JAKOB TANNER
Unfassbare Gefühle.
in: Uffa Jensen, Daniel Morat. (Hg.),
Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis
von Wissenschaft und Emotionen,
München, 2008, S. 35-59.
Emotionen in der Geschichtswissenschaft vom Fin de siede
bis in die Zwischenkriegszeit
Wer nach der Rolle der Emotionen in der Geschichtsschreibung in den Jahrzehnten
um 1900 fragt, bedient sich eines Anachronismus. Der Begriff "Emotion" wurde
in dieser Zeit in geisteswissenscba&lichen Disziplinen nicht verwendet. Soweit sich
Historiker ruf diese Phänomene interessierten, sprachen sie im Deutschen VOll
"Gefühlen", "Empfindungen", "seelischen Regungen" und im Französischen von
sentiment. Im angelsächsischen Sprachgebrauch war der Begriff emotions allerdings
bereits etabliert. Maßgeblich an dessen Definition waren William James und earl
Lange beteiligt, die beide unabhängig voneinander in den 1880er Jahren vorgeschlagen hatten, in einer Emotion die geistige Wahrnehmung eines physiologischen
Zustandes zu sehen. Nach James' "Theorie der Emotionen" aus dem Jahre 1884
rennen Menschen nicht deshalb vor einem Bären davon, weil sie Schrecken empfinden, sondern sie empfinden umgekehrt diesen Schrecken. weil sie aufgrund
eines körperlichen Grundreflexes vor dem gefährlichen Tier davonrennen und als
Folge davon ins Zittern geraten. l
Historische Psychologie und naturwissenschafi:liche Objektivität
Diese Diskussion um Emotionen, die physiologische, psychologische und ab der
Jahrhundertwende auch ethologische Aspekte zu integrieren versuchte, wurde in
den Geisteswissenschaften schon deswegen kaum rezipiert, weil hier Physiologie
und Verhaltensforschung weitab des Erkenntnisinteresses lagen. Hingegen war in
Europa - vor allem in der Geschichtswissenschaft, aber auch in der Soziologie und
in der Ethnologie - die Psychologie ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. In
Deutschland hatte 1889 der Historiker Eberhard Gothein die "historische Psychologie" zur Grundlage aller Kulrurwissenschaft erIdärt." 1897 schrieb sein Kollege
1 Dieser Beitrag entstand in einem interdisziplinären Forschungsprojekc zur "Geschichte und
Theorie der Emotionen" des Collegium Helvetium (Universität und ETH Zürich). Einen
Überblick über Theorien der Emotion gibt Jakob Tanner, "Das Rauschen der Gefühle. Vom
Darwinschen Universalismus zur Davidsonschen Triangulation", in: Nach Feierabend ZüreherJahrbuch flrdie GesdJichte des Wissens 2 (2006), S. 129-152.
2 Eberhard Gothein, Die AuJiaben der Kulturgeschichte, Leipzig 1889, S. 61. Füc einen Überblick vgl. Srefan Haas, Historische Kuitttr/orschung in Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität, Köln u.a. 1994, S. 390n-:
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JAKOB TANNER
EMOTlONEN IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFf
Karl Lamprecht, man sei sich "einig ( ... ), daß die Psychologie die Grundlage aller
Geschichtswissenschaft sein müsse", und zwar über alle Auseinandersetzungen zwischen den "zwei diametral entgegengesetzten Richtungen" in der Geschichtswissenschaft, der individualistischen und der kollektivistischen hinweg. 3 Weitere
deutsche Kulturhisroriker wie Georg Steinhausen und Kurt Breysig teilten diese
Prämisse uild deutschten psyche mit "Seele" oder der "Volksseele" ein. 4 Lamprecht
schloss sich schliesslich dieser Sprachregeluog an und setzte Kulturgeschichte mit
einer "Geschichte der menschlichen Seele" gJeich. s
er forderte, "historisch und objektiv sein" - und dieselben Ansprüche stellte er an
die Psychologie.'
Ausgehend von dieser allgemeinen theoretischen Attraletivität und wissenschaftlichen Resonanzfähigkeit der Psychologie in den Geistes- und Sozialwissenschaften9
werden im Folgenden zwei Problemstellungen unterschieden. Zum einen wird gefragt, inwieweit dieser Begriff der "Psychologie" ein Konzept von Emotionen umfasst. Dabei soll auch die Kritik am - vor allem deutschen - Psychologismus 1o zur
Sprache kommen und die in der Zwischenkriegszeit formulierten, auf ein neues
Verständnis von "Gefühlen" hinarbeitenden .Ansätze der kulturgeschichtlichen
Morphologie, der soziologischen Figurationsanalyse und der historischen Amhropologie vorgestellt werden. Zum andern geht es um den Nachweis, ob und wie in
historischen, soziologischen, kunstgeschichtlichen, sozialpsychologischen und ethnologischen Studien damals von Gefühlen - in unterschiedlicher Form als Empfindungen, Stimmungen, Affekte, Leidenschaften, Wünsche etc. - gesprochen wurde.
Dabei interessieren vor allem die begrifflichen Relationen zwischen Emotion und
Kognition: Werden Gefühle als der rationalen ReHexion abträglich dargestellt oder
steht eher das gegenseitige Konstltutionsverhältnis zwischen emotionalem und kognitivem Weltzugang im Zentrum? Bei der Beantwortung dieser Fragen wird nicht
systematisch diskursanalytisch, sondern exemplifizierend verfahren, wobei Werke
ausgewählt wurden, die für die genannten Positionen wichtig sind.
Um die aufgeworfenen Fragen angemessen zu stellen, ist es wichtig, sich zunächst die krisenhafte Defensive zu vergegenwärtigen, in welche die Geisteswissenschaften angesichts des Triumphzuges der Naturwissenschaften im ausgehenden
19. Jahrhundert geraten waren. l ] Auf natulwissenschaftlicher Seite entstand damals "sowohl im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn ( ... ) ein neues Bild der
Objektivität".12 Der Wille zur Erforschung einer dem Menschen äußerlichen Na-
In umgekehrter Richtung bewegte sich auch die Psychologie auf die Sozial- und
Geisteswissenschaften zu. In Fortsetzung von Überlegungen, die Moritz (Moses)
Lazarus und Heymann (Hajim) Steinthai schon Jahrzehnte früher formuliert hatten, publizierte Wilhelm Wundt, der als Pionier der experimentellen Psychologie
bekanm war, zwischen 1900 und 1910 seine zehnbändige Völleerpsychologie, die er
mit zwei zusammenfassenden Werken über Probleme der VölkerjJsychologie (1911)
und Elemente der Völkerpsychologie (1912) abrundete.' In Frankreich stellte der
interdisziplinär arbeirende Soziologe Emile Durkheim in einer Bemerkung zur
Merhode der Soziologie im Jahre 1908 fese: "Im sozialen Leben ist alles Vorstellung, Idee, Gefühl und nirgendwo beobachtet man besser die Wirksamkeit der
Ideen (... ). Die gesamte Soziologie ist Psychologie, aber eine Psychologie sui
generis. "7 Mit dieser Präzisierung "sui generis" markierte Durkheim eine Differenz:
Es ging ihm - sowenig wie den deutschen Kulturhistorikern - nicht um eine individualistische, auf die Erforschung psycho-physiologischer Mechanismen im Labor ausgerichtete Experimentalpsychologie und ein entsprechend operationalisiertes Konzept von Emotionen, sondern um die kollektiven mentalen Grundlagen
menschlicher Vergesellschaftung und die dadurch produzierten sozialen Tatsachen, die auch Gefühlsbindungen und Affekthandlungen umfassten. Durldleim
rückte Zeitlichkeit und Wandel ins Blickfeld der soziologischen Forschung: Gesellschaften verändern sich und es war die Historizität und die daraus folgende
Heterogenität gesellschaftlicher Phänomene, die ihn interessierten und die er mit
empirisch robusten Methoden umersuchen wollte. Soziologie müsse deshalb, wie
37
8 Durkheim, "Remarque", S. 59.
9 Vgl. auch: Jakob TannerlLynn Hunt, "Psychologie, Ethnologie, historischc Anthropologie",
in: Haos-Jürgcn Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grund/mrs, 3. crw. Aufl., Reinbek bei iM。ュセ@
bU"g 2007, S. 723-765.
3 Kar! Lamprecht: "Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik", in:
Deutsche Zeitschrififür Geschichtswissenschaft NF 1 (1896/97), S. 75-145, hier: S. 77.
4 I-b.as, Historische Kultmjorschung, S. 171.
5 Zit. 11. Haas, ebd., S. 211. Zur Kulturgeschichte vgl. auch Gerhard Ritter, "Zum Begriff der
Kulturgeschichte", in: Historische Zeitschrift 171 (1950, S. 293-302.
6 Für einen knappen Überblick vgl. Werner Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, Wup-
pm,12004, S. 53lf
7 Emilc Durkheim, "Remarque sur la methode eil sociologie (1908)", in: ders, Textes, Bd. 2,
Paris 1975, S. 61: "Dans Ia vje sociale, taut est representatiol1s, tout est idces, sentiments,
cr, nulle part, on 11' observe mieux la force dftcace des idees. (...) Tout la sociologie est une
psychologie, mais unc psychologie sui gcneris." Deutsche Übersetzung zit. n. Lutz Raphad,
Die Erben von Bloch und febvre. Geschichte der AnnaLes-Historiographie und nouveLLe histoire
1945-1980, Stuttgart 1984, S. 74.
10 Die polemische Bezeichnung "Psychologismus" wurde VOm phänomenologischcn Philosophen Edrnund Husserl geprägt, um cinen naiven individuellen Erfahrungsbegriff ohne
Reflexion auf das alter ego zu kritisieren, den er etwa bei Wi!helm Wundt beobachtete (obwohl Wumlt seinerseits behauptete, er würde die Logik niclu psychologisieren). Vgl. Martin
Kusch, "Psychologism", in: Stanford Encyclopedia 01 Philosophy, http://plato.stanford.edu/
entrics/psychologism/; vgl. auch aus anderer Sicht Gerd Jüttemann (Hg.), Wegbereiter der
Psychologie. Der geisteswissenschaftliche Zugang von Leibnüz bis FoumuLt, Weinhcim 1995.
11 Vgl. zum gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext der Krisenlage um 1900 Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhe1m Graf! GangolfI-lübinger (l-Ig.), Kultur und KuLturwissenschaften um 1900. Krise der .NIoderne und Glaube an die W'issenschaji:, Stuttgart 1991; Vollccr
Drehsen/Walter Sparn (Hg.), Vom WeltbiLdwandel zur WeLtanschauungsallalyse. Krisenwahrnehrmmg und Krisenbewäitigu.ng um 1.900, Berlin 1996.
12 Lorraine Daston/Peter Galison, "Das Bild der Objektivität", in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der sゥ」ィエ「。イOセ・N@
Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main
2002, S. 29-99, hier: S. 99.
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JAKOB TANNER
EMOTIONEN IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFf
tur stärkte das Ethos eines nur dem "Standpunkt der mechanischen Objektivität"
verpflichteten Wissenschafders. 13 Subjektivität galt in den "exakten Wissenschaften" als gefährlich, individuelle Regungen, Vorlieben und Gefühle konnten
den Forscher aus der Kontrolle bringen und zu falschen Überzeugungen oder anthropomorphen Fehlannahrnen verführen. Dagegen half nur strenge Askese und
rationale Einstellung. In diesem Verständnis objektiver naturwissenschaftlicher
Forschung ist eine Dichotomie von Emotion und Kognition angelegt, die bei aller
Abgrenzungsarbeit zwischen den "zwei Kulturen der Wissenschaft"14 in vielen sozial- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen in unterschiedlicher Form reproduziert wurde. Sowohl die Meinung, das Ausagieren von Gefühlsregungen gehe auf
Kosten rationalen Argumentierens, wie auch die These, im historischen Rationalisierungs- und Modernisierungsprozess würden Emotionen als Schwundphänomene zwangsläufig marginalisiert, sind Ausdruck dieser Nullsummen-Kontrastiemngvon Gefühl und Vernunft. Im Gegenzug verlor die heute wiederum weitgehend
akzeptierte Annahme einer "Rationalität von Emotionen" an Boden. 15 Der Umgang mit Gefühlen schwankte insgesamt zwischen schierer Ausblendung (wobei
das vermutete Verschwinden starker Mfekte gleich zur Prämisse von histOrischen
Darstellungen gemacht wurde) und einer normativen Statusabwertung oder aber
einer kulturellen Exotisierung (womit Emotionen als das "Andere der Vernunft",
das entweder bedrohlich präsent oder faszinierend fremd ist, erschienen).
Die "Moralisierung der Objektivität"16, die in den Naturwissenschaften des
ausgehenden 19. Jahrhunderts festzustellen war, hatte allerdings weit über diese
Frage hinaus Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften.
Die einzelnen Disziplinen und Strömungen reagierten unterschiedlich. Im Endeffeln kam es zu einem "Boom der Interdisziplinarität"17; zugleich wurden transdisziplinäre Suchbewegungen angeregt. 1S Das Korrelat dazu war die verstärkte Selbstreflexion über die methodologischen Grundlagen und theoretischen Prämissen
innerhalb der Einzeldisziplinen. Gerade dies machte wiederum die Frage wichtig,
ob gegenüber den Naturwissenschaften und dem von ihnen ausgehenden Objektivierungsdruck eine generell abwehrende, eine abgrenzende oder eine offene Haltung eingenommen werden sollte. Die Antworten gingen weit auseinander. Zum
einen gab es Richtungen, welche - wie etwa Kar! Lamprecht mit seiner Kulturgeschichte - das Konzept der Gesetzmäßigkeit aufnahmen und eine theoretisch reflektierte, auch Verallgemeinerungen zulassende Begrifflichkeit forderten. Lamprecht parallelisierte die von ihm geforderte "induktive ( ... ) Psychologie" mit der
"Mechanik": So, wie letztere für die Naturwissenschaften konstitutiv sei, so müsse
erstere "die Grundlagenwissenschaft der geistigen Erscheinungen sein".19 Lamprecht erklärte, "ohne seelische Emwiddung" könne es "innerhalb menschlicher
Gemeinschaften keine Geschichte" geben, und er sah die Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft in der Erforschung der "Entwicldung des Seelenlebens" oder
des "seelischen Habitus" von Kulturzeitaltern, wobei er "Kultur" wiederum definierte als die "eine Zeit beherrschenden seelischen Gesamtzuständc".20 In deren
Transformationen glaubte er das "Wirken einfacher seelischer Gesetze"21 und eine
"allgemeine Mechanik seelischer Übergangszeiten "22 erkennen zu können. Lamprecht betonte durchwegs die gemeinsamen Grundlagen der Natur- und der Geisteswissenschaften. Für ihn als Historiker hieß das: Weil der "Ablauf dieser Zeitalter" der "unerbittlichen Forderung jeder Wissenschaft auf rücldlalts- und
ausnahmslose Zulassung kausalen Denkens" entspreche, sei "die kulturhistorische
Methode (. .. ) die erste wirldich wissenschaftliche Methode der Historie hinaus
über die blosse kritische Bearbeitung der Einzeltarsachen und der einzelnen
Tatsachcnreihcn".23
13 Ebd., S. 97.
14 Diese Formulierung verwendete 1959 CE Snow, die Diskussion darum reicht allerdings ins
19. Jahrhundert zurück; vgl. cr. Snow, Thc Two Cultures, Cambl'idge 1998.
15 Vgl. Simon Blackburn, Ruling Passions. A Theory of Practical Reasoning, Oxford 1998; für
eine Übersicht Heiner Hastcdt, GefitMe. Philosophische Bemerlamgen, Stuttgart 2005.
16 Daston/Galisoll, "Das Bild der Objektivicät", S. 30f.
I? Stdan Baas, "Transdisziplinarität als Paradigma der kllltur- und sozialhistorischen Forscbung im frühen 20. Jahrhundert", in: Burldlard Dietz (Hg.), GrijJ nach dem Westen.
Die, Westforschung' der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum
(1919-1960), Münster u.a .. 2003, S. 27-51, hier: S. 27.
18 Der Unterschied コキゥウ」ィ・アtiZ。ョセ@
und Interdisziplinarität ergibt sich dadutch, dass erstere
stärket auf gesellschaftliche Problemlagen reagiert und auch außerwissenschaftliche stakeholder integriert, während letztere auf der Kooperation mehrere Fachdisziplinen basiert.
39
Einen alternativen Weg, um den Naturwissenschaften auf Augenhöhe zu begegneu, hatte der Lebensphilosoph Wilhelm Dilthey mit seiner nachhaltig wirkenden
Unterscheidung zwischen nomothetischen und ideographischen Methoden eingeschlagen. Im Gegensatz zu Lamprecht, der eine Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung auf der Grundlage kausalgesetzlicher Zusammenhänge forcierte, arbeitete Dilthey die grundlegende Differenz zwischen natur- und
geisteswissenschaftlichen Verfahren heraus. 24 Auf die beschworene Krisensituation
antwortete er also nicht mit dem Import eines naturwissenschaftlichen Theorieverständnisses, sondern mit akzentuiertem boundary work. 25 Dilthey legte die Naturwissenschaften - deren Selbstverständnis folgend - auf die empirische ObjektiKar! Lal11precht, Die kulturhistorische Nfethode, Bedin 1900, S. 13.
Ebd., S. 26.
Ebd., S. 38.
Kar! Lampreclu, Moderne Geschichtswissenschaft: Fün/Vortritge, Freiburg 1905, S. 51f[
Lampreclu, Die Iwitttrhistorische Methode, S. 15 u. 29f.
Dilthey entwickelte seine Überlegungen über mehr als drei Jahrzehnte hinweg; vgl. u.a.
Wilhe1m Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das
Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd 1, Leipzig l883; Wilhdm Dilrhey, Der Auf
bau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 2001 (erstmals
1910); vgL außerdem den Beitrag von Daniel Mout in diesem Band.
25 Der Begriff boundary work bezieht sich aufkonfliktive Auseinandersetzung um disziplinäre
und andere Grenzziehungen innerhalb von Wissens- und Forschungsfeldern innerhalb der
Wissenschaft; vgL Thomas F. Gieryn, "Boundaries of Science", in: Sheila ]asalloff (Hg.),
Handbook ofScience and Technology Studies, Thousand Oaks/London/New Delhi 1995,
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EMOTIONEN IN DER GESCHlCI-ITSWISSENSCI1AFr
vierbarkeit von Naturzuständen mit messenden Verfahren unter Anwendung
theoretischer Hypothesen fest. Dieser kausalen Erklärung stellte er den verstehenden Nachvollzug als Vorgehensweise der Geisteswissenschaften gegenüber. Diese
geisteswissenschaftliche Methode Diltheys basiert auf dem Dreischritt von Erleben, Ausdrücken und Verstehen; Menschen sind in ihre Lebenswelt involviert, sie
erleben sich in ihren Absichten und Wünschen in ihrer sozialen Interaktion mit
anderen. Deshalb haben sie einen verstehenden Zugang zu den kulturellen Äußerungen, die auch Ausdruck von Stimmungslagen und emotionalen Manifestationen sind. In Abgrenzung zum Objektivitätsanspruch der Naturwissenschaften
fungiert das Subjekt in den Geisteswissenschaften als Generator für henneneutische Empathie bei der Deutung der Vergangenheit, wie sie in der Quellenüberlieferung greifbar istY'
In dieser Subjekt-Objekt-Problematisierung, die damals die Diskussion um Verfahrensweisen und Geltungsansprüche von Wissenschaft maßgeblich strukturierte,
könnte es nahe liegen, die Rolle von Gefühlen in der professionellen Praxis der
Historiker zu untersuchen. Das ist nicht das Thema dieses Aufsatzcs. 27 Ein anderer Zugang ergibt sich, wenn - um erneut auf die beiden bereits genannten Problemstellungen zu sprechen zu kommen - der Status der Gefühle im Konzept der
"Psychologie" und die historische Semantik der Emotionen in historischen Darstellungen analysiert werden. Aus dieser Perspektive wird der Ansatz der conceptual
histVJ) produktiv gemacht. 28 Vom Unrersuchungszeitraum her wird die Aufmerksamkeit nicht nur auf das Fin de siede gerichter29 , sondern es werden auch Ausblicke in das 20. Jahrhundert hinein unternommen, wobei auf die drei bereits ge-
nannten Ansätze fokussiert wird: Die aufeine Kritik am historischen Psychologismus
Wld an einer "ästhetisierenden Gefühlshistorie" abzieJende Kulturmorphologie Jan
Huizingas findet mit seiner wichtigen Publikation Wege der Kulturgeschichte (1930)
Berücksichtigung. 3o Für die Figurationsanalyse wird das auf die Interdependenzen
von Sozio- und Psychogenese abhebende epochale Grundlagenwerk von Norbert
Elias Über den Prozeß der Zivilisation aus dem Jahre 1939 verwendet. 31 Zur historischen Anthropologie hin führen die inspirierenden Überlegungen bei den Annafes-Historikern Mare Bloch (mit den Wimdertätigen Königen aus dem Jahre 1924)
und Lucien Febvre (mit den beiden Texten "Geschichte und Psychologie" und
"Sensibilität und Geschichte" aus den Jahten 1938 und 1941).32 Im Lichte dieser
drei Ansätze, die unterschiedliche Konzepte von Gefühlen vorschlagen, erweisen
sich die holisrischen Vorstellungen einer "sozialen Psychologie", einer "Völkerpsychologie" oder einer "Seelengeschichte", die in Deutschland um 1900 Konjunktur
hatten und Debatten auslösten, als theoretisch-methodische Sackgassen. Zwar
transportierte die aus den französischen Annales hervorgehende Mentalitätengeschichte einige dieser Hypotheken bis in die Gegenwart hinein, doch gerade im
Rückgang auf Blodl und Febrve zeigen sich innovative und emwiddungsfähige
Ansätze einer historischen Anthropologie der Gefühle.
s. 393-443; Pcter Galison/David Stulllp, The Dimnity olScience. Boulldaries, Contexts, flnd
Power, Sranford 1996.
26 Auch dieses Subjekt hatte - im Rankesehen Verständnis - sdne "Selbscauslöschung" zu beueibell - es blieb aber, anders als in der mech:'Ulischcn Objektivität, in das Verfahren involviert.
27 Vgl. dcn Beitrag von Danicla Saxer in diesem Band.
28 Oie COllCl'jJtUfll history bezog wesentliche Anregungen aus den Arbeüen zur Begriffsgeschichte und zur historisdlen Semantik, die in die 1960er Jahrc zurückreichen; vgL Otto Brunnerl
Werner CotrLe/Rcinhart Kosdlcck (Hg.), Geschichtliche Grundbegr{/fc. Histvrisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutsc!Jland, 8 Bde., Stuttgan 1972-t997. Zur aktuellen
Debatte vgl. Reinhan Kosdleck, Begriffigeschichten, Frankfurt alll Main 2006; Hans Ulrich
Gumbrecht, Dimensioll und Grenzm der Begriffigeschichte, Paderbom: 2006; concepta. lllterntuioJlal Resettrch School in Corlcepturt! History {md Political Thought
{ィエーZOキN」ッョ・。セ@
Gefühlsphantome und soziale Psychologie bei Kar! Lamprecht
Eine der Hauptfiguren des seit den späten 1870er Jahren zunehmenden Interesses
an "Kulturgeschichte" und einer der wichtigen Protagonisten im sog. "Methodenstreit" ab Mitte der 1890er Jahre war Kar! Lamptecht (1856-1915)." 1897 konstatierte Lamprecht in einem Aufsatz "Was ist Kulturgeschichte?", in dem er früher schon entwickelte Thesen zuspit'Lte, "dass auf geschichtswissenschaftlichem
Gebiete seit etwa zwei Jahrzehnten eine Gärung der Ansichten herrscht, die bis in
30
31
32
ncLorgl].
29 Scit der Frühen Neuzcit lassen sich in Europa neue Formen der Subjduivierung und Individualisierung bcobachten, die auch einen reflektierten Umgang mit Gefühlcn implizieren.
Dazu und auch für die Aufklärung liegen fundierte historische Untersuchungen vor, welche
die !leuen Artikulationsweisen und Repräsentationsformen von Gefühlcn herausarbeiten
lind damit einen Einblick:in die enormc kulturelle Plastizität von Leidenschaften, Emo[ionen, Affekten, Gefühlen, Stimmungen, Empfindungen, Empfindsamkeiten und sinnlichen Wahrnehmungcn geben. Für einen Überblick siehe Martina Kcssel, "Gefühle und
Gcschicluswisscnschaft", in: Rainer Schütze:iclld (Hg.), Emotionell und S()ziaftheorie. Diszi-
33
plinäre Ansätze, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 29-47. und William M. Reddy, The
Navigation 01Feeling. A Framework for the History ojBmotiollS, Cambridge 2001.
Johan Huizinga, Wege der Kulturgeschichte, München 1930.
Elias Studie crschien, nachdem sie lange Zeit kaum Beachtung fand, 1969 mit einer neuen
Einleitung. Norben Bias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetischl' und psychogenetisehe Untersuchungen, 2 Bde., Bem 1969.
Mare Bloch, Die wundertiitigen Könige, München 1998 (mit einem Vorwort von Jacques Le
Goff; erstmals 1924). Die beiden Texte von Febvre sind abgedruckt in: Luden Febvre, Das
Gewissen des Historikers, Frankfurt am Main 1990, S. 79-90 u. 91-107.
Stefan Haas betollt zu Recht, dass der zum "Thcorienstreit" gewordene "Methodenstreit"
ein heterogenes Phänomen war, das sich nicht als Auseinandersetzung zwischen zwei Richtungcn begreifen lässt (Haas, Historische Kultuiforschttng, S. 125ff u. 155ff.). Zu Lamprecht
vgJ. Jörn SieglerschmidtlRainer Wirtz, "Kar! Lamprccht. Psychische Gesetze als Basis der
Kulturgeschichte?", in: Gerd Jünemann (Hg.), Wegben:iter der Historischen Psychologie,
München 1988, S. 104-114; Gerald Diesener, Kar! L(lmpreeht weiterdenken. Universal- und
Kulturgeschichte heute, Leipzig 1993.
42
43
JAKOB Tf'l.NNER
EMOTIONEN IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
die untersten Tiefen der Auffassung und Methode reicht", und "selbst der Begriff
der Geschichte an sich" sei "strittig geworden".34 Aus Lamprechts Sicht kam die
Historie nicht umhin, Erkenntnisse der "neueren Psychologie als exakte Wissenschaft von den Gesetzen des Seelenlebens" aufzunehmen und sie zur Erldärung
der "inneren Motivation persönlicher Handlungen" einzusetzen. Auf dieser
Grundlageschien es ihm möglich, die rivalisierenden Ansätze in ein Komplementärverhältnis zu bringen, wobei die "auf das Singuläre, auf den Menschen als eminente Persönlichkeit gerichtete ältere" und einer "auf das Generische, den Menschen als historisches Gattungswesen gerichtete jüngere Geschichtsforschung" als
grundsätzlich "gleich berechtigt" bewertet werden sollten. 35 Unter explizitem Bezug auf Wilhelm Wundt36 strebte Lamprecht allerdings nicht ein statisches Nebeneinander der beiden Zugänge an, sondern ging von einem Primat des Kollektiven aus: Der Begriff des "freien Individuums" sollte vom rein Zufälligen abgelöst
und auf "die Richtung des gesamtpsychischen Lebens" bezogen werden. 37 Dabei
wirkten die "gesellschaftlichen Zustände" allerdings nicht Naturbedingungen
gleich auf das Handeln von Individuen ein, sondern bei den sozialpsychischen
Faktoren handelt es sich um "lebendige Kräfte ( ... ) mit starken kausalen Wirkungen", die in einen "ruhelosen, kontinuierlidlen, dramatischen Kampf" velwickelt sind. 38
Lamprechts Konzept der Psychologie integrierte durchaus Gefühle - allerdings
konzipierte Cl' deren Analyse als interdisziplinäre Aufgabe, die er in einer spC".lifischen Weise stellte, wollte er doch eine direkte Abhängigkeit der historischen
Wissenschaft von der Psychologie vermeiden. Deshalb schlug er vor, die Einzclwissenschaften müssten "ihre Grundbegriffe zunächst aus sich selbst heraus ( ... ) entwickeln", um sie dann anschließend im interdisziplinären Dialog zu schärfen, zu
modifizieren und gegenseitig zu integrieren. 39 In dieser Arbeitsteilung zwischen
den Disziplinen komme der Ethnologie die Aufgabe zu, sozial psychische Grundfaktoren zu identifizieren und zu ldassifizieren und somit auch basale Erkenntnisse
über "Affekte und Willenshandlungen", über "Gefühle und Triebe"40 zu liefern
und das fundamentale menschliche "Bedürfnis nach Hervorbringung und Steigerung der Eindrücke"41 zu erklären. Die Geschichte als "empirische Disziplin"42
dieser Faktoren im Wandel der Zeit zu untersuchen.
hat dann die aオウーイセゥァョ@
Lamprecht definierte von diesem Verständnis her Kulturgeschichte als "vergleichende Geschichte der sozialpsychischen Entwiddungsfakroren", welche den "gei-
stigen Gesamthabitus der Zeit" und im historischen Prozess die ,,Anordnung der
Kulturzeitalrer" auf der Grundlage einer "wissensch:;tftlichen Periodisierung" zu
strukturieren habe. Dabei behauptete er eine Identität der Kulturzeitalter mit den
Entwicklungsstufen der "materiellen" Kultur und strebte eine "Psychisierung der
Wirtschaftsstufen" an, so dass Kulrur- und Wirtschaftsgeschichte weitgehend zusaffimenfallen. 43
Das Lamprechtsche Entwicldungsszenario Sall - in Übereinstimmung mit Rationalisierungsthesen - durchaus historisch wirksame 'Tendenzen in Richtung eines
zunehmenden "Ausgleichs der Affekce" vor. Gegen die These der Affektkontrolle
im Prozess einer zunehmenden Naturbeherrschung und Sozialdifferenzierung entwickelte er zwei Argumente: Erstens ging er nicht von einer positiven Korrelation
von Frei.heitsgewinn und Naturkontrolle aus: "Denn es ist ein Irrtum zu glauben,
dass der Mensch von der Natur um so freier wird, je eingehender er sie studien und
ausbeutet." Der technisch-wissenschaftliche Zugriff des Menschen auf die Natur
mag zwar die Abhängigkeit "von gewissen natürlichen Zufällen" reduzieren, insgesamt lässt er aber "unseren Zusammenhang mit der Natur dennoch immer stärker
erscheinen".44 Zweitens setzte er Affektausgleich nicht gleich mit Gefühlsabbau,
sondern ging umgekehrt vom "Prinzip fortschreitender psychischer Intensitä("45
aus. Dies führte ihn zu folgender Charakterisierung des "allgemeinen Gangs der
geschichtlichen Entwicldung": "Die Transcendenz der Ideen muss also der Immanenz der psychischen Gesamtrichtung weichen. "46 In diesem Vorgang, der die psychische Disposition von Gesellschaften grundlegend transformierte, treten diese
psychischen Faktoren immer stärker hervor - ein Grund für die Kulturgeschichte,
sich mit diesem Phänomen zu befassen.
Referenzrahmen für Lamprechts Überlegungen war die Nation als "natürlichste
( ... ) menschliche Vergesellschaftung" und zugleich "oberste soziale Vereinigung":i7
Für ihn scand fest, "daß als regulärer Träger der weltgeschichtlichen Entwicldung,
und damit als wichtigste Grundlage der Menschheitsgeschichte wie der Geschichte
überhaupt die Nationen anzusehen sind", weil sich nur in ihnen "der größte Entwicldungstypus menschlichen Daseins" voll auslebe. 48 Auch wenn sich Lamprecht
gegen Ende seines Lebens - er starb 1915 - verstärkt universalhistorischen Problemen zuwandte, stellte er den methodologischen Nationalismus nie in Frage.49
Auch in der Einfiihrung in das historische Den/;:en aus dem Jahre 1912 ist es für ihn
43 Ebd., S. 145, 112, 133, 125 u. 129; zur Interpretation vgl. Haas, Historische Kulturforschung,
S.220.
34
35
36
37
38
39
40
Lamprecht, "Was
Ebd., S. 86.
Ebd., S. 94.
Ebd.,5.110.
Ebd., S. 115.
Ebd., S. 9l.
Ebd., S. 118.
41 Ebd., 5.121
42 Ebd., S. 88.
[SC
Kulturgeschichte?", S. 75.
44 Lamprecht, "Was ist Kulturgeschichte?", S. Illf.
45 Ebd., S. 132.
46 Ebd., S. 110.
47 Ebd., S. 99.
48 Ebd., S. 102, siehe auch S. 116.
49 Die Diagnose von Stefan Haas, der im Jahr 1900 "in der Entwicklung Lamprechrs dilen
gravierenden Einschnitt", d.h. eine Ablösung von nationalgeschichtlichen und eine Öffnung hin zu universalhistorischen Problemen sieht, stellt in dieser Hinsicht eine Übertreibung dar (Baas, Historische Kulturforschung, S. 211).
44
EMOTIONEN IN DER GESCl-IICHTSWlSSEN,SCHAFf
JAKOB TANNER
Idar, dass "die psychischen Spannungen, die wir kennen gelernt haben, sämtlich in
dem Verlauf der Geschichte einer grogen menschlichen Gemeinschaft, in unserem
Fall zunächst des demsehen Volkes, beschIoßen" Seiell. Das "überall wirkende Gesetz der psychischen Relationen" stelle aber sicher, "daß in der Tat alle andern
Nationen eine der deutschen Entwicklung verwandte Reihe von Zeitaltern durchlaufen habcn".50 Auf einem solchen nationalen Standpunkt verbleiben auch kulturhistorische Autoren wie Georg Steinhausen und Kurt Breysig, die, wenn sie von
"Seelenkräften" sprachen, vom "deutschen Menschen" und "dem Volk" ausgingen.
Gleichermaßen verharrten die europäischen und universalhistorisdlcn Deutungen
dieser Autoren im Gravitationsfeld einer Volks-Nations-Homologie, die eine kulturpessimiscische Aufladung förderte und einer völkischen Verengung sowie rassisüschen Umdeutung dieser Psychologie-Konzepte, wie sie schon vor 1933 einsetzte, entgegenkam oder sie jedenfalls nicht verhinderte. 51
Das "deutsche Gefühlsleben" Georg Steinhausens und die
"Gesellschaftsseelenkunde" Kurt Breysigs
Georg Steinhausen (1866-1933) gab ab 1894 die Zeitschrift jiir Kulturgeschichte
heraus, die zu einem wichtigen Forum dieses heterogenen, aber dennoch einige
Argwuenrationsstrategien vorantreibenden Diskussionszusammenhanges wurde. 52 1895 - auf dem Höhepunkt des "Methodenstreits" - publizierte er eine
Studie Der Wtmdel deutschen Gefühlslebens, in der er, anknüpfend an Arbeiten von
Gustav Freyrag'53, die "Emwicklungsphasen deutschen FiUllens und Empfindens"
nachzeichnete, dies in Abgrenzung zur und in Erweiterung der geistigen, politischen und materiellen Entwiddung. 54 Steinhausen will hier die "Hauptzüge" des
"inneren Lebens" herausarbeiten, es geht ihm um die Dynamik des Wandels, um
die großen Übergänge und nicht um Einzclzeiten, die nur in ihrer Symptomatik
beachtet werden. Steinhausen unterscheidet fünf große Entwicklungsphasen, die
er, immerzu einige Beispiele verallgemeinernd, in worrspielerisch-bunter Gesamtcharakterisierung darstellt. Eine erste, die im Banne der Minnezeit mit ihrer "ästhetischen Feinheit und tändelnder Anmut der ritterlichen Gesellschaft" stand, ging
50 Kar! LaOlprechr, };fIlßilmmg in das historische Denken, Leipzig 1912.
51 VgL auch Baas, "Ti'ansdisziplinarität ais Paradigma", S. 46fL Eine wenig wirkungsvolle,
argumentativ jedoch interessante Kritik an diesen Formen der Psychologisierung von Gefühlen entwickelte Ernst Bernheim in seinem 1889 crstmals publizierten und später immer
wieder ncu aufgelegten und 1908 nachgefühnen Lehrbuch der historischen Met/Jode und der
im Übergang zum Spätmirtelalter zu Ende. Es folgte - gemessen an diesen hohen
Idealen - ein Rückschlag und in der zweiten Phase "zu Beginn des 14. Jahrhunderts ist der Deutsche ein nüchterner, schlichter, fast gemütsarmer Mensch",55
Dieses "gering entwickelte Gefühlsleben" ist jedoch verbunden mit der Rüc!deehr
des "Volkstümlichen", es beginnt eine "Periode aufsteigender Kraft" im Zeichen
eines "gesunden, kräftigen und natürlichen Gefühlslebens", die sich durch eine
"Einheitlichkeit" im Fühlen auszeichnet. Steinhausen betont vor allem den "Humor" und die "Derbheit", die damals im Schwange waren und stellt fest: "Die
Menschen dieser Zeit sind wie heute das niedere Volle in seinen gesunden Schichten." "Unser Volk sinkt" ist dann die Devise der dritten Phase, in der die vorherige
Natürlichkeit in "kahle und kalte Gefühllosigkeit", in "Berechnung und (... ) finstere Grausamkeit" umschlägt. Vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts regen sich Aberglaube und Hexenwahn und "die Teufelsliteratur wächst ( ... )
ungeheuer an". 56 Steinhausen diagnostiziert einen Übergang von religiöser Hingebung in "pathologische Sucht"; die führenden Schichten hätten natürliches Fühlen
verlernt. "Dies bewirkten vor allem und in erster Linie die neuen fremdartigen
Einflüsse, die in dieser Zeit mächtig hervortraten". Es zeigt sich ein frappanter
"Mangel an Einfachheit und Wahrheit", ein "Zwang zur Unnatürlichkeit" harr an
der Grenze zur Lächerlichkeit, zur Groteske, zur Künstlichkeit und Zeremonialität.
"Schwulst" ist das Signum dieser Zeit, es steht für "die ganze Periode" und ihre
GefÜhlsäußerungen. 57 Von diesem Zerfall sind allerdings "niedrige" und "ländliehe Schichten" sowie "die Frauen" ausgenommen. Eine gewisse Rettung kommt
dann von der "pietistischen Bewegung", mit der sich ein weiterer seelischer Wandel
in Richtung einer neuen Innerlichkeit ankündigt. Das 18. Jahrhundert wird dadurch zur vierten Phase, zur "Gefühlsperiode der Empfindsamkeit", die zwar die
vorherige "öde Leere des Empftndens" überwindet, ohne indessen schon natürlich
und gesund zu sein. Denn was nun anbricht, ist eine Zeit der "Weichheit und
Rührseligkeit", die Menschen versinken in einem "Gefühlsmeer" oder in einem
"Tränenrneer" . Das romantische Naturgefühl einer sentimentalen, tränenreichen
Phase ersrreclet sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, um dann - als fünfte Phase - von einem Zeitalter der Nervosität abgelöst zu werden, das im Banne von
Schnelligkeit und Leistungsfähigkeit steht und durch "größere Reizbarkeit und
Empfindlichkeit" und gleichzeitig durch eine zunehmende "Feinheit des Empfindens" charakterisiert isr. S8
Steinhausen macht diese Temposteigerung der gesellschaftlichen Verhältnisse
durchaus auch an einer Veränderung der Körperlichkeit des Menschen fest: ",Nerven' in unserem Sinne haben unsere Vorfahren nicht gehabt. Sie sind ein Erzeugnis
stark verfeinerter Kultur einerseits, des totalen Wandels der äußern Lebensverhält-
Geschichtsphilosopbie.
52 Haas, Historische KultuljorsclJUl1g, S. 254; vgL auch Jürgcn Herold, "Georg Steinhausen und
dic Kulnugcschichte", in: Archiv ßir Kulturgeschichte 85 (2003), S. 29-70.
53 Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vi:rgangenheit, 2 Bde., Leipzig 1859.
54 Gcorg Steinhauscn, Der Wrmdd deutschen Gefühlslehens seit dent Mittelalter, Hamburg
1895.
45
55 Ebd., S. 4.
56 Ebd. S. 5f. u. 15ff.
57 Ebd., S. 1Sff.
58 Ehd., S. 28[f.
46
47
JAKOB TANNER
EMOTIONEN IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
nisse andererseits: wir leben rascher als unsere Vorfahren. "59 Man könnte hier einen
Vorgriff auf eine kulturanalytisch sensibilisierte Körpergeschichte sehen; doch die
metaphysische Volkskategorie, die Überinterpretation von Quellen und die nicht
haltbaren Verallgemeinerung von Einzelbeispielen verweisen auf Fundamentalprobleme des Ansatzes. Zudem ist die Interpretation wenig originell; Steinhausen legt
sich auf eine durchgehende bipolare Schematisierung fest und wählt eine Srereorpyisierung mit Kontrasteffekten entlang der vier Achsen "Natürlich versus künstlich", "beständig versus volatil", "Deutsches versus Fremdes", "Volk versus Eliten".
Von der letzten Phase abgesehen, die Steinhauscll selber als "unsichere Sache" sieht,
wird immer dasselbe Argumentationsmuster in Anschlag gebracht: Die unbeständigen Eliten neigen häufig zum artifiziellen Fremden, während sich das robuste
deutsche Volk den Sinn für das Natürliche auch in aussichtslosen Lagen bewahrt.
Ähnlich volksverhaftet und kollektiv-holistisch sind die Untersuchungen von
Kurt Breysig (1866-1940). In der Geschichte der Seele von 1931 formuliert er einleitend folgende These: "Es ist die Annahme, dass in jedem der aufeinanderfolgenden Enwicldungsalter der Menschheit es eine andere der Seelenkräfte war, die
Tat und Geist der Völker beherrschte. "60 Breysig kämpft mit seiner "Gesellschaftsseelenkunde" gegen "fremde ( ... ) griechisch-lateinische Misch- und Mißgeburten
- wie das Ungeheuer Soziologie", die den "Vorgang der Entsinnlichung bis zur
Leichenstarre, bis zum Vorstellungsmord" steigern,61 Hier erreicht teutonische
Anschaulichkeit im Verein mit nationaler Blickverengung beklemmende Spitzenwerte, Die 1935 erscheinende Theorieschrift Psychologie der Geschichte ist demgegenüber offener, aber ebenso diffus; Breysig operien mit Begriffen wie "Kraft und
Ordnung", und setzt sich mit Hirnforschung, dem menschlichen Leib und den
"gemeinsamen Zielen der Natur- und Geisteswissenschaften" auseinander, dabei
immer wieder auf zwischenmenschliche Anziehungskräfte und ähnliche Gefühlslagen Bezug nehmend. 62 In der Nachkriegszeit publizierte Gerrrud Breysig, die als
Jüdin von den Nationalsozialisten deportiert worden war, aber überlebte, weitere
Werke ihres 1940 verstorbenen Mannes, Trotz dieser posthumen Profilierung blieb
Kurr Breysig allerdings "in der Geschichts- und Kulturwissenschaft eine Null-Existenz" (wie sich Harrmut Böhme ausdrückt),63 Seine "Kinetographie des universalhistorischen Prozesses" fiel aus den Debatten zwischen traditionellen politikgeschiehrlichen Ansätzen und der mit nellen Erldärungsansprüchen auftretenden
Sozialgeschichte der 1950er und 60er Jahre ebenso heraus wie der PsychologieAnsatz in der Nachfolge von Karl Lamprecht insgesamt, Dass diese gegen Ende des
19, Jahrhunderts aufkommenden kulturhistorischen Ansätze keine nachhaltigen
Anregungen für eine Geschichte der Gefühle zu liefern vermochten, passte gut
zusammen mit der in den ersten Nachkriegsjahrzehnten im Mainstream der Geschichtswissenschaft dominierenden Ignoranz gegenüber der Dimension des Emotionalen und der affektiven Involvierung von Menschen in die Gesellschaft,
59
60
61
62
63
Ebd., S. 41.
Kurt Breysig, Die Geschichte der Seele im Werdegang der Menschheit, Breslau 1931, S. VIII,
Ebd .• S. XlV.
Kurt Breysig, Psychologie der Geschichte, Breslau 1935, S. 51ff, 149ff u, 174ff.
Hal'tillut Böhme, ",Der dセャQッ@
des Zwiewegs', Kurt Breysigs Kampf um die Universalhistorie" , in: Kurt Breysig, Die Geschichte der Menschheit, Bd. 1: Die Anfinge der JvJenschheit,
Bedin 2001, S. V-XXVII [http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltcxteItex-
te/breysig.html].
Pathos-Formeln und emotionale Entladung durch Rationalisierung
Einen andern, produktiveren Vorschlag, die Gefühle zum integralen Element einer
Erldärung langfristiger gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu machen, findet sich bei Aby Warburg (\866-1929), der in den 1880er Jahren unter anderem
bei Kar! Lamprecht Kulturgeschichte studiert hatte, Nach seiner Rückkehr von
Florenz nach Hamburg war er ab 1902 eng in den transdisziplinären Forschungszusammenhang der Kulturgeschichte und der Völkerkunde involviert und entwickelte das hybride Projekt einer monumentalen Kulturtheorie, in der er der Psychologie die Rolle einer Fundamentalwissenschaft zuwies. 64 Mit der damals breit
diskurierren Methode einer "kulturpsychologischen Geschichtsauffassung" wollte
er die Entwicklung von Symbolsystemen und die Dynamik der wissenschaftlichen
Rationalisierung verstehen, Menschliche Zivilisation ist aus Warburgs Sicht das
Resultat kultureller Konstruktionsleistungen; sie kommt dadurch zustande, dass
Menschen lernen, neue Ursachensetzungen vorzunehmen, d.h. sich von Ängsten
zu befreien, die sie durch die Unterstellung "magischer" Kausalitäten in sich selber
hervorrufen. Es gibt nicht - wie bei Lamprecht - kausale Gesetze, welche die Entwicldung von Gefühlsregimes steuern, sondern die Vorstellung von Wirkungszusarnmenhängen ist selber Teil eines emotionalen Weltbezugs.
Für Warburg ist es vor allem das Bild, über das Menschen Kausalitätszuschreibungen zu verändern imstande sind. Das Bild ermöglicht die Bezwingung animistischer Gewalten, die der Mensch aufgrund einer magisch-engagierten Weltsicht
überall am Walten Sall, Wenn destruktive sozial-psyclüsche Energien in Bilder entäußert werden, verlieren sie ihre gefährliche und gefährdende Potenz. Das Beängstigende wird gebannt in Pathos-Formeln, welche die gesellschaftliche Kontrolle
dieser Energiepotentiale gewährleisten, Das Bild stellt zwar nach wie vor eine starke
affektive Kraft dar und provoziert emotionale Identifikation. Doch es konstituiert
sich aus einem Akt der Distanzierung, der Gefahren depotenziert. "Du lebst und
tust mir nichts" meint bei Warburg auch: "Du lebst, aber bitte tu mir nichts!" In
dieser Bedeutung bezieht er sich über die zähmende Kraft der Bilder hinaus auf die
Wissenschaft, die als Beruhigungsmedium fungiert, weil sie eine neue, von teuf-
64 VgL etwa Horst Bredekamp/Michad Diers/Chadone SchoeH-Glass (Hg.), Aby Warburg,
Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991; Bemd Roeck, Der
junge A!.ry Warburg, München 1997.
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JAKOB TANNER
EMOTIONEN IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
lischen Kräften entlastete Sicht der Welt genericrt.65 Warburg interpretiert die Kulturentwicldung seit der Renaissance als Stillstellung bewegter Dämonen, die den
Menschen bedrohen. Der Befund für den florentinischen Maler Sandro Botticelli
butete, dass er das noch nicht geschafft hätte, denn "cr war sd10n einer von denen,
die allzu biegsam waren"66; erst die die Künstler des 16. Jahrhunderts hätten durchwegs beruhigte Bilder hervorgebracht. Im seihen Jahrhundert hätte Dürer seine
",Melancolia l' zum humanistischen Trosrblatt wieder Saturnfürchtigkeit" gemacht;
freienden Prozess in Richtung einer sich rationalisierenden Zivilisation allerdings
nicht als irreversibel auf. Der Erste Welckrieg markierte auS seiner Sicht eine Katastrophe, die er auch intensiv als unerträgliche persönliche Verunsicherung empfand. Seine Einlieferung in eine psychiatrische Klinik, wo zunächst eine Schizophrenie und dann - durch Emil Kraepelin - eine manisch-depressive Erkrankung
diagnostiziert wurden, war auch Folge dieser Lebenssituation.
Diese Grundrhese von Aby Warburg - die Rationalisierung von Ängsten im
Zuge eines Modernisierungsprozesses - findet sich in unterschiedlichen Varianten
in theoretischen Ansätzen, die im sozial- und kulrurwissenschaftlichen Theoretisierungsschub Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Die Akzente wurden allerdings unterschiedlich geserzt. Zwei Argumentacionsmodelle verdienen dabei besondere Beachtung, Das eine wird von Max Weber in der 1920 erstmals publizierten
Studie über "die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus" entf.lltet.
Weber spricht hier von der "Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang"; er siehr
in der modernen Askese überhaupt ein Antidotllm gegen die "unbefangene Vitalität trieb mäßigen Handelns und ein naives Gefühlsleben", mit dem Resultat einer
Stärkung "konstanter Selbstkontrolle" und des "bürgerlichen Berufsethos" .70 In
verschiedenen Werken mit modernisierungstheoretischem Einschlag polarisiert
Weber Emotionalität und Rarionalität und erklärt soziokulturellen Wandel als Verdrängung der ersteren durch letztere. Irrationale Gefühle, naive Empfindungen
und ataviscische Leidenschaften werden so zum Gegenprinzip, vor dem sich die
interdependenten Prozesse der Verwissenschafrlichung, Rationalisierung und Säkularisierung positiv abheben können. Weber führt zwar in den "Soziologischen
Grundbegriffen" von 1921 das "affekruelle, insbesondere emotionale Handeln"
neben anderen Handlungstypen - dem zweckrationalen, dem wertrationalen und
dem rraditionalen - zunächst eigenständig auf, behandelt es jedoch als Residualkategorie. Nachdem er unter diesem Rubrum Formen eines "hemmungslosen Reagierens" angesprochen hat, kommt er auf die "Sublimierung" zu sprechen, die dann
vorliegt, "wenn das affekruell bedingte Handeln als bewußte Entladung der Gefühlslage aufn·irr; es befindet sich dann meist (nicht immer) schon auf dem Wege
zur ,Wertrationalisierung' oder zum Zwecldlandeln oder zu beiden,"?!
Die Romantik hatte die Wertladung dieses bipolaren Modells umgekehrt und
den Topos einer wunderbaren rauschhaften Erfahrung lanciert, der sich gegen das
oberflächliche Kalkül des Rationalen richtete. Gefühlsmäßige Intuition vermittelte
aus dieser Sicht tiefere Wirldichkeirserkenntnis als logisches Raisonnieren. Emotionen blieben in der Romantik, die Teil der Moderne ist, allerdings fundamental
Dürer und Luther seien überhaupt zusammengetroffen in ihrem Kampf gegen
"magische Mythologik": "Wir stehen mit ihnen schon im Streite um die innere
intellektuelle und religiöse Befreiung des modernen Menschen, freilich erst am
Anfang".G7
Das Fortschrittszenario, das diesen Zivilisationsprozess antreibt, folgt nicht der
Anziehungskraft: einer technisch erlösten Zukunft, es ist auch nidlE verursacht
durch einen Willen zum Wissen oder eine wissenschaftliche Neugierde, sondern es
formt sich aus der Sicht Warburgs in einer schauderhaften Gegenwart, die durch
Gespenster und Geister der Vergangenheit bevölkert ist. Aus diesem dämonischen
Chaos der Angst machen sich die Menschen auf den Weg in einen rationalen Kosmos. Von daher kam das Interesse Warburgs an einer Psychologie der Ausdrucksweisen, welche die Exorzierung des Irrationalen und den Sieg der Vernunft zu
dokumentieren vermögen. Warburg sprach von "bewußter Auseinandersetzungsenergie" mit einer Vergangenheit, deren energetisches Reservoir für die Exorzierung
von Dämonen genutzt werden könne. Die Sublimierung von Ängsten durch Symbolisierung löst eine Transfonnation mentaler Dispositionen aus, welche die Welt
erträglicher machen. Weil jede Zeit nur das sieht, was sie schon verstanden hat und
demzufolge auch ertragen kann, muss die Ikonologie aufZeigen, wie Bilder, Rituale
und Myrhen Ängste neutralisierten und handhabbar machren. Warburg entnahm
der 1911 publizierten Studie von Richard Semon über die Mncme68 die Erkenntnis, dass Erinnerungen als Speichereinheiten mit einer affektiven Ladung betrachtet werden können, Dem Kunsthistoriker fällt dann die Rolle zu, gleichsam als
Seismograph die Enrladungen, die Bilder im Erinnerungshaushalr auslösen, auf
einer kulturellen Energieskala zu messen. 69 Warburg fasste diesen entlastenden, be65 Wolfram Hogn::bt;:, ECho des Nichtwissens, Bedin 2006, S. 185; Hogrebe weist auf die Studie
von w.J. Thomas MitchelI: What Do Pictures Wttnt? The Lives Imd Loves 0/Images, Chicago
2005, hin, welche den "bildanimistischen Aspekt" wiederum ins Zentrum rüder.
66 Aby Moritz Warburg, "Salldro BotticeHis ,Geburt der Venus' und ,Frühling'. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der iralit;:nischen Frührenaissance", in: dt;:rs,
Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 1992, S. 11-64,
hier: S. 63.
67 Aby Moritz Warburg, "Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luchers Zeiten",
in: dcrs, Gesammelte Schriften, Bd. 1.2., Berlin 1998, S. 498-558, hier: S. 528u. 531.
68 Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wandel des orgfmischen Geschehens,
Ldpzig1911.
69 Bemd Roeclc, "Aby Warburg als Kulturtheoretiker", Vortrag am 17. März 2008, Universität
Zürich.
70 Max Weber, "Die protestantische Ethik und der Geisr des Kapitalismus", in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1988, S. 17-206, hier: S. 126, 192 u.
198.
71 Max Weber, "Soziologisdlc Grundbegriffe", in: ders., Gesttmmelte Aufiätze zur Wissenscl;afislehre, Tübingen 1988, S. 541-581, hier: S. 565f. Vgl. dazu auch Sighard NeckeI, "Kultursoziologie der Gefühle. Einheit und Differenz セ@ Rückschau und Perspektiven", in: Schützeichel, Emotionen und Sozialtheorie, S. 124-139.
50
EMOTIONEN IN DER GESCHICHTSWJSSENSCHAFr
JAKOB TANNER
ambivalent. Der Gefühlsrausch hatte etwas die Menschen beglückendes, ließ sie
aber unter Umständen zugleich ins Verderben stüEcn. Im Spannungsfeld von kontrollierter Empfindung und außer Kontrolle geratender Leidenschaft konnte der
romantische Mensch durchaus der letzteren anheim fallen und. damit das erfahren,
was die Theoretiker der Modernisierung als Relikt der Vergangenheit sahen. n Eine
interessante Spielfofm dieses Arguments findet sich bei Jan Huizingas 1919 veröffentlichten Studien zum Herbst des Mittelalters. 73 Als Gegenbild und Kontrastfolie
zur wissenschafdich-tedmisch geballten Destruktionskraft der modernen IndustriegeselIschaft, die sich im Ersten Weltkrieg gezeigt hatte, zeichnete Huizinga ein
Mittelalter, das seine kindliche Unschuld noch nicht verloren hatte. "Als die Welt
noch ein halbes Jahrtausend jünger war", schreibt er, "hatten alle Geschehnisse im
Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute. Zwischen
Leid und Freude, zwischen Unheil und Glück schien der Abstand größer als fuf
uns; alles, was man erlebte, hatte noch jenen Grad von Unmittelbarkeit und Ausschließlichkeit, den die Freude und das Leid im Gemüt der Kinder heute noch
besitzen."74 Im Mittelalter bot das "tägliche Leben ( ... ) immer und überall unbegrenzten lZaum für glühende Leidenschaftlichkeit und kindliche Phantasie" und
haue "in mancherlei Hinsicht noch die Farbe des Märchens" und "so grell und
bunt war das Leben, daß es den Geruch von Blut und Rosen in einem Atemzuge
vertrug".75 Das Miuelalter wird hier zum Traumterritorium, das auf der Suche
nach der verlorenen Zeit aufgesucht werden kann.
Figurationsanalyse, Morphologie und die Geschichte der Gefühle
Norben Elias verwendete weder die plastisch-affektive Sprache Huizingas noch
interessierte er sich für kunstgeschichtliche Arbeiten, wie sie Warburg vorlegte.
Nichtsdestotrotz hat er das Mittelalter ähnlich gesehen?6 Er teilte die Meinung,
damals seien Emotionen noch ungebrochener und ungestümer artikuliert worden.
Er setzte mit seiner Interpretation des Zivilisationsprozesses jedoch anders an; er
betonte nicht wie Huizinga das "ganz Andere" eines Mittelalters, das der Neuzeit
den Spiegel vorhalten kann, sondern zeichnet in der epochalen Studie aber den
72 Martina Kessel, "Das Trauma der AffdukontroHe. Zur Sehnsucht nach Gefühlen im
19. Jahrhundert", in: Claudia Benthien/Anne Fleig/lngrid Kasten (Hg.), EmotionaLitiit. Zur
Geschichte der GefiIhle, Köln/Weimar/Wien 2000, S. QUVセWN@
73 Joban I-Iuizinga: Der Herbst des Mittelalters. Studien über l・「ョウセ@
und Geisteiformen des
14. und 15. Jahrhunderts in 'Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 1975 (erstmals
1919).
74 Ebd., S. l.
75 Ebd., S. 8 u. 22.
76 Vgl. etwa Claudia Opitz (Hg.), Höfische Gesel/schtift und Zivilisationsprozeß Nobert Bias'
Werk in Imlturwissenschil}ilicher Perspektive, Köln/Weimar/Wien 2004.
51
Prozeß der Lil;ilisation die "Zivilisationskurve" im Zeitraffer nach. 77 Im Vorwort,
das auf 1936 datiert ist, spricht er von Wechselwirkungen zwischen der "Psychogenese des Erwachsenenhabitus" und der "Soziogenese unserer ,Zivilisation'" und
bezeichnet "die Frage der soziogenen menschlichen Ängste [... ] als eines der Kernprobleme des Zivilisationsprozesses" J8 Gesellschaften verändern sich im zゥカャウ。セ@
tionsprozess fortwährend und auf die Länge auch grundlegend - doch dieser Wandel ist weder willkürlich noch zufällig. Elias sucht deshalb nach einem Weg zwischen
der Scylla eines "Statismus" (der ahistorisch argumentiert und den Menschen als
Gegeben betrachtet) und der Charybdis eines "historischen Relativismus" (der nur
den beständigen und ungeordneten Wechsel sieht)J9 Mit dem, was er "Figurationsanalyse" nannte, zielte er auf die Untersuchung der "Formungsgesetzlichkeit
der geschichtlichen Gebilde", der historisch veränderbaren 111terdependenzmuster
und Verflechtungszusammenhänge von Menschen, der Strukturkonstellationen ihrer Institutionen sowie der "Verhalcens- und Affekcstandards im Leben der
Gesellschaft"80 ab.
Die Einsicht in die gerichtete Doppelentwicldung der Gesellschaft hin zu komplexeren staatlich-wirtschaftlichen Strukturen, zum physischen Gewaltmonopol
des Staates und zur damit korrespondierenden psychisch-emotionalen Selbstdomestizierung des Menschen regt Elias zu einer Lerntheorie der Gefühle an: Der Umgang mit Emotionen wird als erlernte Selbstregulation, als "Zwang zum Selbstzwang" erldärt, der das "Gefühl, was zu tun und was zu lassen ist"81, verändert. Es
ist die Verlängerung zwischenmenschlicher Interdependenzketten im Zuge der
staatlichen Strukturbildung und wirtschaftlichen Komplexitätssteigerung, die eine
Modellierung und Moderation des individuellen Affekthaushalts nötig macht, mit
dem Resultat einer gebändigten sozialen Interaktion auf kollektiver Ebene. Somit
ist es die zunehmende Kontrolle von Affekten, die Anhebung von Peinlichkeitsschwellen und - zusammengefasst - der Aufbau einer "Über-Ich-Apparatur", die
dem "Prozess der Zivilisation" das unverkennbare Gepräge verleihen. Dieser verläuft auch bei Elias über die Ausdifferenzierung nationaler Formationen: "Die gesellschaftlichen Einheiten, die wir Nationen nennen, unterscheiden sich in hohem
Maße durch die Art ihrer Affekt-Ökonomie, durch die Schemata, nach denen das
Affektleben des einzelnen unter dem Druck der institutionell gewordenen Tradition und der aktuellen Situation jeweils modelliert wird. "82 Elias laitisiert dann aber
die nationale "Kuhur"-Rhetorik in Deutschland und konstatiert, dass die "deutsche Antithese ,Zivilisation und Kultur'" der "Ausdruck eines deutschen Selbstbe-
77 Diesen zentralen Punkt verkennen viele seiner Kritiker, insbesondere Hans-Peter Dürr, dcr
1988 seine inzwischen auf vielc Bände angewachsene Gegendarstellung Der Nlythos vom
ZiviLisationsprozeß veröffen didue.
78 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, ßd. 1, S. LXXIV.
79 Ebd., S. LXXVII.
80 Ebd., S. 78.
BI Ebd., S. 103.
82 Ebd., S. 40f.
52
JAKOB TANNER
wußtseins" ist, das als erklärungsbedürftiger Sachverhalt und nicht als theoretische
Prämisse zu behandeln seL 83 Besondere Bedeutung misst er dem neuen Verhältnis
zur Welt zu, das Menschen durch die emotionale Regulierung ihres Selbstverhältnisses durchzusetzen imstande sind. In späteren Publikationen sollte er feststellen,
dass der rationale Umgang mit der Wirldichkeit längerfristig eine "engagierte"
Sichtwciie verdränge zugunsten distanzierter Verhaltens- und Erlebnisimpulse. Das
Verschwinden eines magischen Weltbezugs ermögliche es den Menschen z.B., "ein
Bild des physikalischen Universums zu entwerfen und zu ertragen, das emotional
höchst unbefriedigend ist" .84 Obwohl sich bei Elias oft ähnliche Argumente finden
wie bei Aby Warburg, wenn es um die Depotenzierung von Angstkomplexen geht,
betont Elias immer wieder, dass er den Zivilisationsprozess nicht als eine Resultante in einem sozialen Zweckmäßigkeitsparallelogramm, sondern als einen zielblinden
Prozess auffasst, der sich nicht von den Intentionen der in einer Gesellschaft zusammenlebenden Menschen her erldären lässt.
Die Figurationsanalyse Narben Elias' weist eine hohe Originalität auf. Elias pfäferien Emotionen gegenüber Psychologie. Es geht ihm nicht um die integrierende
Funktionsweise des menschlichen Geistes, sondern um Qualität und Veränderung
affektiver Bindekräfte, welche die Verlängerung von Interdependenzketten und die
Komplexitätszunahme von VerRechtungsmustern ermöglichen. Mit der psychologiebasierten deutschen Kulturgeschichte hat sein Ansatz kaum etwas zu tun und so
lässt er sich auch gar nicht auf eine Auseinandersetzung mit ihr ein. Hingegen adaptiert er durchaus unbefangen Ausdrucksweisen aus dem begrifflichen Repertoire
dieser Autoren und spricht etwa von den "Regungen im Seelenhaushalt des ,zivilisierten' Menschen".s5 Eine explizite Distanzierung von einer psychologisierenden,
auf dem Konzept von "Gefühlen" aufbauenden Geschichtsschreibung findet sich
hingt:gen in dcr 1930 erscheinenden Studie Wege der Kulturgeschichte von Jan Huizinga. Der Autor des Herbstes des Mittelalters wendet sich damit implizit auch gegen
eine psychologistische Lektüre seiner früheren Werke. I-Iuizinga setzt mit der Beobachtung ein, gegen Ende des 19. Jahrhunderts hätten es "den Anschein gehabt, als
hätte die Naturwissenschaft in ihrer glänzenden Entfaltung die Normen echter Wissenschaft endgültig entdcckt und damit dem modcrnen Denken ihre Methoden als
einzigen Weg zur wahren Erkenntnis auflegt"86. Trotz der Versuche, "zum erstenmal
die modernc Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften auf eigenen Grundlagen"
zu fundieren, wie sie pionierhaft von Dilthey unternommen worden seien, sei "die
Historie unbekümmert ihren Weg gegangen, unbeirrt durch methodische Forderungen". Dennoch sei in der historischen Disziplin ein "gewisser Primat der Natur-
83 Ebd., S. 42.
84 Norben Elias, Hngllgement und Distflllzienmg. Arbeiten zur Wissenssoziologie J, Frankfurt alU
Main 1983, S. 16. Elias spricht von einer "Balance" zwischen Engagement und Distanzierung; er hält J-est, dass
keine Ablösung der einen durch die andere Einstellung, sondern
eine, allerdings signifikante GL'wichtsverlagerung gäbe.
85 Elias, Ober den Prozeß der Zivilisation, S. LXXIX.
86 HUlzinga, ill'gerler J(jt!turgeschichte, S. 21.
es
EMOTIONEN IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
53
wissenschaft" zu erkennen, der sich vor allem in der "Praxis der Geschichtsfor87
schung" auswirke.
Huizinga wehrte sich allerdings nicht nur gegen den
"naturwissenschaftlichen Akzent" in der Sprache der Historiker, sondern auch gegen deren ästhetisch-formalen Attitüden: "Es wäre ein Schaden für unsere Kultur,
wenn die Geschichtsschreibung für die allgemein Gebildeten in die Hände einer
ästhetisierenden Gefühlshistorie geriete, die aus literarischem Bedürfnis entspringt,
mit literarischen Mitteln arbeitet und auflitcrarische Effekte zielt. "BB Diese Tendenz
sei "nicht einzig und allein die Schuld pfuschender Literatoren ", sondern ebenso
sehr Resultat von Qualitätsverlusten historischer Werke, welche das In-Umlaufsetzen "hybdridischer Produkte" mit "Surrogatcharakter" erleichtcrten. 89 Auf diese
Weise öffne sich ein Feld von Zwischenproduktcn, "das man literarische hlセエッイゥ・@
oder noch besser historische Belletristik" nennen könne. 9o Hier würden "die großen
Gefühlsergüsse, die Tränenfluten, die überschwänglichen Rührungen" bedient, die
"stets Deichbrüche der Volksseele gewesen" seien. "Echte Geschiclusschreibung"
dürfe hingegen dem "Mitleiden mit allem Leid der Welt" nicht nachgeben, SOnst
würde sie "unfähig zur Erfüllung ihrcr Aufgabe". Aus dieser Einsicht resultiert das
Postulat, dass es für Geschichtswissenschaft um "Gemessenheit, Haltung, eine gewisse skeptische Reserve im Aufspüren der tiefsten Gemütsbewegungen" gehen
91
müsse. Das verstehende "Nacherleben", welches zur Grundoperation der ideographisch-hermeneutischen und damit genuin geisteswissenschaftlichen Methode
Diltheys geworden war, erweist sich aus dieser Sicht als "irreführend". Huizinga
markiert deshalb Distanz zur "sozialen Psychologie" Lamprechtscher Provenicnz.
Bezugnehmend auf cin historisches Ereignis aus dem Mittelaltcr hielt er fest: "Die
Geschehnisse selbst donnern durch all meine Psychologie hindurch, welche höchstens wiedergibt, wie die Menschen auf das Geschick reagiert haben, wie ihre Impulse sich äußerten, welche aber unfähig bleibt, auch 11ur cinen Punkt in der Verwirldichung des Geschehenen als determiniert nachzuweisen." Setze man nun an
die Stelle des psychologischen Verstehens des Einzelnen ein "Wissen um die Massenseele, also Erkenntnis einer sozialen Psychologie voraus, dann resultiert nicht
etwa eher, sondern noch weniger ein wirldich historisches Verstehen". Der Versuch,
die Kollektivpsychologie früherer Gesellschaften zu umsclueiben, sei deshalb aussichtslos, weil "eine solche Psychologie nicht bloß nicht erfahrbar, sondern eigentlich nicht denkbar" sei. Eher brauchbar sei demgegenüber "der amerikanische Begriff des Behavior mit seiner stark soziologischen Bedeutung". 92
Für Huizinga ist der Anthropomorphismus "der größte Feind des geisteswissenschaftlichen Denkens". 93 In Abgrenzung dazu fordert er als Alternative zur Psy-
87 Ebd., S. 22L
88 Ebd., S. 33.
89 Ebd., S. 38.
90 Ebd., S. 41.
91 Ebd., S. 43.
92 Ebd., S. 52f[
93 Ebd., S. 59.
54
EMO'rtONEN IN DER geschitwnaセ@
JAKOB 'l'ANNER
chologic eine Morphologie. Die großen Kulturhistoriker seien stets, "ohne irgendein bewußtes Programm darüber, historische Morphologen gewesen", dies,
weil sie es verstanden hätten, historische Sinndeutung und Formgebung aufeinander zu beziehen. 94 Dass Oswald Spengler unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg
seinen "Untergang des Abendlandes" als eine "Morphologie der Weltgeschichte"95
verstand, beeindruckt Huizinga deswegen nicht, weil er darin eine Myrhologisiemng und den Verlust "kritischer Wissenschaft" sieht: "Sein Schema der Weltgeschichte steht heure, nach zehn Jahren, da wie ein stehengelassenes, leeres
Mausoleum. "96 Zusammenfassend zeigt sich bei r-Iuizinga eine doppelte Frontstellung: zum einen gegen die Verwendung von "Gefühlen" als semantische Treiber in
narrativen Dynamiken und zum andern gegen eine Psychologie, die holistische
Entitäten unterstellt und als "Völkerpsychologie" oder "Kollektivseele" auftritt.
Über diese triftige Kritik hinaus ist es Huizinga allerdings nicht gelungen, seine
"Morphologie" soweit zu operationalisieren, dass sie in der Nachkriegszeit zu einem
Modell für neue Forschungs- und Darstellungsverfahren der Geschichtswissenschaft hätte werden können.
Von der sozialen Psychologie zur historischen Anthropologie
Ein anderer Befund lässt sich für jene interdisziplinär orientierten französischen
Hiswriker gewinnen, die sich im Verlaufe der 1920er Jaluc zur Gruppe der Annales
formierten. 1924 publizierte Mare Bloch eine längerfristig bahnbrechende Studie
über Die wundertätigen Kiinige (Les rois thaufntlturges), die sich mit dem übernatürlichen Charakter des Königtums über fast sieben Jahrhunderte hinweg - vom Mittelalter bis in die Aufklärung - befasste. 97 In Frankreich und England - den beiden
Herrschaftsformationen, die Mare Bloch untersucht - wurde den Königen nämlich die Fähigkeit zugeschrieben, Wunder zu wirken, was sich insbesondere am
populären Handauflegen zeigte, mit dem Skrofeln, tuberkulöse Entzündungen der
Lymphknoten, geheilt werden konnten. Wie kann man sich den nicht abbrechenden, immer wieder massenhaften Zustrom von Kranken zu den königlichen
Herrschern und die enorme Popularität des zeremoniellen "Rituals der Berührung"98
noch bis ins beginnende 19. Jahrhundert hinein erldären? Diese Frage erschien
94 Ebd., S. 551-: Auch Brcysig verwendete den Begriff der "Morphologie", allerdings in einem
anderen Sinne; vgl. Böhme, "Der Damon".
95 Band 1 des Unterglf11g des Abendltmdes erschien 1918, Band 2 1922.
96 I-Illizinga, Wege der J(ultllrgeschiclJte, S. 58.
97 Bloch, Dü: UJundertlitigcn Könige, S. 59. Jacques Le Goff sollte 1983 in seinem Vorwort
aufgrllnd neuer historischer Forschungen den Anfang des Rituals der Skrofdnheilung durch
HandauHegen um ca. ein Jahrhundert zurückverlegen. Le Goffbetont allerdings, "daß Mare
Bloch sich nicht für das Problem der Ursprünge inreressierte", sondern im "Zeremoniell
"Vorwort", in:
der Berührung der Skrofeln [... ] eine politische Geste" sah Uacques Le gッヲエセ@
Bloch, Die l(mndertätigen Könige. S. 9-44, hier: S. 43).
98 Bloch, Die wUlldertiitigen Könige, S. 123.
55
vielen damals in einem nationalen Gravitationsfeld forschenden Historiker als zu
marginal, als dass sie sich damit hätten beschäftigen wollen.
Für Bloch geht es in den "wundertätigen Königen" dartun, "die Kraft kollektiver Täuschungen "99 zu verstehen und die Mentalitäten zu ergründen, die während Jal1fhunderten das Wunderbare der Monarchie möglich gemacht haben. Er
will seine Studie als einen "Beitrag zur politischen Geschichte Europas"IOO jenseits
nationaler Engführungen verstanden wissen, und zwar im wahren Sinne des Wortes
"Politik", der auf die Erldärung des mentalen modus operandi eines sozialen Gemeinwesens abzielt. Für die Erldärung des religiösen Phänomens, das er sich vorgenommen hat, verbindet er eine aufldärerische (Voltairesehe) Deutung, die "im untersuchten Vorgang die Absicht eines individuellen, seiner selbst bewussten Denkens
am Werk" sieht, mit einer andern, die er romantisch nennt, die nach "tiefer liegenden und duniden sozialen Kräften" sUCht. 101 Daraus ergibt sich eine Theorie des
Zusammcnpassens von mentalen Dispositionen, politisdler Repräsentation und
funktional-strukturellen Mustern: Der König - so die These Blochs - kann in seiner Wirkungsmächtigkeit sowie als soziale Repräsentationsfigur und als Atcraktor
individueller Ambitionen nicht verstanden werden, wenn man in ihm vor allem
einen "hohen Funktionär" sieht. "Um zu begreifen, was die Monarchien früher
waren, vor allem um sich darüber Idar.LUwerden, wie lange und wie intensiv sie den
Geist der Menschen beherrschten, genügt es nicht, bis ins letzte Detail die Mechanismen der Verwaltung, der Rechtssprechung, 'des Finanzwesens zu erhellen, denen
die Untertanen der Könige unterworfen waren." Vielmehr gelte es, "in die Vorstellungen und Pabeln einzudringen, die sich um die fürstlichen Häusern rankten". 102
Erst diese "übernatürliche Aureole um die gekrönten Häupter" erzeuge jenes "Gefühl der Loyalität", die während langer Zeit eine scarke Kraft entfaltete. Und nur
die Einbenung der Heilungsrituale in den "Gesamtzusammenhang der abergläubischen und legendenhaften Züge, aus denen der Nimbus besteht, der das Königtum umgibt"I03, ermögliche es, die mystische und sakrale Qualität der Nlonarchie
nachzuvollziehen.
Im Zentrum des Forschungsinteresses standen nicht die "Wurzeln", "Ursprünge" und "Herkunft" des untersuchten Wunders, sondern die Ermöglichungsbedingungen und die Wirkungsweise eines komplexen religiös-politischen Phänomens.
Für Bloch war evident, dass viele Gläubige den Wunderglauben teilten und von der
"heilenden Magie" eingenommen waren: "Was die Menge betrifft, so hat sie von
ganzem Herzen daran geglaubt."lo4 Auch die Könige seien keine Schwindler gewesen, weil sie ihrerseits von ihrer heilenden Kraft überzeugt waren. Und es könne
ohne weiteres davon ausgegangen werden, "dass ein Teil der Kranken die Gesund99
100
101
102
103
104
Ebd., S. 443.
Ebd., S. 58.
Ebd., S. 119.
Ebd., S. 57.
Ebd., S. 56.
Ebd., S. 19
u.
434.
56
57
JAKOB TANNER
EMOTIONEN IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
heit wiedererlangte", wenn auch erst später, unvollständig oder vorübergehend,
Stärker an einer Theoretisierung der Emotionen interessiert war seit den ausgehenden 1930er Jahren Lucien Febrve, der Freund und wissenschaftliche Kollege
Blochs. Er entwickelte ein neues Verständnis von Emotionen, das sich als konzeptionell nachhaltig erweisen sollte. Der für die Encyclopedie Franraise verfasste Beitrag "Geschichte und Psychologie" von 1938 konstatierte zunächst die Wichtigkeit
der im Titel angedeuteten Verbindung, um gleich anzufügen, "dass diese Beziehungen derzeit nur ziemlich enttäuschend ausfallen können. "111 Febvre unterscheidet "drei Reihen von Untersuchungen", die ein Psychologe durchführen müsse:
erstens die kollektivpsychologische Untersuchung dessen, "was der Mensch seinem
gesellschaftlichen Milieu verdankt", zweiten die psycho-physiologische Analyse des
Menschen als eines "spezifischen Organismus" und drittens die differentialpsychologische Feststellung individueller Singularitäten. 112 Diese Operationen lassen sich
aber nicht einfach auf eine "historische Psychologie" übertragen, die sich dem Problem des "psychologischen Anachronismus"113 stellen muss. Dieses besteht darin,
dass die zeitgenössische Psychologie keinen Zugang zu!' Vergangenheit öffnet, während sich umgekehrt "die Psychologie unserer Vorfahren im großen und ganzen"
nicht "auf die Menschen von heute anwenden lässt". Die trügerische Identität, die
dadurch entsteht, "direkten Weges ( ... ) von unseren Empfindungen und Vorstellungen zu jenen Empfindungen und Vorstellungen gelangen zu wollen, für die oft über Jahrhunderte hinweg - ähnliche oder sogar dieselben Wörter stehen" ruft
nach Febvre "die größten Irrtümer hervor" und er sieht darin eine "Gefalu"Y4
Damit teilt er ein Grundanliegen der "sozialen Psychologie" der deutschen Kulrurhistoriker. Die Differenz zur hier gepflegten holistischen Tradition kommt ins
Spiel, wenn Febvre rhetorisch die Frage stellt: "Menschen, die aus lauter Gegensätzen bestehen? Aber bestand nicht auch ihr materielles Leben aus lauter
Gegensätzen"?115 Um diese disparaten, heterogenen und antagonistischen Lebensverhältnisse analysieren zu können, plädiert er für ein interdisziplinäres Forschungsprogramm. Gegen Kad Lamprecht und seiner Forderung, "die ganze politische,
soziale, ökonomische Geschichte der menschlichen Gruppen nach einem gebieterischen ,Psychologie zuvörderst!' zu richten", insistiert Febvre dann allerdings darauf, das Problem sei "kein theoretisches". Es gelte vielmehr, sich an die Arbeit zu
machen, um "eine ganz individuelle historische Psychologie zu schaffen, die sich in
den Gang der Menschheitsgeschichte einfügt, welche ihrem unbekannten Ziel
zustrebt" .116
denn dies liege im natürlichen Verlauf der Krankheit. lo5 Mit der Einfügung des
wunderbaren Phänomens in eine "lange Dauer" arbeitet Mare Bloch einer Dichotomisierung von "irrationalem Mittelalter" und "rationaler Moderne" entgegen
und fügt das "Irrationale" des Wunderglaubens zugleich in doppelter Weise in den
Rationalisierungsprozess der Moderne ein. Stellt die königliche Thaumaturgie auf
der einen Seite eine "politische Geste" und damit eine politische Salaalisierungsstrategie dar, welche das moderne state building unterstützte, so stärkte der Wunderglaube eine mentale Disposition, die den gläubigen Menschen auf das Prinzip
einer wissenschaftlichen Welrcrldärung hin orientieren konnte. lOG
Was die retrospektive Bewertung der Wundertätigkeit betrifft, so macht Marc
Bloch keine kulturrelativistischen Konzessionen. Er ist nicht bercit, "die psychologische Deutung des königlichen Wunders zu übernehmen". Dies entspräche セ@ worüber er sich bei kompetenten Medizinern und Physiologen informierte - einer
"physiologische Häresie" und das lehnte er ab. Somit besteht das "wahre Problem"
darin, zu begreifen, "wie man an die Heilkraft der Könige glauben konnte, obwohl
sie doch nicht geheilt haben".I07 Am Schluss der Studie stellt Bloch fast resigniert
und ironisch fest: "So fällt es schwer, in dem Glauben an das königliche Wunder
etwas anderes als das Ergebnis eines kollektiven Irrtums zu sehen."108 Jacques Le
Goff konstatiert in seinem 1983 verfassten VOlwort zu den wundertätigen Königen,
er wolle nicht weiter auf der Tatsache insistieren, "dass die ,rationalistische' und
,fortschrittliche' Einstellung Mare Blochs gegenüber dem Wunder ( ... ) heute nur
mehr schwer vertreten werden könnte" und dies genau aus dem Grund, weil man
die Fragen, die Marc Bloch gestellt habe, heute mit einem neuen theoretisch-methodischen Rüstzeug weiter verfolge; "die Untersuchung der Riten, der Bilder und
der Gesten der Gesellschaften unserer Vergangenheit" sei eine Aufgabe für eine
Geschichtswissenschaft geblieben, die sich als "politische historische Anthropologie" verstehe und für die "Les rou thaumaturges das erste und immer junge Modell
sein werden".109 Dieses Modell impliziert vielfältige Gefühlsbindungen zwischen
Menschen, emotionale Muster und affektive Einstellungen, die Mare Bloch indessen nicht auf ein Repertoire von "Grundgefühlen" zurückführt. Das Buch entwickelt überhaupt keine Theorie der Emotionen, und es verzichtet auf eine Form der
Geschichtsschreibung, welche die Sprache der Gefühle, wie sie in den Quellen
fassbar wird, als Medium fur eine die Leser emotional ansprechende Darstellung
nutzt und sie damit narrativ reifizierr. 1lO
105
106
107
108
109
110
Ebd., S. 450.
Ebd., S. 284f.
Ebd., S. 443f.
Ebd., S. 452.
Lc Goff, "Vorwort", S. 43f.
In der Apologie der Ges(/;ichtswissenschaft wird Bloch auf das Problem zurückkommen und
vom "Nachhall früherer Emotionen" sprechen, womit er auf den Zusammenhang von Ge-
111
112
113
114
115
116
fühl und Gedächtnis hinweist (Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Bemfdes Historikers, hg. v. Luden Febvrc, München 1985, S. 199 u. 149).
Febvre, "Geschichte und Psychologie", S. 79.
Ebd., S. 83.
Ebd., S. 88.
Ebd., S. 84f.
Ebd., S. 86.
Ebd., S. 90.
58
JAKOB TANNER
Im 1941 veröffentlichten Aufsatz "Sensibilität und Geschichte" stellt Lucien
Pebvre in Fortsetzung von Theorien, wie sie um 1900 Gabriel Tarde und andere
formuliert hatten, fest, Emotionen seien "ansteckend"; weit davon entfernt, "blaBe
Rcaktionsmcchanismen" zu sein, würden sie vielmehr "neue Handlungsschemata
konstituieren". Als "System intersubjektiver Stimuli" würden Emotionen somit
"zu einer Art Institution" gerinnen und "gleichsam rituellen Regeln" folgen. lI ?
Pebvre kommt dann ausführlicher auf den "Herbst des Mittelalters" zu sprechen
und konstatiert, "zweifellos hätte Huizingas Buch an Klarheit gewonnen, wenn er
vorab dargelegt hätte, daß jedes menschliche Gefühl ambivalent ist, zugleich es
selbst und sein GegenreiL"llll Affektzustäncle weisen nach Febvre immer zwei entgegengesetLte Pole auf, die durch eine fundamentale Gemeinsamkeit verbunden
sirid, welche Oszillationen, abrupte Umschläge und Verwandlungen ermöglichen,
zwischen Hass und Liebe, zwischen Grausamkeit und Mitleid etvva. Ausgehend
von dieser Überlegung fragt Febvre, ob "die Annahme zulässig [ist], daß es in der
Geschichte Perioden vorherrschender Intdlektualität gegeben hat, die aufPeriodcn
besonders ausgeprägter AHektivitär folgten"1l9. Und er kritisiert Huizinga, weil es
dieser versäumt habe, diese Fragen zu stellen und damit zum Komplizen solcher
Thesen geworden sei. Demgegenüber entvvickelt Febvre, entlang der Überlegungen
von Henri Wallon, die Gefühlsabbauthese und erldärt, "dies mehr oder weniger
langsame Zurückdrängen der emotionalen durch die Verstandestädgkeiten, das ist
das lange Drama, das man in allen sich entwickelnden Zivilisati()11en ablaufen seben kann". Gefühle hätten die Eigenschaft, mit "neuen Beziehungsinstrumenten,
deren Bildung sie doch ermöglicht hatten, in Konflikt" zu geraten. So ergebe sich
"die Tcndenz, die Emotion als eine Störung des Handelns anzusehen, als etwas
Gdahrlichcs, Lästiges, Häßliches oder zumindest Schamloses". Nach dieser Präsentation stellt Pebvre die Frage, ob jemand behaupten wolle, "ein solches Schema
['sci] für den Historiker wertlos" und. gibt die Antwort: "Ich meine jedenfalls, daß
es uns nicht nur das Verständnis des Verhaltens von Menschen früherer Epochen
erleichtert, sondern auch den Ansatz zu einer Forschungsmethode liefert" .120 Von
dieser Einsicht ausgehend, entschließt sich Febvre abschließend zu einer paradoxen
Apologie der Psychologie: "Handelt es sich um das Hirngespinst eines Kranken,
wenn ich sage, daß sie für die Arbeit jedes Historikers die Grundlage schlechthin
ist?" [li
Lucten Febvres Position könnte als ein Versuch gesehen werden, die "Geschichce als Psychologie" mit einem Modell eines die NIekte regulierenden Zivilisationsprozesses zu verbinden. Es finden sich in seinen Texten viele Elemente, die eine
117
1 J8
119
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121
Febvre, "Sensibiliüü und Geschichte", S. 93f.
Ebd., S. 97f.
Ebd., S. 98.
EbJ., S. 95.
Ebd., S. 107; vgl. auch Peter Schötder, "Mentalitä[engeschichte und Psychoanalyse. Lucien
Febvres Begegnung mit Jacques Lacan 1937/38", in: Osterreichische Zeitschrift für GeschichtswissemclJlljim 11 (2000) 3, S. 135-146.
EMOTIONEN IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFf
59
solche These sd.itzen. Febvre hielt sich jedoch deutlich auf Distanz zum Pan-Psychologismus der deutschen Kulturgeschichte und zur kompakten Affekt-Konzeption, mit der Norbert Elias seine Meta-Erzählung organisierte. Dies gilt auch für
Mare Bloch. Die frühen Annales-Historiker erweisen sich so als Innovatoren einer
Geschichte der Emotionen, welche das Unfassbare der Gefühle präsent halten und
sich dennoch weigern, vor dieser Herausforderung zu kapitulieren; nicht zuletzt
deswegen, weil sie ein Bewusstsein von der aktuellen Relevanz der Erforschung der
Emotionen haben. Lucien Febvrc verweist auf der letzten Seite von "Sensibilität
und Geschichte" auf die massive Ereignischronologie der "eigentlichen Geschichte";
"Das ist Geschichte. In der sollen unsere Kinder in den Kbssenzimmern unterrichtet
werden. Dagegen die Geschichte des Hasses, die Geschichte der Angst, die Geschicllte der Grausamkeit, die Geschichte der Liebe: verschonen Sie uns um Gottes willen
mit diesen abgeschmackten Märchen! Aber diese abgeschmackten, der Menschheit so
fernen Märchen - vielleicht werden sie die Welt morgen in ein stinkendes Leichenhaus verwandeln?"122
122 Fehvre, "Sensibilität und Geschicluc", S. 106.