Das Mittelalter 2020; 25(1): 205–246
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https://doi.org/10.1515/mial-2020-0016
Anna Kathrin Bleuler (Hg.) unter Mitarbeit von Anja-Mareike Klingbeil,
Welterfahrung und Welterschließung in Mittelalter und Früher Neuzeit
(Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit, Band 5).
Heidelberg, Winter 2017. VI, 346 S.
Besprochen von Daniela Fuhrmann: Zürich, E ˗ Mail: daniela.fuhrmann@uzh.ch
Im Band ‚Welterfahrung und Welterschließung in Mittelalter und Früher Neuzeit‘
sind die Beiträge zweier Ringvorlesungen zusammengeflossen, die vom Interdisziplinären Zentrum für Mittelalterstudien an der Universität Salzburg veranstaltet
wurden. So ist – dem Ursprungsformat treu bleibend – die Stärke des Bandes definitiv in seinem Charakter als Einführung zu suchen, ja das von Anna Kathrin
B LEULER
LEUL ER herausgegebene Buch scheint sich selbst geradezu als Medium der Welterschließung, der Erfahrung vormoderner Welt zu begreifen, in die es – orientiert
an zwei Themen und mit mannigfaltigen illustrierenden bis illustren Quellenzitaten – diverse Einblicke ermöglicht.
Die vom Ankündigungstext herausgestellte Reflexion von Weltmodellen, in
denen sich mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaften ihre nähere sowie
fernere topographische, soziale wie mentale Umgebung zugänglich machten, gerät dabei jedoch in den Hintergrund. Dies spiegelt bereits das Inhaltsverzeichnis:
Der Band unterliegt einer Zweiteilung, wobei sich bloß die ersten sechs Aufsätze
mit „Weltbildern, Welterfahrung und Weltwahrnehmung“ befassen. Weitere zehn
Beiträge haben „Rituale – Feste – Zeremonien“ zum Thema, die, wie die knapp
gehaltene Einführung mit einem einzigen Verweis auf Gert M ELVILLE s Überlegungen zum ‚mittelalterlichen Hof‘ erläutert (S. 3), als zeichenhafte Interaktionsformen zu verstehen seien, die das Selbstverständnis von Gesellschaften entwickeln,
erneuern, stabilisieren und auf Dauer zu stellen hülfen und daher als Repräsentationen von Weltvorstellungen gelesen werden könnten. Abgesehen von den
wenigen einleitenden Worten, die insgesamt eher als kommentiertes Inhaltsverzeichnis fungieren, findet sich die Frage nach der Beteiligung dieser Interaktionsformen an der Konstruktion und Kommunikation von Weltbildern oder aber am
Prozess der Erschließung von Welt kaum reflektiert, sodass leise Zweifel an einer
vorgängigen einheitlichen thematischen Konzeption der hier zusammengeführten Dokumentationen zweier Ringvorlesungen entstehen.
So präsentiert der Band im ersten thematischen Abschnitt zum Beispiel Artikel über die mittelalterliche Vorstellung der Erde als Kugel (S. 9–24), eine durch
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historische Ereignisse und Reiseberichte präformierte Erfahrung der Mongolei
(S. 69–88) oder über ein Reliquiar, dessen Steinbesatz die Heilsgeschichte andeutet (S. 25–46). Diese kombiniert er unter anderem mit einer Darstellung
ausgewählter Feste innerhalb der mittelalterlichen Erzählliteratur (S. 135–154),
einer Bestandsaufnahme von Trinkgelagen in der russischen (Chronik-)Literatur
(S. 179–203), einer Entstehungsgeschichte der christlichen Messliturgie im Mittelalter (S. 227–248) sowie mit der Definition und Erklärung einer Haggada im Allgemeinen (S. 273–287) und der Beschreibung der Sarajevo-Haggadah im Besonderen (S. 289–304) im zweiten thematischen Großkapitel.
Diese meist mehr auf Deskription denn auf Analyse bedachte Zusammenstellung ist im Rahmen einer Ringvorlesung sicherlich probates Mittel, Studierenden
einen schillernden Einblick in die ‚dunkle Epoche‘ zu geben, deren partielles Fortleben in der Gegenwart sichtbar zu machen und so Interesse für das Mittelalter
bzw. die Vormoderne zu wecken; für die zum Aufsatz ausgearbeiteten Fassungen
hätte man sich jedoch mehr analytischen Tiefgang sowie insbesondere für Teil II
eine Ausrichtung auf das Thema des Bandes gewünscht. Denn auch wenn die
Publikation aus der universitären Lehre hervorgegangen ist und sich, wie B LEULER in ihrer Einführung ausdrücklich hervorhebt, an „Fachpublikum als auch Studierende“ (S. 1) richtet, erwartet man sich als Angehöriger der ersten Gruppe von
einem Artikel ein wenig mehr als – und ich folge hier der Eigenbezeichnung der
Autorin des letzten Beitrags – „ein erweitertes Vorlesungsmanuskript“ (S. 305,
Anm. 1).
Auch wenn man ihm die vielfach gezeigte Sensibilität fachlich nicht vorgebildeten Lesern gegenüber sowie die erfreuliche Dichte an verschiedenen Quellen
zugutehält, will der Sammelband als forschungsrelevante Publikation in seiner
interdisziplinären Ausrichtung, dem Fokus auf zwei Themenkomplexe sowie der
anvisierten Spannbreite im Zielpublikum am Ende doch zu viele Ansprüche unter
einem Buchdeckel vereinen, um im Ergebnis überzeugend zu sein.
Jörn Bockmann u. Regina Toepfer (Hgg.), Ambivalenzen des geistlichen Spiels.
Revisionen von Texten und Methoden (Historische Semantik 29). Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 362 S., 6. Abb.
Besprochen von Florian M. Schmid: Greifswald, E ˗Mail: florian.schmid@uni-greifswald.de
Der kulturwissenschaftlich ausgerichtete Band widmet sich Phänomen und
Begriff der Ambivalenz in Bezug auf das geistliche Spiel vom Mittelalter bis zur
Reformationszeit. Vorausgesetzt wird der Konsens, dass Ambivalenzen als Charakteristikum geistlicher Spiele anzusehen sind, um zu diskutieren, inwiefern
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Ambivalenz als analytisches Leitparadigma für die aktuelle Forschung erkenntnisführend sein kann. Auf die Einleitung folgen, in fünf thematische Schwerpunkte gegliedert, 13 germanistische Beiträge und ein Beitrag aus der mittellateinischen Philologie. Das knapp sechsseitige Personen- und Werkregister listet
auch (biblische) Figuren; ein Sachregister ist leider nicht vorhanden.
Einleitend werden wissenschaftsgeschichtlich Neuperspektivierungen wie
Desiderata hinsichtlich einer Ambivalenz im geistlichen Spiel skizziert; wesentlicher Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung ist hier wie für viele
der Beiträge Rainer W ARNING s Untersuchung ‚Funktion und Struktur: die Ambivalenzen des geistlichen Spiels‘ (1974). B OCKMANN und T OEPFER reflektieren den Ambivalenzbegriff, auch in Abgrenzung zur rhetorisch verankerten Amphibolie bzw.
Ambiguität, in psychologischer (erste terminologische Verwendung), soziologischer, religionswissenschaftlicher sowie germanistischer Perspektive und stellen
Möglichkeiten wie Grenzen der Übertragbarkeit bzw. Anwendbarkeit der fachspezifischen Begriffsbestimmungen für die Spielforschung heraus. Ambivalenz bestimmen sie als „ein geeignetes Untersuchungsinstrument, die geistlichen Spiele
im konkreten Einzelfall wie als Gattungsexempel im Spannungsfeld gegensätzlicher wie mehrdeutiger Werte, Formen und Funktionen genau zu verorten und so
literaturgeschichtliche Entwicklungslinien nachzuzeichnen“ (22).
Die einzelnen Beiträge stellen unterschiedliche Bestimmungen und Ausprägungsgrade von Ambivalenz vor bzw. stellen Ambivalenz als Merkmal und/oder
literaturwissenschaftliche Kategorie infrage. Im thematischen Schwerpunkt ‚Ritualität‘ erkennt Ch. P ETERSEN in der kontextspezifischen Verwendung wie Funktionalisierung des Strukturmuster des Dreischritts eine textanalytisch nachweisbare Ambivalenz des geistlichen Spiels zwischen Ritualität und Literarizität. G.
E HRSTINE weist mit Blick auf Frömmigkeitspraxis und christliche Funktion der
Spiele auf die Möglichkeit des Nebeneinandersetzens von Polen hin, die nicht
gegeneinander ausgespielt werden müssten. H.-R. V ELT EN versteht Krämerspiele
als Spiele im Spiel, deren ausgestellte Komik unter Einbezug ritueller Substrate
eine Zwei- oder Vieldeutigkeit des Profanen herausstelle; dies im Gegensatz zur
Eindeutigkeit des Heiligen. Im Bereich ‚Emotionalität‘ stellt U. B ARTON die Eigengesetzlichkeiten des Ästhetischen heraus, sodass das durch Marienklagen
evozierte Mitleid ambivalent zwischen religiös-mystischer und ästhetisch-literarischer Erfahrung liege. Für J. G OLD ist nur das in paränetisch-didaktischer Hinsicht
erregte Mitleid bei der negativ gekennzeichneten Figur des Teufels aufgrund eines
Gegensatzes zwischen christlichem Mitleidsgebot und christlichem Gerechtigkeitssinn ambivalent. C. D AUVEN - VAN K NIPPENBERG fragt nach Möglichkeiten der
Synthese von Dualitäten, die sie nur in individueller oder klösterlicher Rezeption
erkennt. Zum Thema ‚Überlieferungsgeschichte‘ hebt W. W ILLIAMS
IL LIAMS -K RAPP in einem überlieferungs- und textgeschichtlich ausgerichteten Beitrag die Relevanz
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von historischem Traditionszusammenhang und Gebrauchsfunktion hervor, um
Lesehandschriften von für Aufführungen konzipierten Spieltexten abzugrenzen.
Ebenso weist C. H ERBERICHS auf mögliche Verschränkungen von Aufführungsund Lesepraktiken sowie Wechselwirkungen von Aufführung und Schrift hin. In
Bezug auf Figurenkonstellation arbeitet J. E MING für die Figur der Maria Magdalena heraus, dass im Dienst einer Anschaulichkeit keine Ambivalenz inszeniert,
sondern ihre (faszinierende) Sündhaftigkeit über Schönheit und verführerisches
Agieren herausgestellt werde. Auch E. U KENA -B EST schließt in ihrer Untersuchung
des Salomo (als weisen König wie Minnesklaven) darauf, dass Ambivalentes eher
vermieden bzw. aufgehoben werde. Hinsichtlich der ‚Gattungsgeschichte‘ erläutert F. R ÄDLE die christliche Erbauungsfunktion des Gesamtwerks der ersten Dramatikerin des deutschen Sprachraums, Hrotsvit von Gandersheim. V. L INSEIS erkennt in ihrem Beitrag zum Einsatz von physischer und psychischer Gewalt in
Märtyrerdramen keine eindeutige Ambivalenz im Sinn eines Dualismus, Gegenfiguren seien als Werkzeuge für den Glauben instrumentalisiert. U. M ÜLLER und
K. W OLF fragen nach Ambivalenz in Dramen der Reformationszeit und ordnen das
überlieferungsnah edierte ‚Königsberger Fastnachtsspiel‘ ambivalent zwischen
spätmittelalterlichem Fastnachtsspiel und frühneuzeitlicher Komödie ein. K.
F REUND beobachtet eine Reduktion, jedoch keine Auflösung texteingeschriebener
Ambivalenzen im reformatorischen Drama und stellt ebenfalls die Frage nach seiner Einordnung als geistliches Spiel. Insgesamt ist es ein vielseitiger, oft geistreicher Band, der Ambivalenz(en) von unterschiedlichen Seiten beleuchtet und zu
weiterführenden Studien anregen kann.
Annette C. Cremer, Anette Baumann u. Eva Bender (Hgg.), Prinzessinnen
unterwegs. Reisen fürstlicher Frauen in der Frühen Neuzeit (Bibliothek Altes Reich
22). Berlin/Boston, De Gruyter 2018. VIII, 301 S., 20 Abb.
Besprochen von Pauline Puppel: Berlin, E ˗Mail: pauline@puppel.de
Migration, Mobilität und Reisen gehören seit jeher zu den Kulturpraktiken, die
Menschen unabhängig von Geschlecht, Stand oder Religion ausüben. Die Reisetätigkeit in der Vormoderne wurde bislang vor allem mit dem Schwerpunkt auf
Reisen von Männern erforscht. Um die Reisen von Frauen in den Fokus des Erkenntnisinteresses zu rücken, haben die drei Herausgeberinnen im Januar 2016
eine Tagung veranstaltet; acht der zehn Vorträge haben Eingang in den vorliegenden Sammelband gefunden, der um fünf Beiträge erweitert wurde. Aufgrund der
sehr guten Quellenbasis liegt der Akzent auf den Reisen von Fürstinnen vom Beginn des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts.
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Anette B AUMANN stellt zunächst das breite Spektrum der in chronologischer
Reihenfolge angeordneten 13 Beiträge vor. „Forschungsstrategische Überlegungen“ stellt Annette C. C REMER mit ihrem einleitenden Beitrag an, in dem sie das
Forschungsfeld abschreitet und sich auf die Spur von reisenden Prinzessinnen
und Fürstinnen begibt (S. 1–36). Sie unterstreicht zu Recht, dass reisende Damen
weder „Ausnahmen“ (S. 1), noch Reisen von Damen eine „Sonderform“ (S. 5) waren. Ihre detaillierte Analyse der Reisen von Sophie von Hannover (1630–1714)
visualisiert sie mit einer Karte. Anhand dieser Reisen schlägt C REMER eine Klassifikation verschiedener Reise-Typen vor (S. 11, 27). Abgesehen von kreativen Wortneuschöpfungen („Fürstinnenwitwe“, S. 13), stilistisch-sprachlichen Mängeln wie
‚männliche‘ oder ‚weiblichen‘ Reise oder ‚männlicher‘ bzw. ‚weiblicher‘ Hochadel
sowie durchgängig falscher Artikel vor fremdsprachlichen termini technici (im Übrigen korrekt: splendor familiae, S. 5) macht C REMER allerdings auch fehlerhafte
Angaben. Zwei Beispiele mögen genügen: Sophie Charlotte (1668–1705) war nicht
Königin „von“ Preußen (S. 17, Unsicherheiten bei der Verwendung von Adelstiteln auch S. 34) und Archivwissenschaftler sprechen nicht von „Originale[r] Abschrift“ (S. 17, Anm. 58). Dies sind nur ärgerliche Quisquilien, weniger verzeihlich
sind hingegen sachlich falsche Aussagen. C REMER ist z. B. der Ansicht, dass die
Alpen im Winter nicht überquert werden konnten (S. 3f.). Dabei übersieht sie jedoch, dass diese Jahreszeit zwangsläufig für die Reise zu dem beim deutschen
Hochadel sehr beliebten Karneval in Venedig gewählt werden musste (vgl.
A. G IDL : Alpenreisen). Außerdem geht sie davon aus, dass die die Dame begleitende Entourage zum einen die Garantie für die eigene Kultur und zum anderen
für die soziale Kontrolle gewesen sei (S. 6). In diesem Zusammenhang fehlen Analysen über die Zusammensetzung und die Größe der Entourage als sinnfälligem
Ausdruck der jeweiligen Position innerhalb der Adelshierarchie. C REMER s Argumentation ist teilweise chronologisch nicht schlüssig, darüber hinaus zieht sie
Vergleiche in die Neuzeit und in völlig andere historische Kontexte. Der Verweis
auf die Brautfahrt von Amalie Auguste von Leuchtenberg (1812–1873) nach Brasilien im Jahr 1829 ist für die Reisen fürstlicher Frauen in der Frühen Neuzeit nur
bedingt hilfreich. Blieb die Verfasserin argumentativ mit Napoléons Stiefenkelin
zumindest in der Sphäre des Hochadels, so hinkt m. E. der Vergleich der Reisen
von Fürstinnen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation mit den Reisen
englischer Adeliger (S. 1, 27f.), zumal C REMER selbst betont, dass im Zentrum des
Erkenntnisinteresses die Reisen von weiblichen Angehörigen dynastischer Fürstenstaaten stehen (S. 32f.).
Die folgenden Beiträge sind chronologisch geordnet. Mit den Reisen der Königinnen von Frankreich in der Renaissance beginnt Caroline ZUM K OLK , die eine
auf einer breiten Quellenbasis beruhende detailreiche Analyse der „Frauenreisen
im Spiegel höfischer Itinerare“ vorlegt (S. 43–56). Sie unterstreicht, dass die Rei-
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sen französischer Adeliger anders akzentuiert waren als die des deutschen Adels.
Am Beispiel der Reisen von Erzherzogin Anna Catherina Gonzaga (1566–1621)
weist Elena T ADDEI nach, dass italienische Damen anders als adelige Frauen im
Reich meist gemeinsam mit einem männlichen Familienmitglied reisten
(S. 57–76). Die im Jahr 2016 verstorbene Jutta S CHWARZKOPF , der die Herausgeberinnen den Band widmen, hat die „Die Rundreisen Königin Elisabeths I.
(1533–1603) von England durch ihr Reich“ analysiert (S. 77–88). Sie kam zu dem
Ergebnis, dass die symbolische Kommunikation der Untertanen mit der Königin
mithilfe der sogenannten ‚Pageants‘ ein Element der Reisen bildete. Mit den fundiert untersuchten „Besuchen von Fürstinnen und Prinzessinnen am Gothaer Hof
zwischen 1660 und 1756“ stellt Holger K ÜRBIS einen Ort vor, der Ziel einer Reise
war (S. 89–108). Philipp H AAS stellt die „Reisen einer Regentin“ vor (S. 109–132).
In seine Interpretation der Reise von Hedwig Sophie von Hessen-Kassel
(1623–1683) zu ihrer Tochter an den dänischen Hof bezieht er Ergebnisse der jüngeren Frauen- und Geschlechterforschung nicht angemessen ein. Teresa S CHRÖDER -S T
TAPPER
APPER unterstreicht am Beispiel der Herforder Äbtissin Charlotte Sophie
von Kurland (1651–1728) zu Recht, dass für Äbtissinnen und Kanonissen in der
Vormoderne bei den Reisen nicht ihre ‚geschlechtliche Markierung‘, sondern andere Kriterien wie Stand, Status, Alter und Konfession stärker berücksichtigt werden sollten (S. 133–154).
Ein klassischer rite de passage steht bei Sandra H ERTEL im Fokus, die die Antrittsreise Erzherzogin Maria Elisabeths (1680–1741) von Wien nach Brüssel im
Jahr 1725 untersucht und herausarbeitet, dass das Frau-Sein durchaus zu zeremoniellen Differenzen führen konnte, jedoch nach Antritt des Statthalter-Amts keine
Rolle mehr spielte. Christian G EPP und Stefan L ENK skizzieren die Brautfahrten der
beiden Erzherzoginnen Maria Carolina 1768 und Maria Amalia 1769 (S. 171–190).
Europareisen hochadliger Frauen aus Russland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt Stefan L EHR vor (S. 191–218). Er betont, dass noch am Ende des
Ancien Régimes länderspezifische Eigenschaften die Reisen hochadeliger Frauen
strukturierten. Grenzen, an die Damen bei ihren Reisen stoßen konnten, kommen
in dem ‚Quellenbericht‘ von Katrin G ÄDE zur Sprache (S. 219–234). Am Beispiel
von Marie Friederike von Anhalt-Bernburg (1768–1839) zeigt sie, wie die Reisen
von den Akteurinnen und Akteuren unterschiedlich gedeutet und bewusst instrumentalisiert wurden. Martin K NAUER untersucht die Reise einer Fürstin im napoleonischen Staatskult am Beispiel von Katharina von Westphalen (1783–1835)
(S. 235–249). Er arbeitet die symbolische Dimension einer politisch konnotierten
Reise heraus. Die unterschiedlichen Akzente von verschiedenen Reisen einer
Fürstin erläutert Birte F ÖRSTER , die ‚Fahrten‘ von Luise von Preußen (1776–1810)
untersucht (S. 249–268). Sie argumentiert, dass die selbständige Reisetätigkeit
der Königin durch das neue Ideal der ‚bürgerlichen‘ Herrscherin eingeschränkt
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wurde. Abschließend wendet sich Christina V ANJA mit den ‚Badreisen‘ der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758), der Kurfürstin Maria Anna Sophie
von Bayern (1728–1797), der Königin Amalie von Griechenland (1818–1875) und
der Erbgroßherzogin Mathilde von Hessen-Darmstadt (1813–1862) einer dezidiert
weiblich konnotierten Reiseform zu (S. 269–292). Sie unterstreicht, dass Kuraufenthalte der gesundheitlichen Stabilität und insbesondere der Verbesserung der
Fruchtbarkeit dienen sollten.
Alle Beiträge sind illustriert, fast alle mit Porträts der reisenden Damen. Die
Herausgeberinnen visualisieren darüber hinaus die Reiserouten auf zeitgenössischen Karten. Der Maßstab hätte allerdings kürzeren Reiserouten angepasst werden sollen; die Reise von Mathilde von Hessen und bei Rhein auf dem Landweg
von Darmstadt über Schwalbach nach Ems ist leider kaum zu erkennen (S. 285).
Trotz aller Kritik an C REMER s einleitenden „Forschungsstrategien“ und an einzelnen Aspekten, die bei einem bunten Strauß von Beiträgen unterschiedlich qualifizierter Verfasserinnen und Verfasser nicht ausbleiben kann, ist dem Forschungsfeld eine breite Rezeption zu wünschen. C REMER hebt zu Recht hervor,
dass Fürstinnen zu jeder Zeit reisten (S. 35). Es wird deutlich, dass die Vielfalt von
Reisen fürstlicher Frauen in der Frühen Neuzeit systematisiert werden könnten,
obwohl, wie C REMER unterstreicht (S. 14), eine Reise selten aus einem einzigen
Grund oder zu einem einzigen Sinn und Zweck unternommen wurde. Nun ist zu
konstatieren, dass auch die Reisen von hochadeligen Männern überaus vielfältige
Anlässe und Ziele hatten und daher „Mischformen“ (S. 14) waren. Zu C REMER s
Aussage zu den Klagen über die Beschwerlichkeit von Reisen (S. 22) ist anzumerken, dass sich dieser Topos selbstverständlich auch in den Reisebeschreibungen
von Männern findet. Die getrennte Analyse der Reisen von Männern und Reisen
von Frauen erscheint für die vormoderne Epoche, die durch die geringe Trennschärfe der „öffentlichen“ von der „privaten“ Sphäre und die in der ständischen
Gesellschaft nachgeordnete binäre Trennung der Geschlechter geprägt ist, m. E.
weniger gewinnbringend als die Untersuchung der inhaltlichen Ausrichtungen
von Reisen (hoch-)adliger Menschen. Die Reisepraxis (Hoch-)Adeliger, die nach
C REMER in lokale, innerterritoriale, transterritoriale und transnationale ‚Bewegungen‘ klassifizierbar sei (S. 26 f.), sowie die unterschiedlichen Reise-Erfahrungen
im Reich und im Europa der Vormoderne ebenso wie die unterschiedlichen Wahrnehmungen des kulturell-konfessionell Anderen in der Fremde sind Bereiche, die
einer vertieften Erforschung bedürfen. Der vorliegende Sammelband liefert dazu
einen ersten wichtigen und anregenden Einstieg.
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Irina Dumitrescu u. Eric Weiskott (Hgg.), The Shapes of Early English Poetry.
Style, Form, History (Studies in Medieval and Early Modern Culture 51).
Berlin/Boston, De Gruyter 2019. XIX, 281 S.
Besprochen von Nicole Nyffenegger: Bern, E ˗Mail: nicole.nyffenegger@ens.unibe.ch
Dem vorliegenden Sammelband gelingt es auf beeindruckende Weise, die Dichtung eines grosszügig gefassten ,Early English‘ Zeitraums in ihren vielen Facetten
zu beleuchten, die Forschungsschwerpunkte der mit dem Band geehrten Roberta
F RANK zu reflektieren, und deren einzigartigen, oft spielerischen Schreibstil für
neue Forschungsfragen zu adaptieren. Mit diesem Stil gewinnt F RANK seit nunmehr fünfzig Jahren (die zehnseitige Publikationsliste im Band beginnt 1970 und
kündigt weitere Titel an) ihre Studierenden wie auch ihre Fachkolleginnen und
-kollegen für ihre sorgfältige Detailarbeit an altenglischen und altnordischen Texten. In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber Irina D UMITRESCU und Eric W EISKOTT denn auch die vielfältigen Einflüsse F RANK s auf die Beiträge in ihrem Band,
welcher sich insbesondere den ,Old English Poetics‘ widmet, dabei aber, ganz im
Sinne der Geehrten, neben Form und Stil stets auch kulturelle und historische
Zusammenhänge in den Blick nimmt.
Im ersten Teil des Bandes, übertitelt mit ,Seasons‘, widmet sich zuerst Mary
Kate H URLEY in einer vertieften Diskussion des Wetters im altenglischen ,Wanderer‘ der Bedeutung zyklischer und linearer Zeit, anschliessend Andrew James
J OHNSTON der Problematisierung des antiken Erbes und des eigenen weltliterarischen Status in ,Beowulf‘, und schließlich Denis F ERHATOVIĆ der postkolonial-feministischen ,Beowulf‘-Übersetzung, die Meghan P URVIS 2013 vorgelegt hat. Einem interdisziplinären Publikum dürfte insbesondere J OHNSTON s überzeugende
Lesart der historisch unrealistischen Präsenz römischer Ruinen in der skandinavischen Welt des ,Beowulf‘ neue Zugänge zur altenglischen Dichtung eröffnen.
Der zweite Teil des Bandes ist mit ,Engines‘ übertitelt und vereint vier stärker
philologisch ausgerichtete Beiträge. Emily V. T HORNBURY bettet ihre Diskussion
von mittelalterlichem ,Light Verse‘ in epochenübergreifende Betrachtungen ein
und sieht in ihm zugleich einen Motor für ,poetic communities.‘ Eric W EISKOTT
EISKOT T
stellt dem omnipräsenten ,Beowulf‘ den im Vergleich immer wieder gering geschätzten ,Paris Psalter‘ gegenüber und plädiert überzeugend für einen Perspektivenwechsel, während Sarah Elliott N OVACICH einen ebensolchen auf Ebene der
Versifizierung anregt, nämlich anstelle von Dichter oder Schreiber das Gedicht
selbst als Schöpfer neuer Wörter anzusehen. Christopher A BRAM schließlich liest
mit den Methoden der ,Object-Oriented Ontology‘ altnordische Kenningar nicht
als Metaphern sondern als Objekte, die beim ,Auflösen‘ unwiderruflich verloren
gehen.
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Der dritte Teil, ,Discordance‘, widmet sich gemäss der Einleitung denjenigen
Momenten, in denen der im zweiten Teil angesprochene ,Engine‘ nicht produktiv
ist. Damit fordern die Herausgeber ihre eigenen Forschungsergebnisse geschickt
heraus und bieten zugleich eine neue Perspektive auf das Thema. Andrew K RAEBEL diskutiert die Gründe für die unvollständige Überlieferung von Lydgates ,Fifteen Joys and Sorrows of Mary‘ als im Gedicht selbst angelegt, Irina D UMITRESCU
interpretiert überzeugend parallele Darstellungen von Spolien und Kannibalismus im altenglischen ,Andreas‘ und im mittelenglischen ,Siege of Jerusalem‘ als
symptomatisch für die Bezüge christlicher Texte auf jüdische Vorbilder, und Jordan Z WECK schließlich untersucht die widersprüchliche Valenz der Klänge von
Trompeten und Schwertern im altenglischen ,Exodus.‘
Insgesamt ist der Band geprägt von Forschungsfragen und -methoden eines
posthumanistisch orientierten ,Material Turn‘, was sich auch in der gelungenen
Dreiteilung des Bandes in ,Seasons‘, ,Engines‘, und ,Discordance‘ äußert, und
ihm ebenso Kohärenz verschafft wie die den Beitragenden auferlegte Aufgabe,
F RANK s Forschungsimpulsen nachzuspüren. Dieser letzte Punkt gelingt in den
einzelnen Beiträgen unterschiedlich gut, ist er doch in vielen Beiträgen zentral, in
anderen aber lediglich in einem Schlusssatz vorhanden. Ausserdem hätten sich
m. E. an einigen Stellen gewinnbringende gegenseitige Bezugnahmen angeboten.
Als Gesamtwerk aber leistet der Band vieles: Er verbindet präzise Textanalyse mit
neuen Perspektiven und feiert damit nicht nur Roberta F RANK s Lebenswerk, sondern ebnet ihren Forschungsimpulsen erfolgreich den Weg ins 21. Jahrhundert.
Stefan Fuchs, Herrschaftswissen und Raumerfassung im 16. Jahrhundert.
Kartengebrauch im Dienste des Nürnberger Stadtstaates (Medienwandel –
Medienwechsel – Medienwissen 35). Zürich, Chronos 2018. 312 S.
Besprochen von Salvatore Martinelli: Kassel, E ˗Mail: Martinelli@biblhertz.it
Kartographisches Wissen und systematische Raumerfassungspraktiken hätten
gemeinsam die Grundlagen gelegt für eine rationalisierte Form politischer Machtausübung am Übergang zur Neuzeit. Um diese These rankt sich die Zürcher Dissertation, die die Medialisierungs- und Anwendungsstrategien der Reichsstadt
Nürnberg bei der Erfassung ihrer Territorien im 16. Jh. erörtert. Der Vf. geht der
Frage nach, ob sich in diesem historischen Kontext eine Entwicklung der Kartographie zur Staatswissenschaft wahrnehmen lässt und inwiefern sie auf die Herrschaftsausübung zurückwirkte. Der Zugriff erfolgt über drei Funktionen des Kartengebrauchs: erstens das Inszenieren von Herrschaft, zweitens das Prozessieren
sowie drittens den Konnex von Raumerfassung und Regierungsmacht.
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Den Einstieg bildet eine Kategorisierung in alte, neue und moderne Formen
medialer Modelle, die der Vf. in heuristischer Absicht vornimmt. Das darauffolgende Kapitel gibt einen gelungenen Einblick zur Progression von Schriftlichkeit
sowie zu Anwendungsformen von Kartographie, die einen Zugang „zu herrschaftsrelevanten Informationen“ (60) ermöglichen und somit ein besonderes
(Gefahren-)Potenzial in sich bergen. Im Rekurs darauf bemerkt der Vf. im dritten
Abschnitt, dass Inszenierung die älteste Form des Kartengebrauchs sei, weil diese
Artefakte stärker als schriftliche Akten ein wertvolles Geheimwissen repräsentierten, das nur für eine politische Elite vorbestimmt gewesen wäre. Fortführend zeigt
er auf, dass eine Erweiterung der Herrschaftspraktiken stattfand, indem die Landesvermesser als Medium der Regierung auftraten und mit ihren Vermessungsaktivitäten dem Volk einen Zugriff der Zentralmacht auf die Peripherie demonstrierten. Dies unterstreicht die Dualität zwischen Arkanpolitik und öffentlicher
Präsenz, die sich einerseits im exklusiven Umgang mit kartographischem Wissen
und andererseits in der aktiven Zurschaustellung der administrativen Raumerkundung äußerte. Der Blick richtet sich in der vierten Sektion auf ein neues Anwendungsgebiet, das eine exakte Erfassungsmethode von Territorien unerlässlich
machte, und zwar das Prozessieren mit Karten. Diese gewannen in der juristischen Praxis an Bedeutung und kamen zum Einsatz, wann immer es darum ging,
ein bestimmtes Recht zu beanspruchen, zu verteidigen oder Grenzen festzulegen.
Das Kartieren streitgegenständlicher Gebiete gewährleistete im Zuge der Inaugenscheinnahme der jeweiligen Raumverhältnisse eine neue Form der Verrechtlichung. Im fünften Komplex erörtert der Vf. die theoretische und praktische Dimension des Regierens mit Karten, das dem modernen Einsatz von Raumwissen
den Weg ebnete. In diesem Kontext akzentuiert er die bedeutungsvolle Funktion
von Karten als Träger eines Rationalisierungsprozesses und als politisches Legitimationsinstrument. Der Anspruch einer obrigkeitlichen Allwissenheit zielte nicht
nur darauf ab, sich vage im beherrschten Gebiet auszukennen, sondern bedurfte
vielmehr einer akribischen Erfassungsmethode. Dies mündete in einem Experimentierfeld von neuen praktikablen Medialisierungsformen, um das Herrschaftswissen auf kleinstem Raum zu komprimieren und zu überblicken. Die abschließende Auswertung veranschaulicht nochmals systematisch, wie sich die Medien
der Raumerfassung zum administrativen Machtinstrument transformierten. Denn
im Fokus des politischen Interesses standen Motive wie militärische Kontrolle,
wirtschaftliche Entwicklung, rechtliche Besitzsicherung und Steuererhebung.
Diese Beweggründe für den Kartengebrauch haben bis in die Gegenwart nichts an
Gültigkeit verloren.
Mittels der Quellenbestände des Nürnberger Verwaltungsschriftguts gelingt
es dem Vf., die Interdependenz zwischen Raumerfassung und Herrschaftsausübung fundiert darzulegen. Die Studie zeichnet überzeugend den Weg nach, wie
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sich bloßes kartographisches Wissen zum unentbehrlichen Machtinstrument entwickeln konnte. Resümierend regen die Erkenntnisse zu Anwendungsgebieten
und Möglichkeiten zum Nachdenken über die zeitlose Wirkmacht sowie die Multifunktionalität von Kartographie an.
Albrecht Greule u. a. (Hg.), Die merowingischen Monetarmünzen als
interdisziplinär-mediaevistische Herausforderung. Historische, numismatische
und philologische Untersuchungen auf Grundlage des Bestandes im
Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin (MittelalterStudien 30).
Paderborn, Fink 2017. 468 S.
Besprochen von Sebastian Scholz: Zürich, E ˗Mail: sebastian.scholz@hist.uzh.ch
Der Band wird durch einen Beitrag von Jürgen S TROTHMANN
TROT HMANN eingeleitet, in dem er
knapp den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Wandel im 6. und
7. Jahrhundert nachzeichnet. Die Ausführungen zum politischen Wandel vermögen allerdings nicht immer zu überzeugen. So darf durchaus bezweifelt werden, dass die Schilderungen Gregors von Tours, Fredegars und anderer den Anschein erweckten, „dass die Könige die einzigen Handelnden von Relevanz für die
Reichsgeschichte gewesen seien“ (S. 23). Da die Literatur nur bis 2013 berücksichtigt wurde, bleiben zudem eine Reihe wichtiger neuer Ansätze unberücksichtigt.
Die große Stärke des Beitrags liegt in der Darstellung der Geldwirtschaft und
der damit zusammenhängenden Phänomene, etwa dem Umlauf von Kleingeld
(S. 26 f.), der Bedeutung der domestici (S. 45 f.), der Auswertung des Namensmaterials der Monetare (47–53) und dem Übergang vom Gold- zum Silbergeld (53–56).
Karsten D OHMEN behandelt die drei Phasen der pseudo-imperialen Prägungen
(ca. 500–585), der ‚Nationalen‘ Prägungen (ca. 585–675) und die Periode der Silberprägung (ca. 675–750). Der Beitrag geht vor allem auf die Herkunft der Münzen
und ihre Besonderheiten ein. Zum Schluss behandelt er noch die Monetare im
Zusammenhang mit den zahlreichen Münzprägestätten und der merowingischen
Steuerpraxis. Hinsichtlich der königlichen Prägungen, die sich in allen drei Perioden nachweisen lassen, aber insgesamt eher selten sind, wäre es jedoch interessant gewesen, der Frage nachzugehen, warum es besonders zwischen 570 und
670 überhaupt zu diesen Prägungen kam, wenn die Emissionen in vielen Fällen
praktisch bedeutungslos blieben.
Sabina B UCHNER , Nicole E LLLER
LER , Rembert E UFE , Albrecht G REULE , Sabine
H ACKL -R Ö ß LER und Maria S ELIG
EL IG betrachten die Legenden der merowingischen
Münzen aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Die Aufschriften der Münzen gehören zu den indirekten Quellen der germanischen Sprachen, da sie eine Reihe ger-
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manischer Namen in latinisierter oder romanisierter Form bieten. Aus diesem
Grund sind die Namen auch für die romanistische Sprachwissenschaft wichtig.
Dabei wird deutlich, dass die Münzen auch über die Veränderung des Lateins und
die Transformierung der Schriftkultur Auskunft geben. Dieser informative Beitrag
bildet gewissermaßen den methodischen Prolog zu einem weiteren Beitrag desselben Autorenteams, in welchem sie die Personennamen auf den merowingischen Münzen des Münzkabinetts Berlin sprachwissenschaftlich kommentieren.
Karsten D AHMEN und Bernd K LUGE haben einen Bestandskatalog der merowingischen Münzen des Münzkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin erarbeitet.
Darin sind die Münzen sowohl chronologisch als auch geographisch erfasst. Zudem wird jeweils die grundlegende Literatur vermerkt. Der zweite Beitrag Jürgen
S TROTHMANN s bietet Kommentare zu den civitas-Hauptorten, die in den Münzlegenden eindeutig identifizierbar sind. Den Abschluss bildet ein Tafelteil der Münzen in chronologischer Reihenfolge.
Der Band bietet eine Verknüpfung von methodischer Hinführung und Problematisierung des Quellenmaterials mit einem ausführlichen Bestandskatalog und
den sprachwissenschaftlichen Kommentaren. Er deckt damit die Interessen verschiedener Disziplinen ab und wird in Zukunft ein wichtiges Hilfsmittel für die
Arbeit mit den merowingischen Monetarmünzen sein.
Susanne Härtel, Jüdische Friedhöfe im mittelalterlichen Reich (Europa im
Mittelalter 27). Berlin/New York, De Gruyter 2017. 419 S., 22 Abb.
Besprochen von Katrin Kogman-Appel: Münster, E ˗Mail: kogman@uni-muenster.de
Diese Monographie ist kein Katalog (wie der Titel den Leser vielleicht glauben
machen könnte), sondern handelt vom Umgang mit jüdischen Friedhöfen im Mittelalter. Das Buch ist klar gegliedert, sein Aufbau fast rigide. Jedes der fünf Kapitel
folgt einem dreiteiligen Schema, das den methodischen Zugang des einzelnen
Abschnittes verrät: Visualität – Praxis – Semantik. Als roter Faden erscheinen in
jedem Kapitel jene Elemente, die das jüdisch-christliche Verhältnis behandeln,
bzw. Fragen der Differenzierung thematisieren. Hierbei geht es beispielsweise um
die Sichtbarkeit ummauerter Friedhöfe seitens der christlichen Bevölkerung, um
die Wahrnehmung jüdischer Begräbniszüge zu den jeweils außerhalb der Stadt
liegenden Grabstätten, oder um Funktionen, die mitunter innerhalb des Friedhofs
von Christen erfüllt wurden (Instandsetzung, Bewachung: nur einzelne Christen
nahmen den Raum innerhalb der Friedhofsmauer wahr). Ein zentrales Thema
schießlich ist die Plünderung von Grabsteinen im Anschluss an Vertreibungen. Es
werden aber auch verschiedene Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Begräb-
Rezensionen
217
niskultur herausgearbeitet, besonders wenn diese die Materialität der Gräber, der
Grabsteine und deren Inschriften betreffen. Ein deutlicher Unterschied besteht
beispielsweise in der Tiefe der Gräber: jüdische Gräber, deren ewiger Bestand gewährleistet sein muss, liegen wesentlich tiefer als christliche.
Zunächst wird der Umgang mit Land angesprochen: Wo befindet sich das
Land? Wie wird es ausgewählt (Visualität)? Wie wurde der Erwerb gegenüber
christlichen Besitzern und Obrigkeiten verhandelt? Wie erfolgt die Umwidmung
des erworbenen Landes zum Friedhof (Praxis)? Wie werden die Friedhöfe und
relevante Begriffe auf hebräisch, lateinisch und deutsch bezeichnet (Semantik)?
Demselben Aufbau folgen die restlichen Kapitel: Einfriedung, Tote, Steine, Besucher. Die Diskussion ist von reichlichen Quellen genährt, die vorwiegend, aber
nicht ausschließlich Friedhöfe in Speyer, Regensburg, Magdeburg, Dortmund
und Zürich berücksichtigen. Herangezogen wurde christliches Archivmaterial sowie jüdische, zumeist halakhische Quellen. Gelegentlich dient auch das ‚Sefer
Hasidim‘ der aschkenasischen Pietisten als Quelle, wobei allerdings zu bemerken
wäre, dass dieses Werk pietistische Idealvorstellungen und nicht die allgemein
gängigen Modalitäten widerspiegelt. Hier wäre es nützlich gewesen, auf die viel
diskutierte Frage um die Rolle der Pietisten innerhalb der jüdischen Gesellschaft
einzugehen. Besonders in der Diskussion von Bestattungspraktiken spielen auch
archäologische Funde eine Rolle.
Das Werk ist um einen innovativen Ansatz bemüht, was der Autorin auch voll
und ganz gelingt. Diskurse der jüngsten Forschung, wie Sichtbarkeit und Wahrnehmung im Raum, Abgrenzung der religiösen Gruppen zueinander sind immer
wieder angesprochen. Die Autorin ist mit den internationalen Diskursen aufs Beste vertraut. Die ziemlich lange Diskussion der Forschungsliteratur, die auf das
Thema Differenzierung fokussiert ist, neigt allerdings dazu, die Mängel dieser Literatur ins Zentrum zu rücken. Konstruktiver wäre es gewesen, zu zeigen, was
diese Literatur zu bieten hat und wo methodisch innovative Vorgehensweisen anknüpfen können. Dies hätte der Originalität des Werkes keinen Abbruch getan.
Die Sprache ist flüssig und klar, die Schlussfolgerungen gut nachvollziehbar
und durch reiche Quellendiskussion untermauert. Fragen des jüdisch-christlichen Verhältnis sind mit jener Subtilität behandelt, die die Autorin in der Einleitung verspricht. So mancher Leser wird sich die Frage stellen, ob der rigorose
Aufbau Visualität – Praxis – Semantik der Vermittlung des Stoffes wirklich immer
nützlich ist. Wenn von Bezeichnungen von Toten die Rede ist und gezeigt wird,
dass die auf die jeweils andere Kultur zutreffenden Bezeichnungen derogativ sein
konnten, so ist der semantische Zugang durchaus aufschlussreich. Ist allerdings
von neutralen Begriffen die Rede, wie ‚Grab‘, ‚Grabstein‘ etc., so stellt sich die
Frage, ob deren Definition nicht innerhalb der Diskussion über ihre Materialität
besser aufgehoben wäre.
218
Rezensionen
Solch gelegentliche Kritikpunkte tun diesem Buch allerdings keinerlei Abbruch: Es handelt sich um ein hervorragend geschriebenes, sorgfältig erforschtes,
innovatives Werk.
Christopher Heath, The Narrative Worlds of Paul the Deacon. Between Empires
and Identities in Lombard Italy. Amsterdam, Amsterdam University Press 2017.
288 S.
Besprochen von Guido M. Berndt: Berlin, E ˗Mail: guido.berndt@fu-berlin.de
Der Realitätsgehalt frühmittelalterlicher Geschichten barbarischer Völker steht
spätestens seit W. G OFF
OF FART
ART s wegweisender Arbeit von 1988 auf dem Prüfstand
(The Narrators of Barbarian History, A.D. 550–800. Jordanes, Gregory of Tours,
Bede, and Paul the Deacon). Darin hatte er insbesondere H. W HITE s Methoden der
Literaturkritik – die historische Erzählung und ihre „fiction of fact“ – adaptiert
und so die Konzepte des linguistic turn auf zentrale Texte des frühen Mittelalters
angewandt. Selbst wenn man G OFFART nicht in jedem Detail folgen möchte, bleibt
doch die Erkenntnis, dass alle diese Autoren als „storytellers in their own right“
zu betrachten seien.
Christopher H EATH stellt mit Paulus Diaconus den zweifelsohne wichtigsten
Gewährsmann langobardischer Geschichte in den Mittelpunkt seiner Untersuchung, wobei er insbesondere die ‚Historia Langobardorum‘ (H. L.) einer eingehenden Analyse unterzieht, aber auch seine anderen, nach wie vor weit weniger
erforschten Schriften, behandelt. Die Bedeutung der ‚H. L.‘ lässt sich schon daran
ablesen, dass sich trotz aller Gefahren des Überlieferungszufalls mehr als einhundert Manuskripte erhalten haben, dass es eine kaum mehr zu überblickende Anzahl an Forschungsbeiträgen sowie zahlreiche moderne Ausgaben und Übersetzungen gibt. Informationen über Paulus selbst sind fast ausschließlich aus seinen
eigenen Werken zu gewinnen. Sein Werdegang, der ihn gleich an mehrere Höfe
bedeutender Herrscher führte, ist dementsprechend nur in groben Zügen rekonstruierbar, wodurch seine Biographie zum Gegenstand mancher Spekulationen
wurde. Im ersten Kapitel trägt H EATH alle verfügbaren Hinweise zusammen und
referiert die unterschiedlichen Thesen der Forschung zur Frage, für wen er eigentlich seine Langobardengeschichte geschrieben haben bzw. wem seine Loyalität
gegolten haben könnte. H EATH s Standpunkt ist, dass diese Frage letztlich zu keiner eindeutigen Antwort führen könne, da Paulus’ Sichtweisen im Laufe einer
etwa 30 Jahre umspannenden Schreibtätigkeit einem steten Wandel unterlegen
gewesen seien (S. 23). Dem ist zuzustimmen. Für H EATH spiegeln die vier analysierten Prosawerke des Paulus persönliche Reaktionen auf die Ereignisse seiner
Rezensionen
219
Zeit wider. Er beschreibt ihn als innovativen und dynamischen Schreiber, dem es
immer wieder gelang neue Argumentations- und Erzählstrategien zu entwickeln.
Für die früheren Werke, für deren Abfassungsfolge H EATH eine relative Chronologie vorschlägt und denen er sich im zweiten Kapitel zuwendet, hingegen lassen
sich die causae scribendi deutlicher bestimmen. Als frühestes historisches Werk
erzählender Prosa gilt H EATH die ‚Historia Romana‘ (H. R.), auch wenn sich kein
genaues Abfassungsdatum ermitteln lässt. Dieses Werk, von dem sich über 150
Manuskripte erhalten haben, widmete Paulus dem beneventanischen Herzog Arichis II. und dessen Frau Adelperga, Tochter des letzten Langobardenkönigs Desiderius. Das Werk basiert auf Eutropius’ ‚Breviarium ab Urbe Condita‘ und erweitert, den Wunsch der Auftraggeber erfüllend, die heidnisch-römische Geschichte
um jene des Christentums bis in die Zeit Kaiser Justinians. Entgegen älterer Ansichten (etwa G. W AITZ ) vertritt H EATH hier die These, dass es sich bei der ‚H. R.‘
um ein sorgfältig komponiertes Werk mit einer komplexen narrativen Struktur
handelt und nicht etwa um eine achtlos zusammengestellte Kombination unterschiedlicher Quellen („we see for the first time Paul’s mastery of narrative structures“, S. 66). Auch in der ‚Vita Sancti Gregorii Magni‘ – ebenfalls nicht exakt und
nur relativ zu den anderen Werken zu datieren – möchte H EATH das innovative
und originelle Erzählpotential des Paulus erkennen. Besonders auffällig sei etwa
das Beiseitelassen von Anekdoten und Wunderdarstellungen, die in der zeitgenössischen Hagiographie ansonsten so präsent sind. Zudem verweist H EATH auf
die Unterschiede des Gregorbildes in der ‚Vita‘ und der späteren ‚H. L.‘ In der
‚Vita‘ wird Gregor vor allem als Asket, Missionar, guter Hirte und Klostergründer
dargestellt, wodurch seine Heiligkeit gebührend unterstrichen worden sei, so
dass Paulus auf die Aufnahme von durchaus vorhandenen Mirakelberichte verzichten konnte. Das dritte Werk des Paulus, das H EATH in den Blick nimmt, die
‚Gesta Episcopum Mettensium‘ (auch unter dem Titel ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ geläufig), entstand als Auftragsarbeit für den Metzer Bischof Angilram, Leiter der Hofkapelle Karls des Großen. Dieser Text wurde um 784 während Paulus’
Aufenthalt am fränkischen Hof verfasst. Im Unterschied zu anderen ‚Gesta‘ liefert
Paulus hier keine Zusammenstellung der Tatenberichte aller Bischöfe oder eine
Geschichte des Bistums, sondern konzentriert sich hauptsächlich auf vier Bischöfe, denen er auf Grundlage schriftlicher wie mündlicher Überlieferungen jeweils
einen umfangreichen Eintrag widmet. H EATH , der auch für dieses Werk eine klare
narrative Struktur postuliert, arbeitet drei Leitmotive heraus: Die Betonung der
Stadt Metz als lieu de mémoire sowie Machtbasis der karolingischen Dynastie, das
Hervorheben einer historischen Verquickung zwischen Karolingern und Merowingern an diesem Ort (Arnulf als heiliger Vorfahr Karls des Großen) sowie eine
unmittelbare Verbindung der Metzer mit der Römischen Kirche, die für die zeitgenössische fränkische Kirchenreform eine zentrale Rolle spielte. Die Ergebnisse der
220
Rezensionen
Betrachtung der drei bisher genannten Werke dienen H EATH als Basis für die Interpretation der ‚H. L.‘, der das dritte und längste Kapitel des Buches gewidmet
ist. Was dieses Werk mit anderen frühmittelalterlichen Geschichtserzählungen,
wie etwa den ‚Historiae‘ Gregors von Tours oder Bedas, gemeinsam hat ist, dass
viele darin geschilderte Begebenheiten ohne Parallelüberlieferung stehen und somit für den Historiker nur schwer auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen sind.
H EATH möchte entsprechend vermeiden, schlicht „empirische Daten“ aus Paulus’
Langobardengeschichte zu gewinnen, sondern vielmehr darstellen, auf welche
Weise er sein Werk komponiert, welche Quellen er mit welcher Intention verwendet hat, den Autor gewissermaßen bei seiner Arbeit zu beobachten. Denn die entscheidende Frage bei der Beschäftigung mit frühmittelalterlichen Erzählern ist ja
nicht allein was sie erzählen, sondern auch wie sie es tun. Paulus’ Geschichte der
Langobarden beginnt in einer mythischen Vorzeit und reicht bis zum Tode König
Liutprands. Es ist freilich nicht geklärt, warum das Werk an dieser Stelle abbricht,
immerhin finden sich einige wenige Passagen, die auf die Zeit zwischen 744 und
dem Ende des eigenständigen Langobardenreiches verweisen. H EATH unterzieht
die sechs Bücher der ‚H. L.‘ einer Untersuchung, in der jeweils im Detail nachgezeichnet wird, wie Paulus mit den ihm zur Verfügung stehenden Quellen umging, wie er seinen Erzählstoff organisierte und arrangierte. Vor allem die dazu
entworfenen Übersichtstabellen, in denen sämtliche 244 Kapitel erfasst sind, erleichtern es dem Leser H EATH s Argumente nachzuvollziehen. Weniger benutzerfreundlich ist hingegen die Entscheidung, die ‚H. L.‘ des Paulus nicht mit Buchund Kapitelangaben zu zitieren, sondern lediglich auf die entsprechenden Seiten
der MGH-Edition von L. B ETHMANN und G. W AITZ (1878) zu verweisen. Wer mit
einer anderen Ausgabe (etwa der zweisprachigen von W. F. S CHWARZ , 2009, die
überraschenderweise in der Bibliographie nicht verzeichnet ist) arbeitet, hat etwas umständlich nach der jeweiligen Stelle zu suchen. Von diesen kleinen Einwänden abgesehen, gelingt es H EATH durch das detaillierte Aufzeigen der Verbindungslinien zwischen den besprochenen Werken und durch die Freilegung der
darin zu findenden narrativen Strategien, den Weg des Paulus Diaconus zum „Geschichtsschreiber der Langobarden“ nachzuzeichnen.
Rezensionen
221
Klaus Herbers u. Harald Müller (Hgg.), Lotharingien und das Papsttum im Frühund Hochmittelalter. Wechselwirkungen im Grenzraum zwischen Germania und
Gallia (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue
Folge 45), Berlin/Boston, De Gruyter 2017. VIII, 268 Seiten.
Besprochen von Étienne Doublier: Köln, E ˗ Mail: e.doublier@uni-koeln.de
Gab es im frühen und hohen Mittelalter eine lotharingische Raumidentität? Inwiefern haben Impulse aus dieser Landschaft das Werden des mittelalterlichen
Papsttums beeinflusst und inwieweit haben umgekehrt die Interaktionen mit Rom
den lotharingischen Großraum geprägt? Warum gibt es eine Lotharingia pontificia
(noch) nicht? Um diese drei Hauptfragestellungen dreht sich der Inhalt des vorliegenden, von Klaus H ERBERS und Harald M ÜLLER herausgegebenen Bandes, der
die Beiträge einer Aachener Tagung vom September 2014 sammelt. Nach einem
einleitenden Aufsatz von H ERBERS , in dem für die Bearbeitung einer Lotharingia
pontificia plädiert wird (3–11), problematisiert Michel M ARGUE (12–38) den von der
Forschung in Bezug auf Oberlothringen immer wieder verwendeten Begriff ‚Reformraum‘ und betont dabei, dass der Gebrauch von Termini wie restauratio, correctio, renovatio und reformatio in mittelalterlichen Quellen meist kontingent und
ambivalent ist und wie unvorsichtig moderne Historiker damit umgegangen sind.
Max K ERNER skizziert die schwankende Bedeutung Aachens im Zeitraum zwischen der ersten päpstlich-königlichen Förderung der Marienkirche unter Karl
dem Großen und dem wesentlichen Bedeutungsverlust am Ende des durch den
Streit mit Papst Nikolaus maßgeblich geprägten Kaisertums Lothars II. (39–54).
Die von Rudolf S CHIEFFER vorgelegte Untersuchung über Papstreisen in Lotharingien (55–67) zeigt sehr deutlich, dass die hochmittelalterlichen Päpste – mit der
bedeutenden Ausnahme Leos IX., dem allerdings vor allem sein Touler Bistum am
Herzen lag – diese Region zumeist nur als Durchzugsregion zwischen Francia und
Germania verstanden. Mit dem von Lothringen nach Rom zur Zeit Leos IX. gezogenen und aus Mönchen, Weltklerikern und Rittern bestehenden ‚Personal‘ beschäftigt sich Karl Augustin F RECH (68–88), der die von Werner G OEZ entwickelte
These des papa qui et episcopus z. T. relativiert und im Beibehalten des alten Bistums vor allem eine Möglichkeit sieht, auf Ressourcen unterschiedlicher Natur
zuzugreifen. Die Entwicklung des Bistums Lüttich von einem festen Bestandteil
der ottonischen Reichskirche hin zu einer papsttreuen Diözese zu Beginn des
13. Jahrhunderts skizziert Jean-Louis K UPPER (89–104), der in seinem Überblick
vor allem auf die Tätigkeit von Legaten und die Erwirkung von Papsturkunden
eingeht. Als Empfängerlandschaft wird das gleiche Bistum im Beitrag von Daniel
B ERGER betrachtet (107–125), der an dieser Stelle eine erste Auswertung der von
Wolfgang P ETERS nachgelassenen Materialien vorlegt und dabei herausstreicht,
222
Rezensionen
dass die rasante Intensivierung der Romkontakte im 12. Jahrhundert vor allem
von den beiden Prämonstratenserstiften Floreffe und Heyllisem getragen wurde.
Die Imitation päpstlicher Urkundenformen und -formulare in bischöflichen Dokumenten aus der Diözese Metz ist, so kann das Ergebnis des Beitrags von JeanBaptist R ENAULT resümiert werden (126–154), in erster Linie dem Metzer Bischof
und Neffe Kallixts II. Étienne de Bar (1120–1163) zu verdanken, dessen Urkunden
als Modell für weitere Geistliche aus der Region dienten. Am Beispiel von 45
Papstprivilegien für 14 Zisterzienserklöster der Reimser Kirchenprovinz aus dem
Zeitraum 1131–1189 zeigt Benoît-Michel T OCK exemplarisch (155–175), mit welchen
Variationen die gleichen Formulare von der apostolischen Kanzlei eingesetzt wurden und plädiert für eine stets vollständige Untersuchung der Papsturkunden,
ohne behördenmäßige Automatismen vorauszusetzen. Das Vorhandensein einer
hochentwickelten Brief- und kirchenrechtlichen Kultur im gesamten lotharingischen Raum wird in den Beiträgen von Matthias W ITZLEB
ITZL EB (176–188) und Lotte K ÉRY (189–212) weitgehend infrage gestellt und auf wenige, obschon bedeutsame
Fälle beschränkt, während ein entscheidender römischer Einfluss grundsätzlich
ausgeschlossen wird. Der Weg zahlreicher Papsturkunden für Empfänger in Oberlothringen in Pariser Archiven und Bibliotheken ab der Frühneuzeit bildet den
Gegenstand des sehr gut dokumentierten Beitrags von Joachim D AHLHAUS
(213–243). Die Schlussbemerkungen von Harald M ÜLLER fassen die relevantesten
Ergebnisse des Tagungsbandes noch einmal zusammen (244–253), worunter vor
allem das Fehlen einer homogenen lotharingischen Identität, die begründete Infragestellung des Begriffes ‚Reformraum‘ und die außerordentliche Dichte der
Romkontakte im Lütticher Raum hervorzuheben sind. Der Weg hin zur Bearbeitung einer Lotharingia pontificia ist zwar lang und steinig, doch gibt es begründete Hoffnung, dass Initiativen wie die von H ERBERS und M ÜLLER den in einer nunmehr transnationalen Dimension aufgewachsenen Nachwusch zur Erforschung
dieser Grenzregion motivieren und auf diese Weise zum Gelingen des anspruchsvollen propositum langfristig beitragen.
Jeffrey Jaynes, Christianity Beyond Christendom. The Global Christian Experience
on Medieval Mappaemundi and Early Modern World Maps (Wolfenbütteler
Forschungen 149). Wiesbaden, Harrassowitz Verlag 2018. 483 S., 91 s/w Abb.,
30 Farbtafeln.
Besprochen von Ingrid Baumgärtner: Kassel, E ˗ Mail: ibaum@uni-kassel.de
Der Autor, Professor für Kirchengeschichte an der Methodist Theological School
in Ohio, ist fasziniert von dem Phänomen, dass ‚moderne‘ Weltkarten des 16. Jh.s
Rezensionen
223
noch mit religiöser Symbolik aufgeladen sind. In diesem Sinne verfolgt er eine
klare These, nämlich aufzuzeigen, dass christliche Denker und Kartenmacher
mappaemundi dazu nutzten, die Vorstellungen von einer christlichen Oikoumene
selbst dann noch zu festigen, als die Realität solche Ansprüche längst überholt
hatte. Porträtierte doch Waldseemüllers Weltkarte von 1507 nicht nur die päpstlichen Schlüssel in den Meeren um Europa als Zeichen der Kirchenherrschaft im
Westen, sondern auch nestorianische Gemeinden in China und den Priesterkönig
Johannes in Indien. Waldseemüllers Carta marina von 1516 und Gerard Mercators
Atlas hätten sogar solche Legenden in Außereuropa um neue religiöse Konnotationen erweitert. Ähnliche Beobachtungen, eigentlich nicht wirklich erstaunlich,
verzeichnet J AY NES minutiös für unzählige untersuchte Karten. Denn im Fokus
seines Buches, das vielseitig mit Stipendien gefördert wurde, steht, zumindest
seiner Aussage zufolge, die Spannung zwischen der Diversität globalchristlicher
Traditionen außerhalb der Grenzen der Christenheit und ihrer Wahrnehmung als
Komponente einer homogenen kartographischen Darstellung vom 8. bis 16. Jh.
Dafür wählt er eine außerordentlich breite Basis an handschriftlichen und gedruckten Weltkarten und Atlanten von den spätantiken Schriften beigegebenen
TO-Schemata über den Apocalypsekommentar des Beatus von Liebana bis hin zu
Abraham Ortelius’ ‚Theatrum Orbis Terrarum‘. Seiner Meinung nach integrierten
Kartographen apostolische und andere ‚alte‘ Legenden, um sie immer wieder mit
neuen Mythen zu füllen. Mit zunehmend raffinierteren Methoden hätten sie die
entfernten und isolierten christlichen Gemeinschaften in Asien, Afrika und im
Mittleren Osten zu verstehen, zu integrieren oder auszuschließen versucht.
Um seine These zu beweisen, examiniert J AYNES ganz systematisch und in
chronologischer Reihenfolge einen Autor und ein kartographisches Bild nach
dem anderen. Ausgehend von der Dichotomie ‚mittelalterlich‘ und ‚modern‘ entwirft er, gerahmt von einer kurzen Einleitung und einer ebenso knappen Schlusszusammenfassung, mit „World of the Ancients“, „World in Transition“ und
„World of the Moderns“ eine höchst problematische Dreiteilung, um sein reichhaltiges Material zu erfassen. Zur ersten Kategorie zählt er alle Texte und Weltkarten von Pomponius Mela bis Hereford und Ranulph Higden (Kap. 1–4), zur
zweiten die realitätsnah aus den Reisen schöpfenden Portolane, die Reiseberichte
sowie die Weltkarten des ausgehenden 14. und 15. Jhs. vom Katalanischen Weltatlas bis zu Henricus Martellus (Kap. 5–6) und zur dritten die Ptolemäus-Inkunabeln wie auch die handgefertigten und gedruckten Weltkarten und Kosmographien des ausgehenden 15. und 16. Jhs. (Kap. 7–10). Mit bewundernswertem Fleiß
beschreibt J AYNES
AY NES kurz jede einzelne Karte, um dann ihre christlichen Elemente zu
erfassen. Dieses Modell erlaubt es natürlich nicht, wirklich in die Tiefe zu gehen,
Überlieferungszusammenhänge zu berücksichtigen und eigene Forschungen zu
entwickeln. So wird eine Beschreibung an die andere gereiht, ehe am jeweiligen
224
Rezensionen
Kapitelende eine kurze Auswertung erfolgt. Als Ergebnis lässt sich festhalten,
dass sich die kartographisch eingesetzten Komponenten letztlich deutlich veränderten, weil man im 16. Jh. das Interesse an den skeptisch als Häretiker betrachteten Christen in Asien und Afrika verlor und der Dialog mit ihnen undenkbar wurde.
Selbstverständlich ist es nicht leicht, über so viele Quellen den Überblick zu
behalten und immer wieder Neues zu entdecken. Vielversprechender wäre wohl
die Analyse einzelner Kartengruppen oder thematischer Schwerpunkte gewesen,
wie etwa Axelle C HASSAGNETTE s Untersuchung (Savoir Géographique et Cartographie, 2018) des geographisch-kartographischen Wissens in den deutschen protestantischen Territorien von 1520 bis 1620. Auffällig ist zudem, dass J AYNES die
deutschsprachige Forschung der letzten zwanzig Jahre, also nach A.-D. VON DEN
B RINCKEN , nahezu völlig übergeht (u. a. Philipp B ILLION
ILL ION , Tanja M ICHALSKY , Felicitas S CHMIEDER , Ute S CHNEIDER , Stefan S CHRÖDER , Martina S TERCKEN und viele
mehr). Ein Anhang mit einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis,
einer Handschriftenliste, 30 Farbabbildungen sowie einem Orts- und Personenregister beschließt die durchaus anregende, aber nicht immer überzeugende
Studie.
Judith Klinger u. Andreas Kraß (Hgg.), Tiere. Begleiter des Menschen in der
Literatur des Mittelalters. Köln/Wien, Böhlau 2017. 320 S., 14 s/w u. 6 farb. Abb.
Besprochen von Luise Borek: Darmstadt, E ˗Mail: luise.borek@tu-darmstadt.de
Tiere sind in der Literatur des Mittelalters allgegenwärtig und finden sich in allen
Gattungen. Für die Deutung ihrer heterogenen Verwendungsweisen als diegetische, symbolische oder sprichwörtliche Bedeutungsträger bedarf es eines Weltwissens, das sich aus verschiedenen Traditionen speist, zu denen „die biblische,
die von der Erschaffung der Tiere handelt, die naturkundliche, die antikes Wissen
von Tieren versammelt, und die magische, die in Zauber- und Segenssprüchen
bezeugt ist“ (S. 10) gehören. Das Interesse für und die intensive Auseinandersetzung des mittelalterlichen Menschen mit dem Tier zeigt sich neben seinem literarischen Vorkommen folglich auch an der Vielzahl der überlieferten naturkundlichen Schriften, von denen insbesondere der ‚Physiologus‘ und die Tierkunde
des Albertus Magnus (‚De animalibus libri‘) zu nennen sind.
Die Tierbedeutungen in literarischen Texten enthalten oftmals Schlüssel zum
Textverständnis, da die Tiere dazu dienen, Personen zu charakterisieren oder
ganze Handlungszusammenhänge im Subtext zu kommentieren. Als vielfältige
Bedeutungsträger eignen sie sich sehr gut als Projektionsflächen, an denen Ge-
Rezensionen
225
meinsamkeiten und Differenzen mit menschlichen Figuren dargestellt werden
und die stereotype Eigenschaften der Tiere auf diese übertragen.
Die mittelalterliche literarische Beschäftigung mit solchen Mensch-Tier-Relationen geht häufig einher mit dem Ausloten von Grenzen und deren Überschreitung, mit einer „Gegenüberstellung von ordnungsstiftender, hierarchisch strukturierter Kultur und wild wuchernder Natur“ (S. 24). Auch die Forschung widmet
sich immer wieder diesen Tier-Mensch-Beziehungen und den besonderen Vertretern der literarischen Tierwelt. Eine Reihe von Aufsätzen sowie einige wenige Monographien beschäftigen sich mit einzelnen Aspekten und Funktionen besonders
auffälliger Tiergestalten im Kontext ihrer jeweiligen Werke. Aufgrund der Vielseitigkeit der Tiere und der einhergehenden Bedeutungsdimensionen werden in dieser Art der Analyse folglich nur diejenigen Facetten herausgearbeitet, die im jeweiligen Kontext eine Rolle spielen.
Mit dem Aufkommen der Animal Studies erleben seit den 2000er Jahren auch
die Literary Animal Studies einen Aufschwung, der zuletzt auch eine systematischere und kulturhistorisch aufgearbeitete Betrachtung der Tiergestalten hervorbrachte. Hiervon zeugt z. B. das kulturwissenschaftliche Handbuch zum Tier (Roland
B ORGARDS [Hg.]: „Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch.“ Metzler, 2016). Die
darin versammelten Beiträge beziehen sich jedoch nicht auf einzelne Tiere und verfolgen ein eher neuzeitlich ausgerichtetes Forschungsinteresse aus verschiedenen
und vor allem interdisziplinären Perspektiven und bilden damit eine flankierende
Grundlage zu dem hier besprochenen Band.
Vor diesem Hintergrund widmet sich der vorliegende Band einem Desiderat,
indem er literarische Tierverwendungen der mittelalterlichen Literatur untersucht
und systematisch nach verschiedenen Tieren bündelt. Die Herausgeber beschränken ihre gut begründete Auswahl zunächst auf realweltlich existierende Tiere, die
als Haus-, Nutz- oder Jagdtier als Begleiter des Menschen in Erscheinung treten
oder in unmittelbarer Relation zu ihm stehen. Die versammelten Beiträge widmen
sich jeweils den literarischen Inszenierungen dieser Tiere und sind angeordnet in
Gruppen, die sich auf die jeweilige Zuordnung des behandelten Tiers beziehen,
nämlich in „Ritter und Pferd“, „Tiere des Hauses“, „Tier des Waldes“ und „Tiere
des Himmels“. Die Tierbesprechungen werden ergänzt um einen Abschnitt „Tiere
in Namen“, der den Band abrundet und die Funktionsweise der Merkmalsübertragung in Erinnerung ruft. Die Beiträge haben gemein, dass sie spezifische literarische Vorkommen der Tiere analysieren und anhand der Verwendungsweisen
verschiedene Bedeutungsdimensionen und deren kulturhistorische Herkunft reflektieren. Abstrahierend von exemplarischen Textstellen wird so ein komplexes
Bild der Tierbedeutungen gezeichnet. Diese können stark variieren und sind abhängig von der jeweiligen Perspektive, bzw. der Tradition, aus der die Deutung
erfolgt – und können oftmals auch widersprüchlich sein.
226
Rezensionen
In dieser Ausrichtung lässt sich der Band auch verstehen als ein in Aufsatzform gebrachtes Pendant zu dem Lexikonprojekt „Tiere in der Literatur des Mittelalters“ der animaliter-Projektgruppe. Er eignet sich nämlich hervorragend, um
sich einen Überblick über mögliche Verwendungsweisen der behandelten Tiere
zu verschaffen, methodische Zugriffe aufzuzeigen und in ihre jeweils komplexen
Bedeutungskontexte einzutauchen. Ihm gelingt somit ein Perspektivwechsel, der
nicht mehr ausschließlich die Deutung von Textstellen fokussiert, sondern das
Tier in seiner kulturhistorischen Bedeutung betrachtet.
Christopher Köhler, Morungen-Rezeption in Thüringen? Stiluntersuchungen zu
Kristan von Hamle, Kristan von Luppin und Heinrich Hetzbolt von Weißensee
(Spolia Berolinensia 37). Hildesheim, Weidmann 2017. 411 S.
Besprochen von Cordula Kropik: Leipzig, E ˗Mail: cordula.kropik@unibas.ch
Die titelgebende Frage ist Ausgangspunkt einer Arbeit (zugl. Diss. Würzburg WS
2016/17), die weit über eine kritische Revision der alten Behauptung von der Existenz einer ‚Morungen-Schule‘ in Thüringen hinausgeht. Der Vf. setzt es sich zum
Ziel, die ‚kleinen‘ Œuvres dreier bislang wenig beachteter thüringischer Dichter
nicht nur in ihrer Abhängigkeit von den Liedern Heinrichs von Morungen zu beurteilen, sondern sie v. a. auch erstmals umfassend in ihrer individuellen Eigenart
zu würdigen. Zu diesem Zweck entwickelt er einen relationalen Stilbegriff, der es
erlaubt, ‚Stil‘ auf verschiedenen Ebenen – bes. Verfasser / Werk und Gattung – als
die komplexe Summe aller sprachlichen Möglichkeiten zu beschreiben, „die
durch formale und inhaltliche Rekurrenz als zeichenhaft und somit bedeutungskonstituierend wahrgenommen werden können“ (40). Die Analyse gestaltet sich
von hier ausgehend als ein close reading, das einzelne Stilelemente zunächst erfasst und beschreibt, um sie dann Schritt für Schritt zusammenzuführen und
schließlich zu einem Ganzen zu bündeln, das den Stil als das Typische des jeweiligen Textkorpus pointiert bezeichnet und mit anderen Korpora vergleichbar
macht.
Dass ein solches Vorgehen bei größeren Liedsammlungen in komplexeren
Überlieferungssituationen rasch an die Grenzen des Durchführbaren stoßen würde, liegt auf der Hand, und so ist es zwar bedauerlich, aber im gesetzten Rahmen
notwendig, dass der Vf. auf eine Vergleichsanalyse Morungens verzichtet und
dessen Lieder nur punktuell in die Untersuchung einbezieht. Seinem Ergebnis tut
das keinen Eintrag, da es ihm gleichwohl gelingt, durch die Einzelanalysen der in
C überlieferten Korpora Kristans von Hamle (21 Strophen), Kristans von Luppin
(20 Strophen) und Heinrich Hetzbolts von Weißensee (24 Strophen) ein Bild dreier
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227
Personalstile zu entwerfen, die gewisse Merkmale teilen, grundsätzlich jedoch eigenständig sind. Als gemeinsame Tendenz ist bes. die Entproblematisierung der
Liebe des hohen Minnesangs zu verzeichnen; im Zuge dessen werden typische
Darstellungsweisen Morungens v. a. aus dem Bereich von Frauenpreis und Wahrnehmungsinszenierung übernommen und an ein auf Freude und erotische Erfüllung gerichtetes Minnekonzept angepasst. Dabei zeigt sich das Werk Kristans von
Hamle heterogen und lässt den Einfluss weiterer Liederdichter des 13. Jh.s vermuten. Kristan von Luppin evoziert bes. durch hyperbolisches und sentenzhaftes
Sprechen den lebhaften Eindruck einer subjektiv erfahrenen Liebe. Heinrich Hetzbolt von Weißensee dagegen profiliert sich u. a. durch eine verstärkte Inszenierung des Sänger-Ich.
Insgesamt ist somit festzuhalten, dass von einer Morungen-Rezeption bei den
genannten Dichtern zwar gesprochen werden kann, dass diese aber je individuell
erfolgt. „Damit ist der Gedanke einer Abhängigkeit ebenso zu relativieren wie die
These einer epigonalen Morungen-Schule“ (321). Der Vf. reflektiert am Ende noch
einmal Vor- und Nachteile seiner Methode, wobei er der Dichte und Differenziertheit der Analyse u. a. die Unwägbarkeiten der Überlieferung und die Notwendigkeit des Vergleichs mit anderen regionalen Lieder-Œuvres gegenüberstellt. Man
könnte ergänzen, indem man etwa danach fragt, wie die Stilanalyse hier mit einer
literaturgeschichtlichen Entwicklung korreliert, die sich über gut 150 Jahre erstreckt und den Übergang zum lyrischen System des späten Mittelalters zumindest erahnen lässt. Derlei Einwände in den Vordergrund zu stellen, wäre einer
Untersuchung jedoch nicht angemessen, deren Verdienst wesentlich in der Fokussierung auf einen begrenzten Gegenstand liegt: Sie überzeugt durch den genauen Blick auf Texte, an denen die Forschung gewohnheitsmäßig vorübergeht;
durch das präzise Aufzeigen von Merkmalen, die so noch nie beschrieben, und
die Darstellung von Zusammenhängen, deren Komplexität noch kaum gesehen
wurde. Die Stilanalyse wird ergänzt durch eine sorgfältige handschriftennahe
Edition der drei Œuvres sowie einen ausführlichen Kommentar; den Analyseteil
erschließt ein Register aller angeführten Dichter und ihrer Lieder.
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Henrike Lähnemann, Nicola McLelland u. Nine Miedema (Hgg.), Lehren, Lernen
und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXIII. Anglo-German
Colloquium Nottingham 2013. Tübingen, Narr Francke Attempto 2017. 408 S.
Besprochen von Christoph Fasbender: Chemnitz,
E ˗ Mail: christoph.fasbender@phil.tu-chemnitz.de
Alle zwei Jahre findet das Colloquium britischer und deutscher Mittelalter-Germanisten statt. Als es begründet wurde, sollte das Gespräch trotz aller Schäden, die
es durch politischen Wahnwitz genommen hatte, nicht zum Erliegen kommen.
Niemand konnte ahnen, dass es ein halbes Jahrhundert später durch politischen
Ungeist erneut prekär werden würde. Der Band, der die Tagung von 2013 dokumentiert, ist inzwischen mehr als ein Buch über Weitergabe von Wissen und Kompetenzen in mittelalterlichen Lebenswelten.
Einen Schwerpunkt bilden Fragen des Lehrens, Lernens und Bildens in der
geistlichen Literatur (10 der 23 Beiträge). Stephen M OSSMAN (55–72) fragt nach der
Lehrhaftigkeit einer Zitatensammlung aus dem Straßburger Magdalenerinnenkloster, die als individuelles Rapiarium im Geist der Devotio moderna angesprochen werden sollte. Alderik H. B LOM
L OM (91–103) fokussiert die Interpunktion in den
Altalemannischen Psalmenfragmenten (9. Jh.), deren lateinischer Text mehr den
Vortrag als die Erschließung der Grammatik unterstütze, während die Interpunktion des althochdeutschen Textes das Verständnis des lateinischen erleichtern
sollte. Dass frühmittelhochdeutsche Versdichtung nicht per se als lehrhaft sei,
betont Sarah B OWDEN (127–140), die am Beispiel deutsch-lateinischer Mischtexte
herausarbeitet, dass der Einsatz des Deutschen eher doch in seiner das Verständnis unterstützenden Funktion für ein zweisprachiges Lesepublikum zu gründen
scheint. Im Gegensatz zu den Absichten, die Bischof Ulrich II. Putsch (1427–1437)
als geistlicher Vater des Bistums Brixen hegte, treten seine von Nigel H ARRIS
(141–151) analysierten Schriften in einem wenig benutzerfreundlichen Ornat auf. In
besonderer Spannung stehen, wie Annette G EROK -R EITER (155–169) am Beispiel
Mechthilds von Magdeburg ausführt, das Gotteserlebnis der Mystik und seine in
Buchform niedergelegte, zur Nachahmung anstachelnde Erfahrung. Einerseits inszeniert das ‚Fließende Licht der Gottheit‘ Lehrhaftigkeit, anderseits stellt es insbesondere das gelehrte Wissen zur Disposition. Der Tagzeitentraktat ist zunächst
einmal eine strukturierte Gebetshilfe für Kleriker. Anders als in Frankreich oder Italien lässt sich, den Analysen Stefan M ATTER s zufolge (171–184), nicht zeigen, dass
die mittelhochdeutschen Texte Laien zum Nachvollzug der kanonischen Horen gereichten. Aus geistlichen Lebenswelten wissen wir Näheres über die Beteiligung
des Körpers an Lernprozessen, überhaupt ist hier die Formung des ganzen Menschen wenn nicht Programm, so doch den Texten zu entnehmen. Anne S IMON zeigt
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dies am Beispiel der Ave Maria-Didaxe auf (185–199), deren Bildungsstrategien
„das Beten als ein sprachliches, körperliches, geistiges und geistliches ‚Training‘“
betonten, wie es die in Nürnberg um 1475 einziehende Rosenkranz-Verehrung geradezu erforderte. Nigel F. P ALMER schlägt das ungefähr gleichzeitige Begerin-Gebetbuch aus Straßburg auf (201–214), das als Bilderbuch konzipiert und wohl erst
hundert Jahre später mit deutschen Gebeten versehen wurde. Darunter finden sich
Texte, die den gefallenen Menschen als ‚entbildet‘ und die göttliche ‚imago‘ als
‚bildung‘ begreifen: „Das ‚Bild‘ ist zugleich ein ‚Vorbild.‘“ (211). Aus dem Geflecht
der Textgruppe ‚St. Anselmi Fragen an Maria‘ hebt Simone S CHULTZ
CHULT Z -B ALLUF
ALL UFF
F
(305–323) jene Fassungen heraus, in die Andachtsanweisungen eingeflochten wurden, durch die der Text „in einen aktiven Dialog mit dem Rezipierenden tritt“ (320).
Dass man Liebe nicht nur erklären, sondern ihr Wesen auch vermitteln könne, scheint der Gattung Minnerede eingeschrieben. Sandra L INDEN zeigt (217–232),
wie papieren die Didaxe zuweilen vorgeht und wie die Weitergabe von Arkana
etwa bei Johann von Konstanz erfolgen kann, ohne dass der Empfänger einen
Lernprozess durchliefe, während das Ich in Hadamars ‚Jagd‘ zwar einen Lernprozess durchläuft, mit seinem Wissen indes keinerlei Erfolge erzielt. Franz-Josef
H OLZNAGEL
OLZNAG EL führt in die didaktischen Strophen des ‚Rostocker Liederbuchs‘ ein
(233–253), die teilweise auf zeitnahe politische Ereignisse rekurrieren, dabei aber
gerade nicht in originellem Gewand daherkommen, sondern einen Fundus lang
tradierter Werte und Normen repristinieren. Der Spruchdichter Rumelant von
Sachsen inszeniert, wie Annette V OLF
OL FING
ING zeigt (255–267), ein „aggressives Rollenspiel“, in dem er sich als Lehrer und Erzieher zu literarischer Kompetenz geriert.
Heike S AHM und Stephanie S CHOTT interpretieren Rosenplüts Lied von ‚Lerche
und Nachtigall‘ (271–282) nicht vor dem Hintergrund von Hof und Stadt, sondern
als Beitrag zu einer innerstädtischen Auseinandersetzung um Leitbilder der Nürnberger Handwerkerdichtung. Frank F ÜRBETH
ÜRBET H , der das Gespräch über Wittenwilers
‚Ring‘ von den Leseanweisungen wegbringen möchte, analysiert Lehrdialoge und
Sprichwörter (325–341), die für sich genommen bereits darauf deuteten, dass im
‚Ring‘ „Wissen vermittelt wird“ (339). Große Mühe hat sich Christina L ECHTERMANN
gegeben, um Übung und Genauigkeit in der Messkunst Heinrich Lautensacks
(1564) herauszuarbeiten (283–303): sie muss „Fleiß“ als kognitiven Habitus, als
Haltung gegen „Verdruss“ einfordern, da die Vermittlung prozeduralen Wissens
auch durch die Asynchronität von Lesen und Verstehen je und je prekär ist. Den
Band, den man sich ohne Register erarbeiten muss, beschließen Gerhard W OLF
OL F s
Analysen zur didaktischen Funktionalisierung von Geschichte in ‚Annolied‘ und
‚Kaiserchronik‘, bei Rudolf von Ems, Ulrich Fuetrer und Johannes Aventin
(391–408), die die Langlebigkeit des Cicero-Topos unterstreichen.
Der Band enthält drei Grundsatzbeiträge. In einer tour d’horizon zieht Christoph H UBER durch wesentliche Gattungen mittelalterlicher Literatur (18–35), um
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insbesondere auf dem Kampfplatz des Ästhetizismus schlechthin, dem fiktionalen Roman, innezuhalten und aufzuzeigen, dass gerade vormoderne Fiktionalität
„lehrhafte Rezeption systematisch einplant und strategisch vorantreibt“ (35). Am
Beispiel der höfischen Epik möchte Manfred K ERN zeigen (345–359), dass deren
Lehrhaftigkeit in einer Abkehr vom „Boethianischen Prinzip“ und seiner Trennung von rational-argumentativem und ästhetisch-performativem Wissen hin zur
Rehabilitierung einer „inklusiven Denkform“ steuere (348). Gert H ÜBNER fragt
danach, wie durch Handlungsdarstellung Handlungswissen vermittelt werden
konnte (361–378), und zeigt am Beispiel Boccaccios und Kaufringers, dass Handlungswissen v. a. als Erkenntnis des Wirkens bestimmter Regularitäten gedacht
wurde.
Cornelia Neustadt, Kommunikation im Konflikt. König Erik VII. von Dänemark und
die Städte im südlichen Ostseeraum (1423–1435) (Europa im Mittelalter 32).
Berlin/Boston, De Gruyter 2019. XV, 540 S., 24 Abb.
Besprochen von Oliver Auge: Kiel, E ˗ Mail: oauge@email.uni-kiel.de
Wer die Diplomatik für entbehrlich hielt, wird durch das Werk „Kommunikation im
Konflikt“, das Cornelia N EUSTADT 2019 in der Reihe „Europa im Mittelalter“ publizierte, eines Besseren belehrt! Es handelt sich um die leicht gekürzte, stellenweise
überarbeitete und aktualisierte Fassung ihrer Dissertation, die bei Wolfgang H USCHNER entstand und im Wintersemester 2011/12 von der Fakultät für Geschichte,
Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommen wurde.
Hauptanliegen der Arbeit ist es, das Schrifttum, das im Konflikt zwischen Erik
VII. und den mit den Grafen von Holstein verbündeten Hansestädten entstand,
auf sein Funktionsspektrum zu untersuchen. Wie schlug sich der Streit in der
schriftlichen Überlieferung nieder und welche Gewichtung wird daraus erkennbar? Warum N EUSTADT
EUST ADT gerade diesen Konflikt für ihre Studie ausgesucht hat, erklärt sie einleuchtend: Er bietet sich an, weil damals die Aufbewahrung von
Schriftzeugnissen gegenüber vorangehenden Zeiten einen auf beiden Seiten qualitativen und quantitativen Sprung erlebte.
Um ihr Arbeitsziel zu erreichen, geht die Verfasserin nach Dankesworten
(IXf.), optimierbarem Abbildungs- (XI) sowie obligatorischem Abkürzungs- und
Siglenverzeichnis (XIII–XV) und nach einer erfreulich ausführlichen Einleitung,
in der sie das Thema eingrenzt, den Forschungsstand und die Quellenlage darlegt, einen theoretisch fundierten Unterbau liefert, ihre zentralen Arbeitsbegriffe
erklärt und ihr Vorgehen und ihre Methode erläutert (S. 1–33), zunächst intensiver auf die archivalische Überlieferung im dänischen Reichsarchiv und im Archiv
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der Hansestadt Lübeck ein. Sie war für ihre Untersuchung von zentraler Bedeutung (S. 35–96). Der eigentliche Hauptteil ist dreigegliedert, indem N EUSTADT
EUST ADT für
die Erfassung ihres Quellenbestandes, die Funktionsanalyse der Schriftstücke
und die Untersuchung des Schrifthandelns drei ganz heterogene, in ihrer Auswahl aber gut begründete Ereigniskomplexe fokussiert: Erstens den Abschluss
eines Bündnisses im Jahr 1423 zwischen König Erik und den Hansestädten, das
beiden Parteien als wichtiger Referenzpunkt im späteren Konflikt diente (S. 97–
150); zweitens die Vermittlungsreise des gelehrten Doktors Nikolaus Stock, die
jener 1427/28 im Auftrag König Sigismunds unternahm und die mit Abstand die
dichteste Überlieferung hervorbrachte (S. 151–240); drittens die Verhandlungen
zwischen den Konfliktparteien von 1428 bis 1434/35 (S. 241–386). Die bei aller nötigen Parzellierung übersichtlich aufgebauten Kapitel laufen in einer Synthese
zusammen. Hierin hält N EUSTADT
EUST ADT ihre zentralen Beobachtungen zu Schriftguttypen und ihrer Anwendung, zur Vielfalt der Urkunden und ihrer gattungsmäßigen Abgrenzung, zu Konzept, Chirograph und Siegelurkunde als Schritten einer
offenkundigen Kompromissfindung, zu Protokoll, Konzept und Abschrift als Elementen planvollen Handelns, zu Aufgaben und Kompetenzen der an der Abfassung mitwirkenden „Männer der Feder“, zu den Mediatoren zwischen Verhandlungswort und -schrift, zum Funktions- und Rollenwechsel der Schriftkundigen
vom Schreiber zum Gesandten sowie zur Kompetenzverteilung und Professionalisierung fest (S. 387–421). Fast schon banal mutet die Schlussfolgerung von
N EUSTADT
EUST ADT an, die in diesem Ereigniszusammenhang so dezidiert aber noch nicht
niedergeschrieben wurde: „Grundsätzlich setzten beide Seiten Schriftlichkeit zum
eigenen Nutzen ein. Dabei standen ihnen mit den verschiedenen Schriftguttypen
unterschiedliche Instrumente zur Verfügung“ (S. 421). Anschlussfähig ist auch
die weitere Beobachtung: „Diente Schriftlichkeit beim dänischen König der
Demonstration von Rechtsliebe und kontrollierte in hohem Maße den Diskurs
über den Konflikt, ließen die Städte unter der Führung Lübecks zumindest eine
vorausschauende, strategische Planung ihrer Handlungen (im Hinblick auf Privilegiensicherung, O. A.) erkennen.“ Darauf folgt eine prägnant-ausblickhafte
Schlussbetrachtung, in der wesentliche Erkenntnisse der Arbeit nochmals zusammengetragen sind und in ihrem Stellenwert für die Forschung eingeordnet
werden (S. 423–432). Überhaupt erweist sich die konzise Studie als ernstzunehmender Beitrag über den Charakter und die Funktion der Hanse. Ein in seiner
beeindruckenden Vielfalt hilfreicher Anhang unter anderem mit einem Itinerar
und Regesten zur Mission von Nikolaus Stock oder der Edition bislang unedierter
Quellen aus dem Dänischen Reichsarchiv und dem Preußischen Ordensbriefarchiv (S. 433–495), dazu noch das obligatorische Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 497–524), und zu guter Letzt ein übersichtlich gestaltetes und in sich stimmiges Orts- und Personenregister beschließen das 540 Seiten starke Buch.
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Auf den letzten Seiten des darstellenden Teils mehren sich Tipp- und Trennungsfehler, sodass der Eindruck entsteht, im Endspurt hätten die redaktionellen
Kräfte nachgelassen. Doch schmälert dieses Missgeschick keinesfalls das positive
Gesamturteil: N EUSTADT ist es in formidabler Weise gelungen, den für manche
Leute „angestaubten“ Hilfswissenschaften neues Leben und kraftvolle Energie
einzuhauchen – und dies am Beispiel eines Konfliktes, der auch schon „ausgeforscht“ zu sein schien. Gerade das Gegenteil ist aber der Fall!
Warren Pezé, Le virus de l’erreur. La controverse carolingienne sur la double
prédestination: essai d’histoire sociale (Collection Haut Moyen Âge 26).
Turnhout, Brepols 2017. 565 S.
Besprochen von Hans-Werner Goetz: Hamburg, E ˗Mail: Hans-Werner.Goetz@uni-hamburg.de
Die karolingische Fortsetzung des augustinisch-pelagianischen Prädestinationsstreits ist mehrfach, zumeist um der Auseinandersetzung mit dem Mönch Gottschalk willen, behandelt worden, hat ansonsten jenseits der dogmatischen Fragen
von geschichtswissenschaftlicher Seite her jedoch weniger Aufmerksamkeit gefunden. Dem hilft Warren P EZÉ mit seiner umfassenden (gegenüber der eingereichten
Arbeit noch gekürzten!) und fein gegliederten Pariser Dissertation nun gründlich
ab, indem er nach den historischen Kontexten hinter dem Streit fragt, der, wie er
zeigen kann, weit über die theologischen Kontroversen hinausreicht und entscheidend von den politisch-sozialen Hintergründen bestimmt wird. Nach einem kurzen
Überblick über den Ausgangspunkt, den Streit zwischen Hinkmar von Reims und
Gottschalk von Orbais, die augustinischen Grundlagen und die bisherigen Forschungen seit dem 18. Jahrhundert wird zunächst noch einmal die Auseinandersetzung mit Gottschalk genauestens in chronologischer Folge beschrieben, die,
weit über den „Fall“ Gottschalks hinaus, immer weitere Kreise zog.
Ein erster Teil befasst sich anschließend mit dem sozio-politischen Umfeld
Gottschalks, sucht, mit aller Vorsicht, seine familiäre Herkunft zu bestimmen
(sächsische Ricdag-Sippe, mütterlicherseits vielleicht Billunger), fragt nach der
schwierigen, aber durch seine Herkunft erleichterten Integration im Westreich
und nach der mangelnden Unterstützung aus der östlichen Heimat. Dass Gottschalks Gönner Anhänger des alten Kaisers waren, spielte bei dem Umschwung
eine ebenso große Rolle wie der – in einzelnen Phasen betrachtete – soziale und
politische Kontext der Kontroverse (etwa in der Situation von 858) und die religiöse Angst vor höllischen Strafen.
Der zweite Teil widmet sich der „sozialen Konstruktion der Quellen“ und behandelt zunächst den betonten Gegensatz zwischen Gelehrten und simplices, die
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sich nicht mit solchen Problemen befassen sollten; für Hinkmar war das auch eine
Frage der eigenen Legitimation. Hinweise auf einen „öffentlichen Diskurs“ zeigen
aber, dass die Debatte sich keineswegs auf die höchste Elite der Theologen beschränkte und der formelle Adressat (oft Karl der Kahle) keineswegs der einzige
blieb. Der Vorwurf der Verfälschung des Glaubens greift antihäretische Traditionen auf. Wichtige, bislang unbeachtet gebliebene Indizien für aktuelle Eingriffe
in die Überlieferung bilden die Randbemerkungen in den Handschriften wie auch
Abänderungen beim Abschreiben von Väterhandschriften (wie Augustins ‚Enchiridion‘), um notwendige Anpassungen vorzunehmen, zumal die Ambiguität des
Kirchenvaters in der Kontroverse Unsicherheiten hinterließ. Nach Annotationen
in den Handschriften unterscheidet P EZÉ unterschiedliche Methoden der einzelnen Autoren, mit drei, sich ergänzenden ‚Modellen‘: indifferent, polemisch und
hierarchisch.
Zusammenfassend wird noch einmal das Ausmaß des Streits wie auch sein
Nachwirken weit über Gottschalks Tod hinaus, vor allem aber die hier eindrücklich herausgearbeitete Einbettung der theologischen Kontroverse in ihren soziopolitischen Hintergrund betont. Der Prädestinationsstreit erhielt eine „dimension
populaire“, erfasste gebildete Laien ebenso wie den niedrigen Klerus, wurde zur
Gefahr für die Kirche, schaltete auch den Königshof ein und wurde öffentlich geführt. Die Arbeit lässt hier keine Wünsche offen und keine Möglichkeit ungenutzt,
diese Zusammenhänge gründlich, auf hohem Niveau und überzeugend aufzudecken, und erweist sich damit zugleich beispielhaft als Modellfall für ähnliche Studien. Die Ergebnisse der oft sehr kleinschrittigen Argumentation werden am Ende
jedes Abschnitts und noch einmal jedes Kapitels leserfreundlich zusammengefasst. Die wichtigen Belegstücke und Handschriftenzusätze sind in einem ausführlichen Anhang beigegeben. Allerdings sollte man über diesen wichtigen
Erkenntnissen jetzt nicht den Fehler begehen, über solchen Kontexten die eigentlichen, theologischen Diskussionen für nebensächlich zu halten. Sie standen für
die Zeitgenossen nach wie vor im Mittelpunkt.
Valerie Schutte u. Estelle Paranque (Hgg.), Forgotten Queens in Medieval and
Early Modern Europe. Political Agency, Myth-Making, and Patronage.
Abingdon/New York, Routledge 2019. 198 S., 6 Abb.
Besprochen von Anne Foerster: Paderborn, E ˗Mail: anne.foerster@uni-paderborn.de
Dieser Band widmet sich nicht nur Königinnen, sondern auch anderen Damen
aus königlichen Familien, und nicht nur den vergessenen, sondern auch den in
Misskredit geratenen sowie einzelnen, bisher übersehenen Aspekten ihrer Biogra-
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phien. Wie die Einleitung der Herausgeberinnen andeutet, hängt die Chance auf
eine dauerhafte Erinnerung von der Wahrnehmbarkeit eigener Handlungen ab.
Während es in den meisten Aufsätzen dementsprechend darum geht, von Gesellschaft und Forschung eher unbeachtete Persönlichkeiten sichtbar zu machen respektive ihre Erinnerungswürdigkeit zu begründen, haben andere das Ziel zu zeigen, wie der Prozess des Vergessens oder der Mythenbildung vonstattenging.
Geordnet sind die zehn kurzen Beiträge chronologisch nach den Lebensdaten der
besprochenen Persönlichkeiten. Ihnen folgen jeweils die zugehörigen Endnoten
und die Bibliographie.
Verfügte der Sammelband über eine Zusammenfassung, käme diese für das
erste Schlagwort des Untertitels, ‚Political Agency‘, zu dem Schluss, dass vielfältige Ursachen die Möglichkeiten zum eigenständigen Handeln beschränkten und
damit das Vergessen beförderten: eine kurze Lebensdauer, geringe Finanzkraft,
das Fehlen von Nachkommen – das alles beraubte Königinnen ihrer Machtmittel
in den üblichen Aufgabenbereichen wie Patronage, Hofhaltung, Diplomatie und
Beratung. Zudem ergab sich für manche aufgrund anderer mächtiger Personen
am Hof nicht der Spielraum oder die Notwendigkeit zum autonomen Handeln.
Diese Faktoren tauchen in vielen Beiträgen auf, besonders bei Gabrielle S TORY ,
Lledó R UIZ D OMINGO und Sybill J ACK , die versuchen nachzuweisen, wie vergessene Königinnen eigenständig wirkten oder als Heiratspfänder Einfluss nahmen.
Für das zweite Schlagwort ‚Myth-Making‘ bietet Estelle P ARANQUE im Fazit
ihres Beitrags zu Elisabeth von Österreich und ihrer Tochter Maria-Elisabeth eine
prägnante Zusammenfassung: „women who remain silent and modest are praised
but then forgotten and ignored. [...] [W]omen who wield significant political
power are endless sources of fascination but usually portrayed as evil and manipulative“ (122). Deutlich wird das auch in drei weiteren Aufsätzen: Laut Jennifer
G ERMANN ließ sich die eher unbekannte französische Königsgemahlin Maria
Leszczinska in bewusstem Kontrast zu Madame Pompadour, der Geliebten ihres
Gatten, als ehrbare, ‚normale‘ Dame porträtieren. Eilish G REGORY zeigt, wie die
politische aktive Katharina von Braganza nach der Restauration der Stuarts 1660
von ihren Widersachern des Hochverrats beschuldigt wurde, nachdem sie ihren
Einfluss geltend gemacht hatte, um verfolgten Katholiken Zugang zu Hofämtern
zu ermöglichen. Auch die eigenständige Politik der Maria Carolina von Österreich, Königin von Neapel, wurde von ihren Gegnern als Grundlage genutzt, um
ihr Affären mit ihren Beratern anzudichten, wie Cinzia R ECCA konstatiert.
Das dritte Schlagwort ‚Patronage‘ wird von den meisten Beiträgen als Teil der
‚agency‘ betrachtet. Nur die Kunsthistorikerin G ERMANN und die auf frühe Drucke
spezialisierte Historikerin Valerie S CHUTT
CHUT TE
E zeigen auf, welche Erkenntnismöglichkeiten sich aus der Beschäftigung mit den Produkten regionaler Patronage
ergeben. Eine konsequentere Einbeziehung etwa der Kunstgeschichte oder der
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235
Literaturwissenschaften wäre wünschenswert, gerade weil die klassischen geschichtswissenschaftlichen Quellengattungen Königinnen oft eher vergessen machen: etwa durch das Desinteresse der Geschichtsschreiber oder durch Kanzleitraditionen und Rechtsgewohnheiten, die Frauen in den Hintergrund drängen.
Hilfreich für einen Überblick über die zentralen Themen und Aspekte, die die
Aufsätze verbinden, wäre es, wenn in der Einleitung ein Orientierungsrahmen für
die verschiedenen Arten, Prozesse und Ursachen des Vergessens vorgegeben wäre. Diese Linien lassen sich aber größtenteils auch über entsprechende Schlagworte im Sach-, Orts- und Personenregister nachvollziehen und so wird, wer sich
mit Handlungsspielräumen oder der Nachwirkung von Königinnen beschäftigt,
diesen Band mit Gewinn lesen. Inspiration geben zudem die von den Autorinnen
gegangenen Wege durch die oft nicht einfache Quellenlage. Mit ihren Beiträgen
zu scheinbar unbedeutenden Persönlichkeiten schaffen sie die Voraussetzungen,
um nicht nur die großen Frauen und Männer der Geschichte zu erforschen, sondern auch die Relevanz von Personenkonstellationen und (vergeschlechtlichten)
Rollenbildern.
Andreas Schwarcz u. Katharina Kaska (Hgg.), Urkunden – Schriften –
Lebensordnungen. Neue Beiträge zur Mediävistik (Veröffentlichungen des
Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 63). Köln/Weimar/Wien,
Böhlau Verlag 2015. 480 S.
Besprochen von Susanne Lepsius: München, E ˗ Mail: S.Lepsius@jura.uni-muenchen.de
Der Band beleuchtet und reflektiert spezifische Untersuchungsinteressen (Diplomatik, Kodikologie, Paläographie) Heinrich F ICHTENAU
ICHT ENAU s und die Fruchtbarkeit seiner Forschungsansätze für die früh- und hochmittelalterliche Geschichte anhand
der paradigmatischen Leitkategorien des Titels aus der Perspektive seiner österreichischen Schülerinnen und Schüler, von Kollegen am Institut für österreichische Geschichtsforschung sowie von europäischen Freunden und Kollegen.
Mehrere Beiträge lassen sich von den zentralen Werken F ICHTENAU s „Mensch und
Schrift im Mittelalter“ (1946), „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“ (1984)
und „Askese und Laster in der Anschauung des Mittelalters“ (1948) (vgl. auch
S. 365–368 für die zentralen Schriften F ICHTENAU s, auf die die Bandbeiträge eingehen) inspirieren, um sie im Lichte neuerer Forschungsansätze zu lesen. Sehr
grundsätzlich zeigt S CHEIBELREITER (S. 61–75) auf, wie F ICHTENAU unter dem politologisch klingenden Begriff der „Lebensordnung“ das in allen Epochen zentrale
historische Problem zu erfassen suchte, wie sich ein einzelner Mensch im Rahmen
der prägenden Rahmenbedingungen dennoch als handelndes Subjekt erfassen
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lässt. Für F ICHTENAU waren dies einzelne Reichsbischöfe des 10. Jh., aber auch die
Umdeutung des „Reiter“-begriffs im Hochmittelalter durch den Stand der Ritter.
Obwohl F ICHTENAU ungern reiste, insbesondere ins Ausland (G
G EARY , S. 345–355)
inspirierten seine Ansätze zahlreiche ausländische Forscher und vermögen als
Ansätze einer „Geistesgeschichte von unten“ bzw. einer Kulturgeschichte avantla-lettre, nicht zuletzt als Gegenkonzeption zur Ecole des Annales noch immer zu
faszinieren (P
P OHL , S. 355–361).
Besonders deutlich wird anhand von mehreren Beiträgen, wie stark F ICHTENAU von den in Wien seit den 1920er ausgebildeten neuen Ansätzen der Gestaltpsychologie beeinflusst war. So versuchte er, S ELDMEY
EL DMEY ER s kunsthistorisches Konzept des ‚Gestaltwollens‘ für einen eigenen Ansatz des ‚Schriftwollens‘ für seinen
Untersuchungsgegenstand, die Paläographie, fruchtbar zu machen. Obwohl
F ICHTENAU s Habilitationsschrift „Mensch und Schrift“ vor allem wegen genau
derartiger individualisierender, fast schon völkerpsychologische Charakteristika
voraussetzender Ansätze, die deutlich vom nationalsozialistischen Vokabular geprägt waren, heftig kritisierte wurde und heute als überlebt gilt (zur Würdigung
des Gesamtœuvres von F ICHTENAU
ICHT ENAU und einer Zusammenstellung des Rezensionsechos, vgl. S TELZER , ebd., S. 13–27, bes. S. 18, Anm. 28; auch: G ANZ , S. 29–37),
können sie jedenfalls bei der Analyse und Abgrenzung einzelner Schreiberhände
z. B. anhand der sorgfältigen schriftmorphologischen Analyse gewinnbringend
nutzbar gemacht werden, wie S CARPETT
CARPET TET
ETII am Beispiel des „wolfcoz“, als einem
der wenigen namentlich bekannten Schreiber des St. Galler Psalteriums, überzeugend demonstrieren kann (S. 39–59).
Mehrere abschließende Aufsätze zum Wirken F ICHTENAU s als Hochschullehrer in Wien und dann vor allem in der Leitung des Instituts für österreichische
Geschichtsforschung, einschließlich dem nicht spannungsfreien Verhältnis zu
Leo S ANTIFALLER
ANT IFALLER , dessen auserkorener Kandidat F ICHTENAU jedenfalls nicht war
(S
S TTOY
OY , S. 293–310; W INKELBAUER
INKEL BAUER , S. 311–336) beleuchten F ICHTENAU s erfolgreiches
und ruhiges Wirken im Rahmen der Wissenschaftsorganisation wie auch in den
wenig erfreulichen Stürmen um ein teilweise als zu praxisfern kritisiertes Ausbildungscurriculum für die angehenden Archivare und Archivarinnen Österreichs,
die alle den Institutskurs durchlaufen mussten und müssen.
Auch die zahlreichen weiteren, einzelnen Forschungsbeiträge, die den Kern
des Bandes ausmachen, jedoch nicht alle vorgestellt werden können, verstehen
es durchwegs überzeugend nachweisen, dass die Beschäftigung mit den historischen Grundwissenschaften, gerade auch zu Siegeln (Z
Z EHETMEYER , S. 251–271 zu
Bischofssiegeln, F ELLER , S. 272–291 zu Frauensiegeln) keinesfalls trocken sein
muss, wenn man sie mit grundsätzlichen und übergeordneten Problemen vergangener Existenzen verbindet.
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Wesley M. Stevens, Rhetoric and Reckoning in the Ninth Century. The
Vademecum of Walahfrid Strabo (Studia Traditionis Theologiae 24). Turnhout,
Brepols 2018. XXXVIII, 408 S., 15 Abb.
Besprochen von Till Hennings: Hamburg, E ˗ Mail: till.hennings@uni-hamburg.de
S TTEVENS
EV ENS , der sich mit zahlreichen Publikationen um das Studium der frühmittelalterlichen Komputistik verdient gemacht hat, legt mit dieser Monographie eine
eingehende Studie von Walahfrid Strabos persönlicher Sammelhandschrift vor
(St. Gallen, Stiftsbibliothek Cod. 878) mit besonderer Berücksichtigung ihrer umfangreichen komputistischen und kalendarischen Inhalte. Die Arbeit fügt sich mit
ihrem methodischen Ansatz in eine Reihe interdisziplinärer Handschriften-Studien ein, die vom materiellen Objekt und seinen Inhalten ausgehend den kulturellen Kontext der Besitzer und Nutzer rekonstruieren (z. B. V OCINO , ‚A Peregrinus’s
Vade Mecum‘; G RUPP , ‚Der Codex Sangallensis 397‘; W OLFINGER
OLFING ER , ‚Carmina Salisburgensia‘). Zu Walahfrids Vademecum liegen zudem die aktuellen Studien Richard C ORRADINIS vor, die ebenfalls den chronologischen Aspekten der Sammelhandschrift gewidmet sind.
S TTEVENS
EV ENS folgt dem Lebensweg Walahfrids vom Eintritt ins Kloster über die
Lehrzeit in Fulda und den Dienst am Hofe bis zur Abtswürde auf der Reichenau
und verbindet diese Lebensstufen mit den kodikologischen Schichten der Handschrift. Zwei Kapitel widmen sich ausschließlich den Inhalten und der Paläographie derselben. Das biographische Grundgerüst der Arbeit wird vermehrt durch
umfangreiche Exkurse zu den jeweils damals gesammelten komputistischen Texten. Die Studie ist ein Beitrag zum sich wandelnden Bild Walahfrids vom bloßen
Dichter zu einem Universalgelehrten seiner Zeit. S TEVENS arbeitet heraus, wie sich
Walahfrid schon von Jugend an intensiv mit Fragen des Kalenders und der
Zeitrechnung beschäftigte und wie er seine Aufenthalte an verschiedenen Kulturzentren der Zeit wie z. B. Fulda, Weißenburg oder Prüm nutzte, um sein immer
wachsendes Kompendium mit neuen Texten zum Thema zu bereichern und schon
enthaltene Texte zu korrigieren. Neu ist hierbei insbesondere der genaue Abgleich
mit den jeweiligen Bibliotheksbeständen, wobei jedoch eine direkte Vorlage für
das Vademecum in den erhaltenen Handschriften nicht mit Sicherheit festgestellt
werden konnte.
Ein besonderes Verdienst besteht in der minutiösen Untersuchung und Beschreibung der Handschrift, insbesondere in der Unterscheidung der verschiedenen Schreiber und der Produktionsphasen der Handschrift (hinausgehend über:
B ISCHOFF
ISCHOF F , ‚Sammelhandschrift Walahfrid Strabos‘). Bemerkenswert ist die nur bei
den wenigsten Handschriften mögliche und selten versuchte Verknüpfung von
Entwicklungsstadien der Handschrift mit der Biographie ihres Besitzers. Die di-
238
Rezensionen
plomatische Edition der enthaltenen komputistischen Texte, sowie die ausführliche Beschreibung von weiteren Textzeugen (darunter auch Grimalds Vademecum, St. Gallen, Stiftsbibliothek Cod. 397) sind eine willkommene Ergänzung zu
B ORST , Schriften zur Komputistik, Bd. 1, S. 205–326. Über die von B ISCHOFF
ISCHOF F
(a. a. O.) und anderen gesammelten Indizien hinaus (vgl. H OFFMANN , ‚Autographa
des früheren Mittelalters‘, S. 32–35) konnte auch S TEVENS ’ akribische Untersuchung keine weiteren Anhaltspunkte dafür finden, dass der Hauptschreiber tatsächlich mit Walahfrid zu identifizieren sei. Ein letzter Zweifel hieran scheint
demnach nicht ausräumbar zu sein.
S TTEVENS
EV ENS hält weiterhin an der von F EES (‚War Walahfrid Strabo der Lehrer
und Erzieher Karls des Kahlen?‘) bestrittenen These fest, ohne hierfür neue Anhaltspunkte liefern zu können, abgesehen von einem auf S. 277 der Handschrift
enthaltenen Labyrinth, das er als Kinderspiel interpretiert (vgl. aber H AUBRICHS ,
‚Error inextricabilis‘). Zudem ist zweifelhaft, ob die grammatischen Texte und
Übungen, die sich zahlreich in der Handschrift finden, von Walahfrid als Schüler
eingetragen wurden (so S. 73, 78). Dies würde einerseits bedeuten, dass Walahfrid, der schon als Jugendlicher als Dichter hervortrat, noch kurz zuvor Deklinationen hätte lernen müssen, andererseits, dass ein Schüler dieses Alters schon
eine eigene Handschrift besessen hätte. Die naheliegendere These, dass Walahfrid in dieser Phase der Handschrift (Schriftstufe W II, S. 5–81) selbst schon als
Lehrer der Grammatik, ob auf der Reichenau oder in Fulda, tätig war, wird nicht
erwogen.
Die vorliegende Studie bereichert unser Bild von Walahfrid, indem sie ihn –
der auch heute noch meist nur als Dichter rezipiert wird – als Gelehrten, Forscher
und Lehrer anhand seines persönlichen Instruments, seiner Handschrift, aufzeigt. Insbesondere für weitere Forschungen zum Vademecum selbst sowie zu
dessen astronomischen und kalendarischen Inhalten wird S TEVENS ’ Arbeit einen
nützlichen Ausgangspunkt bieten.
Leah Tether und Johnny McFayden (Hgg.), in Zusammenarbeit mit Keith Busby
und Ad Putter, Handbook of Arthurian Romance. King Arthur’s Court in Medieval
European Literature. Berlin/Boston, De Gruyter 2017. XV, 548 S.
Besprochen von Cora Dietl: Gießen, E ˗Mail: cora.dietl@germanistik.uni-giessen.de
Einen Überblick über die internationale Artusliteratur und Artusforschung möchte dieser Band bieten, als Versuch, einen Impuls zu geben, wie die internationale
Artusforschung künftig zusammenarbeiten könnte, und zwar „in a more meaningful and sententious way“ (S. 10), als dies bisher geschehen sei. Die Zahl re-
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nommierter Artusforscher, die aufgeboten wurde, um die Einzelkapitel des Handbuchs zu verfassen, ist höchst beeindruckend. Umso bedauerlicher ist, dass der
Band die übliche Leserschaft eines Handbuchs verfehlt und den angekündigten
Überblick nicht zu vermitteln vermag. Er konzentriert sich auf die englische, französische, niederländische, nordische und deutsche Artusliteratur, mit einzelnen
Blitzlichtern in Richtung der keltischen, okzitanischen, lateinischen, spanischen,
portugiesischen und italienischen Literatur; andere europäische Sprachen werden ignoriert. Auch aus den bevorzugt berücksichtigten Kulturen werden nur Einzeltexte behandelt und diese werden nicht in einen größeren Gattungskontext
eingebettet.
Der Band teilt sich in drei große thematische Blöcke, überschrieben mit: „The
Context of Arthurian Romance“, „Approaching Arthurian Romance: Theories and
Key Terms“ und „Reading Arthurian Romances: Content, Method and Context“.
Im ersten Teil sind Aufsätze zu verschiedensten Arten von Kontexten der Artusromane versammelt: Als historischen Kontext betrachtet Robert R OUSE die Entstehung, Verfestigung und dem Verfall ritterlicher Wertvorstellungen in Europa.
Wissenschaftsgeschichtliche Kontexte umreißen Samantha R AYNER mit ihrer z. T.
auf Interviews gestützten Charakterisierung der Internationalen Artusgesellschaft
(die in einem Handbuch m. E. fehlplatziert ist) und Aisling B YRNE mit ihrer leider
sehr verkürzten Darstellung der Herausbildung eines Kanons der arthurischen
Literatur. Eine ganz andere Art von Kontexten behandelt Patrick M ORAN : die metrische Form der Artusromane und die unterschiedliche Dynamik der Entwicklung des Prosaromans in der französischen, englischen und deutschen Literatur.
Eine Verbindungslinie zwischen Form und Inhalt zieht Matthias M EYER in seiner
Untersuchung der Gestalt des Königs Artus, der in der lateinischen Chronistik,
den Versromanen und den Prosaromanen jeweils unterschiedlich ausgestaltet ist.
Mit der Überlieferung als einer materiell nachweisbaren frühen Rezeption der Artusromane befassen sich schließlich die Beiträge von Keith B USBY und Bart B ESAMUSCA . Insgesamt bietet der erste Teil des Bands eine Fülle von Basisinformationen über die Produktion, Rezeption und Überlieferung, über den Sitz im Leben
und die grundlegenden Formen der europäischen Artusliteratur. Um dem Anspruch, neue Akzente für die Artusforschung zu setzen, gerecht zu werden, hätte
allerdings konsequent in allen Beiträgen versucht werden sollen, Unterschiede
oder Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Kulturen nicht nur zu konstatieren, sondern auch historisch zu kontextualisieren.
Teil II ist wissenschaftshistorisch ausgerichtet. Er widmet sich verschiedenen
Methoden, „Turns“ sowie Themen der Kultur- und Literaturwissenschaft, die in
den letzten Jahrzehnten aktuell waren bzw. es noch sind, und wendet sie exemplarisch auf einzelne Artusromane an: Sif R IKHARDSDOTTIR fragt nach der Bedeutung von Chronologie und Zeitstrukturen im Artusroman. Mit dem Verständnis
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von Artus als historischer oder fiktionaler Gestalt befasst sich Helen F ULTON ; sie
verlängert dabei den Blick von Matthias M EYER
EY ER s Beitrag bis ins 16. und z. T. ins
18. Jahrhundert. Die verschiedenen Arten von rewriting, die für die Artustradition
charakteristisch sind, beschreibt Jane T AYLOR . Marjolein H OGENBIRK befasst sich
mit der Vielfalt intertextueller und intergenerischer Bezüge in Artusromanen.
Stefka E RIKSEN zeigt, wie die New Philology die literaturwissenschaftliche Forschung inspiriert und bereichert hat. Text-Bild-Beziehungen außerhalb und innerhalb von Texten und Handschriften sind Gegenstand des Beitrags von Alison
S TTONES
ONES . Andrew J OHNSTON befasst sich mit dem Einfluss der Material Studies auf
die Artusforschung, meint damit allerdings nicht Materialität im engeren Sinne,
sondern die im Text beschriebenen Dinge. Die Natur steht im Zentrum des Aufsatzes von Christine F ERLAMPIN -A CHER , in dem sie zeigen möchte, dass ökologisches Denken und die Reflexion über das Verhältnis des Menschen zur Natur eine
lange Geschichte haben. Carolyne L ARRINGTON widmet sich den Gender und Queer
Studies und extrahiert aus verschiedenen frz. und engl. Romanen Muster der
Maskulinität, Femininität sowie Homosexualität. Das Verhältnis von Oralität und
Literalität sowie die verschiedenen Formen der Performativität der Artusliteratur
betrachtet Richard T RACHSLER . Unter dem Stichwort Medievalism stellt Andrew
E LLIOTT
LLIOT T die wichtigsten Phasen der Mittelalter- und Artusrezeption seit der Frühen Neuzeit vor. Andrew L YNCH
Y NCH schließlich versucht zu belegen, dass man selbst
mit Fragestellungen der Postcolonial Studies in einem literarischen Genre, das
zunächst der Herrschaftsrechtfertigung und der Fürstenlehre in Westeuropa dienen sollte, fündig werden kann. Das Potpourri, das in Teil II geboten wird, ist
noch bunter als das in Teil I. Leider lässt sich auch hier weder eine sinnvolle
Reihenfolge der Beiträge erkennen, noch ist die Auswahl der theoretischen Ansätze, kulturwissenschaftlichen Turns und Themen selbsterklärend. Dringend
erwartet hätte man hier u. a. Beiträge zum Strukturalismus, zur Fiktionalitätsdebatte, zur Narratologie, zur historischen Anthropologie, zur Emotionsforschung, zum Spacial Turn, zum Religious Turn und zu den Themen ‚Körper‘, ‚Mythos‘, ‚Klang‘.
Teil III schließlich versammelt verschiedene Einzelinterpretationen von Artusromanen. Die Idee scheint zu sein, dass jeweils an einem Text ein zentrales
Motiv oder strukturelles Merkmal von Artusromanen behandelt werden soll. So
geht Florian K RAGL am Beispiel von Heinrichs von dem Türlin ‚Crône‘ auf das Verhältnis von Romanstruktur und Darstellung des Artushofs ein; Sofie L ODÉN zeigt
am Beispiel des ‚Herr Ivan‘, wie Aspekte der Identität des Helden bei der Adaption
von Chrétiens ‚Yvain‘ ins Schwedische verschoben werden; Giulia M URGIA behandelt am Beispiel der ‚Tavola Ritonda‘ das Verhältnis von Magie und Überirdischem. Thomas H INTON
INT ON verweist auf die Inszenierung von höfischer Minne in
Chrétiens ‚Lancelot‘; Raluca R ADULESCU zeigt am Beispiel von ‚Sir Percyvell of Gal-
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les‘, wie sich bei der Translation auch die Werte, die mit einem Protagonisten und
seiner Aventüre verbunden sind, verschieben können. Lowri M ORGANS problematisiert am Beispiel von ‚Peredur son of Efrawg‘ die Identifizierbarkeit von Vorlagen von Translationen bzw. Adaptionen; das Motiv der Reise und der Erfahrung
des Fremden behandelt Frank B RANDSMA an den Beispielen von ‚Walewein‘ und
‚Moriaen‘. Paloma G RACIA fragt nach der Wahrnehmung des zyklischen Charakters der spanischen und portugiesischen Fassung des Lancelot-Gral-Romans. Den
Gral als solchen beschreibt Michael S TOLZ am Beispiel von Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘; die Rolle von Frauen im Artusroman umreißt Laura Chuhan
C AMPBELL
AMPBEL L am Beispiel von Chrétiens ‚Erec et Enide‘; die Frage nach dem Stellenwert christlicher Werte, der Ehre und der Schande im Artusroman diskutiert Gareth G RIFFITH am Beispiel des ‚Merlin‘. Siân E CHARD behandelt beschreibende und
wissensvermittelnde Exkurse am Beispiel der ‚Historia Meriadoci‘ und des ‚Ortus
Walwanii‘; Charmaine L EE schließlich fragt nach der Gattungshybridität zahlreicher arthurischer Texte am Beispiel des ‚Jaufre‘. Auch für diesen letzten Teil des
Bands gilt, dass jeder Beitrag für sich absolut respektabel ist, dass aber weder
eine sinnvolle Reihung der Beiträge zu erkennen ist noch die Ausrichtung auf eine
eindeutig definierte Leserschaft. Allein der Beitrag von Michael S TOLZ
T OL Z entspricht
dem Idealtyp eines Handbuch-Kapitels. Offensichtlich fehlten klare Vorgaben der
Redaktion und so unterscheiden sich die Beiträge massiv in ihrer Gewichtung von
Inhaltsangabe, Zitat, Forschungsreferat und Interpretation sowie im Grad der
Konzentration auf das in der Überschrift genannte Thema.
Insgesamt liegt mit dem ‚Handbook of Arthurian Romance‘ ein Sammelband
vor, der in Teilen eine wissenschaftsgeschichtliche Ausrichtung hat und in Teilen
einen Einblick in verschiedene Aspekte der Artusliteratur und ihre unterschiedliche Behandlung in unterschiedlichen Kulturen, v. a. in Nord- und Westeuropa,
bietet. Einen systematischen, strukturierten Überblick über die mittelalterliche
europäische Artustradition oder über die internationale Artusforschung vermag
der Band nicht zu vermitteln, was sehr bedauerlich ist, bedenkt man, wie viele
anerkannte Experten der Artusforschung an dem Band mitgewirkt haben. Kann
der Band dazu anregen, die internationale Artusforschung „in a more meaningful
and sententious way“ zusammenzuführen? Das vermag er durchaus, aber leider
nicht so, wie es vom Herausgeberteam intendiert war, nämlich indem er die Forschung dazu inspiriert, es noch einmal zu versuchen, ein brauchbareres Handbuch der europäischen Artusliteratur zu verfassen.
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Monika Unzeitig, Angela Schrott u. Nine Miedema (Hgg.), Stimme und
Performanz in der mittelalterlichen Literatur (Historische Dialogforschung 3).
Berlin/Boston, De Gruyter 2017. VIII, 502 S.
Besprochen von Christian Schneider: Washington University in St. Louis,
E ˗ Mail: christianschneider@wustl.edu
Der Band dokumentiert die Beiträge der gleichnamigen Greifswalder Tagung vom
Oktober 2014 und setzt zugleich die beiden bereits vorliegenden Bände der Reihe
‚Historische Dialogforschung‘ fort. Wieder geht es um Redeszenen in der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Literatur, doch diesmal nicht in Bezug auf eine bestimmte Gattung oder Textreihe,1 sondern unter dem Aspekt der in ihnen sich
artikulierenden, je besonderen vocalité; es geht um „Hörbarkeit und [...] Stimmlichkeit als poetischer Qualität“ (1) vormoderner Texte. Die Herausgeberinnen,
denen das gestiegene Interesse der jüngeren Forschung an Redeszenen in der
mittelalterlichen erzählenden Literatur maßgeblich zu verdanken ist, weisen auf
die Vielfältigkeit der in dem Band versammelten Beiträge selbst hin: vielfältig
nicht nur, indem sie sich keinesfalls auf Redeszenen im engeren Sinne beschränken – siehe nur den Beitrag von Ann Marie R ASMUSSEN zu Abzeichen (oder badges) als „sprechende[n] Objekten“ (469) –, sondern vielfältig auch in den durch
die Beiträge repräsentierten Textsorten, Literatursprachen, Zeiträumen, medialen
Formaten und Überlieferungshintergründen.
Einleuchtend daher die Entscheidung der Herausgeberinnen, die – inklusive
der Einleitung – dreiundzwanzig Beiträge des Bandes (denen sich ein Personen-,
Werk- und Sachregister anschließt) nach funktional-systematischen Gesichtspunkten zu ordnen: ‚Graphische Codierung der Performanz – Handschrift und
Druck‘ (1.), ‚Modellierungen von Stimme‘ (2.), ‚Wirkung und Macht der Stimme‘
(3.), ‚Artikulierte und hörbare Performanz‘ (4.), ‚Mystisches und magisches Sprechen‘ (5.), so lauten die Titel der einzelnen Sektionen, wobei sich unterhalb der
funktional-systematischen Ebene doch deutlich literatursprachliche Ordnungskriterien abzeichnen (das gilt insbesondere für die zweite Sektion, deren Beiträge
ganz überwiegend dem mittelniederdeutschen Prosaroman gewidmet sind, und
die dritte, die ausschließlich isländische Sagaliteratur behandelt).
1 In den beiden früheren Bänden lag der Fokus einmal auf der Großepik, einmal auf der Bibeldichtung und legendarischem Erzählen: Monika Unzeitig, Nine Miedema u. Franz Hundsnurscher
(Hgg.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven (Historische
Dialogforschung 1). Berlin 2011; Nine Miedema, Angela Schrott u. Monika Unzeitig (Hgg.), Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende (Historische Dialogforschung 2). Berlin 2012.
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Daraus freilich ergeben sich mitunter interessante Querverbindungen zwischen den Sektionen: So spüren die Beiträge der ersten Abteilung der Frage nach,
inwieweit performativ relevante Aspekte eines Textes in der handschriftlichen
bzw. gedruckten Überlieferung eine graphische Codierung erfahren haben: in der
heldenepischen ‚Rosengarten‘-Überlieferung – Handschriften schlichteren Anspruchs – gar nicht (Elisabeth L IENERT ), in der Gießener ‚Iwein‘-Handschrift 97
(Tina T ERRAHE ), dem Kölner ‚Tristan‘-Kodex B (Birgit Z ACKE ), den Beichterzählungen des Cgm 714 (Elke K OCH u. Nina N OWAKOWSKI ) hingegen sehr wohl. Vergleichbares stellt Karin C IESL
IESLIK
IK in der zweiten Sektion am Beispiel des mittelniederdeutschen Prosaromans ‚Paris und Vienna‘ im Antwerpener Druck von 1488 fest.
Allerdings beschränkt sich die Codierung in all diesen Fällen auf mehr oder weniger konsequent gesetzte Initialen, Lombarden oder Alinea-Zeichen (etwa bei
direkter Rede, Sprecherwechsel, einem Wechsel in der Erzählsituation oder Abschnittswechsel). Ob derlei Gestaltungsmittel immer auf Performanz hindeuten
oder ob sie nicht vielmehr einer Entwicklung Rechnung tragen, die von der Handschrift als Medium der bloßen Textkonservierung zu einem solchen des praktischen Gebrauchs führt – diese Frage wäre anhand der vorgeführten Textbeispiele
weiter zu diskutieren.
In der zweiten, ‚niederländischen‘, Sektion behandeln Elisabeth DE B RUIJN
und Rita S CHLUSEMANN in zwei einander ergänzenden Beiträgen das Phänomen
der Versinterpolationen, die sich in mittelniederländischen Prosaromanen vielfach eingeschoben finden – ein Phänomen, das, DE B RUIJN zufolge, auf die im 15.
und 16. Jahrhundert in den Niederlanden blühende Kultur der rederijkers (frz. rhétoriqueurs) zurückführt und das S CHLUSEMANN als Ausdruck der Dramatisierung
und performativen Anreicherung deutet. Stärker diskurslinguistisch ausgerichtet
ist der Beitrag von Angela S CHROTT , der dem auffälligen Fehlen von Echofragen –
als eng an die Mündlichkeit gebundene, alltagssprachliche Diskurstradition – in
der altspanischen Literatur nachgeht.
Informativ und anregend ist der Band nicht zuletzt durch die komparatistische Perspektive, die er durch die Einbeziehung mehrerer europäischer Literatursprachen und -landschaften immer wieder erlaubt. Etwa im Hinblick auf die
Funktionalisierung von Figurenreden: In der altnordischen Sagaliteratur – Hendrikje H ARTUNGS
ARTUNG S Beispiel ist die ‚Saga von den Leuten auf Eyr‘ – können sie Mittel
zur Verlangsamung des Erzählflusses, zum Spannungsaufbau, zur Ingangsetzung
von Handlung oder zu Ana- und Prolepse sein; Jana K RÜGER
RÜG ER untersucht – daran
anschließend, allerdings sehr deskriptiv und wenig thesenfreudig – den Gebrauch von inquit-Formeln. Florian K RAGL wiederum führt an Beispielen aus der
deutschsprachigen Heldenepik und dem höfischen Roman vor, wie in Konfliktsituationen Figurensprechen nicht mehr der Darstellung von Informationsübermittlung oder diskursiver Auseinandersetzung – und damit der Erzeugung ‚logischer‘
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Bedeutung – dient, sondern Sprache performativ überwunden wird, mit der Folge, dass sie primär als klangliches Ereignis erscheint, im ‚Nibelungenlied‘ etwa
als „Performanz der Stimmgewalt“ (335). Dieser ‚performative Übersprung‘ lässt
sich, wie der Beitrag von Florian S CHMID nahelegt, auch für einen Text wie die
‚Nibelungenklage‘ (in der Fassung B) konstatieren, wenn das Motiv des Klagens
akustisch markiert und inszeniert wird, und zwar einerseits im Hinblick auf seine
textinterne Wahrnehmung (durch andere Figuren), andererseits hinsichtlich einer
performativen Verschmelzung von Figuren- und Erzählerklage in der Aufführungssituation. Und in gewisser Weise lässt sich von einem ‚performativen Übersprung‘ auch für das sprechen, was Maryvonne H AGBY an der Legende der heiligen Margarete demonstriert: wie die Stimme der Heiligen, die vox sanctae, in
Gesprächen und Gebeten in direkter Rede so inszeniert wird, dass ihre Vokalität
„die den hagiographischen Sinn vermittelnde Struktur der Texte [trägt]“ (392).
Zwei weitere Aufsätze – nochmals zu den Isländersagas – führen wiederum vor,
wie mündlich-performative Rede, als Vortragserzählen, sich in den Texten selbst
thematisiert (Anita S AUCKEL ) oder auch als Stimme der öffentlichen Meinung vernehmbar wird (Rebecca M ERKELBACH ).
Solche komparatistischen Querverbindungen, wie sie hier für die Figurenrede
angedeutet wurden, zeigen, dass die Grenzen zwischen den Sektionen teilweise
fließend sind. Die Beiträge von S CHMID , K RAGL und H AGBY gehören bereits der
vierten Sektion an. Ebenfalls komparatistisch angelegt ist in dieser Sektion die
Untersuchung von Teresa C ORDES zum Motiv des Wiedererkennens an der Stimme. Sie konstatiert für die mittelhochdeutschen Texte einen häufigeren Gebrauch
dieses Motivs als in ihren französischen Vorlagen. Stephan M ÜLL
ÜL LER
ER formuliert mit
seiner Analyse von ‚Cliffhangern‘ in der C-Fassung des ‚Nibelungenlieds‘ eine interessante Beobachtung zur Frage nach den Kohärenzbildungsstrategien mittelalterlichen Erzählens, während Almut S UERBAUM in ihren Ausführungen zu Frauenlobs ‚Zartem Ton‘ in der Überlieferung der Jenaer Liederhandschrift daran
erinnert, dass vox im Kontext der mittelalterlichen Musiktheorie nicht auf Klang
angewiesen ist, sondern auf Intelligibilität: Sie ist eine Stimme für das innere Ohr,
deren ‚Hörbarmachung‘ eine Kunstfertigkeit verlangt, und es ist diese Kunstfertigkeit, auf die die komplexen Gliederungsstrukturen in der Jenaer Handschrift
abgestimmt zu sein scheinen.
Wie stellt sich das Verhältnis von Stimme, Sprache und Performanz in religiösen oder quasireligiösen Kontexten dar? Dieser Frage nähern sich, aus ganz unterschiedlichen Richtungen, die Beiträge der fünften und letzten Abteilung. Julia
W EITBRECHT nimmt ihren Ausgangspunkt bei asketisch-monastischen Legenden
und arbeitet heraus, wie in literarischen Darstellungen sprechender Vögel die Vogelstimme zum Gegenstand einer performativen Reflexion und Überschreitung
der Grenzen zwischen Mensch, Tier und Gott gemacht wird. Mystischer Rede gilt
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der Aufsatz Annette V OLF
OL FINGS
INGS , der an Texten Mechthilds von Magdeburg, Christine und Margaretha Ebners, Adelheid Langmanns und anderer das Phänomen simultaner Diskurse, das heißt einer offenkundig polyphonen Anlage von Sprechinstanzen – Stimmen – in den Blick rückt. Jutta E MINGS Beitrag schließlich wendet
sich dem ‚Parzival‘ zu und deutet Anfortas’ Heilung nicht als das Ergebnis einer
performativen Sprachhandlung Parzivals im Sinne der Sprechakttheorie, sondern
als ein – wenn auch performativ, nämlich durch lehrhafte Unterweisungen vorbereitetes – religiöses Wunder.
Viele Aufsätze in diesem Band lassen sich zueinander in Bezug setzen, sei es
kontrastiv, sei es ergänzend, andere stehen etwas abseits und sind nur mit einigem guten Willen dem von den Herausgeberinnen in der Einleitung skizzierten
Thema zu subsumieren. Doch liegt das in der Natur der Sache eines so voluminösen Tagungsbandes. Und es ist gerade die Vielfältigkeit der behandelten Gegenstände und der gewählten Zugriffe, die den Band zu einem ebenso anregenden
wie wichtigen Beitrag auf dem Gebiet der Historischen Dialoganalyse macht.
Harm von Seggern (Hg.), Residenzstädte im Alten Reich (1300–1800). Ein
Handbuch, Abteilung I: Analytisches Verzeichnis der Residenzstädte, Teil 1:
Nordosten (Residenzenforschung. Neue Folge: Stadt und Hof). Ostfildern,
Thorbecke 2018. XVII, 687 S.
Besprochen von Daniel Gneckow: Kassel, E ˗Mail: daniel.gneckow@uni-kassel.de
Mit dem von Harm VON S EGG
EG GERN
ERN herausgegebenen Verzeichnis der Residenzstädte
im Nordosten des Reichs ist der erste Band eines Gesamtkatalogs erschienen, der
systematisch jene Städte erfassen soll, die in Spätmittelalter und Früher Neuzeit als
Standorte von Residenzen fungierten. Hervorgegangen aus dem gleichnamigen,
von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen betreuten Langzeitprojekt
nimmt der Band die Wechselverhältnisse zwischen Stadt und Hof, urbanem und
höfischem Leben aus sozialer, ökonomischer, verfassungs- und kunstgeschichtlicher Perspektive in den Blick. Der methodische Zugang ist durch eine Kombination sozial- und kulturhistorischer Ansätze geprägt, anhand derer die Vf. der Artikel
die diachronen Strukturentwicklungen kleiner und großer Residenzstädte in der
longue durée nachzeichnen. Zur geographischen Einordnung definiert der Hg. rein
pragmatisch eine Großlandschaft des Nordostens, die zusätzlich zu den Ober- und
Niedersächsischen Reichskreisen auch Schleswig, das Bistum Verden, die Territorien der Ostseeküste bis nach Livland sowie die Niederlausitz umfasst (IX).
Die der Auswahl der Residenzstädte zugrunde gelegten Kriterien überzeugen: Die Gewichtung der regelmäßigen Präsenz der Herrschenden sowie einer
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Nutzungsdauer von mindestens etwa einer Generation schließt kaum genutzte
oder provisorische Standorte aus (XII). Ein weiterer Fokus liegt auf den Eingriffen
des Herrn in das Stadtregiment und dessen Auswirkungen auf die Stadtentwicklung, wobei auch kleinere Städte in Abgrenzung von dörflichen Strukturen
betrachtet werden. Ökonomische Gegebenheiten und architektonisch-repräsentative Ausstattung (XIII–XIV) komplettieren die Eingrenzung des Analysegegenstands. Der Aufbau der Artikel berücksichtigt außer einem Überblick über die
jeweilige Geschichte vor allem die Lage, die Ausstattung mit Kirchen, die Stadtgestalt sowie die regionale Einbindung in Handelsnetzwerke und Städtelandschaften (XV–XVII). Abschließend folgt jeweils eine Zusammenfassung sowie ein
Quellen- und Literaturverzeichnis.
Stellvertretend für die 195 behandelten Städte sei der vom Hg. verfasste Artikel zu Schwerin exemplarisch hervorgehoben. Seit 1358 im Besitz der Herzöge von
Mecklenburg, verfügte Schwerin neben Güstrow über eine eigene Hofhaltung, ehe
es von der Mitte des 17. Jahrhunderts an nur noch phasenweise als Residenz
diente (521). Die Entwicklung der Stadtgeschichte zeigt sich in Stadtanlage, Bevölkerungszahlen und Gewerbestruktur. Der Fokus liegt konsequent auf jenen Tendenzen, die von Hofangehörigen ausgingen oder – wie der Ismport von Luxusgütern – für diese relevant waren (522). Mit Blick auf die kirchlichen Institutionen
stehen neben Stiftungen und Memorialwesen die Umwälzungen infolge der Reformation und die konfessionellen Praktiken im Zentrum, die von der Auflösung des
Domkapitels und der Einrichtung einer Fürstenschule geprägt waren (523).
Schließlich illustriert der Vf. den seit dem 17. Jh. abnehmenden Konnex zwischen
Stadt und Hof anhand der nachlassenden personellen Bindungen.
Hervorzuheben ist, dass die einzelnen Artikel im Verweis auf andere Residenzen sowie kriegerische und dynastische Konflikte aufeinander referenzieren und
so die Perspektive auf das Residenzwesen ganzer Territorien eröffnen. Eine Kurztitelbibliographie, ein Verzeichnis der behandelten Residenzstädte nach ihrer Zugehörigkeit zu Fürstentümern, eine Ortsnamenkonkordanz und ein Mitarbeiterverzeichnis runden den umfangreichen Band ab. Ein wesentlicher Mehrwert der
Publikation sowohl für die Residenzforschung als auch für die vergleichende
Stadt- und Landesgeschichte besteht in der ausführlichen Berücksichtigung kleinerer Gemeinwesen und ihrer Höfe, zumal die großen bzw. besonders bekannten
Residenzstädte lediglich einen zahlenmäßig kleinen Teil der Gesamtmenge bildeten. Insgesamt bietet der Band eine facettenreiche Gesamtschau vormoderner Residenzstädte, die die Vielgestaltigkeit und engen Wechselwirkungen zwischen
höfischen und urbanen Lebensbereichen widerspiegelt und die vermeintliche Dichotomie zwischen Stadt und Hof anhand zahlreicher Beispiele zu differenzieren
und sogar zu relativieren vermag.