Thym , Komplexität als Chance
ABHANDLUNGEN
Daniel Thym, Konstanz*
Komplexität als Chance. Gestaltungsoptionen für das
künftige Punktesystem zur Fachkräfteeinwanderung
Im Koalitionsvertrag verständigte sich die neue Bundesregierung
auf die Einführung einer „ Chancenkarte auf Basis eines Punktesystems" als zweite Säule der Erwerbsmigration. Das klingt
vielversprechend und verlangt dennoch vom Gesetzgeber zahlreiche Weichenstellungen. Es bestehen nämlich unterschiedliche
Möglichkeiten, wie das künftige Punktesystem ausgestaltet werden kann. Der Beitrag bietet einen Überblick über die zentralen
Fragen, die in den weiteren Beiträgen des Sonderhefts vertieft werden. Hierbei zeigt sich, dass die kategorische Trennung zwischen
einer arbeitsvertragsbasierten Zuwanderung des Status qua und
einem Punktesystem zur Jobsuche überdacht werden sollte. Beim
Blick hinter die Kulissen eines künftigen Punktesystems ergeben
sich Überschneidungen, vor allem bei einer möglichen Zulassung
von Personen, die über keine als gleichwertig anerkannte Qualifikation verfügen.
1. Einführung
Mit dem Punktesystem steht ein Thema auf der rechtspolitischen
Agenda, das seit der Jahrtausendwende immer wieder als möglicher Königsweg der Erwerbsmigrationsgesetzgebung gepriesen
wurde. Vor 20 Jahren diskutierte der Bundestag die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes, dessen Erstfassung ein Auswahlverfahren in Form eines Punktesystems vorgesehen hatte. 1 Daraus
wurde nichts, weil das BVerfG die Erstfassung der rot-grünen Koalition aus formalen Gründen kippte. Die letztlich verabschiedete
Endfassung des Zuwanderungsgesetzes verzichtete aufgrund eines
parteiübergreifenden Kompromisses auf ein Punktesystem zur
Fachkräfteanwerbung.
Seither dient das Punktesystem in der rechtspolitischen Debatte als Verheißung einer besseren Zukunft - übrigens nicht nur in
Deutschland. Selbst Donald Trump wünschte sich für die USA
ein Punktesystem wie der Nachbar Kanada.2 Die Attraktivität
des Punktesystems dürfte auch daran, liegen, dass es all die Dilemmata der Migrationspolitik durch eine mathematische Formel
magisch aufzuheben scheint (strukturell vergleichbar mit der Forderung des bisherigen Innenministers nach einer „Obergrenze" in
der letzten Legislaturperiode3 ).
Nun wird allein die Einführung eines Punktesystems die Bundesrepublik nicht zu einem neuen Kanada machen, das über das
Resettlement sowie ein Punktesystem selbst bestimmt, welche
Personen einreisen. In Deutschland werden auch künftig viele irregulär über das Asylsystem einwandern. In Kanada ist dies aus
geographischen Gründen nur begrenzt der Fall (und produziert
dennoch eine restriktive Reaktion). Die fehlende Vergleichbarkeit ist freilich kein Argument gegen ein Punktesystem, allein die
cken, dass der Bundesgesetzgeber zentrale Weichenstellungen erst
noch vornehmen muss.
2. Veränderte Rahmenbedingungen
Anders als zu Zeiten des Zuwanderungsgesetzes ist der Neuigkeitswert eines Punktesystems heute begrenzt. Seinerzeit galt
im Kern noch der Anwerbestopp, weil Drittstaatsangehörige
nur in Ausnahmefällen zum Zweck der Erwerbstätigkeit nach
Deutschland einreisen durften. Dies änderte sich seither grundlegend, angestoßen nicht zuletzt durch die EU-Gesetzgebung.
Schon 2007 wurde§ 20 AufenthG, der nach dem Scheitern des
Punktesystem vorläufig frei geblieben war, für die Forschungsmigration in Umsetzung einer EU-Richtlinie erstmals neu besetzt.5 Vor allem jedoch diente die Blaue Karte aufgrund der
Hochqualifiziertenrichtlinie als Wendepunkt.
Damals entschied sich die schwarz-gelbe Bundesregierung für
eine großzügige Umsetzung, die ironischerweise all die restriktiven Klauseln nicht nutzte, die man zuvor auf EU-Ebene mühsam in die Richtlinie hinein verhandelt hatte. 6 Es war dies der
erste Schritt für eine veritable Liberalisierungswelle, die Roman
Lehner in diesem Sonderheft nachzeichnet. Die Änderungen
waren oft kleinteilig und wurden öffentlich kaum beachtet, was
ein Grund dafür sein dürfte, warum sich bis heute das Vorurteil
hält, die deutschen Zugangsregeln seien restriktiv.
In der Sache stimmt das schon lange nicht mehr, weshalb
die OECD die Bundesrepublik schon vor neun Jahren als eines
der liberalsten Einwanderungsländer lobte 7 - und zwar speziell für „akademische Fachkräfte", also Personen mit einem
Hochschulabschluss. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz erweiterte diese Regeln vor zwei Jahren auf berufliche Fachkräfte
- unter der Voraussetzung, dass deren Berufsausbildung zuvor
als gleichwertig mit deutschen Standards anerkannt wurde.8 Bei
akademischen und beruflichen Fachkräften gibt es also nicht
mehr viel zu liberalisieren. Das Punktesystem kann heute, an-
2
3
4
Warnung vor zu hohen Erwart,mgen. 4 Ein Punktesystem w ird
5
6
7
die Schwierigkeiten der Fl:1chtmigration nicht beseitigen und die
scheinbare Präzision mathematischer Formeln darf nicht verde-
8
Inhaber der Professur für Europa- und Völkerrecht, maßgeblich beteiligter Wissenschaftler am Exzellenzcluster „The Politics of lnequality"
und Leiter des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA)
an der Universität Konstanz .
Siehe§ 20 AufenthG i.d.F. ZuwG v. 20.6.2002 (BGBI. 2002 11946), das
von BVerfGE 106, 310 (329 ff.) aufgehoben wurde; zum Inhalt siehe
Feldgen, ZAR 2003, 132 ff.
Vgl. Transcript: Interview with Donald Trump, Economist.com vom
11.5.2017.
Siehe auch Thym, ZAR 2018, 193 (196 f.).
Hierzu bereits Thym, ZAR 2017, 297 (298 ff.); siehe auch Wiese, in: Pioch/
Toens, Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, 2020, 5. 41 ff.
Vgl. G, v. 19.8.2007 (BGBI. 200711970).
Vgl. G. v. 1.6.2012 (BGBI. 201211224).
Siehe OECD, Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte, Deutschland, Februar 2013, 5. 15, abrufbar unter https://doi.org/10.1787/9789264191747-de
(letzter Abruf: 1.4.2022).
Siehe die Definition nach§ 18 III AufenthG .
A BHA N DLU N G EN·
Thym, l<omplexität als Chance
ders als vor zwanzig Jahren, keinen Paradigmenwechsel mehr
anstoßen, denn diesen gab es längst.
Das weiß natürlich auch die neue Bundesregierung, weshalb
sie das Punktesystem gemäß dem Modell der FDP ausdrücklich
als „zweite Säule" bezeichnet, ,,um Arbeitskräften zur Jobsuche
den gesteuerten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen "9. Zwar gibt es auch eine solche Einreise zur Jobsuche bereits. Sie wird aktuell über die§§ 20 I f. AufenthG in der Fassung
des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes erm~glicht, die europarechtlich freilich nicht determiniert sind und daher durch ein
Punktesystem ersetzt werden könnten. Alle anderen Zugangs"Vege setzen im Kern einen Arbeitsvertrag voraus. Ein Punktesystem
als zweite Säule zur Jobsuche vermeidet also geschickt Doppelungen, zumal viele andere Normen aufgrund von EU-Vorgaben
nicht mehr abgeschafft werden können. 10
3. Punktesystem als Idealfall eines Humankapitalmodells
In der Literatur wird vielfach zwischen einer Nachfrageorientierung und einem Humankapitalmodell unterschieden.11 Nachfrageorientierung meint, dass die konkreten Bedarfe der einheimischen Wirtschaft bestimmen, wer einreisen darf und wer nicht.
Wichtigstes Kriterium für eine solche Nachfrageorientierung seitens der Wirtschaft sind traditionell ein Arbeitsvertrag sowie eine
Arbeitsmarktöffnung für Mangelberufe. Das deutsche Recht folgt
traditionell dieser Linie.
Demgegenüber fragt das Humankapitalmodell nach den Potenzialen zuwanderungswilliger Personen. Diese dürfen auch ohne
Arbeitsvertrag einreisen, wenn sonstige Kriterien anzeigen, dass
sie „High Potentials" sind. Für die Identifikation der Potenziale
bestehen in der ökonomischen Literatur und rechtsvergleichend
unterschiedliche Optionen: abstrakte Kriterien wie Qualifikationen, Lebensalter oder praktische Erfahrungen - oder auch konkrete Erfolge auf dem Arbeitsmarkt. 12 Diese Vielfalt an Indikatoren ist gerade für die deutsche Debatte lehrreich, denn sie verweist
auf eine entscheidende Stellschraube speziell der deutschen Erwerbsmigrationsgesetzgebung: Misst man das Potenzial alleine
oder vorrangig über als gleichwertig anerkannte formale Qualifikationen oder lässt man sonstige Kriterien wie eine Berufserfahrung, Sprachkenntnisse, etc. ausreichen?
Mit dem Punktesystem kehrt damit eine Grundsatzentscheidung zurück auf die politische Agenda, die das Fachkräfteeinwanderungsgesetz zwischenzeitlich zu Gunsten eines Qualifikations begriffs aufgrund gleichwertiger formaler Zertifikate
entschieden hatte. Dem Koalitionsvertrag lässt sich nicht entnehmen, dass die neue Regierung dies ändern möchte. Speziell die
SPD verfolgt hierbei traditionell eine klare Linie zu Gunsten formaler Qualifikationen (und kontrolliert mit BMI und BMAS die
beiden relevanten Ministerien). 13 Wenn es dabei bliebe, wäre das
Punktesystem nicht viel mehr als ein Remake des aktuellen § 20
I f. AufenthG im neuen Gewand, denn diese Suchtitel verlangen
eine als gleichwertig anerkannte Qualifikation. 14
Gewiss könnte man die Kriterien ändern und etwa eine großzügigere Erwerbstätigkeit während der Suchphase ermöglichen.
Wirklich neu wäre ein solches Punktesystem jedoch nicht. Eine
solche Minimallösung wird vor allem diejenigen überzeugen, die
das Fachkräfteeinwanderungsgesetz für eine vernünftige Lösung
140 1 ZAR 4/2022
halten, die aufgrund der COVID-19-Pandemie ihr ganzes Potenzial noch gar nicht entfalten konnte. 15 Ein derartiges Punktesystem
würde die geltenden Regeln punktuell ausweiten und neu verpacken - und allein der sichtbare Name könnte als Signalwirkung
heilsam wirken, wenn die Liberalität des geltenden Rechts der
geltenden Öffentlichkeit und möglichen Adressaten im Sinn eines
,,Zuwanderungsmarketings" 16 vermittelt wird.
4. Optionenräume: Wofür gibt es Punkte?
Eine weitergehende Reform müsste auf das Gleichwertigkeitskriterium verzichten und stattdessen alternative Humankapitalstandards in die Zulassungsentscheidung einbeziehen. Diese
alternativen Indikatoren für ein erwerbsmigrationspolitisches
Potenzial prägen zahlreiche Punktesysteme etwa in Form von
Sprachkenntnissen, Bildungsabschlüssen, Berufserfahrung (evtl.
höher gewichtet bei einer Tätigkeit in OECD-Ländern mit vergleichbarer Wirtschaftsstruktur), früheren Inlandsaufenthalten,
hiesiger Verwandtschaft oder auch des Lebensalters. All diese Kriterien können abhängig von der Gewichtung als Alternative für
formale Qualifikationen herangezogen werden bzw. eine teilweise
bestehende Qualifikation ergänzen.
Eben diese komplementäre Ergänzung einer nur teilweise als
gleichwertig anerkannten Qualifikation durch andere Indikatoren
ist - neben der öffentlichkeitswirksamen Signalwirkung - der zentrale Reiz eines Punktesystems. Im bestehenden Erwerbsmigrationsrecht müssen Tatbestandsmerkmale üblicherweise kumulativ
erfüllt werden. Dagegen erlaubt ein Punktesystem, die Defizite in
einem Bereich durch besonders gute Leistungen·an anderer Stelle
zu kompensieren. Das geht nach den§§ 18-21 AufenthG bisher
typischerweise nicht.
Jenseits der komplementären Ergänzung ist die Unterscheidung zwischen Punktesystemen und dem Status quo jedoch
weniger kategorial als es vielfach scheint. Die Crux für ein
Verst~ndnis von Punktesystemen besteht darin, dass die Unterscheidung zwischen einem Humankapitalmodell (Punktesystem
zur Jobsuche) und der Nachfrageorientierung (Arbeitsvertrag
als Zugangsvoraussetzung) idealtypisch ist und in der Praxis
9
10
11
12
13
14
15
16
SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP, Mehr Fortschritt wagen - Bündnis für
Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Koalitionsvertrag 2021-2025
vom 24.11.2021, S. 33; sowie im Vorfeld FDP, Nie gab es mehr zu tun -Wahlprogramm 2021, S. 57.
Zum illusorischen Wunsche einer nachhaltigen Vereinfachung siehe
Thym , ZAR 2017, 297 (302 f.); und Thym, ZAR 2017, 361 (362 ff.); beachte
zudem, dass das Fachkräfteeinwanderungsgesetz den Wildwuchs der
Normen durch eine klare Struktur der§§ 16-21 AufenthG ersetzte, die im
Idealfall nicht erneut durcheinandergewirbelt werden sollte.
Zur Abstufung im Überblick siehe Hunger/Rother, Internationale Migrationspolitik, 2021, Kap. 5.
Instruktiv Boucher, Journal of Ethnic and Migration Studies 46 (2020),
2533 ff.
Anders insb. der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur
Einführung eines Einwanderungsgesetzes, BT-Drs. 19/6542 v.19.12.2018.
Dies ergibt sich erneut aus der Legaldefinition der Fachkraft in§ 18111 AufenthG.
Anders als der Vorschlag der Grünen entsprach ein früherer SPD-Entwurf
für ein Punktesystem weitgehend dem Inhalt des späteren Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, insb. verlangte der Entwurf typischerweise eine als
gleichwertig anerkannte Qualifikation; vgl. SPD, Entwurf eines Einwanderungsgesetzes, 7.11.2016, abrufbar unter https://www.spdfraktion.de/einwanderungsgesetz (letzter Abruf: 1.4.2022).
Siehe SVR, Unter Einwanderungsländern, Jahresgutachten 2015, S. 43.
Thym, Komplexität als Chance
selten in Reinform vorkommt. Die Abstufung ist graduell. Mischformen sind denkbar und kommen vielfach vor.
So vergeben Australien und langjährig auch Kanada im Rahmen
ihrer Punktesysteme viele Punkte an Personen, die einen Arbeitsvertrag vorweisen oder in einem Mangelberuf arbeiteri.17 Sascha
Krannich wird in seinem Beitrag dartun, dass die idealtypische
Unterscheidung in der praktischen Ausgestaltung verschwimmt.
Punktesysteme verlangen teilweise eine als gleichwertig anerkannte Qualifikation und lassen in anderen Fällen sonstige Indikatoren für besondere Potenziale ausreichen. Arbeitsverträge und
eine Tätigkeit in Mangelberufen werden hoch bepunktet, sind
meistens aber nicht der einzige Zugangsweg.
Doch nicht nur Punktesysteme nutzen vielfach Bausteine einer
Nachfrageorientierung. Umgekehrt setzt auch das geltende deutsche Recht bereits auf Elemente des Humankapitalmodells. So
enthält die Blaue Karte mit dem Qualifikationserfordernis und
dem Mindestgehalt zwei Indikatoren für ein hohes Humankapital, die auch Punktesysteme kennen. Holger Kalb wird in seinem
Beitrag zu diesem Sonderheft aufzeigen, welche Ausdrucksformen
eines besonderen Potenzials neben dem Arbeitsvertrag und einer
als gleichwertig anerkannten Qualifikation die §§ 18-21 AufenthG bereits umfassen. Diese vielfältigen Überlappungen eröffnen dem Bundesgesetzgeber zahlreiche Anknüpfungspunkte für
eine kreative Gesetzgebung.
5. Offene Folgefragen einer „Chancenkarte"
Mit der Entscheidung über die Punktevergabe ist es nicht getan.
Außerdem wird die Bundesregierung zentrale Begleitfragen klären
müssen - und zwar vor allem dann, wenn man das ~unktesystem
auf die Einreise zur Jobsuche konzentrierte. Vermutlich muss der
Lebensunterhalt gesichert sein, aber dürfen die einreisenden Personen während der Suchphase bereits Nebenjobs ausüben, notfalls
auf Helferniveau? Dürfen Sozialleistungen während der Suchphase
oder danach beantragt werden? Darf die Familie von Anfang an
mitkommen, wenn der Lebensunterhalt nicht gesichert ist? Julia
Uznanski wird in ihrem Beitrag diese rechtspolitisch heiklen und
praktisch relevanten Aspekte aufbereiten.
Auf einer semantischen Ebene sendet der Koalitionsvertrag unterschiedliche Signale, was den Verbleib von Arbeitskräften anbelangt, die über das Punktesystem einreisen. Der Begriff „Chancenkarte" und die Einreise zur „Jobsuche" signalisieren, dass das
Punktesystem - ganz ähnlich wie bisher§ 20 I f. AufenthG - nur
den Aufenthalt während der Suchphase regelt, während danach
eine Aufenthaltserlaubnis nach § § 18-21 AufenthG erteilt wird.
Alternativ könnte man die Formel der „zweiten Säule" so deuten,
dass neue Erlaubnistatbestände eingeführt werden, etwa für Personen ohne gleichwertige Qualifikationen. Diese ermöglichten als
neue Zugangswege einen dauerhaften Verbleib nach der Suchphase auch dann, wenn das nach geltendem Recht eigentlich nicht
möglich wäre. Doch selbst dann bliebe die Frage, in welchen Jobs
die eingereisten Personen dauerhaft arbeiten dürfen: notfalls auch
als Taxifahrer, was in Kanada häufiger vorkam? Oder wird im
Fall eines Verzichts auf das Qualifikationskriterium ein dauerhafter Verbleib nur bei gewissen Mindestgehältern etc. erlaubt - und
die kriterienbasierte Auswahl zur Jobsuche insofern fortgeführt?
ABHANDLUNGEN
Unwägbarkeiten hinsichtlich des Erfolgs der Jobsuche waren ein
wichtiger Grund, warum Australien und andere Länder in ihren
Punktesystemen nachfrageorientierte Kriterien einbauten 18 - und
seither einen Arbeitsvertrag oder eine Mangelberufszugehörigkeit
stärker gewichten. In einem ausgeprägten Sozialstaat wie der Bundesrepublik besitzt der Wunsch nach einer dauerhaft adäquaten
Beschäftigung jenseits des Helferniveaus ein besonderes Gewicht.
Ein Faktor bei der Auswahlentscheidung könnte sein, dass die Herkunftsländer mit der Bundesrepublik bei der Rückführung kooperieren. Das stellte sicher, dass das Punktesystem wegen problematischer Einzelfälle im öffentlichen Diskurs nicht als „Einwanderung
in die Sozialsysteme" gebrandmarkt wird. •
Hinzu kommen praktische Fragen von hohem Gewicht. Die
Erstfassung des Zuwanderungsgesetzes wollte keinen Rechtsschutz gegen die Zulassungsentscheidung vorsehen, auch weil
diese nur im Rahmen eines jährlichen Gesamtkontingents möglich war. 19 Auch die aktuelle Bundesregierung wird entscheiden
müssen, ob Anträge ständig oder nur einmal jährlich in Verbindung mit einer Gesamtquote angenommen werden. Speziell die
kanadischen Behörden waren durch extrem hohe Antragsanzahlen zwischendurch überlastet; es gab jahrelange Bearbeitungszeiten.20 Ähnliche Fallstricke bestehen bereits nach dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz und dürften sich unter einem künftigen
Punktesystem eventuell verstärken. Bettina Offer weist hierauf in
ihrem Beitrag für das Sonderheft hin.
6. Gefahr geringer Fallzahlen - außer für Inländer
Erfahrungen mit den bestehenden deutschen Suchoptionen zeigen, dass eine Überwältigung des Punktesystems mit hunderttausenden Anträgen nicht garantiert ist. Das Gegenteil ist ebenso
denkbar, also die Einführung eines Punktesystems, das sodann
nur von wenigen Personen tatsächlich nachgefragt wird. So führt
der aktuelle Suchtitel bestenfalls ein Schattendasein. Im Jahr 2020
reisten nur 103 Personen aufgrund § 20 I f. AufenthG neu nach
Deutschland ein, die nicht bereits hier lebten; 2019 (vor der Pandemie) war die alte Suchoption für Akademiker nur etwas mehr
nachgefragt und führte zu 130 Neueinreisen. 21
Diese Zahlen sind mickrig, wenn man sie mit den Zugangszahlen für die Bildungsmigration vergleicht. Hunderttausende ausländische Studierende sind an deutschen Universitäten eingeschrieben.
Viele von ihnen bleiben dauerhaft in Deutschland und dürfen im
Anschluss an das Studium über § 20 III AufenthG einen passenden
Job suchen. Die Zahlen hierfür sind mit über 5000 (für 2020) bzw.
übe,r 7000 (für 2019) 22 deutlich höher als diejenigen für die Neu17
18
19
20
21
22
Im Überblick Krannich/Hw;iger, Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 12 (2018), 229 ff.; und im Detail Buchanan und andere, Points-Based and Family Immigration : Australia, Austria, Canada, Japan, South
Korea, New Zealand, United Kingdom, The Law Library ofCongress, January 2020, abrufbar unter https://tile.loc.gov/storage-services/service/I1/
llglrd/2019713402/2019713402.pdf (letzter Abruf: 1.4.2022).
Siehe Sweetman, in: Niessen/Schibel, Immigration as a Labour Market
Strategy: European and North American Perspectives, 2005, 5.13 (27 ff.).
Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs.15/420 v. 7.2.2003, 5. 76; siehe auch
Thym, Migrationsverwaltungsrecht2010, 5.184 ff.
Siehe Offer, ZAR 2017, 29 (32); und Kolh/Klausmann, ZAR 2013, 239 (241).
Siehe BAMF, Monitoring zur Bildungs- und Erwerbsmigration.Jahresbericht
2020, 5.17; und BAMF, wanderungsmonitoring.Jahresbericht 2019, 5.18.
BAMF, Monitoring zur Bildungs- und Erwerbsmigration. Jahresbericht
2020, 5. 17; und BAMF, Wanderungsmoni-toring. Jahresbericht 2019, 5. 18.
ZAR 4/ 2022 1 141
ABHANDLUNGEN
Thym, Komplexität als Chance
einreise zur Jobsuche - und erfassen nur diejenigen, die nicht gleich
bei einer Firma unterkommen oder sich selbständig machen und
daher nach dem Studium gar keinen Suchtitel benötigen. 23
Die Zugangszahlen für die Einreise zum Zweck der beruflichen
Ausbildung sind leider deutlich niedriger als diejenigen für Studierende. Dennoch bleibt die verstärkte Einreise zur beruflichen Ausbildung eine Alternative zur Arbeitsmarktöffnung für Personen
ohne als gleichwertig anerkannte Ausbildung. 24 Diese Anwerbung
zur Ausbildung könnte man im Gewand eines Punktesystems
eventuell attraktiver gestalten. Dies setzte freilich voraus, dass die
Wirtschaft praxistaugliche Programme aufsetzt. Außerdem könnte man speziell für die Personengruppe der Ausbildungsplatzsuche vor der Einreise onlinegestützte Vorbereitungskurse organisieren, damit sie sich vor Ort zurechtfinden. Die Erwartung wäre
weltfremd, dass man ägyptische Hoffnungsträger aufgrund eines
Punktesystems einreisen lässt, damit sie sich ohne Vorbereitung
oder vorherige Kontaktvermittlung irgendwo in Deutschland
selbständig einen Ausbildungsplatz suchen.
Unabhängig von der Frage der erfassten Personengruppen könnte man die Fallzahlen für ein Punktesystem erhöhen, indem dieses
für Personen geöffnet wird, die bereits im Inland leben. 25 Eben dies
ist in Kanada der Fall. Vor der COVID-19-Pandemie lebte knapp
die Hälfte aller Personen, die über das Punktesystem eine Aufenthaltserlaubnis erhielten, bereits im Inland (während der Pandemie
erhöhte sich deren Anteil noch). 26 Durch die Öffnung für Inländer
stellte man sicher, dass das Punktesystem nicht mangels Zulaufs
als Misserfolg empfunden wird. Das zentrale politische Ziel von
mehr Neuzugängen würde damit freilich nicht erreicht. Ein Punktesystem, das Inländer erfasst, könnte auch von den zahlreichen
Ukrainer:innen genutzt werden, die derzeit als vorübergehend
Schutzberechtigte aufgenommen werden.
Einfach kopieren kann man das kanadische Modell freilich
nicht. Ein Großteil der Suchrechte für Inländer betrifft dort nämlich Hochschulabsolventen, die nach dem Studium in Kanada
über das Punktesystem den Arbeitsmarktzugang sichern. Für
diese Gruppe muss Deutschland kraft EU-Rechts jedoch einen
regulären Suchtitel vorhalten. 27 § 20 III Nr. 1 f. AufenthG können für Bildungsinländer also nicht einfach in ein Punktesystem
überführt werden (anders als die ersten beiden Absätze für Neueinreisende). Ein Punktesystem wäre hier also als eine unnötige
Doppelung, was wenig Sinn macht, zumal die deutschen Suchtitel
für Hochschulabsolventen im internationalen Vergleich bereits
großzügig ausgestaltet sind.
7. Plädoyer für ein experimentelles Vorgehen
Die kanadische Erfahrung einer Überwältigung mit hunderttausenden Anträgen könnte einem deutschen Punktesystem ebenso widerfahren wie eine Enttäuschung aufgrund praktischer
Irrelevanz. Hinzu kommt die strukturelle Gefahr, dass sich die
Punkteallokation in der Praxis als suboptimal erweist, wenn für
bestimmte Personengruppen der erhoffte Arbeitsmarkterfolg ausbleibt. Exemplarisch zeigt dies das frühere baden-württembergische Modellprojekt namens PuMa für eine punktebasierte Anwerbung, das freilich einen Arbeitsvertrag voraussetzte. Das mit
großen Hoffnungen gestartete Projekt erwies sich in der Praxis
als schwerfällig und bewirkte nur eine geringe Neuzugangszahl. 28
142 1 ZAR 4/2022
Nicht alles, was am grünen Tisch entwickelt wird, muss in der
Praxis auch funktionieren. Aus der Evaluation ergeben sich wichtige Lehren für praxisbezogene Fallstricke.29
Die Ampelkoalition dürfte also gut beraten sein, ein experimentelles Vorgehen zu wählen. Sprich: Nicht darauf zu hoffen, dass
der Bundestag und die Ministerien einen großen Wurf präsentieren, der dann jahrelang unverändert angewandt wird (oder darauf zu hoffen, dass eine wissenschaftliche Fachkommission ein
perfektes Modell entwickelt). Stattdessen könnte man mit einem
Punktesystem für ein zahlenmäßig beschränktes Kontingent starten - und möglichst schnell ein erstes Modellprojekt aufsetzen,
auf dessen Grundlage sodann gegen Ende der Legislaturperiode
eine umfassendere Neuregelung vereinbart wird. In allen Fällen
sollte man die Punktevergabe - ganz ähnlich wie in Australien
oder Kanada - regelmäßig an die gesammelten Erfahrungen anpassen. So stellt man sicher, dass das Punktesystem genutzt wird
und man die richtigen Personen erreicht.
Das gilt gerade dann, wenn man die „Chancenkarte" nach dem
Wortlaut des Koalitionsvertrags auf die Jobsuche beschränkte. Die
Gefahr geringer Zugangszahlen ist dann nämlich real, ganz ähnlich
wie bei§ 20 I f. AufenthG. Aus einer praktischen Perspektive sind
diese Normen schlicht zu schwerfällig. Sie benötigen eine förmliche
Titelbeantragung, die mehrere Monate dauern kann und für die
Lebensunterhaltssicherung hohe Anforderungen stellt, etwa mittels
eines Sperrkontos. Warum soll eine Fachkraft diesen Aufwand auf
sich nehmen, wenn sie ebenso gut mit einem Sehengen-Visum (oder
aus bestimmten Ländern sogar visumsfrei) unkompliziert für Auswahlgespräche nach Deutschland kommen kann?
Es ist dies eine allgemeine Lektion. Das schönste Gesetzesrecht
bringt wenig, wenn die erhofften Fachkräfte dessen Möglichkeiten
nicht nutzen. An Sichtbarkeit dürfte es dem Punktesystem hierbei
nicht fehlen. Im Gegenteil könnte der Werbeeffekt des Namens
eine wichtige Neuerung auch dann sein, wenn sich in der Sache
gar nicht so viel ändert. Sonstige Hindernisse bleiben jedoch: die
schwierige Sprache, das im Vergleich zum Silicon durchwachsene
Wetter, die gerade für Besserverdienende hohe Steuer- und Abgabenlast oder auch die deutsche Mentalität. 30
23
Stellschrauben für eine Erhöhung der Bleibequote diskutiert SVR Forschungsbereich, Heraus aus dem Labyrinth. Jungen Neuzugewanderten in Europa den Weg zur Berufsbildung erleichtern, November 2020.
24 Siehe auch SVR, Steuern, was zu steuern ist: Was können Einwamlerungs- und Integrationsgesetze leisten?, Jahresgutachten 2018, S. 57 ff.
25 Dies gilt natürlich auch für Asylsuchende, denen der Koalitionsvertrag
einen Wechsel in die Erwerbsmigration entgegen dem heutigen
§ 10 III AufenthG ermöglichen möchte; allerdings lehrt die Erfahrung, dass
die meisten Asylsuchenden oder Geduldeten die notwendige Qualifikation nicht mitbringen, weshalb auch die Bleiberechte, etwa nach§§ 60b-d
AufenthG, deutlich niedrigere Anforderungen stellen.
26 Zum Wohnort der ausgewählten Personen siehe Immigration, Refugees
and Citizenship Canada, Express Entry Year-End Report 2020, S. 25 (Table
27), abrufbar unter https://www.canada.ca/en/immil;!ration-refuQeewi,
tizenship/corporate/publications-manuals/express-entry-year-end·re-
port-2020.html (letzter Abruf: 1.4.2022).
Vgl. Art. 25 Forschende- und Studierenden-Richtlinie (EU) 2016/801.
Näher Ko/b, ZAR 2016, 136 ff.
Instruktiv BMAS, Evaluation des Punktebasierten Modellprojekts für ausländische Fachkräfte - PuMa, Forschungsbericht 539, Januar 2020; und
Boockmann und andere, Evaluation des Punktebasierten Modellprojekts für
ausländische Fachkräfte (PuMa), November 2019, abrufbar unter https://
www.ssoar.info/ssoar/handle/document/65993 (letzter Abruf: 1.4.2022).
30 Zu diesen „Grenzen des Rechts" siehe SVR, Steuern, was zu steuern ist:
Was können Einwanderungs- und Integrationsgesetze leisten?, Jahresgutachten 2018, S. 23 ff.; und Griesbeck, The Review of European Law,
Economics and Politics 5 (2019), 15 (25 ff.).
27
28
29
Thym, Komp!exität als Chance
Das künftige Punktesystem braucht daher attraktive Begleitprogramme - mit aktiver Einbindung der Wirtschaft. Berlin dürfte als Stadt viele Personen anlocken, aber speziell der Mittelstand
im ländlichen Raum dürfte gut beraten sein, attraktive Gesamtpakte zu schnüren, mit Hilfe bei der Wohnungssuche, Kita-Plätzen, Dual-career-Modellen, usw. Die rechtlichen Begleitrechte
stehen parat._Seit zehn Jahren erhalten Familienangehörige von
Fachkräften einen sofortigen Arbeitsmarktzugang. 31
8. Gotische Kathedrale statt griechischer Tempel?
Im Koalitionsvertrag outet sich die Bundesregierung in ästhetischer
Hinsicht als Freund klarer Linien: die Chancenkarte soll als „zweite
Säule" der Fachkräfteeinwanderung etabliert werden. Das erinnert
an einen griechischen Tempel statt an eine verschachtelt gotische
Kathedrale, deren Bündelpfeiler aus der Feme ineinander überzugehen scheinen. 32 Die meisten Expertinnen und Experten dürften mit
diesem Ergebnis intuitiv zufrieden gewesen sein. Das Zweisäulenmodell verspricht Klarheit und vermeidet unnötige Doppelungen.
Die erste Säule betrifft mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz
diejenigen, die bereits einen Arbeitsvertrag haben; die zweite Säule
erlaubt über die künftige Chancenkarte ergänzend die Jobsuche.
Nun könnte für Deutschland etwas mehr gotische Unübersichtlichkeit allerdings vorteilhaft sein. Dies gilt vor allem dann, wenn
das Punktesystem eine Einreise ermöglicht, ohne dass zuvor die
Berufsausbildung oder akademische Qualifikation als gleichwertig anerkannt wurde - und man sodann dauerhaft ohne Gleichwertigkeitsanerkennung in Deutschland arbeiten darf. In einem
solchen Fall wäre eine klare Säulentrennung nachteilig, weil sie
suboptimale Ergebnisse produziert.
Auf der einen Seite ist die Zuwanderung von Personen, die
über keine als gleichwertig anerkannte Ausbildung verfügen,
sozial- und standortpolitisch riskant. Die Gründe, warum das
Fachkräfteeinwanderungsgesetz am Gleichwertigkeitserfordernis
festhielt, umfassten die Sorge vor negativen Rückwirkungen auf
die hohen Qualitätsstandards von „Made in Germany". Darüber
hinaus bestand die Befürchtung, dass gerade in nicht-reglementierten Berufen, wo eine (duale) Ausbildung keine obligatorische
Zulassungsvoraussetzung darstellt, die vermehrte Anstellung von
Nicht-Fachkräften mittelbar die Lohn- und Sozialstandards herausfordert (vor allem dann, wenn nicht alle Betriebe an dieselben
tarifvertraglichen Regeln gebunden sind).
Auf der anderen Seite könnte das Punktesystem in der öffentlichen Wahrnehmung die Attraktivität der „ersten Säule" aufgrund
des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes untergraben, weil dieses
zusätzlich einen Arbeitsvertrag und vor allem eine als gleichwertig anerkannte Ausbildung voraussetzt. Warum sollte man
diese Mühen auf sich nehmen, wenn man auch ohne Gleichwertigkeitsprüfung vergleichsweise einfach zur Jobsuche einreisen
kann? Die Diskrepa11-z zwischen den moderaten Zugangszahlen
für akademische und berufliche Fachkräfte und den sehr hohen
Zugangszahlen für die Westbalkanregelung, die keine besondere
Qualifikation voraussetzt, bekräftigen die Gefahr einer Schwerpunktverschiebung hin zur Einreise von Personen ohne ein gleichwertiges Qualifikationsniveau.
Die Problemlage suboptimaler Ergebnisse könnte man durch
eine Überlappung der Säulen abmildern, ganz im Sinn des goti-
ABHANDLUi\lGEN
sehen Bündelpfeilers. Damit machte man nichts Anderes als Australien oder Kanada, deren Punktesysteme nicht zwingend einen
Arbeitsvertrag oder eine als gleichwertig anerkannte Qualifikation voraussetzen, diese jedoch im Rahmen einer Gesamtbetrachtung sehr wohl berücksichtigen. So könnte Deutschland über
die Chancenkarte künftig vor allem berufliche und akademische
Fachkräfte mit einer ganz oder teilweise als gleichwertig anerkannten Ausbildung ohne einen Arbeitsvertrag einreisen lassen,
während alle anderen die notwendigen Mindestpunkte allenfalls
in Sonderkonstellationen auch ohne ein vorheriges Jobangebot
erreichen können. Ein solches Punktesystem hätte gleichsam die
Säulen des Kölner Doms zum Vorbild.
9. Fazit: Komplexität als Chance
Mathematische Formeln liefern präzise Ergebnisse, stellen bisweilen jedoch erhöhte Anforderungen an die Redaktion der zugrundeliegenden Gleichungen mit ihren verschiedenen Variablen,
die im schulischen Algebra-Unterricht viel gedankliche Energie
absorbieren. Nicht anders ist es mit der Gestaltung einer „Chancenkarte auf Basis eines Punktesystems" in der aktuellen Legislaturperiode. Der vorliegende Beitrag zeigte, dass die Ausgestaltung vom Gesetzgeber bedeutsame Weichenstellungen verlangt.
Die vermutlich wichtigste Frage ist, ob im Rahmen des künftigen
Punktesystems am Gleichwertigkeitserfordernis des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes festgehalten wird oder ob man alternativ den Arbeitsmarkt weitergehend auch für Personen öffnet, die
über keine als gleichwertig anerkannte berufliche oder akademische Ausbildung verfügen.
Eine salomonische Auflösung der Argumente für und wider
das Gleichwertigkeitserfordernis bietet - nur scheinbar paradoxerweise - die Komplexität einer punktebasierten Zulassung. Der
wesentliche Mehrwert und Reiz eines Punktesystems besteht in
dessen Flexibilität: Defizite bei einzelnen Kriterien können durch
besondere Leistungen an anderer Stelle kompensiert werden. Aus
der binären Gegenüberstellung von Einreise mit oder ohne Arbeitsvertrag sowie mit oder ohne gleichwertige Qualifikation im
Sinn eines Entweder-oder wird ein Sowohl-als-auch abgestufter
Punktezuweisungen für diverse Kriterien.
Aus diesem Grund sollte der Gesetzgeber erwägen, die im Koalitionsvertrag angelegte Trennung von Fachkräfteeinwanderungsgesetz
und Chancenkarte als separate Säulen in eine abgestufte Mischlösung zu überführen, die formale Qualifikationen und Arbeitsvertrag
zu anderen Kriterien in Bezug setzt. Mit Blick auf die Qualifikationsanerkennung hatte der Sachverständigenrat für Integration
und Migration bereits 2018 einen Mittelweg in Form eines „Nimm
2+-Modells" vorgestellt, dessen Kriterien man vielfältig modifizieren kann. 33 Arbeitsverträge und {teilweise) Qualifikationsanerkennungen könnten ebenso bepunktet werden wie sonstige Indikatoren. Erst deren Kombination entschied sodann über die Zulassung.
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Der frühere§ 27 V i.d.F. G. v. 29.8.2013 (BGBI. 2013 1 3484) wurde angesichts der Neuregelung des heutigen §.4a 11 AufenthG überflüssig.
Zum architektonischen Gestaltungselement des „Bündelpfeilers" leicht
zugänglich https ://de.wiki ped ia.org/wiki/B%C3%BCndel pfeiler (letzter
Abruf: 1-4.2022).
Siehe SVR, Steuern, was zu steuern ist: Was können Einwanderungsund Integrationsgesetze leisten?, Jahresgutachten 2018, 5. 54 ff, an dem
der Autor als heutiger stellvertretender SVR-Vorsitzender mitwirkte.
ZAR 4/2022
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