Chris Lorenz (Amsterdam)
Geschichte, Gegenwärtigkeit und Zeit
In den BBC-Nachrichten vom 3. November 2004 fand sich unter der Überschrift
130-jähriges Feuer in China gelöscht folgender bemerkenswerter Bericht:
Wie gemeldet wurde, konnte ein vor mehr als hundert Jahren ausgebrochenes Feuer in einem
chinesischen Kohlebergwerk endlich zum Stillstand gebracht werden. Während der vergangenen
vier Jahre hat die Feuerwehr 12 Millionen Dollar aufgewandt, um den Brand in der Provinz
Xinjiang zu löschen. […]. Die Flammen haben schätzungsweise 1,8 Millionen Tonnen Kohle
jährlich verschlungen […]. Historiker vor Ort berichten, dass das Feuer erstmals 1874 ausgebrochen sei.
Durch die brennende Kohle wurden jährlich 100.000 Tonnen gesundheitsgefährdender
Gase und 40.000 Tonnen Asche ausgestoßen; sie verursachten eine folgenschwere Verschmutzung der Umwelt. Bereits 2003, als das Feuer noch im Gange war, hatte eine
chinesische Zeitung ein weiteres erstaunliches Detail mitgeteilt:
Selbst wenn die Löscharbeiten irgendwann einmal erfolgreich sein sollten […], dürfte es 30 Jahre
dauern, bis die Geländeoberfläche so weit abgekühlt ist, daß der Kohleabbau fortgesetzt werden
kann.
Diese Nachricht erscheint mir aus mindestens drei Gründen faszinierend.
Der erste Grund liegt auf der Hand: von einem normalen Feuer nimmt man nicht an,
dass es 130 Jahre lang andauert, wie man auch nicht davon ausgeht, dass ein Geburtstag
ein Jahr lang gefeiert wird. Der zweite Grund betrifft die für den Abkühlungsprozess
angesetzten 30 Jahre, die abgewartet werden müssen, bis die Zeche wieder betretbar
wird. Das bedeutet ja, dass die Mine erst 2034 wieder genutzt werden kann! Was muss
das für eine ungeheure Hitzeansammlung sein, die einen Abkühlungsprozess von 30
Jahren erfordert? Der dritte Grund, der mich aufhorchen ließ, war das unvorstellbare
Ausmaß an Umweltverschmutzung, das dieses Feuer seit seinem Ausbruch verursacht
hat. Millionen und Abermillionen Tonnen giftiger Gase und Asche sind seit 1874 aus der
Erde ausgespuckt worden. Ein solch extrem langer und giftiger Brandherd sprengt unsere Vorstellung von dem, was wir gewöhnlich unter einem Feuer verstehen und streckt
das Konzept des Feuers. Soweit zu dieser brennenden Kohlegrube in Westchina.
Im Folgenden hoffe ich zu klären, inwiefern eine tiefere Analogie besteht zwischen
dieser brennenden Kohlegrube in China und dem Phänomen heißer Geschichte unserer
Tage. Mit heißer Geschichte beziehe ich mich auf eine Vergangenheit, die nicht von
selbst abkühlt und auf diese Weise gegenwärtig bleibt. Heiße Geschichte ist‚ „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, wie Ernst Nolte treffend formuliert hat. Heiße Geschichte dehnt somit unsere Auffassung von Geschichte aus, setzen wir doch für gewöhnlich voraus, dass die Vergangenheit vergeht. Zur Entfaltung meiner These habe ich
meine Darstellung in zwei Teile gegliedert.
Im ersten Teil werde ich erläutern, was heiße Geschichte ist und warum diese Bezeichnung treffend ist, um bedeutende Umgangsformen mit der Vergangenheit insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten zu beschreiben. Heiße Geschichte bedingt auf
bezeichnende Weise die Situation nach dem Holocaust, nach der Katastrophe, will sa-
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gen, sie bedingt eine Lage, in der die Erfahrungen geballter Gewalt und historischen
Unrechts allemal gegenwärtig sind und sich sozusagen an der Oberfläche der Geschichte
befinden.
Im Anschluss daran werde ich erläutern, inwiefern heiße Geschichte ein grundsätzliches Problem für das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft darstellt. Die Geschichtswissenschaft setzt voraus, dass die Vergangenheit das eisige Reich der Toten ist
und dass die Vergangenheit aufgrund ihres eigenen Gewichts von der Gegenwart sozusagen wegbricht. Eine solche Vorstellung von Geschichte basiert auf einer spezifischen
Zeitkonzeption, die als fließend, gerichtet und als irreversibel charakterisiert werden
kann. Sie kann jedoch, wie ich darstellen möchte, nicht in Anschlag gebracht werden für
eine Vergangenheit, die der Gegenwart noch anhaftet. „Vergangenheit, die nicht vergeht“, fordert daher eine solche fließende und irreversible Zeitauffassung heraus. Historiker brauchen ein differenzierteres Zeitkonzept, und ich werde zwei Vorschläge, um
fließende von nicht fließenden Zeiten zu unterscheiden, kurz darstellen. Im Anschluss
behandele ich historische Aussöhnung (historical reconciliation) als einen neuen Versuch, mit heißer Geschichte umzugehen.
Im zweiten Teil meiner Ausführungen möchte ich darstellen, inwiefern die auffallend
späte Geburt der Zeitgeschichte als historische Teildisziplin mit dem für die Geschichtswissenschaft maßgeblichen Konzept der fließenden Zeit verknüpft ist. Denn die Geschichtswissenschaft hat ihren grundsätzlichen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit –
unter Einschluss ihrer Gründungsgedanken von Objektivität und Unparteilichkeit – mit
der zeitlichen Entfernung identifiziert. Die akademische Geschichtswissenschaft kann,
so möchte ich demzufolge behaupten, ihre Zeitauffassung nicht einfach in Frage stellen,
ohne zugleich ihre eigene Wissenschaftlichkeit in Frage gestellt zu sehen. Zur Konkretisierung meiner These möchte ich zeigen, dass die Zeitgeschichte als historische Teildisziplin erst im Zusammenhang der Rechtsprechung nach dem Zweiten Weltkrieg ins
Leben gerufen wurde, dass aber die Rechtsprechung auf einem anderen Konzept von
Zeit beruht – nämlich dem einer umkehrbaren Zeitvorstellung.
1.
Damit komme ich zum ersten Teil meiner Darstellung, nämlich zur Erklärung der Vorstellung, dass heiße Geschichte charakteristisch ist für die Art und Weise, in der man seit
den achtziger Jahren innerhalb wie außerhalb der westlichen Welt mit der Vergangenheit
umgegangen ist. Der Begriff heiße Geschichte dient mir zur Beschreibung des Phänomens, dass in weiten Teilen der Welt die Vergangenheit als im Wesentlichen zerstörerisch und konfliktgeladen erfahren wird. Es handelt sich um heiße Geschichte, wenn die
Gegenwart als eine Oberfläche erfahren wird, unter der das Feuer des Vergangenen noch
brodelt und wenn dieses Feuer nicht nur als Hitzequelle, sondern auch als eine Quelle
der Vergiftung erfahren wird – ganz so wie das Feuer in der chinesischen Zeche in
Xinjiang.
Diese zerstörerische und konfliktgeladene Beschaffenheit der Vergangenheit lässt
sich vorrangig in Staaten beobachten, die länger anhaltende Phasen geballter politischer
Gewalt erlebt haben. Man denke an jene Staaten, in denen seit den 1970er Jahren ehemalige Diktatorenregime durch demokratischere Regierungsformen abgelöst wurden. Heiße
Geschichte kann jedoch auch in stabilen demokratischen Staaten beobachtet werden,
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wenn diese zerstörerische Phasen ihrer Vergangenheiten zu bewältigen suchen. Für viele
Staaten in Europa repräsentieren vergangene Bürgerkriege immer noch explosive Phasen, so etwa der Erste und der Zweite Weltkrieg – die in manchen Staaten mit einem
Bürgerkrieg zusammenfielen – oder auch die Kolonialkriege.
Seit den 1980er Jahren ist heiße Geschichte unter verschiedenen Schlagworten hervorgetreten. Das erste ist Geschichte und Gedächtnis, da die Mehrheit der Gedächtnisstudien mit der Erinnerung an Katastrophen zu tun hat, an Genozide oder ethnische Säuberungen oder weitere Formen historischen Unrechts. Ein zweites Schlagwort ist Geschichte und Katastrophe, ein drittes Geschichte und das Erhabene, und eine viertes
Geschichte und Trauma. Das fünfte und neueste Schlagwort ist das der „historischen
Wunde“, das Dipesh Chakrabarty unlängst vorgeschlagen hat (Postcolonial Thought and
Historical Difference, 2007). Alle fünf Begriffe verweisen im Grundsatz auf das Vorhandensein einer zerstörerischen, quälenden Vergangenheit in der Gegenwart.
Um zu verstehen, warum heiße Geschichte ein Problem und eine Herausforderung für
die Geschichtswissenschaft darstellt, erscheint es hilfreich, die analytische Unterscheidung zwischen chronologischer und andauernder Zeit einzuführen, da die andauernde
Zeit grundlegend für das Verständnis der Fortdauer des Vergangenen ist. Lawrence
Langer (Holocaust Testimonies, 1991) hat diese Unterscheidung in der Geschichtsschreibung des Holocaust geprägt:
Die chronologische Zeit ist die normal fließende, vergehende Zeit der normalen Geschichte, während sich die andauernde Zeit gerade gegen den Abschluss wehrt – dagegen, einen Schlusspunkt
unter das vergangene Geschehen zu setzen –, also das, was die chronologische Zeit notwendigerweise bewirkt; die andauernde Zeit beharrt als eine Vergangenheit, die nicht vergeht, folglich als
Vergangenheit immer präsent ist.
Daher vertreten Langer und andere Historiker die These, dass der Holocaust Auswirkungen auch auf die Geschichte jenseits der Geschichtsschreibung des Holocaust hat.
Eine ähnliche analytische Unterscheidung wurde von dem französischen Philosophen
Vladimir Jankélévitch (Le Pardon, 1967, deutsch Das Verzeihen, 2003) getroffen. Er
unterschied die unumkehrbare Vergangenheit von der unwiderruflichen Vergangenheit,
was der belgische Historiker Berber Bevernage (Writing the Past out of the Present,
2010) folgendermaßen erläutert hat:
Während beide Konzepte nahezu identisch scheinen und oft durcheinander gebracht werden, beziehen sie sich laut Jankélévitch doch auf zwei radikal unterschiedliche Zeitwahrnehmungen. Das
Unumkehrbare ist ein Stattgefunden-Haben (avoir-eu-lieu), das vorrangig als ein Geschehen-Sein
(avoir-été) entziffert werden sollte und das sich auf eine flüchtige oder schwindende Vergangenheit bezieht. Die unwiderrufliche Vergangenheit ist ein Stattgefunden-Haben, das zumeist mit
vollzogenem Geschehen assoziiert wird, mit dem, was getan wurde (avoir-fait); es ist im Gegensatz zu ersterem unbeugsam, hartnäckig und haftet der Gegenwart an. Die Menschen nehmen das
Vergangene als unumkehrbar wahr, wenn sie es als hochgradig brüchig und als sich unmittelbar
von der Gegenwart ablösend erfahren. Sie nehmen das Vergangene als unwiderruflich wahr, wenn
sie es als anhaltend, dauerhaft und als ein gewaltiges Depot erfahren, das von großer Bedeutung
für die Gegenwart ist. Beiden Formen der Zeitwahrnehmung, der unumkehrbaren und der unwiderruflichen, ist die Anerkennung der Unabänderlichkeit der Vergangenheit gemeinsam, aber im
Gegensatz zur ersteren verweigert sich die zweite der Vorstellung einer zeitlichen Entfernung, die
Gegenwart und Vergangenheit voneinander trennte.
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Demzufolge verweisen beide, Langers Begriff der andauernden Zeit und Jankélévitchs
Begriff einer unwiderruflichen Vergangenheit auf zerstörerische Erfahrungen der Vergangenheit, die in der Gegenwart fortwirken. Damit ist auch auf das Quälende der Vergangenheit verwiesen, denn das Vergangene sucht – vermittelt durch die Unrechtserfahrungen der Opfer – die Gegenwart heim. Begriffe wie diese belegen die seit den 1980er
Jahren wachsende Sensibilität für die Erfahrung von geballter Gewalt in der Vergangenheit und die Fragen von Opfer- und Täterschaft. In zunehmendem Maße werden Kriege,
Genozide, ethnische Säuberungen, Vertreibungen, Kolonialismus und Sklaverei auch
unter dem Oberbegriff historischen Unrechts (historical injustice) thematisiert.
In Bezug auf historische Wunden sind internationales Recht und Geschichte untrennbar ineinander verflochten, da schon die Beschreibung der historischen Fakten durch die
Historiker von deren rechtlicher Erfassung abhängt. Ob Historiker über den Genozid in
Armenien oder Bosnien schreiben oder über armenische und serbische Gräueltaten, stellt
in historischem wie in politischem Sinne einen Unterschied dar. In ähnlicher Weise
hängt die Einschätzung von Genoziden als historischem Unrecht von der Anerkennung
der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen ab. Diese Erklärung
ist bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs angenommen worden, wurde
aber erst seit den achtziger Jahren Bestandteil der internationalen politischen Kultur.
Wenn auch mit einiger Verspätung zeichnet sich doch ein direkter Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Sensibilität für historisches Unrecht ab. Diese
Beobachtung bringt mich wieder zurück auf die Frage nach der historischen Aussöhnung
als einem neuen Weg des Umgangs mit den historischen Wunden auf Seiten der Historiker.
Der amerikanische Historiker Elazar Barkan hat unlängst (Forum Truth and Reconciliation in History, 2009) darauf verwiesen, dass an vielen Orten der Welt, an denen die
unwiderrufliche Vergangenheit in hohem Maße präsent ist – wie im ehemaligen Jugoslawien oder in Israel –, das Bedürfnis nach einer historischen Aussöhnung besteht, die
auf historischer Wahrheit beruht. Barkan unterscheidet diesen Typus der historischen
Aussöhnung von zwei weiteren Formen, mit der zerstörerisch wirkenden Vergangenheit
umzugehen: zum Ersten von der Vergeltung, im Besonderen in der Form der Strafjustiz,
und zum Zweiten vom Ausgleich, insbesondere in Form materieller oder symbolischer
Entschädigungen. Materielle Entschädigungen bestehen zumeist in Zahlungen, die Staaten an ehemalige Opfer staatlicher Gewalt leisten. Symbolische Entschädigungen reichen
von öffentlicher Anerkennung staatlicher Gewalt bis zur Errichtung von Denkmälern
und Museen für Opfergruppen. Die bemerkenswerteste Form symbolischer Entschädigung ist zweifelsohne die Wahrheitskommission, die als ein neuer Weg des Umgangs
mit der zerstörerisch wirkenden Vergangenheit seit den 1980er Jahren eingesetzt wird.
Barkan unterscheidet die historische Aussöhnung, wie sie von professionellen Historikern betrieben wird, von der Art der Aussöhnung, um die sich Wahrheitskommissionen
bemühen. Während die berühmten Wahrheitskommissionen eine Aussöhnung zwischen
Opfern und Tätern anstreben, die darauf beruht, die Wahrheit zu sagen – wobei das Bekennen der Wahrheit die Täter von der strafgerichtlichen Verfolgung befreit –, zielt die
historische Aussöhnung, wie sie Historiker im Auge haben, auf eine inklusive Geschichtsschreibung, die bei allen an einem langfristigen Konflikt Beteiligten Akzeptanz
findet. Barkan beschreibt die historische Aussöhnung wie folgt. Das Ziel historischer
Aussöhnung sei es,
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Historiker von beiden (oder allen) Seiten eines historischen Konflikts zusammenzubringen, um die
Geschehnisse unter der Maßgabe des Einschlusses aller Perspektiven empirisch zu untersuchen
und dadurch ein Narrativ hervorzubringen, mit dem alle Interessenvertreter übereinstimmen können. Der ausdrückliche Zweck der daraus hervorgehenden historischen Narrative ist es, die Basis
für eine von allen geteilte historische Identität bereitzustellen.
Dieses Ziel wird verfolgt mittels wissenschaftlich durchgeführter Erforschung der Ursachen ethnischer und nationaler Konflikte wie der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern oder zwischen Polen und Juden – man erinnert sich hier an die Diskussion, die
das Buch Neighbours von Jan T. Gross (2001) auslöste – oder zwischen den verschiedenen Ethnien im ehemaligen Jugoslawien:
Ansätze zur historischen Aussöhnung stellen demnach einen dritten Weg der Wiedergutmachung
dar zusätzlich zu den Tribunalen und Wahrheitsfindungskommissionen. Sie haben es mit dem
Langzeitgedächtnis verfeindeter Gruppen zu tun, einschließlich solcher Fälle, in denen die einzelnen Täter und Opfer gar nicht mehr am Leben sind, ihre Handlungen oder ihr Leiden aber nach
wie vor das nationale Gedächtnis verfolgen.
Solche Ansätze zur historischen Aussöhnung sind wichtig für das Nachdenken über
heiße Geschichte, denn erstens zielt historische Aussöhnung explizit auf eine Bearbeitung der zerstörerischen und unwiderruflichen Vergangenheit, und zweitens hebt historische Aussöhnung gerade die Probleme hervor, mit denen es die Geschichtswissenschaft
zu tun hat, wenn sie sich mit der zerstörerischen Vergangenheit befasst. Barkan spricht
diese Probleme ganz zuvorderst an – und typischerweise betreffen sie gerade den Anspruch der Geschichtswissenschaft auf Objektivität und Unparteilichkeit.
Das erste Problem liegt darin, dass die Beteiligung an der historischen Aussöhnung
ein wenig nach Aktivismus schmeckt, nach Vetternwirtschaft und Präsentismus, was
unter Berufshistorikern gewöhnlich als Todsünde gilt und von ihnen daher gemieden
wird wie die Pest:
Parteinahme und Aktivismus gelten traditionellerweise als das genaue Gegenteil einer interesselosen Gelehrsamkeit. In ähnlicher Weise hat man das Studium der Geschichte immer unterschieden
von einem intentionalen Aktivismus, der es darauf absieht, die Zukunft zu beeinflussen.
Nach traditionellem Selbstverständnis sieht sich der Historiker in der Position des distanzierten, unparteiischen und objektiven Beobachters und eben nicht in der Position eines
aktiven Teilnehmers. Barkan hält dieses Selbstverständnis jedoch für vollständig irreführend; vorerst weil in der Vergangenheit die meisten Historiker sich selber auch als politische Teilnehmer verstanden haben – als ‚halb Priester, halb Soldat‘ – zudem weil dieses
Selbstverständnis der steigenden Einbeziehung von Historikern in alle Formen der Auftragsgeschichte (commissioned history) keineswegs Rechnung trägt. Was ihm zufolge in
das Selbstverständnis der Berufshistoriker einbezogen werden müsste, ist die Tatsache,
„dass die Konstruktion von Geschichte unsere Welt kontinuierlich formt, und dass sie
demzufolge als eine explizit, ja direkt politische Tätigkeit angesehen werden sollte, die
im Rahmen spezifischer wissenschaftlich-methodologischer und rhetorischer Regeln
betrieben wird“.
Soviel vorerst zur Frage der historischen Aussöhnung. Ich möchte mich nun der Rolle
der historischen Zeitkonzeption in der Differenzierung von Gegenwart und Vergangenheit zuwenden. Ich sehe hier einen tiefgreifenden Zusammenhang, der in der Annahme
der Geschichtswissenschaft gründet, dass sich die heiße Gegenwart – politisch, mora-
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lisch und emotional – im Laufe der Zeit von selbst in kalte Vergangenheit verwandelt.
Wie ein echter Fluss alles Wasser, das er enthält, von seinem Ursprung bis ins Meer
transportiert, so transportiert auch der Zeitfluss alles, was er enthält, aus der Zukunft
durch die heiße Gegenwart hindurch bis in die kalte Vergangenheit. Die Zeit selbst
schafft so allein durch ihr Fließen einen Abstand zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, ein Vorgang, der gleichzeitig als ein zunehmender Abstand von Hitze, das
heißt als ein Abkühlungsprozess verstanden wird. Man könnte also sagen, dass das Fließen der Zeit zugleich die Zeit zum Erstarren bringt. Daher sagt man oft, dass die Zeit
alles auslöscht. Diese Zeitauffassung bietet keine Möglichkeit, andauernde und unwiderrufliche Zeit zu denken.
Nun ist es nicht zufällig, dass in diesem Konzept historischer Zeit die Unterscheidung
zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart vor einem grundlegenden Problem
steht, drängt sich doch die naheliegende Frage auf: Was genau ist die Gegenwart, und
wie groß muss der zeitliche Abstand sein, um Gegenwärtiges in Vergangenes zu verwandeln? Diese Frage scheint bedeutend angesichts der Tatsache, dass in heißer Geschichte Zeit eben gerade nicht die Gegenwart auslöscht und das Gegenwärtige sich
somit nicht von selbst in ein entferntes Vergangenes verwandelt.
2.
Im zweiten Teil meiner Darstellung möchte ich nun erläutern, inwiefern die Geschichtswissenschaft dieser fundamentalen Frage nach dem Gegenwärtigen und der historischen
Zeit immer ausgewichen ist – oder sie unterdrückt hat. Meiner Auffassung nach kann
diese Vermeidung des Zeitproblems durch die Annahme der Geschichtswissenschaft
erklärt werden, dass der Zeitfluss selbst Distanz erzeugt und dass sie diese Distanz mit
ihrer Gründungsidee von Objektivität identifizierte. Diese Behauptung lässt sich konkretisieren, wenn man die Ursprünge der Zeitgeschichte als historischer Teildisziplin näher
betrachtet.
Eine Möglichkeit, sich der Zeitgeschichte anzunähern, ergibt sich mit der Frage, die
Barbara W. Tuchman 1964 (Wann ereignet sich Geschichte?) stellte: „Sollte man – oder
ist es überhaupt möglich – über Geschichte schreiben, wenn sie noch am Schwelen ist?“
Diese Frage bringt die oben erwähnte Grundannahme zum Vorschein, dass die Vergangenheit einfach nur Zeit benötige, um abzukühlen, bevor sich Historiker in wissenschaftlicher Weise mit ihr befassen können, ganz wie die heiße chinesische Zeche nur Zeit
braucht, bevor der Kohleabbau wieder aufgenommen werden kann. Woher rührt diese
Vorstellung, dass ein bestimmter Zeitabstand unabdinglich für die Geschichtswissenschaft und ihren Objektivitätsanspruch ist? Gewöhnlich sind es drei Arten von Argumenten, die angeführt werden, um die Vorstellung zu verteidigen, dass der zeitliche Abstand
eine notwendige Voraussetzung für die Geschichtswissenschaft darstellt.
Das erste Argument für diesen Zeitabstand ist epistemologischer Natur: Es ist das Argument, dass die in Konflikt geratenen Interessen und Parteien zunächst abkühlen müssen, bevor objektive, das heißt unparteiische Geschichte möglich ist. Demzufolge lautet
die Grundannahme, dass dem zunehmenden zeitlichen Abstand eine gleichwertige
Distanzierung von Emotionen, moralischen Überlegungen und politischen Interessen
entspricht.
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Das zweite Argument für den zeitlichen Abstand ist methodologischer Natur, da es in
die Vorstellung der historischen Methode selbst eingebettet ist: „L’histoire se fait avec
des documents“, wie Charles Seignobos (Histoire politique de l’Europe contemporaine,
1897) es vor mehr als hundert Jahren ausgedrückt hat, und die meisten Staatsarchive
setzten einen Zeitabstand von mindestens fünfzig bis hundert Jahren an, bevor sie ihre
Archive für die Historiker öffneten. Diese Zeitspanne steht irgendwie in Verbindung mit
der Lebensdauer der historischen Akteure, bestand doch die Grundidee darin, dass sie
bereits verstorben sein sollten, bevor die Archivalien zugänglich werden konnten.
Das dritte Argument für den Zeitabstand hat ebenfalls einen epistemologischen Hintergrund. Um historische Ereignisse wie die Französische Revolution oder den Fall der
Berliner Mauer zu beurteilen, benötigt der Historiker nicht allein Kenntnis in Bezug auf
die Ursachen dieser Ereignisse, sondern auch in Bezug auf ihre Folgen. Wie groß jedoch
der zeitliche Abstand zwischen einem Ereignis und seinen Folgen für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung sein muss, wurde kaum zum Gegenstand der Debatte. In
der Praxis wurden jedenfalls wiederum fünfzig bis hundert Jahre als untere Grenze angesetzt.
Einer, der diesen Zeitabstand allerdings in Frage stellte, war der chinesische Staatsmann Chou En-Lai (1898–1976), der in seiner Jugend Geschichte studiert hatte. Henry
Kissinger fragte 1971 Chou, der ein Spezialist für die Französische Revolution war:
„Wie schätzen Sie die Bedeutung der Französischen Revolution ein?“ Nach einigem
Nachdenken antwortete ihm Chou: „Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen“. Für Chou
war die Französische Revolution offensichtlich noch nicht in die kalte und entfernte
Geschichte übergegangen. Warum auch?
In Anbetracht der Identifizierung von Geschichte mit dem Zeitabstand erscheint es
kaum verwunderlich, dass Zeitgeschichte lange Zeit als eine contradictio in adiecto, ein
Widerspruch im Attributiv, angesehen wurde. Wie kann das Gegenwärtige vergangen
und das Vergangene zugleich gegenwärtig sein? In Anbetracht der impliziten Identifizierung der Geschichtswissenschaft mit dem Zeitabstand erscheint es des Weiteren kaum
verwunderlich, dass Zeitgeschichte als historische Teildisziplin in der Tat eine sehr späte
Erfindung darstellt. Zeitgeschichte wurde als legitimer Zweig der Geschichtswissenschaften erst nach 1945 anerkannt und institutionalisiert, um genau zu sein, erst in der
Mitte der 1960er Jahre. Die Geburt der institutionalisierten Zeitgeschichte fand also 100
bis 150 Jahre nach der Geburt der alten, der neuzeitlichen und der modernen Geschichte
statt, ohne Zweifel ein symptomatischer Tatbestand.
Ebenfalls signifikant erscheint es, dass die Zeitgeschichte vorrangig in einem juristischen Kontext aufkam, nämlich im Kontext jener Verfahren, in denen die Nachkriegsregierungen die Folgen des Zweiten Weltkriegs gerichtlich verhandelten. Das deutsche
Institut für Zeitgeschichte ist nur ein Beispiel für die Geburt der Zeitgeschichte aus dem
Geist des Gerichts.
Diese Verbindung zwischen Zeitgeschichte und Recht erscheint keineswegs akzidentell. Damit komme ich zu meinen Schlussbemerkungen. Diese Bemerkungen betreffen
die Differenz in den Zeitkonzeptionen, die der Geschichte wie dem Recht implizit eingeschrieben sind. Bevernage hat überzeugend dargestellt, dass das Recht wie seine Anwendung in der Jurisdiktion auf der Annahme basieren, dass Zeit umkehrbar sei, während im Gegensatz dazu die Geschichte gerade auf der Annahme beruht, dass Zeit unumkehrbar sei:
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Rechtsprechung geht von einer idealerweise umkehrbaren Zeit aus, in der das Verbrechen als
solches immer noch vollständig anwesend ist, was es mittels Anwendung einer korrekten Rechtsprechung und Bestrafung potentiell umkehrbar oder annullierbar macht. Im Gegensatz dazu arbeitet Geschichte mit dem, was geschah und nun vorbei ist. Geschichte beruft sich auf den Zeitpfeil,
bedient sich einer grundsätzlich unumkehrbaren Zeitvorstellung und fordert die Zeit der Justiz
heraus, indem sie uns zwingt die Dimensionen der Abwesenheit wie der Unwiderruflichkeit des
Vergangenen anzuerkennen.
Dieser Vergleich zwischen Geschichte und Recht bringt ans Licht, dass die unumkehrbare Zeitkonzeption der Geschichtswissenschaft in ihrem Kern a-moralisch ist, setzt doch
die unumkehrbare Zeit voraus, dass das Vergangene in der Gegenwart abwesend ist.
Vergangene Verbrechen und vergangenes Unrecht sind demnach ebenfalls in der Gegenwart abwesend – und dies schließt die Folgeerscheinungen dieser Verbrechen und
dieses Unrechts für deren Opfer mit ein. Die geschichtliche Konzeption einer unumkehrbaren Zeit kann daher die Erfahrung anhaltender Leiden in der Gegenwart nicht erklären
auf Seiten derer, die die Opfer vergangenen historischen Unrechts waren – und die Kontinuität dieser Art von Leiden ist eine historische Tatsache, die die letzten dreißig Jahre
zunehmend ins Zentrum der öffentliche Wahrnehmung gerückt ist. Die Vorstellung, dass
die heiße Gegenwart sich in kalte Vergangenheit verwandelt, ganz so wie die Uhr tickt,
ist ebenfalls eine beliebte Zeitvorstellung auf Seiten jener, die gerne die Vergangenheit
ruhen lassen. Gewöhnlich ist es die Zeitvorstellung, die jene favorisieren, welche von
der Rechtsprechung etwas zu befürchten haben.
Alles in allem kann das Konzept unumkehrbarer Zeit in der Geschichtswissenschaft
nicht in Anschlag gebracht werden für die Erfahrung der Opfer historischen Unrechts
mit einer zerstörerischen und sie heimsuchenden Vergangenheit. Dies hängt damit zusammen, dass diese Art zerstörerischer Erfahrungen sich der Verwandlung in kalte Geschichte zumeist entzieht und daher Teil der Gegenwart bleibt. In diesem Kontext könnte
man Erfahrungen anführen wie diejenigen von Yitzhak (Ante) Zuckermann – dem stellvertretenden Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto –, der 1985 im Film Shoah
seinem Interviewer Claude Lanzmann gegenüber erklärte: „Wenn Sie an meinem Herzen
lecken könnten, würde es Sie vergiften“.
Für die Opfer historischen Unrechts geht die Vergangenheit nicht einfach vorbei, produziert das Vergangene nach wie vor Hitze und giftige Gase in der Gegenwart ganz so
wie die brennende Zeche in Westchina es seit 1874 tat. Es gibt daher gute Gründe, sich
mit Berber Bevernage zu fragen „ob die Zeitkonzeption der Geschichte die Abwesenheit
des Vergangenen nicht zu hoch ansetzt und demgegenüber die Dimensionen der ‚Gegenwart‘ oder die Dauer der Vergangenheit und ihres Unrechts vernachlässigt“. Für die
Historiker scheint es an der Zeit, sich Gedanken zu machen über die Zeit.
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