl. von Hacht 2016) oder eine poststationäre Selbsthilfegruppe oder eine
PCgestützte Minimalintervention (vgl. Bauer/Golkaramnay/Kordy 2005).
Eine unmittelbar an den Klinikaufenthalt anschließende poststationäre
Versorgung könnte auch durch die Einrichtung einer psychosomatischen
Institutsambulanz gewährleistet werden, für deren Realisierung wir bereits
oben eingetreten sind.
Freilich gibt es Patienten, die partout keinen ambulanten Psychothera
peuten finden oder keinen, der ihnen passt. Das kann Ausdruck einer un
298
Raus aus der Klinik, rein ins Leben
bewältigten Trennung von der Klinik bzw. dem Kliniktherapeuten sein –
entweder depressiv gefärbt, zum Beispiel, weil der Patient die Angst hat, ein
»gutes Objekt« auf immer zu verlieren, weshalb er sich als ein Leidender
darstellt, der (noch längst) nicht entlassen werden darf, oder mit der aggres
siven Botschaft, verstoßen worden zu sein.
1.3 Wie eine Entlassung erfolgreich managen?
Die Durchführung eines expliziten Entlassungsmanagements im Hinblick
auf die weitere psychotherapeutische Versorgung erfolgt, soweit bekannt,
bisher eher selten. Was wäre wünschenswert?
•
•
•
•
•
•
In der Klinik wird die poststationäre Zeit, einschließlich einer ambulan
ten Weiterbehandlung, gemeinsam antizipiert.
Der Klinikpsychotherapeut spricht mit dem Patienten den erzielten
Therapieerfolg sowie den Arztbrief, der deshalb auch entsprechend ver
ständlich und nachvollziehbar geschrieben ist, durch.
Der Klinikpsychotherapeut kennt die infrage kommenden ambulanten
Psychotherapeuten so weit, dass er eine begründete, auf den konkreten
Patienten zugeschnittene Empfehlung geben kann.
Gegebenenfalls bereitet er den Patienten auf eine mehr oder weniger
lange Wartezeit vor.
In der Regel nimmt der Klinikpsychotherapeut dem Patienten nicht die
Verantwortung ab, sich selbst um einen ambulanten Therapieplatz zu
kümmern. Eine Rundumversorgung würde die Regression fortsetzen,
die während des Klinikaufenthalts stattgefunden hat.
Soweit möglich, wird gemeinsam durchgearbeitet, wie ein Patient seine
Entlassung erlebt: mit oder ohne Einsicht in seine »Störung«, die ihn
in die Klinik gebracht hat; als Zutrauen seines Therapeuten in seine er
zielten therapeutischen Fortschritte; als Ohnmacht seines Therapeuten,
ihm wirksam zu helfen; als Flucht aus der Klinik, um sich nicht weiter
mit sich beschäftigen zu müssen; als (gemeinsame) Empörung über die
Kasse, die nicht bereit ist, eine notwendige Verlängerung des Klinikauf
enthalts zu finanzieren; als schmerzlicher Verlust von Halt gebenden
Beziehungen.
299
Ute Engelbach und Rolf Haubl
2. Wiedereingliederung in die Erwerbsarbeit
Die Rückkehr an den Arbeitsplatz oder auf eine andere Stelle beim selben Arbeitgeber nach einem längeren Klinikaufenthalt geschieht häufig
im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung. Wie wichtig deren
Gestaltung ist, wird außer durch unsere Ergebnisse auch durch den Befund
belegt, dass bei einem Viertel bis einem Drittel der Patienten mit psychi
schen Erkrankungen der Wiedereingliederungsversuch in dem Sinne miss
lingt, dass es zu einer erneuten Symptombildung sowie krankheitsbeding
ten Fehlzeiten kommt (vgl. Prang et al. 2016).
Ein anderes Schnittstellenproblem respektive eine Herausforderung
stellt die in Deutschland unterschiedliche Finanzierung der Leistungen
dar. Während eine ambulante, stationäre und teilstationäre Versorgung
eine Krankenkassenleistung ist, stellen – mit Ausnahme ausgewählter Pro
gramme betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF) – Psychoedukation,
Überlastungserkennung sowie die individuelle Unterstützung im Betrieb
durch Betriebsärzte oder psychosoziale Dienste keine solche Leistung dar.
Die Wiedereingliederung dagegen betrifft wiederum das Ressort der Kran
kenkasse oder der Rentenversicherungsträger (vgl. Berger et al. 2013). Eine
Sektoren integrierende Begleitung und Betreuung wird so erschwert. Ab
hilfe könnte die Einrichtung einer zentralen Institution sein, die alle Maß
nahmen koordiniert und alle relevanten Informationen sammelt.
2.1 Vorbereitung in der Klinik auf eine Wiedereingliederung
Der Prozess der Wiedereingliederung nach stationärer psychosomatischpsy
chotherapeutischer Behandlung beginnt streng genommen in der Klinik.
Ähnlich der gemeinsamen Antizipation einer zukünftigen ambulanten Wei
terbehandlung wäre auch eine frühzeitige gemeinsame Antizipation der zu
erwartenden Arbeitsplatzbedingungen wichtig. Ob und wie eine solche Anti
zipation gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Relevanz die Klinik
und/oder der einzelne Kliniktherapeut der Erwerbsarbeit als psychogenem
Faktor beimessen. In dieser Hinsicht besteht ein deutlicher Nachholbedarf.
So verknüpfen Therapeuten die Arbeitsplatzprobleme, die ihre Patienten
berichteten und deren Depression mit verursacht haben könnten, vorschnell
mit innerpsychischen Konflikten oder Partnerschaftskrisen. Zugespitzt for
muliert: Die Thematisierung von erwerbsarbeitsbezogenem Leiden wird ver
300
Raus aus der Klinik, rein ins Leben
nachlässigt (vgl. Matakas/Rohrbach 2005 sowie den Aufsatz von Sabine Flick,
»›Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen‹ – Deutungen und
Umdeutungen von Erwerbsarbeit in der Psychotherpapie« in diesem Buch).
Dem geht eine entsprechende Vernachlässigung von Erwerbsarbeit in
den Ausbildungscurricula von Psychotherapeuten voraus. Die Aussicht auf
ein gesundheitspolitisches Engagement, das Psychotherapeuten veranlasst,
ihre professionellen Kompetenzen einzubringen, um sich und ihre Stan
desorganisationen als Sprachrohr gegen krank machende Arbeitsbelastun
gen zu positionieren, erscheint so zusätzlich erschwert.
Zieht man eine Metaanalyse zu der Wirkung arbeitsplatzbezogener
Interventionen bei Patienten mit Depressionen oder Angststörungen zu
rate (vgl. Joyce et al. 2016), dann zeigt sich, dass spezifische ReturntoWork
Programme im Vergleich mit einer ausschließlich psychotherapeutischen
Behandlung, zum Beispiel in puncto einer Verringerung von Absentismus
sowie einer Steigerung der Produktivität, deutlich überlegen sind. So ge
sehen, erscheint eine isolierte symptomorientierte Psychotherapie nicht die
beste aller Maßnahmen zu sein.
Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Annahme, ein erkrankter Mit
arbeiter müsse erst vollständig »geheilt« sein, bevor es Erfolg verspreche,
seine Wiedereingliederung zu betreiben, legen solche Befunde nahe, be
reits in der Therapie spezifische arbeitsplatzbezogene Belastungen zu iden
tifizieren und nach individuell geeigneten Bewältigungsstrategien zu su
chen. Dabei kann es zu sekundären Konflikten kommen, etwa dann, wenn
eine depressive Symptomatik schneller zurückgeht, als die Arbeitsfähigkeit
zunimmt. Wird eine solche Ungleichzeitigkeit missachtet, sind Enttäu
schungen vorprogrammiert, sowohl bei dem einzelnen Arbeitnehmer als
auch bei seinem Arbeitgeber – Enttäuschungen, die erneut die Belastun
gen erhöhen und unter Umständen zu einem Rezidiv führen (vgl. Prang
et al. 2016). In Anbetracht von Prozessen dieser Art ist es dringlich, sich
frühzeitig darauf einzustellen, wobei die Empfehlung lautet, Therapie und
Wiedereingliederung nicht zu separieren, sondern so weit wie möglich zu
integrieren (vgl. Henderson et al. 2011).
2.2 Zusammenarbeit von Gesundheitssystem und Betrieb
In den letzten Jahren sind erste integrative Projekte als effektiv evaluiert
worden: Eine maximal acht Stunden dauernde »Psychosomatische Kurz
301
Ute Engelbach und Rolf Haubl
zeittherapie« wurde zum Beispiel als niedrigschwelliges Versorgungsangebot mit einzelnen Betrieben der metallverarbeitenden, der pharmazeutischen Industrie sowie der Versicherungswirtschaft und kooperierenden
Krankenkassen konzeptualisiert. Neben der Entwicklung eines stabilen
therapeutischen Arbeitsbündnisses und der diagnostischen Einschätzung
der präsentierten Beschwerden stellen deren fokaltherapeutische Behandlung bzw. die Überleitung in ein weiterführendes Setting oder in eine problemlösende Unterstützung vor Ort, auch bei einer Wiedereingliederungsmaßnahme, zentrale Bausteine dar (vgl. Hölzer 2012).
Es ist ein »restriktives Modell« denkbar, in dem allein der Betriebsarzt die Indikation zur »Psychosomatischen Sprechstunde« stellt und so
zu einem zentralen Akteur wird, oder ein »liberales Modell«, bei dem alle
Beschäftigten unabhängig von ihrem aktuellen Bedarf über das Angebot informiert werden und es nachfragen können, sobald ein Bedarf entsteht (vgl.
Preiser/Wittich/Rieger 2015). Die Sprechstunden sind ein niedrigschwelliges Angebot, das sich bereits für arbeitsplatzbezogene, aber auch private
bzw. persönlichkeitsimmanente Probleme bewährt hat (vgl. Rothermund
et al. 2014).
Derartige Sprechstunden werden in den Betrieben, je nach Modellprojekt, maximal zwischen ein und fünf Stunden pro Patient angeboten.
Generell belegen die Bewertungen eine hohe Zufriedenheit; grundlegende
Kritik wurde kaum geäußert. Eine Schwierigkeit besteht allerdings in der
bisherigen ausschließlichen Finanzierung dieser modellhaften Angebote
durch die Arbeitgeber, die zumindest zu gewissen Teilen Versorgungsbereiche der Regelversorgung mit abdecken (vgl. Preiser/Wittich/Rieger 2015).
Jenseits solcher Modellprojekte ist in Deutschland ein »Betriebliches
Eingliederungsmanagement« (BEM) implementiert, als dessen häufigste
Maßnahmen beruflicher Integration – so der Forschungsbericht des Bun
desministeriums für Arbeit und Soziales – die stufenweise Wiedereinglie
derung, die Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz, die Verbesserung
der technischen Ausstattung, die Organisation eines Arbeitsversuches und
die Verringerung der Arbeitszeit genannt werden (vgl. Niehaus et al. 2008).
Psychotherapeutische Unterstützung findet keine Erwähnung, psychologi
sche ausschließlich im Sinne der Primärprävention.
Voswinkel (2016) verweist in diesem Zusammenhang auf die bestehen
den Dilemmata, in denen sich die Akteure des BEM insbesondere im Fal
le psychischer Störungen befinden (vgl. hierzu den Aufsatz von Stephan
302
Raus aus der Klinik, rein ins Leben
Voswinkel, »Betriebliches Eingliederungsmanagement: Verfahren und Problemsichten« in diesem Buch). Zentral ist die Handhabung sensibler Informationen.
»Man kann die Arbeit von der privaten Person nicht trennen; Betroffene müss
ten eigentlich ihre private Situation transparent machen, um ihr Verhalten in der
Arbeit verständlich zu machen. In einer entgrenzten Arbeitswelt mit hohen An
teilen subjektivierter Arbeit gilt dieser Zusammenhang umso mehr […] psychi
sche Belastung durch die Arbeit [wird] erst im Gesamtzusammenhang der psychi
schen Struktur der Einzelnen verständlich.« (Voswinkel 2016, S. 227)
Grundsätzlich erscheint eine Zusammenarbeit von Betriebsärzten und
Psychotherapeuten vielversprechend. So gibt es Hinweise, dass ein funk
tionierender Konsiliardienst die Zeit bis zur Rückkehr an den Arbeitsplatz
verkürzen und Chronifizierungen vorbeugen kann (z. B. van der FeltzCor
nelis et al. 2010).
Im psychiatrischen Kontext wird in den letzten Jahren ein vor allem aus
dem englischsprachigen Raum stammendes Modell erprobt, das als »Peer
Begleitung« bekannt geworden ist. Menschen mit schweren psychischen
Erkrankungen erhalten einen Begleiter zur Seite gestellt, der kognitive,
emotionale und praktische Unterstützung bietet. Dieser »Genesungsbe
gleiter« ist ein ehemaliger Patient, der entsprechend geschult wurde und
gegebenenfalls sogar entlohnt wird. Erste Erfahrungen mit diesem Modell
sind positiv (vgl. Bock et al. 2015). Lässt sich ein solches Modell auf die
innerbetriebliche Gesundheitsfürsorge übertragen?
3. Utopie für einen gesünderen Wiedereinstieg
in die Erwerbsarbeit
3.1 Nicht nur eine Frage der Arbeitszeit
Arbeitnehmer, die nach einem Klinikaufenthalt zurückkehren, mögen so
weit wiederhergestellt sein, dass sie sofort oder in absehbarer Zeit arbeits
fähig sind. Das heißt freilich nicht, dass auch schon alle innerpsychischen
und vor allem auch die arbeitsplatzbedingten Belastungen beseitigt wären,
die zu der krankheitswertigen berufsbiographischen Krise geführt haben.
Insofern dürfte eine ideale Wiedereingliederung nicht bei Arbeitszeiten ste
hen bleiben. Ob sie mehr sein kann, hängt davon ab, ob im Unternehmen
303
Ute Engelbach und Rolf Haubl
eine Vertrauenskultur besteht. Das heißt: Soll eine Wiedereingliederung
mehr sein als eine formelle Maßnahme, die ritualisiert durchgeführt wird,
muss ein Arbeitnehmer bereit sein, zu enthüllen, was ihn im Hinblick auf
seine Arbeit wirklich bewegt. Das schließt Kritik an den Arbeitsbedingungen ein, die ihn überfordert haben.
Eine solche Selbstenthüllung setzt ein Setting voraus, das dem Arbeitnehmer hinreichend Schutz davor bietet, dass gegen ihn verwendet wird,
was er über sich, den Betrieb und seinen Arbeitgeber berichtet. Wer kann
den notwendigen Schutz bieten? Geht man davon aus, dass ein Unternehmen ein Wiedereingliederungsteam unterhält, dann ist es geboten, ihm
die Aufgabe zu übertragen, ein Vertrauen gewährleistendes Setting zu gestalten. Größe und Zusammensetzung des Teams gehören zu den Erfolgsfaktoren. Denn der Arbeitnehmer darf nicht das Gefühl bekommen, er
müsse sich wegen seiner Überforderung, durch die er krank geworden ist,
rechtfertigen.
Die Kompetenz, ein entsprechendes Setting zu gestalten, kann bei den
Mitgliedern eines Wiedereingliederungsteams nicht wie selbstverständlich
vorausgesetzt werden. Vielmehr bedarf es der Schulung einer Gesprächsführung, die dem Anlass angemessen ist, was nicht zuletzt heißt, auf offene und versteckte Disziplinierungsversuche zu verzichten, aber auch die
Grenze einzuhalten, die zwischen einer betrieblichen Unterstützung und
einer therapeutischen Intervention verläuft. Folglich bedarf es einer Professionalisierung der Maßnahme.
3.2 Neue Wege innerbetrieblicher Gesundheitsfürsorge
Noch wenig erprobt, aber vielversprechend ist das Modell eines betriebsinternen Netzwerks von (geschulten) »Gesundheitsmentoren« (oder auch
»Gesundheitscoaches«). Es sollte dem Wiedereingliederungsteam unterstellt sein, das die Aufgabe übernimmt, Mentoren und Mentees zusammenzuführen. Freiwilligkeit ist dabei ein Muss. Ebenso eine Haltung, die
man bedingte Parteilichkeit nennen könnte. Bedingt deshalb, weil sich
der Arbeitnehmer zwar auf die Verschwiegenheit seines Mentors verlassen
können muss, aber nicht erwarten darf, dass dieser ihm Konfrontationen
erspart, wenn sie angezeigt sind: Der Mentor garantiert seinem Mentee keinen kritiklosen Schonraum, sondern ist einer realistischen Einschätzung
der Ursachen verpflichtet, die den Arbeitnehmer psychisch belasten, seien
304
Raus aus der Klinik, rein ins Leben
es Ursachen, die in den Arbeitsbedingungen liegen, oder solche, die auf seine weiter bestehende psychische Vulnerabilität zurückzuführen sind. Positiv formuliert, hilft er, individuelle Selbstfürsorgestrategien zu entwickeln,
die Lehren aus der Vergangenheit ziehen und fortan präventiv wirksam
werden. (Vgl. dazu auch Haubl 2013.)
Verfügen Arbeitgeber über ein entsprechendes Mentorennetzwerk,
dann können sie es für Personalentwicklung nutzen. Kontinuierliche
Netzwerktreffen würden dann zu Orten innerhalb einer »lernenden Orga
nisation«, an denen sich anhand von kumulierten Einzelfällen spezifisches
praxisrelevantes Wissen über arbeitsbedingte Risiken für die psychische
Gesundheit und deren Verringerung gewinnen lässt.
Literatur
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BEM – Betriebliches Eingliederungsmanagement. Frankfurt am Main:
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307
Ausblick
Zum Abschluss eines jeden Forschungsprojektes stellt sich die Frage nach
dem Erkenntnisgewinn und daraus resultierenden möglichen Handlungsempfehlungen.
I.
Viele der Patienten, die wir in unserer Untersuchung befragt haben, berichten, dass sich der Leistungsdruck an ihren Arbeitsplätzen in den letzten Jahren deutlich erhöht habe und zu einem psychopathogenen Faktor
geworden sei. Die meisten der von uns befragten Klinikärzte und Therapeuten teilen diese Sicht. Freilich sind es subjektive Wahrnehmungen, die
dabei zur Sprache kommen, und noch keine belastbaren epidemiologische
Statistiken.
Wie valide diese Wahrnehmungen sind, sei dahingestellt. Ebenso die
makrosoziologische These, die den »Kapitalismus« als Ursache einer Zunahme von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen feststellen zu können glaubt. In unserem Forschungsprojekt neigen wir dieser
These zwar zu, ohne aber zu verkennen, wie voraussetzungsvoll ihre Überprüfung ist. Denn »Kapitalismus« lässt sich methodisch nicht einfach, vielleicht sogar gar nicht operationalisieren. So ist es nie der »Kapitalismus«,
der psychisch krank macht, sondern es sind konkrete Arbeitsbedingungen,
die manche Arbeitnehmer überfordern, andere nicht.
Wenn sich zum Beispiel empirisch zeigt, dass für Arbeitnehmer die
Wahrscheinlichkeit zunimmt, an einer Depression zu erkranken, je größer
die Differenz zwischen ihren verausgabten Kräften und ihren Gratifikatio
nen ist, dann hat dies so lange nichts mit »Kapitalismus« zu tun, wie nicht
nachgewiesen werden kann, dass diese psychopathogene Faktorenkonstel
309
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
lation in kapitalistischen Gesellschaften signifikant häufiger vorkommt als
in Gesellschaften eines anderen – welchen? – Typs!
Ob sich die Makrothese überhaupt angemessen empirisch überprü
fen lässt, wäre zu diskutieren. Sieht man von dem gesellschaftskritischen
Diskurs ab, der die verfügbaren empirischen Daten in die eine oder an
dere Richtung extrapoliert, dann laufen die Erfahrungen in unserem For
schungsprojekt auf einen bescheideneren, aber praktisch relevanteren Be
fund hinaus:
Arbeitsplatzbedingte krankheitswertige psychische Belastungen treten
gegenwärtig in vielen Gesellschaften (kapitalistisch oder nicht) in einer
besorgniserregenden Häufigkeit auf, gleich, wie groß die Häufigkeit in
früheren Zeiten (wann?) war. Da psychische Erkrankungen nicht nur das
subjektive Wohlbefinden, sondern auch die Produktivität und Kreativität
beeinträchtigen, individuell wie gesellschaftlich, ist es geboten, sich mit
dem Zusammenhang von Erwerbsarbeit und Psyche zu befassen. Nicht zu
letzt auch deshalb, weil die WHO die Schaffung von salutogenen Arbeits
plätzen als einen ihrer Leitwerte proklamiert.
Vor diesem Hintergrund haben wir an exemplarischen Fällen unter
sucht, ob die beteiligten sozialen Akteure (Patienten, Klinikärzte und The
rapeuten, Versicherungen, Arbeitgeber, Personal und Betriebsräte, Vorge
setzte und Kollegen) einen Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen
und krankheitswertigen psychischen Belastungen wahrnehmen und wie
sie ihn thematisieren. Auch wenn wir aufgrund der methodischen Anlage
unserer Untersuchung keine repräsentativen Aussagen machen können, so
unterstreicht sie zumindest die Notwendigkeit, die subjektive Bedeutung
von Erwerbsarbeit als salutogenem Faktor in den Blick zu nehmen, und
erlaubt es zudem, Desiderate auszumachen.
II.
Unsere Untersuchung gibt Anlass zu der Vermutung, dass es Klinikärzten
und Therapeuten sowohl konzeptionell als auch praktisch nicht leichtfällt,
die Themen Erwerbsarbeit und private Lebensgeschichte der Patienten
befriedigend zu integrieren, auch dann, wenn der Klinikaufenthalt einen
deutlichen Arbeitsbezug hat. Zwar trifft es zu, dass sich beide Faktoren
cluster oft nur schwer trennen lassen, die Unterstellung, man müsse auf
310
Ausblick
pathogene subjektive Strukturen der Erkrankten fokussieren, um Erfolg
versprechende therapeutische Interventionen generieren zu können, greift
aber zu kurz – und das nicht zuletzt deshalb, weil es die Arbeitsbedingun
gen sind, die maßgeblichen Einfluss darauf nehmen, wie groß die psychi
sche Belastung am Arbeitsplatz ist. Besonders beschäftigt haben uns die
Fälle, in denen grenzwertige Arbeitsbedingungen, deren Bewältigung ein
Großteil der verfügbaren kognitiven, emotionalen und instrumentellen
Ressourcen verbraucht, und eine lebensgeschichtlich kulminierte Vulnera
bilität ineinandergreifen.
Was die Berücksichtigung von Arbeitsbedingungen betrifft, zeigen
sich sowohl aufseiten der Patienten als auch aufseiten der Klinikärzte und
Therapeuten unterschiedliche Einstellungen: So haben wir Patienten ken
nengelernt, die von sich aus keine Anstalten machen, über ihre Arbeits
bedingungen zu sprechen, so wie es auch Patienten gibt, die nicht bereit
sind, sich auf eine Analyse ihres Innenlebens einzulassen. Setzen Patienten
andere Akzente als ihre Klinikärzte und Therapeuten, bleiben Konflikte
aufgrund dieser fehlenden Passung nicht aus. Was wir am häufigsten ange
troffen haben, sind Patienten, die ihre psychischen Belastungen depressiv
verarbeiten, das heißt: Sie halten sich mit ihrer Empörung über unzumut
bare Arbeitsbedingungen eher zurück, als dass sie salutogene Arbeitsplätze
einklagen.
Was während eines Klinikaufenthalts wann wie thematisiert wird,
hängt immer auch von erworbenen Deutungsmustern ab, die Patienten
und ihre Klinikärzte und Therapeuten in eine Behandlung mitbringen.
So ist im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen a priori mit
einer Psychologisierung von Arbeitsleid zu rechnen. Manche Patienten tei
len diese VorEinstellung, andere nicht. Was in einer Behandlung wie zum
Thema wird, ist somit reflexionsbedürftig. Dass in unseren Interviews die
Arbeitsbedingungen der Patienten vergleichsweise selten zur Sprache kom
men, dürfte zum einen mit dem Professionshabitus von Psychosomatikern
und Psychotherapeuten zu tun haben. Zum anderen fehlt diesen oft eine
realistische Vorstellung von den konkreten Bedingungen, unter denen ihre
Patienten arbeiten. Meist belassen sie es auch dabei, statt konkrete Beschrei
bungen von deren psychisch belastenden Tätigkeiten einzuholen. Auffällig
ist, dass es den Klinikärzten und Therapeuten offensichtlich auch – mehr
oder weniger – an einem angemessenen Vokabular fehlt, Erwerbsarbeit
zum Thema zu machen.
311
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
III.
Unter Versorgungsgesichtspunkten plädieren wir vor dem Hintergrund
unserer Untersuchung für die Bildung und Pflege von Netzwerken, in
denen die verschiedenen Akteure ihre jeweiligen Perspektiven miteinander
verknüpfen und diejenigen der anderen in ihren Handlungslogiken und
zwängen nachvollziehen können.
Es ergibt sich sowohl für Patienten als auch für Therapeuten eine Rei
he von Schnittstellen, an denen es Übergänge zu gestalten gilt: Jeder Pa
tient kommt aus einem Laiensystem, in dem sein Leiden eine alltagswelt
liche Deutung erhält. Er tritt in ein System von Professionellen ein, das
aus ambulanten, teilstationären und stationären Maßnahmen besteht, die
die alltagsweltlichen Deutungen in Expertendeutungen transformieren.
Schließlich kehrt der Patient in seinen Alltag zurück, in dem sich seine
Therapieerfahrungen – mit oder ohne weitere professionelle Unterstüt
zung – bewähren müssen. Und das alles gerahmt von Versicherungen, die
diesen Prozess – mehr oder weniger restriktiv – finanzieren. Arbeitgeber,
die Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, sind Teil dieses Prozesses. Folglich
sollten sie mit den anderen Unterstützungssystemen vernetzt sein, zumin
dest dann, wenn sie ernsthaft an der Gesundheit ihrer Arbeitnehmer sowie
der daraus resultierenden Arbeitsleistung interessiert sind.
Eine Gestaltung von Arbeitsbedingungen unter der Maßgabe psychi
scher Gesundheit setzt aufseiten des Arbeitgebers ein echtes Interesse an
seinen Mitarbeitern voraus. Lassen wir unsere Fälle einmal Revue passie
ren, dann ist festzustellen, dass es etlichen Arbeitgebern, so wie wir sie über
die Patienteninterviews kennengelernt haben, an diesem Interesse vermut
lich fehlt. Eine rücksichtslose Ausnutzung von Arbeitskraft ist aber nicht
nur ethisch fragwürdig, sondern auch ökonomisch unvernünftig. Gesund
heitsökonomische Untersuchungen könnten vermutlich zeigen, wie sehr
sich salutogene Arbeitsplätze auch für den Arbeitgeber lohnen. Zudem ist
zu vermuten, dass Arbeitgeber heutzutage einen Imagegewinn erzielen,
wenn sie ein Gesundheitsmanagement institutionalisieren, das betriebs
spezifische Maßnahmen konzipiert, durchführt und evaluiert, wobei prä
ventive Maßnahmen rehabilitativen Maßnahmen vorausgehen.
Psychische Erkrankungen sind aus einem Zusammenwirken von Rah
menbedingungen in der Arbeit, privaten Konfliktlagen und individuellen
312
Ausblick
Lebensgeschichten und Vulnerabilitäten zu verstehen. Dass nicht alle,
sondern immer Einzelne in vergleichbaren belastenden Arbeitssituationen erkranken und dass immer konkret dem Einzelnen geholfen werden
muss, darf nicht bedeuten, wie es zu häufig geschieht, die Erkrankungen
zu individualisieren und damit etwa im betrieblichen Zusammenhang zu
dethematisieren. Auch kann die Lösung nicht (allein) darin bestehen, dass
der Einzelne es lernt, sich abzugrenzen, »Nein« zu sagen. Vielmehr müssen
konstruktive entlastende Veränderungen der belastenden Bedingungen ge
sucht werden, um eine Verlagerung auf andere zu verhindern und der Ent
stehung weiterer Erkrankungen vorzubeugen.
IV.
Keine einzelne Untersuchung kann alle relevanten Fragen beantworten.
Es ergeben sich aber Hinweise, was weiter zu untersuchen wäre. Antwor
ten werfen neue Fragen auf. Die folgende Liste skizziert Anschlussunter
suchungen, von denen wir uns eine erhellende Erweiterung des Wissens
standes erwarten:
•
•
•
•
•
•
Welche Vorstellung haben verschiedene Berufsgruppen im Gesundheits
system von dem Beitrag, den Erwerbsarbeit zur psychischen Gesundheit
leistet, und wie wird mit Konflikten umgegangen, die aus kontroversen
Vorstellungen entstehen?
Wie können Versorgungsnetzwerke institutionalisiert und organisiert
werden, die Betriebe und Kliniken (und Privatpraxen) auf kurzem Weg
verbinden?
Welche Bedeutung haben die subjektiven Krankheitstheorien der Pa
tienten für eine gemeinsame Zielfindung in der Klinik?
Wie nehmen Patienten die verschiedenen Therapieangebote einer Kli
nik wahr, und welche davon präferieren sie warum?
Wie muss ein Entlassungsmanagement gestaltet werden, damit der
Übergang von der Klinik in den Alltag erfolgreich wird?
Was müssen BEMZuständige wissen und können, vor allem dann,
wenn sich die Wiedereingliederung von Arbeitnehmern nicht auf
Arbeitszeiten beschränken soll?
313
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
•
•
•
Wie können Arbeitsplatzanalysen, insbesondere Gefährdungsbeurteilungen, gestaltet werden, um ein Profil psychischer Belastungen zu ge
winnen, das der Personalselektion als Orientierung dient?
Wie kann in Betrieben über psychische Erkrankungen und deren Aus
wirkungen auf das Arbeitshandeln informiert werden, ohne dass die
Aufklärung eine sekundäre Stigmatisierung bewirkt?
Wie sehen die Arbeitsbedingungen von Klinikärzten und Therapeuten
aus? Wie schützen sie sich selbst vor Überforderung und halten sich ge
sund? Welche Auswirkungen haben ihre eigenen psychischen Belastun
gen auf die therapeutische Beziehung zu ihren Patienten?
V.
Wir haben uns wiederholt die Frage gestellt, ob heutige Betriebe den He
rausforderungen durch psychisch belastete, überforderte oder gar kranke
Mitarbeiter gewachsen sind. Gehen wir von den Erfahrungen in unserem
Forschungsprojekt aus, so darf konstatiert werden, dass das Bewusstsein für
diese Herausforderungen zunimmt, aber längst noch zu keinen bewähr
ten Routinen mit nachhaltigen Erfolgen geführt hat. Vergleichbares lässt
sich für Psychosomatik und Psychotherapie sagen: Auch das Bewusstsein
für Erwerbsarbeit als gleichermaßen salutogenem wie psychopathogenem
»fact of life« nimmt zu, was in einer Gesellschaft, die sich als Arbeitsgesell
schaft definiert, nicht zu verwundern braucht. Dennoch, so kommt es uns
vor, fehlt es bislang an Integrationsbemühungen. Und das nicht nur in der
Praxis, sondern auch in den beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen. In
den letzten Jahren zeichnet sich eine Veränderung ab. Was immer man
vom gegenwärtigen BurnoutDiskurs halten mag, er eröffnet der Arbeits
gesellschaft neue Möglichkeiten der Selbstverständigung. Damit es nicht
bei Spekulationen bleibt, sind empirische Daten vonnöten, wie sie unsere
Untersuchung zur Diskussion stellt.
314
Methodenglossar
Nora Alsdorf, Alina Brehm, Ute Engelbach, Sabine Flick, Rolf Haubl, Simone
Rassmann und Stephan Voswinkel
1. Biographiekurve
Nora Alsdorf und Simone Rassmann
Hintergrund
Für das Projekt wurde ein qualitatives Forschungsdesign gewählt, um
einen Zugang zum subjektiven Verständnis und zu den Deutungen der
Patienten zu erhalten und in diesem Falle auch graphisch abbilden zu können. Die Biographiekurve galt hier als eine sinnvolle Ergänzung zu den
durchgeführten biographisch-narrativen Interviews, da sie einerseits als
Erzählstimulus und als Erinnerungshilfe funktionierte, andererseits aber
auch bei der Strukturierung der Erzählung unterstützte.
Ihren Ursprung hat die Methode in der Biographiearbeit in Seminaren,
zum Beispiel der Jugend- und Erwachsenenbildung, oder auch in therapeutischen Settings. In unserem Forschungsprojekt hat sich der Einsatz
als sehr nützlich erwiesen: Da die Biographie eines Menschen eine große
Zeitspanne umfasst, bietet sich die Darstellung in einer »Zeitleiste« bzw.
Biographiekurve an, um sich einen Gesamteindruck bezüglich der Berufsbiographie und ihrer sowohl negativen als auch positiven Ereignisse
verschaffen zu können. Dabei ging es vor allem um die biographische Re
konstruktion, wann und in welchem Zusammenhang den Patienten Belas
tungsphasen oder erste Symptome aufgefallen sind, wie sie diese darstellen
und wie sie damit umgegangen sind. Zeitpunkte bestimmter Ereignisse,
wahrgenommene Verläufe persönlicher Entwicklungen und der Umgang
mit kritischen Lebensphasen können dadurch verständlicher werden. Zu
315
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
dem können anhand einer solchen Graphik bestimmte Lebensphasen oder
Ereignisse durch besondere Darstellungsformen, wie Markierungen oder
Unterstreichungen, betont werden.
Anwendung im Projekt
Die Patienten in unserem Forschungsprojekt wurden in jedem der drei
Interviews aufgefordert, in einem vorgedruckten Schema die »guten« und
»schlechten« Zeiten ihres Lebens anhand einer Kurve aufzuzeichnen. Das
Schema besteht aus einer X-Achse mit Zeitangaben und einer Y-Achse, die
die Ziffern 1 bis 10 anzeigt und anhand deren die Bewertung des jeweili
gen Zeitraumes vorgenommen wurde. Bei der Darstellung geht es nicht
um Vollständigkeit und Genauigkeit, sondern nur um die spontane Samm
lung von subjektiv empfundenen, markanten Stationen im Leben des Be
troffenen. Im ersten Interview beginnt der Zeitraum der XAchse mit dem
Ausbildungsabschluss und endet mit dem Zeitpunkt der Interviewdurch
führung. Die Darstellung im zweiten Interview bezieht sich auf den Thera
piezeitraum in der Klinik, die im dritten auf die Zeit nach Entlassung aus
der Klinik (3 bis 6 Monate). Der Einsatz der Biographiekurve sollte dabei
unterschiedliche Funktionen erfüllen:
1. Systematisierung der Erzählung: Die Patienten wurden aufgefordert,
sich chronologisch an diese Lebensabschnitte zu erinnern, wodurch
Phasen, die zuvor möglicherweise nicht erinnert wurden, thematisiert
werden konnten. Höhen und Tiefen im Kurvenverlauf können als Ein
stieg zur Thematisierung besonders kritischer Ereignisse dienen.
2. Aneignung der Skala und zeichnerische Übertragung der Biographie:
Das subjektive Verständnis der eigenen Situation, aber auch Persönlich
keitsmerkmale können sich in der Darstellung widerspiegeln. Diese rei
chen von Schwierigkeiten, eine Kurve zu zeichnen, bis hin zur Ausdeh
nung der Kurve auf mehrere Seiten oder auch in der Einhaltung oder
Überschreitung von Linien. Bei der Zeichnung ist außerdem spannend,
auf welche Lebensbereiche sich die Patienten beziehen und somit die
Ursache ihres aktuellen Zustands herleiten. Dadurch können ergänzen
de Informationen für die Einzelfallanalysen gesammelt werden.
3. Retrospektive Betrachtung der Kurven aus den vorhergehenden Inter
views: Eine Bezugnahme auf kritische Ereignisse und eine erneute Refle
316
Methodenglossar
xion der in den vorhergehenden Interviews erwähnten Zeiträume wird
ermöglicht.
Die Berufsbiographie wurde von den Patienten unterschiedlich differen
ziert dargestellt. Einige beschränkten sich dabei auf das Krankheitserleben
und das Auftreten der Symptome, andere verfolgten ausführlich die Statio
nen im (Berufs)Leben. Teils fiel den Patienten die graphische Darstellung
leicht, teils gab es Verunsicherungen und Bedenken, es nicht »richtig« zu
machen, sodass das Zeichnen abgebrochen wurde. Deutlich wurde, dass es
Patienten, die bereits einen Klinik oder Rehaaufenthalt gehabt hatten, oft
mals leichter gelang, die vergangenen Ereignisse zu erinnern, abzubilden
und emotional im Sinne »guter und schlechter Zeiten« zu »bewerten«, als
Patienten, die sich mit ihrer Lebensgeschichte bislang in keinem therapeu
tischen Setting beschäftigt hatten.
Abbildung 2: Biographiekurve
Quelle: Erstinterview einer Patientin aus dem Forschungsprojekt
317
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Zum Weiterlesen
Gudjons, Herbert/Pieper, Marianne/Wagener-Gudjons, Birgit (1986): Auf
meinen Spuren. Das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte. Hamburg: Rowohlt.
Hölzle, Christina/Jansen, Irma (Hrsg.) (2009): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. Grundlagen – Zielgruppen – Kreative Methoden. Wiesba
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Ruhe, Hans Georg (2003): Methoden der Biografiearbeit. Lebensspuren
entdecken und verstehen. 2. Auflage, Weinheim, Basel, Berlin: Beltz.
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Schulz, Wolfgang (Hrsg.) (1996): Lebensgeschichten und Lernwege. Anre
gungen und Reflexionen zu biografischen Lernprozessen. Hohengeh
ren: Schneider.
2. Dokumente aus den Kliniken
Sabine Flick
Um die Relevanz von Erwerbsarbeit in der therapeutischen Bearbeitung
und die jeweiligen Deutungen und Thematisierungen zu analysieren, wur
den zwei Materialrichtungen erhoben:
Neben den OPD, die hier extra behandelt werden, gehören dazu Pa
tientenakten aus beiden beteiligten Kliniken, die Arztbriefe, Behandlungs
dokumentationen und weitere Dokumente enthalten. Daneben haben wir
aus Praktikabilitätsgründen mit einer Checkliste für die Gruppentherapie
sitzungen gearbeitet. Alle Daten waren uns durch die Unterzeichnung der
Schweigepflichtentbindung durch die Patienten zugänglich, dieses Vorge
hen wurde wiederum durch die Ethikkommission unterstützt.
Gruppencheckliste
Um einen Überblick zu erhalten, worüber in den Sitzungen der Gruppen
therapie maßgeblich gesprochen wird, an denen die an der Studie beteilig
318
Methodenglossar
ten Patienten teilnehmen, aber auch mit Patienten, die nicht an der Studie teilnehmen, baten wir die jeweiligen Gruppentherapeuten, nach der
Sitzung einen von uns vorbereiteten Fragebogen auszufüllen, in dem ankreuzbar war, wenn Arbeit ein Thema in der Sitzung gewesen ist. Dies hat
in erster Linie datenschutzrechtliche Gründe: Da nur von denjenigen Patienten, die an der Studie beteiligt waren, eine Schweigepflichtentbindung
vorlag, war es den Ärzten nicht gestattet, uns über die Inhalte der Gruppentherapie ausführlich Auskunft zu geben, da diese ja auch mit Patienten
durchgeführt wurde, die nicht an der Studie beteiligt waren. Dies wurde
methodisch daher über einen Fragebogen gelöst, der grobe Themenzuordnungen machte. Diese Information diente eher als Hintergrund und wurde
quantifiziert berücksichtigt.
Patientenakten
Die Patientenakten wurden im Hinblick auf die Beschreibungen der Arbeit
der Patienten analysiert und in diesem Sinne im Hinblick auf die medizinischen Diagnosen und die Ätiologie des Patientenleidens. Patientenakten
stellen dabei eine besondere Datengattung dar, da sie einerseits einen strategisch-taktischen Hintergrund haben, also nur ein je verdinglichtes Bild der
Patienten zum Zwecke der Dokumentation anderen gegenüber abbilden
(Krankenkassen, andere medizinische Institutionen etc.), dabei zugleich
aber suggerieren, ein Fenster zur Wirklichkeit darzustellen (Wolff 2000).
Die hier analysierten Akten enthielten handschriftliche Notizen, manche lagen digital vor und beinhalteten standardisierte Fragebögen. Auffällig, aber nicht überraschend waren die wenigsten Akten vollständig,
sondern häufig sehr unterschiedlich und auch unterschiedlichen Informationsgehalts. Darin zeigten sich auch Differenzen zwischen den beiden
Kliniken. Garfinkel (1967) spricht in diesem Zusammenhang von »guten
Gründen für schlechte Aufzeichnungen«, die sich vor allem aus dem Klinikalltag, der Zeit, die dem Personal für die Dokumentenerstellung bleibt
und der tatsächlichen Relevanz dieser Akten für die tägliche Arbeit in der
Klinik ergibt (ebd.; Berg/Bowker 1997).
Für diese Studie wurden die Akten, wohl wissend um ihren spezifischen
Doppelcharakter als hergestellte Kommunikation, die eben diesen Herstellungsprozess zu leugnen versucht, um sich als Tatsachenbericht darzustellen, im weitesten Sinne inhaltsanalytisch ausgewertet. Der Fokus lag dabei
319
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
auf den therapeutischen und medizinischen Perspektiven auf Erwerbsarbeit
innerhalb der Aktenaufzeichnungen. Die Interpretation der Interviews warf
weitere Themen auf, die als Fragen an die Dokumentenanalyse gerichtet wurden. Dies führte zur weiteren Berücksichtigung auch anderer Themen, wie
beispielsweise das der »Grenzziehungen«, das im Beitrag »Ich muss nur besser Nein sagen lernen« von Ute Engelbach in diesem Band behandelt wird.
Zum Weiterlesen
Berg, Marc/Geoffrey Bowker (1997): The multiple bodies of the medical record: towards a Sociology of an Artifact. In: The Sociological Quarterly
38, H. 3, S. 513–537.
Garfinkel, Howard (1967): »Good« Organizational Reasons for »Bad« Clinical Records. In: Garfinkel, Howard (1967): Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall, S. 186–207.
Wolff, Stephan (2000): Dokumenten- und Aktenanalyse. In: Flick, Uwe/
von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung: Ein
Handbuch. Reinbek: Rowohlt, S. 502–514.
3. Expertengespräche
Sabine Flick und Stephan Voswinkel
Was ist ein Experte, eine Expertin? Als solche können Personen gelten, die
eine Rolle, eine Position in einem Feld einnehmen, die ihnen den Expertenstatus zuweist. Sie werden im Feld oder in der Gesellschaft als Experte
betrachtet – so wird davon ausgegangen, dass ein Bischof etwas Kompetentes über Fragen der Kirche oder der Religion, ein Arzt über Fragen der Gesundheit und Therapie oder ein Geschäftsführer über sein Unternehmen
mitteilen kann. In anderen Fällen erhalten Personen den Expertenstatus
durch die Forscher und deren Erkenntnisinteresse zugewiesen. Als Beispiel
hierfür möge der Gastwirt gelten, von dem man Informatives über Probleme des Stadtteils, oder der Zugbegleiter, von dem man Auskünfte über das
Leseverhalten der Zuggäste erwartet.
Von Experten erwartet man also in erster Linie sachliche Informationen über einen Gegenstand, einen Sachverhalt, ein soziales Feld. In der
320
Methodenglossar
Regel aber ist der Experte nicht nur Beobachter, sondern in seiner Funktion
(als Bischof, Arzt oder Geschäftsführer) auch Akteur im Feld. Daher kann
man vom Experten auch Einschätzungen und Deutungen, Auskünfte über
strategische und politische Handlungsmöglichkeiten und damit auch über
seine eigenen Ziele im Feld und seine Erfolgs- oder Misserfolgsempfindun
gen und erklärungen erwarten.
Eine weitere Art von Informationen, die ein Experte vermitteln kann,
sind Einschätzungen über andere Akteure und deren Orientierungen und
Handlungsweisen. Ein Geschäftsführer kann beispielsweise eine Einschät
zung über die Orientierungen und Kompetenzen des Betriebsrats in seinem
Unternehmen abgeben oder ein Arzt über das Gesundheitsverhalten eines
bestimmten Patiententyps. Als Interviewer wird man diese Einschätzun
gen als interessante Informationen aufnehmen, die vielleicht etwas über
denjenigen mitteilen, über den sich der Experte äußert – was man mit Vor
sicht und Skepsis behandeln muss –, aber auch über den Experten selbst.
Experten werden in Expertengesprächen in der Regel als »Experten«
adressiert. Bittet man die Geschäftsführerin Frau Bingold um ein Interview
über ihr Unternehmen, so wird sie sich nicht als Frau Bingold, sondern
in ihrer Funktion als Geschäftsführerin angesprochen sehen. Da die For
scherin von der Expertin etwas erfahren möchte, was sie nicht weiß, ist sie
hierin der Interviewerin überlegen. Sie ist auch diejenige, die Fragen beantwortet. Oft allerdings wird auch der Forscherin ein Expertenstatus zugewie
sen, ist sie es doch, die sich ausgiebig mit einer Thematik beschäftigt – und
zwar »wissenschaftlich« –, die auch für die befragte Expertin relevant ist.
Dann kann es sein, dass auch sie Fragen beantworten soll. Das hat zwei
Implikationen.
Zum einen kann hieraus eine latente Konkurrenzsituation entstehen.
Der Forscher sollte ähnlich viel – oder gar mehr – vom Forschungsgegen
stand verstehen; zumindest hat er vielleicht selbst diesen Anspruch an sich.
Zum anderen wird der Unterschied zwischen der wissenschaftlichen und
der praktischen Denkweise relevant: Der Experte denkt – gerade dann,
wenn er als Akteur angesprochen ist – in Relevanzstrukturen des prakti
schen Handelns in seinem Feld: Was kann er tun, um unter gegebenen
Bedingungen in absehbarer Zeit etwas zu erreichen? Der Forscher will sich
gerade von einer zu engen pragmatischen Perspektive lösen, um Zusam
menhänge in den Blick zu nehmen. Aus diesen unterschiedlichen Perspek
321
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
tiven können schnell Konflikte entstehen, wenn man die unterschiedlichen
Positionen im Feld nicht im Blick hat.
Gerade in diesen Differenzen zwischen Praktiker und (wissenschaft
licher) Beobachterperspektive aber liegt auch ein produktives Erkenntnis
potenzial des Expertengesprächs. Der Forscher kann sein Interesse an einer
Perspektive bekunden, die ihm ohne das Interview nicht zugänglich ist
und auf das sich gerade sein Forscherinteresse richtet. Und die Forscher
perspektive kann für den Experten aufschlussreich sein, weil sie einen Blick
von außen wirft. Hier kann der Wissenschaftler zugleich (etwa durch hypo
thetische oder auf andere Perspektiven sich beziehende Einwürfe) auch die
Funktion eines Übersetzers anderer PraxisRelevanzen ausfüllen. Oftmals
entwickeln Experten in einem Gespräch mit Wissenschaftlern (denen sie
manchmal von ihrem Bildungshintergrund her nahestehen) eine »›Lust‹
am handlungsentlasteten intellektuellen Austausch« (Trinczek 2002), die
ein wenig von Darstellungs und Taktikerfordernissen belastetes Gespräch
zulässt.
Wegen des sachbezogenen Charakters eines Expertengesprächs folgt es
meist einem teilstandardisierten Leitfaden, der sicherstellen soll, dass die
wesentlichen Informationsthemen (auch im Vergleich mit anderen Gesprä
chen zum gleichen Thema) besprochen werden, der aber zugleich offen
genug sein muss, um den erfahrungsbezogenen Relevanzsetzungen der
Experten Platz geben zu können. Das Expertengespräch hat daher in der
Regel die Form eines themen oder problemzentrierten Interviews (Witzel
1985).
In unserer Studie haben wir mit drei Expertengruppen Expertengesprä
che geführt: den Beteiligten am Betrieblichen Eingliederungsmanagement
(BEM), den Sozialarbeitern in beiden Kliniken sowie den Ärzten und The
rapeuten in den Kliniken.
Expertengespräche mit BEM-Akteuren
Zu Beginn unserer Untersuchung haben wir Gespräche mit Beteiligten am
BEM geführt, mit Betriebsratsmitgliedern, Mitgliedern der Personalabtei
lung, Betriebsärzten. Sie waren im BEM eines Betriebs bzw. einer Verwal
tung engagiert, sodass die Gespräche sich jeweils auf einen betrieblichen
Fall, eine betriebliche Praxis bezogen. In diesen – auf einem teilstandardi
sierten Leitfaden beruhenden – Gesprächen ging es darum, Informationen
322
Methodenglossar
über übliche Verfahren in der Durchführung des BEM und Erfahrungen
hiermit – insbesondere im Hinblick auf psychische Erkrankungen – zu
gewinnen. Die Gesprächspartner waren hier die Experten, die hierüber
Sachinformationen mitteilen konnten. Weitere Themen dieser Gespräche
waren der Kontakt zu Ärzten und Kliniken und die hiermit gemachten
Erfahrungen. Waren hier schon »neutrale« Informationen von »subjektiven« Bewertungen und Einschätzungen über das Verhalten der anderen
Akteure kaum zu trennen, so gilt dies erst recht bei dem Thementeil, der
sich auf die Hintergründe und die Ursachen sowie die Entwicklung psychischer Erkrankungen bezog. Die Aussagen, die hier zu erhalten waren,
sind denn auch nicht als »wissenschaftliche« Expertenaussagen, sondern als
Beobachtungen und Einschätzungen derjenigen zu verstehen, von denen
aufgrund ihrer Tätigkeit eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Thematik zu erwarten ist. Zugleich sind diese Einschätzungen von Belang für
die Einschätzung ihres eigenen Rollen- und Handlungsverständnisses als
BEM-Beteiligte. Ähnliches gilt für den Themenblock, der sich mit dem Erfolg von BEM-Verfahren und seinen Bedingungen befasste.
Den Gesprächspartnern gegenüber wurde kommuniziert, dass wir diese Gespräche zu Beginn der Forschung mit dem Ziel führten, uns selbst
frühzeitig über die Sichtweise und die Erfahrungen der Praktiker zu informieren. Das machte es im Gespräch möglich, die Rolle des interessierten
Fragenden einzunehmen, der (noch) nicht Experte im Feld ist. Damit wurde zugleich der Eindruck vermieden, das Gespräch diene auch der Evaluation der Praktiker; überwiegend wurde so der Gefahr vorgebeugt, dass bei
den Experten ein Rechtfertigungs- und Selbstdarstellungsdruck entstand.
In einigen Fällen wurden Gruppengespräche geführt. Der eigentliche
Grund war ein pragmatischer: Die Gesprächspartner wollten den Zeitaufwand für sich und die Forscher verringern und betonten, voreinander keine Geheimnisse zu haben. Dieser Position gegenüber wäre es schwierig gewesen, auf Einzelgesprächen zu bestehen, hätten wir doch vielleicht gerade
dann unsererseits Misstrauen den Befragten gegenüber ausgedrückt. Die
Gruppengespräche erwiesen sich jedoch dann sogar teilweise als in besonderer Weise instruktiv, weil sie in den Reaktionen der Beteiligten aufeinander einen Einblick in die Akteursbeziehungen ermöglichten.
323
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
Expertengespräche mit Sozialarbeiterinnen aus den Kliniken
Eine andere Expertengruppe waren die Sozialarbeiterinnen, die in den
beiden mit uns kooperierenden Kliniken tätig sind. Auch hier standen im
Zentrum der Gespräche die Arbeitspraxis und die Zuständigkeiten der Gesprächspartnerinnen. Es ging um Veränderungen der Arbeit und der auftretenden Probleme in den vergangenen Jahren, um die Zusammenarbeit
mit den anderen Akteuren in der Klinik – Ärzte, Pfleger, Patienten – und
um Kontakte mit den Betrieben, Krankenversicherungsträgern usw. Wel
che Probleme standen in den Gesprächen mit den Patienten im Vorder
grund? Gibt es typische Konflikte mit Patienten oder mit Ärzten?
Auch hier sind »neutrale« Informationen kaum von Einschätzungen
zu trennen, und eine solche Differenzierung war in der Gesprächsführung
auch gar nicht angestrebt. Denn die Sozialarbeiterinnen wurden auch in
ihren professionell basierten Einschätzungen angesprochen: Welche Pro
bleme zeigen sich in der Nachsorge? Worin sehen sie Verbesserungsbedarf?
Und wie begreifen sie ihre eigene Rolle, und wo sehen sie ihre Grenzen?
Die Sorge, dass die Sozialarbeiterinnen sich wegen ihrer Einbindung in
den Klinikzusammenhang gegenüber den Forschern befangen verhalten
könnten, zumal der Kontakt vonseiten der Klinik hergestellt worden war,
erwies sich als unbegründet, da sie über ein ausreichendes professionelles
Selbstbewusstsein zu verfügen schienen.
Expertengespräche mit Ärzten und Therapeuten
Schließlich führten wir auch Gespräche mit den behandelnden ärztlichen
und psychologischen Psychotherapeuten in der Klinik. In den Interviews
mit den Therapeuten ging es zentral um die Arbeit in ihren verschiedenen
Dimensionen: die Arbeit der Patienten, die Arbeit der Therapie sowie die
eigene Arbeitserfahrung der Therapeuten. Um die Deutungsmuster stärker
professionslogisch einordnen zu können, hat in den Interviews auch die
eigene Erfahrung der Behandler in und mit Arbeitsverhältnissen interes
siert und daher auch Fragen nach belastenden und/oder überfordernden
Situationen in das Interview integriert. Im Fokus standen in den Ge
sprächen die eigene Erfahrung mit den Patienten und deren Bezüge zur
Arbeitswelt. Gibt es Branchenspezifika? Trifft es eher weibliche Patientin
nen? Es ging dabei darum, die Erfahrungen der Behandler zu thematisie
324
Methodenglossar
ren, die über die Patienten der Studie hinausgehen. Konkret interessierte in
diesen Gesprächen die professionelle Deutung der Behandler ihrer eigenen
Tätigkeit. Mit welchem Therapieziel arbeiten sie mit den Patienten? Geht
es dabei um die Wiedereingliederung in die Erwerbsarbeit? Spielt Arbeit in
diesem Sinne überhaupt eine Rolle im konkreten Therapieverlauf? Daneben interessierte auch die Einschätzung dieser Experten einer die Therapie
und Klinik rahmenden Perspektive. Inwiefern müsste den Experten zufolge eine Wiedereingliederung im Sinne der Patienten eigentlich organisiert
sein? Inwiefern sind die Behandler mit gesellschaftlichen Entwicklungen
und Veränderungen der Arbeitswelt konfrontiert und reflektieren diese?
Schließlich interessierten Fragen der therapeutischen Ausbildung und Aus
richtung, eigene berufliche Stationen und Erfahrungen mit diesen sowie
der eigene Umgang mit Be und Überlastung. Dabei spielten Fragen nach
Möglichkeiten zur Entlastung, aber auch nach Räumen für Anerkennungs
erfahrung der Behandler selbst eine Rolle.
Die Gespräche fanden ausschließlich in den beiden Kliniken statt,
meist an den Rändern der eigentlichen Arbeitszeit. Die Therapeuten waren
in ihrer Einlassung sehr offen, was im Projekt auch als professionelles In
teresse (und gegebenenfalls darin artikuliertem Bedarf) an Austausch und
Fortbildung zu arbeitsbezogenen Themen gedeutet wurde.
Zum Weiterlesen
Bogner, Alexander/Littig, Beate/Menz, Wolfgang (Hrsg.) (2002): Das Ex
perteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen: Leske + Bu
drich.
Liebold, Renate/Trinczek, Rainer (2002): Experteninterview. In: Kühl, Ste
fan/Strodtholz, Petra (Hrsg.): Methoden der Organisationsforschung.
Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt, S. 33–71.
Trinczek, Rainer (2002): Wie befrage ich Manager? Methodische und me
thodologische Aspekte des Experteninterviews als qualitative Methode
empirischer Sozialforschung. In: Bogner/Littig/Menz 2002, S. 209–222.
Witzel, Andreas (1985): Das problemzentrierte Interview. In: Jüttemann,
Gerd (Hrsg.): Qualitative Forschung in der Psychologie. Weinheim:
Beltz, S. 227–255.
325
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
4. Interpretationsgruppen
Alina Brehm
Die Interpretationsgruppe ist ein Raum des gemeinsamen deutenden Verstehens der durchgeführten qualitativen Interviews. Sinn und Nutzen der
gemeinsamen Interpretation ist das Finden einer möglichst konsensfähigen Deutung, die am Ende des Interpretationsprozesses steht und der eine
höhere »Objektivität« zugerechnet wird als derjenigen durch eine einzelne Person. Gerade dann, wenn auch die eigenen Gegenübertragungen als
Deutungsressource genutzt werden, ist es wichtig, den jeweiligen Eindruck
mit dem der anderen Gruppenmitglieder abzugleichen, um sich der Frage nähern zu können, was daran vielleicht doch auch Eigenanteil ist und
was im Kern dem Patienten zugeordnet werden kann. Ausgehend davon,
dass jede Interpretation immer auch projektive Anteile enthält und nach
Gadamer Verstehen eine Dialektik »zwischen Erweiterung des Selbst und
Aneignung des Fremden« darstellt, soll so also entsprechend abgesichert
werden, dass diese Gegenübertragung nicht nur mit dem Interpreten selbst
zu tun hat.
Eine weitere Funktion besteht im Ausgleich von Wissensasymmetrien
(Meyer/Meier zu Verl 2013), das heißt im Einbringen von zusätzlichen Hintergrundinformationen durch einzelne Gruppenmitglieder, die ein umfangreicheres Verständnis von bestimmten Punkten im Interview ermöglichen. Aber auch das Textverständnis an sich kann damit gemeint sein, in
dem Sinn, dass an bestimmten Stellen jemand etwas »mehr« oder »besser«
verstanden hat. Im Projekt führten häufig zusätzliche Informationen sei
tens der Klinik (vermittelt über die Supervisionsgespräche oder Interpre
tationsgruppenmitglieder aus einer der Kliniken) zu einem anderen oder
erweiterten Blick auf die Erzählung des Patienten.
Aber auch für die klinische Seite stellt die gemeinsame Auseinanderset
zung mit dem Interviewmaterial einen Gewinn im Sinne eines erweiterten
Verständnisses der Symptome und ihrer Genese, dar. So wurde in einem
Interview in besonderem Maße der fehlende Zugang des Patienten zu sei
nem eigenen inneren Erleben und Empfinden deutlich, was die Erkennt
nisse aus dem OPDInterview noch einmal erweiterte.
Die interdisziplinäre Zusammensetzung der Gruppe aus dem Bereich
der Arbeitssoziologie, Sozialpsychologie und Tiefenpsychologie/Psycho
326
Methodenglossar
analyse eröffnet zudem eine Perspektivenvielfalt, die beim Verstehen des jeweiligen »Falles« in seinen unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen von
großer Hilfe sind. So kann es auch Differenzen darin geben, was aus der
jeweiligen Perspektive als »normal« erachtet wird bzw. als gegeben »hingenommen« werden muss. Aber auch einzelne Aspekte der Lebensgeschichte, wie einerseits zum Beispiel die frühe Kindheit und andererseits die
Arbeitssituation betreffend, bedürfen teils der Expertise der Angehörigen
der jeweiligen Fachrichtung, um sie der gesamten Gruppe umfänglicher
zugänglich zu machen.
Die Interpretationssitzungen dauerten in der Regel drei Stunden. Allgemein wie auch in unserem Projekt werden im Prozess des Interpretierens
unterschiedliche Textstellen verbal markiert und begründet, warum diese
als relevant erachtet werden. Das kann einerseits subjektiv erfolgen, das
heißt mit einer Gefühlsäußerung wie: »Das finde ich interessant.« Anderer
seits gibt es aber auch die Möglichkeit einer »objektiven« Auswahl durch
den Bezug zum Forschungsprojekt. Da wäre so etwas denkbar wie: »Was
er da sagt, passt auch sehr gut zu unserer Fragestellung.« Ebenso kann eine
Irritation, hervorgerufen durch Nichtverstehen, ein Grund sein.
Insgesamt werden im Interpretationsprozess Teile des Interviews, seien
es Textstellen oder spezifische Aspekte, dekontextualisiert, das heißt aus
dem Gesamtzusammenhang des Interviews heraus neu angeordnet. Im
Aushandlungsprozess der Deutungen werden sie dann rekontextualisiert,
also entweder in Bezug gebracht zu Wissen über den Interviewpartner, das
nicht dem Transkript zu entnehmen ist, oder zu eigenen alltagsweltlichen
oder wissenschaftlichen Annahmen (Meyer/Meier zu Verl 2013). Am Ende
dieser intersubjektiven Validierung steht dann eine Deutung, auf die sich
die Gruppe oder ihr Großteil »einigen« konnte. Gegebenenfalls kann es
aber auch einzelne Aspekte betreffend zu keiner konsensfähigen Deutung
kommen.
Interpretationsgruppen sind in der qualitativen Sozialforschung weit
verbreitet. Ausführlichere Untersuchungen zu den Prozessen, die in ihnen
ablaufen, gibt es jedoch bislang nicht (die einzigen Ausnahmen, bezogen
auf einzelne Aspekte, bilden hierbei Oth 2012, Reichertz 2013 sowie Meyer/
Meier zu Verl 2013). So gibt es Hinweise auf bestimmte Dynamiken, die
erschwerend wirken können im Hinblick auf das gemeinsame Erkenntnis
interesse. Interpretationsgruppen sind in der Regel kein Raum, der frei ist
von Anerkennungswünschen, Konkurrenz und Situationen des Bewährens
327
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
und Bewertens. Das hängt in erster Linie mit ihrer Zusammensetzung zusammen, die meist verschiedene Hierarchieebenen beinhaltet und im Falle
des konkreten Projektes auch unterschiedliche Institute, Fachrichtungen
und Disziplinen. Denn sosehr auch das gemeinsame Erkenntnisinteresse
im Vordergrund steht, so wenig ist es möglich, die generellen Dynamiken,
die »wettstreitende Deutungen« innerhalb der Wissenschaft (und vor allem zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Fachrichtungen) mit sich
bringen, keinen Einfluss auf die Kommunikationsprozesse im Interpreta
tionsprozess nehmen zu lassen. Ein gewisser »Qualitätsdruck« (Reichertz
2013) ist im Setting eines Forschungsprojektes, das Ergebnisse erzielen will,
mit jeder Aussage/Deutung verbunden.
Das Wissen darum und die (teils große) Erfahrung der Interpretieren
den mit Interpretationsgruppen entschärft diese Problematik jedoch zu
einem gewissen Grad. Auch der zeitliche Aufwand, der mit ihnen verbun
den ist, könnte als Kritikpunkt gewertet werden. Jedoch steht der Gewinn,
den der gemeinsame Interpretationsprozess im Hinblick auf das Fallver
stehen eröffnet, dem in weit höherem Maße entgegen, da die Qualität der
Interpretation, auf der letzten Endes auch große Teile der Ergebnisse der
Studie an sich beruhen, maßgeblich auf diesen angewiesen ist. Auch die
positive Wirkung in Bezug auf das Fallverstehen aus klinischer Sicht und
die damit zusammenhängenden, möglicherweise erweiterten, gewinn
bringenden Erkenntnisse in Bezug auf die Behandlung und damit für den
Patienten selbst sind in diesem Projekt ein weiterer Nutzen von Interpre
tationsgruppen.
Zum Weiterlesen
Meyer, Christian/Meier zu Verl, Christian (2013): Hermeneutische Praxis.
Eine ethnomethodologische Rekonstruktion sozialwissenschaftlichen
Sinnrekonstruierens. In: sozialer sinn 14, S. 207–234.
Oth, Constanze (2012): »Und die Katze beißt sich selbst in den Schwanz«.
Reflexionen zu Dynamiken einer Interpretationsgruppe. Diplomarbeit.
Frankfurt am Main.
Reichertz, Jo (2013): Gemeinsam interpretieren. Die Gruppeninterpreta
tion als kommunikativer Prozess. Wiesbaden: Springer VS.
328
Interviews mit
Personen des
betrieblichen
Eingliederungsmanagements
(BEM)
Dokumentation:
BEM-Transkripte
(N = 10)
•
Thematisch fokussiertes
narratives Interview
Erstgespräch in der Klinik:
Operationalisierte
Retrospektiv:
Psychodynamische
Berufsbiographie, Arbeits- Diagnostik
bedingungen, Krankheitsdeutung
DokumentationsmöglichProspektiv:
keiten:
Vorstellungen bezüglich
• OPD-Protokoll
des Klinikaufenthaltes
• Visiteprotokolle
2. Erhebungszeitpunkt
3. Erhebungszeitpunkt
Themenzentriertes Interview
Themenzentriertes,
evtl. Telefoninterview
Retrospektiv:
Erlebnisse während des
Klinikaufenthaltes (»critical
incident«), Deutungen zur
Krankheitsursache
Prospektiv:
Vorstellungen/Vorsätze
bezüglich der Zeit nach der
Klinik (Reintegration)
→ Entlassung aus der
Retrospektiv:
Reintegration ins
Arbeitsleben (Programm?)
Vorbereitung durch die
Klinik? Deutungsmuster
Prospektiv:
Zukunftsvorstellung
→ Reintegration in
Erstgespräch vor
der Aufnahme
→ Aufnahme in die Klinik
Bereitschaft zur
Teilnahme durch
die Ärzte abklären
Supervision der behandelnden Ärzte
Abschlussgespräch in der
Klinik
Interviews mit Sozialarbeitern der Kliniken
Dokumentation:
• Liste der verhandelten
Themen
• Protokolle: Einzel-/
Gruppentherapie
• Transkripte der Supervisionen (N = 27)
Dokumentation:
• Interviewtranskript (N = 20)
• Biographiekurve
• Protokolle
• Arztbriefe
• Transkripte der Ärzteinterviews (N = 10)
• Postskripte
Dokumentation:
• Interviewtranskript
(N = 15)
• Biographiekurve
• Reintegrationsprogramme
• Patientenakte
• Transkripte der Sozialarbeiter (N = 2)
• Postskripte
↓
Einverständnis
einholen
den Betrieb?
Methodenglossar
Gesamtanzahl geführter Interviews = 107
Dokumentation:
• Interviewtranskripte
(N = 23)
• Biographiekurve
• Postskripte
Klinik
5. Methodenfahrplan
1. Erhebungszeitpunkt
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
6. OPD-2-Interview
Ute Engelbach
Mit Patienten wird zu Beginn einer stationären Behandlung ein psychodynamisches Interview nach OPD-2 durchgeführt. Die operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD-2) ist ein im deutschsprachigen Raum erstelltes multiaxiales Diagnostiksystem im Bereich der psychodynamischen
Psychotherapie. Sie erfasst neben relevanten Aspekten des Krankheitserlebens, der Krankheitskonzepte und der Veränderungsmotivation im Wesentlichen zentrale psychische Problembereiche des Patienten, die an der
Entstehung und Aufrechterhaltung der Symptome beteiligt sind.
Mithilfe operationalisierter Kategorien werden Ratings auf den Achsen
»Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen« (I), »Beziehung« (II),
»Konflikt« (III) und »Struktur« (IV) vorgenommen. Eine fünfte Achse »Psy
chische und psychosomatische Störungen« (V) erfasst die Diagnose nach
dem internationalen Klassifikationssystem der Krankheiten (ICD10).
Während die Einschätzung auf Achse I klären soll, ob eine psychothera
peutische Behandlung angezeigt ist, erfolgt anhand der Achsen II bis IV
eine Fokusformulierung, mithilfe deren eine differenzierte Therapiepla
nung möglich ist.
Zunächst sollte eine strategische Entscheidung getroffen werden, ob
die therapeutische Ausrichtung eher struktur oder konfliktbezogen oder
gemischt sein muss. In einer eher aufdeckend orientierten Konfliktbearbei
tung werden die durch Abwehr und Kompromissbildungen verdeckten
Möglichkeiten der Bearbeitung zugänglich gemacht. In einer vorrangig
strukturorientierten Behandlung liegt es für den Therapeuten je nach
Thema nahe, zum Beispiel vermehrt HilfsIchFunktionen zu überneh
men, sich zum Containing anzubieten, Unterstützung anzubieten, um
sich selbst und Beziehungen besser zu regulieren, oder spiegelnd die eigene
Wahrnehmung und Emotion zur Verfügung zu stellen.
Die Achse II zielt auf die Erfassung repetitiver dysfunktionaler Be
ziehungsmuster ab. Hierfür werden den vier Erlebensperspektiven des
Patienten (Selbst und Objektwahrnehmung des Subjekts sowie den kon
vergierenden Perspektiven des Gegenübers bzw. des Untersuchers) je eine
Position in einem Zirkumplexmodell interpersonellen Verhaltens zugeord
net, auf dem interpersonelle Beziehungen als Verhältnis aus den beiden
330
Methodenglossar
Dimensionen Interdependenz (Autonomie vs. Kontrolle) und Affiliation
(Liebe vs. Aggression) dargestellt sind. Entsprechend den vom Patienten berichteten Beziehungsepisoden und dem vom Interviewer reflektierten Über
tragungs und Gegenübertragungsgeschehen kann die Art und Weise, wie
der Patient relevante Beziehungen erlebt und sich seinem Erleben folgend
anderen gegenüber verhält, rekonstruiert werden.
Auf der Achse III werden sieben symptomatisch gewordene innere Kon
flikte, die lebensbestimmend und zeitüberdauernd sind, erfasst. Für jeden
Konflikt sind ein passiver und ein aktiver Verarbeitungsmodus für unter
schiedliche Lebensbereiche, nämlich Herkunftsfamilie, Partnerschaft/Fa
milie, Beruf und Arbeitswelt, Besitz und Geld, soziales Umfeld, Körper/
Sexualität, Erkrankung, ausformuliert. Eine einseitige rigide Betonung
eines der beiden Modi kann auf eine konflikthafte Verarbeitung hinwei
sen. Je mehr Lebensbereiche ein Konflikt berührt, als desto bedeutsamer
wird er bei der OPDDiagnostik eingeschätzt. Die sieben Konflikte lauten:
•
•
•
•
Individuation vs. Abhängigkeit: Selbstständigkeit in Beziehungen ist
von existenzieller Bedeutung. Emotionale Unabhängigkeit und Unter
drückung der Wünsche nach Nähe und Bindung dominieren im akti
ven Modus, während enge dauerhafte Beziehungen (fast) um jeden Preis
und symbiotische Nähe den passiven Modus des Konfliktes charakteri
sieren.
Unterwerfung vs. Kontrolle: Das zentrale Motiv ist, den anderen zu do
minieren oder sich dem anderen unterzuordnen. Im aktiven Modus sind
aggressives Dominanzstreben und trotzige Aggressivität, im passiven
eine passivaggressive Unterwerfung und untergründig spürbare Verär
gerung bei gefügigem Verhalten beobachtbar.
Versorgung vs. Autarkie: Beziehungen sind von Wünschen nach Versor
gung und Geborgenheit bzw. deren Abwehr geprägt. Im passiven Mo
dus führt dies zu anklammerndem Verhalten, Angst, den anderen zu
verlieren, im aktiven Modus besteht gewissermaßen eine altruistische
Grundhaltung. Es überwiegen Selbstgenügsamkeit, Bescheidenheit und
anspruchsloser Verzicht.
Selbstwertkonflikt: Die kompensatorischen Anstrengungen zur An
erkennung des Selbstwerts dominieren das Erleben im aktiven Modus
zur Aufrechterhaltung des ständig bedrohten Selbstwertgefühls. Das
331
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
•
•
•
Selbstwertgefühl erscheint im passiven Modus – auch so erlebt – wie
eingebrochen.
Schuldkonflikt: Schuld wird über ein angemessenes Maß sich oder den
anderen aufgebürdet. Das führt im passiven Modus zur Neigung zu
Selbstvorwürfen, schneller Übernahme von Verantwortung, Selbstbestra
fung. Im aktiven Modus fehlt jegliche Form von Schuldgefühlen, Schuld
wird externalisiert, Schuldgefühle werden auf andere abgewälzt, es exis
tiert eine geringe Bereitschaft, eigene Verantwortung anzuerkennen.
Ödipaler Konflikt: Zentrales Motiv ist, die Aufmerksamkeit und An
erkennung als Mann oder Frau zu gewinnen. Erotik und Sexualität feh
len im passiven Modus in der Wahrnehmung, Kommunikation und im
Affekt oder bestimmen im aktiven Modus alle Lebensbereiche.
Identitätskonflikt: Gefühl des dauerhaften oder wiederkehrenden Iden
titätsmangels. Im aktiven Modus Vermeidung des Gewahrwerdens des
Identitätsmangels bis zum Beispiel zur Konstruktion eines Familienro
mans oder einer phantasierten Abstammung, im passiven Modus An
nahme des dauerhaften Identitätsmangels.
Die Achse IV beschreibt die Struktur, das heißt die funktionale Beziehung
des Selbst zu den Objekten, auf vier Dimensionen, innerhalb deren jeweils
zwischen dem Bezug zum Selbst und zu den Objekten unterschieden wird.
Das Strukturniveau schätzt die Verfügbarkeit psychischer Funktionen zur
Regulierung des Selbst und seiner Beziehung zu inneren und äußeren Ob
jekten ein.
•
•
Selbst und Objektwahrnehmung: Fähigkeit, sich selbstreflexiv wahrzu
nehmen mit den Unterdimensionen Selbstreflexion, Affektdifferenzie
rung und Identität sowie die Fähigkeit, andere ganzheitlich und rea
listisch wahrzunehmen, wie auch SelbstObjektDifferenzierung, das
heißt eigene Gedanken, Bedürfnisse und Impulse von denen anderer zu
unterscheiden.
Selbstregulierung und Regulierung des Objektbezugs: Fähigkeit, eige
ne Impulse zu steuern, Affekte und Selbstwert zu regulieren sowie die
Fähigkeit, den Bezug zum anderen regulieren zu können in der Form,
Beziehungen vor eigenen störenden Impulsen schützen, Interessen in
Beziehungen ausgleichen und die Reaktion des anderen antizipieren zu
können.
332
Methodenglossar
•
•
Emotionale Kommunikation nach innen und nach außen: Fähigkeit zur
inneren Kommunikation mittels Affekten, Phantasien und Körpererleben sowie die Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen, das heißt zur
Kontaktaufnahme, Mitteilung von Affekten und Empathiefähigkeit.
Bindung an innere und äußere Objekte: Fähigkeit, Objekte zu internalisieren und gute innere Objekte zur Selbstregulierung zu nutzen, variable innere Bilder entstehen zu lassen sowie Hilfe anzunehmen, sich zu
binden oder Bindungen zu lösen.
Es gibt jeweils vier Integrationsniveaus der psychischen Struktur, die von
gut integriert bis desintegriert abgestuft sind. Einem Menschen mit einer
gut integrierten psychischen Struktur steht ein psychischer Innenraum zur
Verfügung, in dem intrapsychische Konflikte ausgetragen werden können.
Bei mäßig integriertem Strukturniveau ist die Verfügbarkeit über intrapsy
chisch und interpersonell regulierende Funktionen auch prinzipiell erhal
ten, zugleich allerdings situativ reduziert. Diese regulierenden Funktionen
sind bei gering integriertem Strukturniveau entweder dauerhaft im Sinne
eines Entwicklungsdefizits oder wiederholt im Zusammenhang mit Belas
tungssituationen deutlich reduziert verfügbar, während bei desintegrier
tem Strukturniveau keine kohärente Selbststruktur mehr ausgebildet ist,
bei Belastungen besteht die Gefahr der Desintegration oder Fragmentie
rung.
Die Ratings erfolgen auf der Basis halbstrukturierter Interviews, die
mit Video aufgezeichnet werden. Ratings mittels OPD2 auf der Basis semi
strukturierter videographierter Interviews zeigen insgesamt befriedigende
Gütekriterien.
Zum Weiterlesen
Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (2006): Operationalisierte Psychodynamische Dia
gnostik OPD2. Bern: Hans Huber.
Dahlbender, Reiner W./Tritt, Karin (2011): Einführung in die Operationa
lisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD). In: Psychotherapie 16,
H. 1, S. 28–39.
333
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
7. Postskripte und Transkripte
Rolf Haubl
Es ist nicht ganz unvermeidlich, dass Interviewer und Interviewter, während sie miteinander sprechen, Gefühle, Gedanken und Handlungsbereitschaften entwickeln, die den Gesprächsverlauf beeinflussen, ohne dass sie
direkt am Transkript ablesbar wären, weil es innere Prozesse sind. Dazu
gehört auch, welche Bilder sich die Interviewpartner voneinander machen.
Postskripte (auch: Feldprotokolle) sind Beschreibungen, die nach einem
Interview angefertigt werden. In ihnen wird zum einen festgehalten, in
welchem raumzeitlichen Setting das Interview stattgefunden und wie die
ses womöglich Einfluss auf dessen Form und Inhalt genommen hat. Zum
anderen geben die Interviewpartner Einblick in ihr Erleben. In der Regel
legen nur die Interviewer ein solches Postskript an, wobei aber nichts da
gegen spräche, auch Interviewte um einen solchen Bericht zu bitten.
Ein Rückgriff auf Postskripte kann in der Auswertungsphase helfen,
Interpretationsansätze abzusichern oder zu verwerfen. Im Fokus steht
dabei die Qualität der Beziehung zwischen den Gesprächspartnern, ein
schließlich Verständigungskrisen, die eingetreten und (nicht) bewältigt
sind. Damit wird der Einsicht entsprochen, dass das, was in einem quali
tativen Interview gesagt wird, immer auch von der (aktuellen) Beziehung
derer abhängt, die einander begegnen und sich mehr oder weniger aufein
ander einlassen.
Wenn von qualitativen Interviews Audiomitschnitte angefertigt und
dann transkribiert werden, reduziert sich die vollsinnliche Begegnung zwi
schen einem Interviewer und seinem Interviewpartner auf den Austausch
verschrifteter Worte. Zwar erlaubt es eine Transkription, die streng dem
Wörtlichkeitsprinzip folgt und alles notiert, was in irgendeiner Weise ge
äußert wird, auch individuelle mikroskopische Eigentümlichkeiten von
Äußerungen – zum Beispiel fließendes oder stockendes Sprechen – abzu
bilden, etwa um Emotionen einzufangen, eine Reduktion bleibt es allemal.
Hilfreich können zwar auch Kommentare – wie zum Beispiel (flüstert) –
sein, die eingestreut werden, ohne dass sich dadurch an dem grundsätz
lichen Problem etwas ändert.
Bei der Arbeit mit Transkripten wird aus dem Hörer des gesprochenen
Wortes ein Leser des geschriebenen Wortes, der sich beim Lesen vorstellt,
334
Methodenglossar
wie das, was er liest, klingt. Zwar kann der Leser bei kritischen Passagen
in die Audioaufzeichnung hineinhören, um sich eines Eindrucks zu versichern, in praktischer Hinsicht sind die Möglichkeiten aber begrenzt.
Zum Weiterlesen
Dittmar, Norbert (2009): Transkription. Wiesbaden: Springer.
8. Qualitative Interviews mit den Patienten
Alina Brehm und Simone Rassmann
Mit den Patienten wurden zu drei Erhebungszeitpunkten qualitative Interviews geführt. Diese beinhalteten sowohl biographisch-narrative als auch
thematisch fokussierte Elemente, je nach Erhebungszeitpunkt mit unterschiedlicher Gewichtung. Im Gegensatz zum klassischen narrativen Interview waren Erzähl- und Nachfrageteil nicht strikt voneinander getrennt. Die
Gesprächssituation war eher dialogisch angelegt und zielte trotz einer gewissen Offenheit auf spezifische Zeitabschnitte und Themenschwerpunkte ab.
Das erste Interview dauerte durchschnittlich zwei Stunden und war am
offensten angelegt, da es sich auf die bisherige Lebensgeschichte (mit beson
derem Augenmerk auf Erwerbsarbeit) bis zum Zeitpunkt des Beginns der
Therapie in der Klinik bezog. Im zweiten Interview, das durchschnittlich
eine Stunde dauerte, standen vor allem thematisch fokussierte Fragen zu
Erfahrungen in der Therapie im Mittelpunkt. Eher prospektiv ausgerichtet
war das dritte und letzte Interview, das einige Zeit nach dem Klinikauf
enthalt stattfand und vor allem die Erfahrungen seit dem Klinikaufenthalt
sowie Zukunftsgedanken beinhaltete.
Die aufgezeichneten Interviews wurden transkribiert und in anonymi
sierter Form dem übrigen Teil der Forschungsgruppe für ihre je individuel
le sowie gemeinsame Interpretation zugänglich gemacht.
Biographisch orientierte Interviews sind vor dem Hintergrund einer
gemeinsamen soziologischen und psychoanalytischen Betrachtungsweise
geeignet für die qualitative Sozialforschung mit psychosomatisch erkrank
ten Menschen. Dies deshalb, weil hierbei psychosomatische Krankheit als
»komplettierendes Element einer Lebensgeschichte« verstanden werden
335
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
kann. Das Symptom kann also nur in seiner Eingebundenheit in die Gesamtheit der Biographie (und hier im Speziellen die Aspekte, die etwas mit
Erwerbsarbeit zu tun haben), nach der bei dieser Art des Interviews gefragt
wird, verstanden werden.
In unserem Projekt wurden die Interviewer von den Patienten unterschiedlich adressiert. So wurden sie nicht nur als Sozialforscher wahrgenommen, sondern von einigen auch als therapeutisch Arbeitende, die nämlich zuhören und interessiert nachfragen zu sehr persönlichen Themen,
wie der Familie und der eigenen Biographie. Zudem gab es auch Interviewte, die den Interviewern anscheinend ein fast ausschließliches Interesse an
der Erwerbsarbeit unterstellten und sich in ihrer Erzählung auf das Berufsleben fokussierten. Vor dem Hintergrund der biographisch-narrativen Elemente des Interviews ist dies nicht verwunderlich, da es in solchen Settings häufig zu dieser Art von Rollenzuschreibungen kommt (Rosenthal
2011). Bemerkenswert war jedoch die Veränderung der Interviewdynamik
vom ersten bis zum dritten Interview hinsichtlich der Übertragungs und
Gegenübertragungsdynamik durch den voranschreitenden Beziehungs
aufbau über die Zeit hinweg. Hierbei ist zudem äußerst wichtig, wie das
Interview und Forschungsinteresse den Interviewten vermittelt wird. Die
Interviewer haben aufgrund ihrer persönlichen Vorerfahrungen und ihrer
unterschiedlichen fachlichen Prägung spezifische Zugänge und Übertra
gungen (von Gefühlen, Erwartungen, Wünschen), die in die spätere Inter
pretation miteinbezogen und reflektiert wurden.
In der Interviewdynamik zeigten sich teilweise die einzelnen Krank
heitssymptome der Interviewten. So musste ein Interview bewusst kurz
gehalten werden, weil der Interviewpartner durch motorische Störungen
stark körperlich geschwächt war. Auch die Orientierungslosigkeit eines Pa
tienten wurde in der Interviewsituation deutlich erkennbar, da er selber
nicht dazu in der Lage zu sein schien, eigene Erklärungen zu finden, son
dern jeden Gedanken des Interviewers dazu bereitwillig annahm.
Der Fragestil der Interviews war nicht konfrontativ oder direktiv an
gelegt. Trotzdem kam es bei den Interviewern teilweise in der Gegenüber
tragung zu einem Anzweifeln der Erzählungen der psychisch erkrankten
Menschen. Deshalb ist besonders zu betonen, dass alle Aussagen aus den
Interviews subjektive Wahrnehmungen und Interpretationen der Inter
viewten sind. Daher geht es bei der Analyse der Interviews nicht darum,
den Wahrheitsgehalt bzw. die Glaubwürdigkeit der Erzählungen zu über
336
Methodenglossar
prüfen. Die Darstellung der eigenen Lebensgeschichte und des subjektiv
empfundenen Leids wird als solches ernst genommen. Denn auch der Eindruck, etwas nicht der Wahrheit Entsprechendes erzählt zu bekommen,
kann auf eine Abwehr gegen das Anerkennen der gegebenenfalls schmerzlichen Lebensrealität der Patienten hinweisen.
Zum Weiterlesen
Hopf, Christel (2012): Qualitative Interviews – ein Überblick. In: Flick,
Uwe (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 9. Auflage, Rein
bek bei Hamburg: Rowohlt TaschenbuchVerlag, S. 349–360.
Rosenthal, Gabriele (2011): Interpretative Sozialforschung. In der Reihe:
Grundlagentexte Soziologie. Hrsg. Hurrelmann, Klaus, aktualisierte
und ergänzte 3. Auflage, Weinheim, München: Juventa.
Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In:
Neue Praxis 13, H. 3, S. 283–293.
9. Supervision
Rolf Haubl
Integraler Bestandteil des Forschungsprozesses ist ein Supervisionsange
bot für die ärztlichen Psychotherapeuten, die unsere Studienpatienten im
Rahmen von deren stationärem oder teilstationärem Klinikaufenthalt be
handelt haben.
Jeder Therapeut hat mindestens eine Supervisionssitzung pro Studien
patient erhalten, bei angemeldetem Bedarf auch zwei. Bis auf wenige, prag
matisch bedingte Ausnahmen sind alle Therapeuten von demselben Super
visor supervidiert worden. Dadurch erhielt dieser einen guten Überblick
über interindividuelle Unterschiede im therapeutischen Selbstverständnis
der Therapeuten, abhängig von Alter, Geschlecht und Ausbildungsstatus.
Da manche Therapeuten mit mehreren Studienpatienten vertreten sind,
konnte der Supervisor auch unterschiedliche »Passungen« von Therapeut
und Patient beschreiben.
Von »Supervision« zu sprechen hat bei einigen Therapeuten die Phanta
sie hervorgerufen, ihre Arbeit werde durch die »Wissenschaftler« des Projek
337
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
tes evaluiert, weil ja bekannt war, dass wir vermuten, arbeitsbezogene psychische Belastungen kämen in der Klinik zu selten oder nur unangemessen
zur Sprache. Um diese Phantasie nicht zu befördern, haben wir bald eine
treffendere Bezeichnung gewählt: Die gut einstündigen Gespräche »Experteninterview« zu nennen und sie auch dementsprechend zu führen hat die
Situation merklich entspannt.
Der »Supervisor« ist zwar ein festes Mitglied der Forschungsgruppe,
kennt aber die Interviews mit den Patienten nicht und hat auch nicht an
den Interpretationsgruppen teilgenommen, in denen die einzelnen »Fälle«
diskutiert worden sind. Das heißt: Er begegnete den Behandlungsberichten
der Therapeuten so unvoreingenommen wie möglich, sodass deren eigene
Relevanzen leitend werden konnten.
Wiederkehrende Themenschwerpunkte waren:
•
•
•
Welche Ziele verfolgt der Therapeut für den Aufenthalt des Patienten in
der Klinik? – im Vergleich mit den Zielen, die der Patient in den Interviews mit ihnen nennt.
Welche Bedeutung schreibt der Therapeut den Arbeitsbelastungen des
Patienten als Ursache für dessen »Erkrankung« zu? – im Vergleich mit
der Bedeutung, die der Patient ihnen zuschreibt.
Mit welcher Haltung und mit welchen Interventionen begegnet der
Therapeut seinem Patienten, und für wie therapeutisch erfolgreich erachtet er diesen Zugang? – im Vergleich mit dem, was der Patient in den
Interviews als erfolgreich angibt?
Darüber hinaus wird der Therapeut gebeten, den fokussierten Patienten
mit anderen Patienten zu vergleichen, die er aktuell behandelt bzw. früher behandelt hat. Worin sieht er signifikante Ähnlichkeiten, worin signi
fikante Unterschiede? Nimmt er typische Belastungsursachen und Bewäl
tigungsverläufe wahr?
Der »Supervisor« war auch gehalten, in den Gesprächen die Arbeits
bedingungen der Therapeuten zu thematisieren, zuzüglich ihrer Beobach
tungen, dass und wie sich die beiden Kliniken, die an der Untersuchung
teilgenommen haben, darin unterscheiden. Seine Organisationsbeobach
tungen hat der »Supervisor« protokollarisch festgehalten, um sie gegebe
nenfalls auszuwerten. Eine systematische Auswertung hat allerdings bisher
338
Methodenglossar
nicht stattgefunden, gelegentlich sind diese Daten aber genutzt worden,
um einen (atmosphärischen) Eindruck von der (differenziellen) Organisationskultur zu erhalten, die in beiden Kliniken besteht.
Auch wenn gelegentlich diagnostische Fragen in den Gesprächen mit
den Therapeuten verhandelt worden sind, war nie an eine klinische Supervision gedacht, weshalb der ausgewählte »Supervisor« seiner Profession
nach auch kein Kliniker, sondern Sozialwissenschaftler ist. So wie sich
die Forschungsgruppe für eine interdisziplinäre bzw. interprofessionelle
Zusammensetzung entschieden hat, so sollte auch die disziplinäre bzw.
professionelle Differenz erkenntnisproduktiv gemacht werden. Wenn die
Therapeuten in den »Experteninterviews« auf einen Sozialwissenschaftler
und dessen Fragen treffen, würden sie, jedenfalls war das die Vorannahme,
gehalten sein, ihre klinischen Selbstverständlichkeiten zu explizieren. Ein
Moment wechselseitiger »Fremdheit« haben wir dafür als hilfreich erachtet.
Parallel dazu haben die Patienteninterviewer immer auch den interviewten Patienten gegenüber betont, dass sie keine Kliniker sind. Ob die in
Anspruch genommene Differenz tatsächlich gegriffen hat, ist nicht sicher.
Patienten haben ihre Interviewer als Personen adressiert, die sich mit ihren
gesundheitlichen Beeinträchtigungen auskennen. Des Öfteren haben die
Patienteninterviewer diese Rolle auch übernommen. Desgleichen ist es in
den »Experteninterviews« nicht ausgeblieben, dass die Rollen wechselten,
wobei der »Supervisor« das eine oder andere Mal der Versuchung nachgegeben hat, sich dem interviewten Therapeuten gegenüber als der »bessere«
Kliniker darzustellen.
Zum Weiterlesen
Gotthardt-Lorenz, Angela/Hausinger, Brigitte/Sauer, Joachim (2017): Die
supervisorische Forschungskompetenz. In: Pühl, Harald (Hrsg.): Das
aktuelle Handbuch der Supervision. Gießen: Psychosozial-Verlag,
S. 362–381.
339
Autorinnen und Autoren
Alsdorf, Nora, Dipl.-Soz., wissenschaftliche Mitarbeiterin am SigmundFreud-Institut, promoviert zum Thema »Subjektive Krankheitstheorien«.
Brehm, Alina, B. A. Soziologie, studentische Hilfskraft an der Professur
für psychoanalytische Sozialpsychologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. War als Gaststudentin im Sigmund-Freud-Institut am Projekt beteiligt.
Engelbach, Ute, Dr. med., Fachärztin für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie, Diplom-Pädagogin, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Frankfurt am
Main.
Flick, Sabine, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für
Soziologie der Goethe-Universität sowie assoziierte Wissenschaftlerin am
Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main.
Haubl, Rolf, Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie im Ruhestand, ehemaliger Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, Forschungsschwerpunkte u. a. »Krankheit und Gesellschaft«.
Rassmann, Simone, M. A. Soziologie, wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, war
während ihres Studiums im Rahmen eines Praktikums im Sigmund-FreudInstitut am Projekt beteiligt.
Samus, Andreas, B. Sc. Psychologie, B. A. International Business & Marketing, wissenschaftliche Hilfskraft am Fachgebiet Sozialpsychologie: Medien
341
Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt
und Kommunikation an der Universität Duisburg-Essen. War als Praktikant am Sigmund-Freud-Institut und als Gaststudent am Institut für Sozialforschung am Projekt beteiligt.
Voswinkel, Stephan, PD Dr., (Arbeits- und Organisations-)Soziologe am
Institut für Sozialforschung und Privatdozent an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main.
Kontaktadressen
PD Dr. Stephan Voswinkel, voswinkel@em.uni-frankfurt.de
Institut für Sozialforschung
Senckenberganlage 26
60325 Frankfurt am Main
Prof. Dr. Rolf Haubl, haubl@sigmund-freud-institut.de
Nora Alsdorf, alsdorf@sigmund-freud-institut.de
Sigmund-Freud-Institut
Myliusstraße 20
60323 Frankfurt am Main
342
Kerstin Jürgens, Reiner Hoffmann, Christina Schildmann
Arbeit transformieren!
Denkanstöße der Kommission »Arbeit der Zukunft«
Juni 2017, 256 Seiten, kart.,
24,99 €, ISBN 978-3-8376-4052-6
Open Access
Die Arbeitswelt wird sich in den kommenden Jahrzehnten fundamental verändern.
Welche Kräfte wirken auf dem Arbeitsmarkt? Mit welchen Veränderungen ist zu rechnen? Und was bedeutet dies für die arbeitsmarktpolitischen Akteure?
Dieser Abschlussbericht der Kommission »Arbeit der Zukunft« – mit Mitgliedern aus
Wissenschaft und Praxis, Wirtschaft und Gewerkschaften – liefert eine Diagnose der
aktuellen Lage und gibt einen Ausblick auf die Zukunft der Arbeit. Vor allem aber liefert die Kommission Denkanstöße dafür, wie die Gesellschaft den rasanten Wandel
so meistern kann, dass Arbeit in der digitalen Ökonomie soziale Teilhabe und mehr
als die bloße Existenzsicherung garantiert.
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Soziologie
Carlo Bordoni
Interregnum
Beyond Liquid Modernity
2016, 136 p., pb.
19,99 E (DE), 978-3-8376-3515-7
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PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1
EPUB: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7
Sybille Bauriedl (Hg.)
Wörterbuch Klimadebatte
2015, 332 S., kart.
29,99 E (DE), 978-3-8376-3238-5
E-Book
PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9
Mathias Fiedler, Fabian Georgi, Lee Hielscher, Philipp Ratfisch,
Lisa Riedner, Veit Schwab, Simon Sontowski (Hg.)
movements. Journal für kritische
Migrations- und Grenzregimeforschung
Jg. 3, Heft 1/2017: Umkämpfte Bewegungen nach
und durch EUropa
April 2017, 236 S., kart.
24,99 E (DE), 978-3-8376-3571-3
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