Übersichtsartikel
Neuroforum 2015 · 21:12–21
DOI 10.1007/s12269-015-0003-7
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
Hubert R. Dinse · Martin Tegenthof
Neural Plasticity Lab, Institut für Neuroinformatik, Neurologische Klinik am Berufsgenossenschaftlichen
Universitätsklinikum Bergmannsheil, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
Plastizität durch sensorische
Stimulation: Lernen
und Rehabilitation
Einleitung
Die Grundlage aller Lernvorgänge sind
Veränderungen in der Kommunikation
zwischen Nervenzellen. Auf zellulärer
Ebene erfolgt der Lernprozess, indem die
Signalübermittlung an der Synapse, also
der Kontaktstelle zweier Neurone, verändert wird. Diese Modifikation in der Synapsenstärke bezeichnet man als synaptische Plastizität. Eine Reihe von Modellen
beschreibt, wie sich die synaptische Übertragung im Verlauf des Lernens nachhaltig ändert, zum Beispiel durch Langzeitpotenzierung (LTP) und Langzeitdepression (LTD). So löst hochfrequente elektrische Stimulation von Nervenzellen LTP
aus, das heißt die Kommunikation zwischen den stimulierten Zellen verstärkt
sich. Niederfrequente Stimulation verursacht hingegen LTD; die Effizienz der
Kommunikation zwischen den Zellen
nimmt ab [5]. LTD und LTP sind zwei
exemplarische Mechanismen, von denen
man annimmt, dass sie für Lernprozesse
eine Rolle spielen.
Wie aber hängt die synaptische Plastizität mit Lernvorgängen zusammen, die
für Menschen relevant sind? Spielen LTP
und LTD im Alltag überhaupt eine Rolle?
Eine Hauptschwierigkeit liegt in dem Problem, invasive „LTP“ – oder „LTD“ – Experimente beim Menschen durchzuführen. Stattdessen können im Gegensatz zu
zellulären Studien beim Menschen Änderungen der Wahrnehmung untersucht
werden. Bei perzeptuellem Lernen wird
durch Training die Wahrnehmung verbessert, allerdings ist es schwierig zu beschreiben, welche Veränderungen der afferenten Eingänge in Hinblick auf Darbie-
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Neuroforum 1 · 2015
tungsfrequenz und –häufigkeit, zeitliche
Muster, Zahl der Reize, Darbietungsdauer,
-größe, -form, oder -intensität genau für
die Verbesserungen verantwortlich sind
[7]. Daher ist es schwierig, eindeutige Beziehungen zwischen synaptischer Plastizität und systemische Lernvorgänge herzustellen.
Warum repetitive
sensorische Stimulation?
Eine vielversprechende Alternative bildet der umgekehrte Weg: Unser Wissen
über Neuroplastizität zum Design spezifischer Stimulationsprotokolle zu nutzen,
die es dann erlauben, beim Menschen gezielt Wahrnehmung und Verhalten zu
verändern. Die Idee ist also, die zeitliche
Struktur synaptischer Plastizitätsprotokolle in sensorische Stimulationsprotokolle zu übersetzen. Dieser Ansatz bietet
vollständige Kontrolle über die zeitliche
und raumzeitliche Konfiguration sensorischer Reize und damit über die Wirksamkeit dieser Parameter zur Auslösung
menschlicher Wahrnehmungs- und Verhaltensänderungen (. Abb. 1). Er bietet damit nicht nur die Möglichkeit der
Überprüfung der verhaltensmäßigen Relevanz synaptischer Plastizitätsprotokolle beim Menschen, sondern darüber hinaus Möglichkeiten, Zeitstrukturen und
zeitliche Abfolgen auf ihre Relevanz und
ihr Potenzial zur Veränderung menschlicher Wahrnehmung hin zu überprüfen,
die bisher in synaptischer Plastizitätsforschung nicht berücksichtigt worden sind
[1, 4]. Ein weiterer Vorteil liegt aufgrund
des „passiven“ Charakters der Stimulation
in der nahezu vollständigen Übersetzbar-
keit der Versuchsanordnung in Tierversuche. Dies ermöglicht weiterführende
pharmakologische und molekularbiologische Untersuchungen, um die Mechanismen dieses Ansatzes zu untersuchen.
Terminologie
Das Konzept sensorischer Stimulation
zur Auslösung von Lernprozessen wird
von verschiedenen Labors untersucht,
die unterschiedliche Begriffe nutzen wie
beispielsweise „peripheral nerve stimulation“, „somatosensory stimulation“, „unattended-based learning“, „repetitive sensory stimulation“ oder„high-frequency
stimulation“. Das Prinzip der „co-activation“ unterstreicht die Bedeutung des
Hebb’schen Lernens, wonach im Gehirn
synchrone neuronale Aktivität eine wichtige Voraussetzung zur Auslösung plastischer Veränderungen ist. Manche Labore
nutzen „stimulus-selective response plasticity“ oder „tetanic stimulation“ in Anlehnung an das Konzept der tetanischen
Stimulation im Rahmen synaptischer
Plastizitätsuntersuchungen [2]. „Exposure-based learning“ soll deutlich zu machen, dass die bloße Darbietung von Reizen ausreicht, um Verhaltensänderungen
zu induzieren. Als Vorschlag zur Vereinheitlichung wurde kürzlich der Begriff
des „training-independent sensory learning“ eingeführt, der hier im Folgenden
als TISL Verwendung findet [1]. Der häufig verwendete Begriff„passive Stimulation“ oder „passives Lernen“ soll deutlich
machen, dass zeitlich strukturierte sensorischer Reize verwendet werden, ohne
diese aktiv zu beachten oder beachten zu
müssen.
Veränderung der taktilen
und sensomotorischen
Wahrnehmung
Der Tastsinn umfasst unterschiedliche
Qualitäten. Unter praktischen Gesichtspunkten heißt das, die Leistungen und
Funktionen des Tastsinns auf messbare Variablen zu reduzieren. Es erscheint
sinnvoll, von einer Hierarchie von Aufgaben und Anforderungen auszugehen, die
sich hinsichtlich der Beteiligung von Propriozeption, Motorik und kognitiver Anforderungen unterscheiden. Als sog. Nahsinn erfordert der Tastsinn den direkten
Kontakt zwischen Sensor (Haut) und Reiz.
Während bei der Untersuchung des visuellen Systems auf einem Bildschirm beliebige Reize einfach dargestellt und variiert
werden können, ist zur Charakterisierung
des Tastsinns stattdessen eine Batterie von
mechanischen Devices erforderlich, die
per Hand oder automatisiert in Kontakt
mit der Haut gebracht werden. Auf diese
Weise kann die Tastschärfe – analog zur
Sehschärfe – als räumliche Diskrimina-
tionsschwelle bestimmt werden. Die Tastschärfe beschreibt also, wie gut ein Proband zwei dicht beieinander liegende taktile Reize als zwei getrennte wahrnehmen
kann.
Ein typisches Experiment besteht aus
mehreren Komponenten. Als erstes wird
die Ausgangsleistung der perzeptuellen
und/oder sensomotorischen Fähigkeiten
sowie kortikale Parameter gemessen (PräBedingung). Danach erfolgt passive Stimulation (training independent learning
– TISL), gefolgt von einer zweiten Untersuchung (Wiederholung der ersten Messungen), die der Quantifizierung der Effizienz der stimulations-induzierten Veränderungen dient (post-Bedingung). Zusätzliche Folgetests liefern Informationen
über Stabilität und Dauer der induzierten
Änderungen (recovery-Bedingung, follow-up).
Abhängig von der Fragestellung können entweder einzelne Finger oder alle
Finger einer Hand stimuliert werden. Zur
Applikation taktiler Stimulation werden
kleine, mechanische Aktuatoren an der
Fingerspitze befestigt. Zur Applikation
elektrischer Stimulation werden mithilfe eines Stimulators die Pulsfolgen über
Oberflächenelektroden auf die Fingersegmente übertragen (Kathode proximal).
Die typischen Auswirkungen von
TISL auf die taktile Diskriminationsfähigkeit sind in . Abb. 2 dargestellt. In
diesem Versuch wurden die Fingerkuppen der rechten Zeigefinger der Versuchsteilnehmer mithilfe einfacher beweglicher Membranen kutan, also mechanisch mit kurzen Pulsen, stimuliert.
Alle Versuchspersonen (VP) zeigen über
mehrere Messzeitpunkte eine stabile Performanz. Nach TISL sind die Diskriminationsschwellen deutlich erniedrigt, die
VP können also enger nebeneinanderliegende Punkte noch getrennt wahrnehmen. Eine weitere Messung nach
24 Stunden zeigt eine Erholung auf die
initiale Diskriminationsfähigkeit. Damit konnte das erste Mal gezeigt werden, dass es möglich ist, eine Verbesserung des menschlichen Tastsinnes alleine
durch einige Stunden passiver, aber zeit-
Zusammenfassung · Abstract
lich strukturierter Stimulation auszulösen. Im oben beschriebenen Versuch veränderte sich die Diskriminationsschwelle
um 15 % – ist das viel oder wenig? Zum
Vergleich: Es ist bekannt, dass Blinde
oder Musiker einen wesentlich besseren
Tastsinn haben als Sehende bzw. NichtMusiker, der Unterschied in der Diskriminationsschwelle beträgt in diesem Fall
bis zu 20 %. TISL-Protokolle bewirken also höchst relevante Änderungen der taktilen Wahrnehmung in nur kurzer Zeit.
Veränderung der neuronalen
Verarbeitung
Was passiert nun während und nach TISL
im Gehirn? Können beim Menschen die
neuronalen Signaturen der ausgelösten
Verhaltensveränderungen gemessen werden? Diese Fragen wurden unter Verwendung nicht-invasiver Methoden wie Kernspintomografie und EEG-Ableitungen
untersucht. Ein wichtiger Parameter zur
Charakterisierung neuronaler Verarbeitung mittels nicht-invasiver Verfahren ist
die Größe und Ausdehnung der kortikalen Aktivierung, was auch als Veränderung kortikaler Karten interpretiert wird.
Verbesserte sich durch TISL der Tastsinn
der Finger, waren in den somatosensorischen Cortices die Hirngebiete, die taktile Informationen im Finger/Handbereich
verarbeiten, vergrößert (. Abb. 3). Dies
deutet darauf hin, dass zusätzliche Ressourcen rekrutiert wurden, um die Signale aus dem Handbereich effektiver zu verarbeiten. Wenn dies stimmt, sollten die
Modifikation der Hirnkarten kausal mit
der veränderten Diskriminationsfähigkeit zusammenhängen. Tatsächlich zeigen
Probanden, bei denen sich diese Fähigkeit
nur gering verbessert, auch nur eine geringe Veränderung der Hirnkarten. Umgekehrt findet bei den Teilnehmern, bei
denen sich die Hirnkarten am stärksten
verändern, auch die größte Verbesserung
des Tastsinns statt [6].
Seit einiger Zeit steht die Untersuchung exzitatorischer und inhibitorischer Effekte auf kortikale Erregbarkeit
mittels Doppelpuls-Stimulations-Techniken im Mittelpunkt vieler Studien. Das
Doppelpulsverhalten (paired pulse behavior) ist dadurch gekennzeichnet, dass
bei kurzen Interstimulusintervallen bei
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Neuroforum 2015 · 21:12–21 DOI 10.1007/s12269-015-0003-7
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H.R. Dinse · M. Tegenthof
Plastizität durch sensorische Stimulation:
Lernen und Rehabilitation
Zusammenfassung
Der Königsweg zur Verbesserung sensorischer, motorischer oder kognitiver Leistungen besteht in lang andauerndem Training
und Übung. Neuere Studien zeigen jedoch,
dass vergleichbare Leistungsverbesserungen auch ohne Training durch reine passive
Darbietung sensorischer Reize erzielt werden
können. Solches „trainingsunabhängiges Lernen“, das vor allem im somatosensorischen
System ausführlich untersucht worden ist,
löst nachhaltige Veränderungen der Wahrnehmung und der neuronalen Verarbeitung
aus. Die Wirksamkeit dieses Ansatzes beruht
wahrscheinlich darauf, dass die verwendeten
Stimulationsprotokolle nahezu optimal zur
Auslösung synaptischer Plastizität sind. Auf
diese Weise eröffnen sich neue Wege für die
Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Lernprozessen beim Menschen und zugrunde liegenden zellulären und molekularen Mechanismen sowie neue Ansätze für Intervention und Therapie.
Schlüsselwörter
Plastizität · Somatosensorik · Perzeptuelles
Lernen · Therapie und Intervention · Altern
Evoking plasticity through sensory stimulation:
implications for learning and rehabilitation
Abstract
The gold standard for improving sensory,
motor and or cognitive abilities is long-term
training and practicing. Recent work, however, suggests that intensive training may not
be necessary. Improved performance can be
effective acquired by a complementary approach in which the learning occurs in response to mere exposure to repetitive sensory stimulation. Such training-independent
sensory learning, which has been intensively
studied in the somatosensory system, induces in humans lasting changes in perception
and neural processing, without any explicit
task training. It has been suggested that the
gleicher Reizstärke die zweite Reizantwort signifikant kleiner ist als die erste.
Nach TISL war die Doppelpuls-Suppression abgeschwächt, wobei der Grad der
Suppression positiv mit dem individuellen Zuwachs der Wahrnehmungsleistung
korreliert.
Ein umfassendes Bild neuronaler Plastizität verlangt neben der Betrachtung der
lokalen Verarbeitungseigenschaften auch
Analyse der Reorganisation globaler Prozesse, wie dies beispielsweise durch Konnektivitätsanalysen auf der Basis von MR
– oder EEG – Signalen möglich ist. Untersuchungen der sog. funktionellen Konnektivität spontaner mü-Rhythmen des
sensomotorischen Systems zeigten, dass
es nach TISL zu einer Erhöhung der Kon-
effectiveness of this form of learning stems
from the fact that the stimulation protocols
used are optimized to alter synaptic transmission and efficacy. Training-independent sensory learning provides novel ways to investigate in humans the relation between learning processes and underlying cellular and
molecular mechanisms, and to explore alternative strategies for intervention and therapy.
Keywords
Plasticity · Somatosensory systems ·
Perceptual learning · Therapy and
intervention · Aging
nektivität zwischen sensorischen und motorischen Arealen kommt.
Diese Befunde zeigen einerseits, dass
TISL zu selektiver Reorganisation in somatosensorischen Arealen der Hirnrinde führt, wobei das Ausmaß der Reorganisation von Individuen, die nur wenig
durch TISL profitieren, auch gering war
und umgekehrt. Dass sich der Lernerfolg
verschiedener Personen unterscheidet,
ist eine typische Beobachtung. Interessant ist dabei, dass diese Unterschiede auf
tatsächlichen Unterschieden in der individuellen Hirn-Reorganisation beruhen
(siehe dazu auch „Prädiktion des Lernerfolgs“).
Darüber hinaus wird deutlich, dass
nicht einzelne Parameter, sondern die Gesamtheit der sensomotorischen neurona-
Taktile Diskriminationsschwelle [mm]
Abb. 1 8 Wirkungsschema des „training-independent sensory learnings“. Sensorische Stimulation der
Finger löst eine Kaskade von funktionellen Veränderungen des somatosensorischen Systems aus. Im Mittelpunkt steht dabei die Annahme, dass die Art der sensorischen Stimulation plastische Prozesse induziert, die ihrerseits zu Verhaltensänderungen führen. 1) Somatosensorischer Kortex (SI), 2) Fingerrepräsentation in SI, 3) Thalamus, 4) Hirnstamm, 5) Rückenmark, 6) Mechanorezeptoren der Finger
2.5
2.0
1.5
1.0
0.5
0.0
pre
-96h
repetitive stimulation
(co-activation)
pre
-72h
pre
-48h
pre
-24h
pre
post
post
+24h
post
+48h
Abb. 2 8 Auswirkungen der Koaktivierung, eine Form des TISL, auf die taktile Diskriminationsfähigkeit. Jede Linie zeigt die Diskriminationsschwellen einer Versuchsperson (VP) über die Messzeitpunkte.
Nach der Koaktivierung sind die Diskriminationsschwellen um etwa 15 % niedriger. Weitere Messungen nach 24 h zeigen eine Erholung auf die initiale Diskriminationsfähigkeit. (Reprinted with Permission from: Godde et al. (1996) Neuroreport 8, 281–285)
len Verarbeitung durch TISL nachhaltig verändert wird. Davon betroffen sind
Größe und Stärke der Aktivierung, das
Ausmaß der intrakortikalen Inhibition
und funktionelle Konnektivität. Es erscheint plausibel, dass diese Signaturen
die Grundlage der vielfältigen Verhaltensänderungen bildet.
Pharmakologische Grundlagen
Zelluläre Plastizitätsstudien legen nahe,
dass nur wenige fundamentale Mechanismen die synaptische Übertragung kontrollieren. So spielt der N-methyl-D-aspartat (NMDA) – Rezeptor eine zentrale Rolle bei der Regulation synaptischer Plastizität. Um zu zeigen, dass auch TISL sol-
chen plastizitätsvermittelnden Mechanismen unterliegt, wurde die Abhängigkeit
der Wirksamkeit der TISL von NMDARezeptoren untersucht. Dazu erhielten
Versuchspersonen eine einmalige Gabe
von Memantin, einer Substanz, die selektiv NMDA- Rezeptoren blockiert. In dieser plazebo-kontrollierten Studie zeigte
sich, dass Memantin den Lernerfolg nach
TISL vollständig blockierte, sowohl auf
perzeptueller als auch auf kortikaler Ebene (. Abb. 4, [3]).
Ein weiterer zentraler „Player“ ist GABA. GABA spielt eine wichtige Rolle in
der Aufrechterhaltung der Balance zwischen Erregung und Inhibition und ist
dadurch bei allen Verarbeitungsprozessen als auch bei deren Änderungen aufgrund von Lernen beteiligt. Beim Menschen kann die Rolle von GABA durch
Applikation von Medikamenten erfolgen,
die GABA-Agonisten enthalten. Nach
Gabe einer Einzeldosis eines solchen Medikaments (Lorazepam) vor TISL wird
der typischerweise auftretende Lernerfolg
in Form einer Verbesserung der Tastleistung vollständig blockiert. Diese Untersuchungen unterstützen die Annahme,
dass TISL synaptische Plastizität auslöst,
die durch glutamaterge und GABAerge
Rezeptoren kontrolliert wird.
Im Gegensatz zu Ansätzen, plastische
Prozesse pharmakologisch zu blockieren, gibt es wenige Möglichkeiten, kortikale Plastizität pharmakologisch zu verstärken. So wird beispielsweise die Auslösung von LTP durch adrenerge Substanzen moduliert. Aus diesem Grund wurden einmalige Gaben von Amphetamin
genutzt, um Lernprozesse beim Menschen, die durch TISL-Protokolle hervorgerufen wurden, zu verstärken. Es zeigt
sich, dass nach Amphetamingabe die typischen Veränderungen der taktile Wahrnehmung als auch der kortikalen Reorganisation nahezu verdoppelt waren [3].
Diese Befunde zeigen, dass die Prozesse,
die TISL zugrunde liegen, durch neuromodulatorische Systeme weiter verstärkt
werden können (. Abb. 4).
Bidirektionale Veränderungen
sind frequenzabhängig
Um die Relevanz von LTP – und LTD –
Mechanismen für VerhaltensänderunNeuroforum 1 · 2015
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Abb. 3 8 Auswirkung der Koaktivierung auf Diskriminationsfähigkeit und kortikale Reorganisation. a BOLD -Signale einer VP
gemessen prä, post und 24 h nach Koaktivierung im kontralateralen postzentralen Gyrus (SI) und im kontralateralen parietalen Operkulum (SII), projiziert auf axiale (links), saggitale (Mitte) und koronare (rechts) T1-gewichtete und normalisierte MR
-Schnitte nach Stimulation des rechten Zeigefingers. Der Vergleich der prä- und post- Aktivierungen zeigt erhöhte BOLD -Signale in SI und SII kontralateral zur stimulierten Hand, die nach 24 h auf den Ausgangswert zurückgehen. b Psychometrische
Kurven, die die veränderte Diskriminationsfähigkeit nach repetitiver sensorischer Stimulation für die in (a) gezeigte VP illustrieren (prä – oben, post – Mitte, nach 24 h – unten). Dargestellt sind richtige Antworten in Prozent (rote Quadrate) als Funktion
der räumlichen Abstände sowie logistische Anpassungskurven (blaue Rauten). Eingezeichnet ist das Niveau für 50 % korrekte Antworten sowie die individuell resultierenden Schwellenwerte. c Zusammenhang zwischen Veränderungen des BOLD -Signals und stimulationsinduzierter Verbesserung der Diskriminationsfähigkeit. SPM -Korrelationsanalysen zeigen signifikante Korrelationen für SI im postzentralen Gyrus (siehe auch Ausschnittsvergrößerung), aber nicht für SII. d Lineare (Pearson)
Korrelationsanalyse zwischen individuellen perzeptuellen und kortikalen Änderungen in SI. Die Anzahl aktivierter Voxel (K =
((rightpost – rightpre) – (leftpost – leftpre))) zeigen einen signifikanten Zusammenhang mit den Änderungen der prä-post
Änderungen der Diskriminierungsschwellen (r = 0,744; p = 0,002). (Reprinted with Permission from: Pleger et al. [6] Neuron 40:
643–653)
gen beim Menschen zu untersuchen,
wurden diese in taktile hoch- oder niedrigfrequente Reizfolgen (tHFS und tLFS)
übersetzt. Diese wurden dann als taktile
oder elektrische Pulsfolgen auf die Finger übertragen, um Veränderungen der
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taktilen Wahrnehmung auszulösen. tHFS
bestand aus kurzen Pulsfolgen von jeweils 1 s Dauer, in denen die Einzelpulse
mit 20 Hz appliziert wurden, das Intervall
zwischen den Pulsfolgen betrug 5 s, tLFS
bestand aus einer Serie von Einzelpul-
sen, die mit 1 Hz appliziert wurden. Beide Protokolle wurden jeweils für 20 min
appliziert.
Bereits 20 min nach einer hochfrequenten Stimulation waren die Diskriminationsschwellen signifikant ernied-
Abb. 4 8 Pharmakologische Beeinflussung von stimulationsinduzierten neuronalen Veränderungen durch Memantin
(NMDA-Blocker) und Amphetamin. a Pharmakologische Modulationen der Veränderungen der Diskriminierungsleistung
nach repetitiver Stimulation des rechten Zeigefingers (Mittelwerte und mittlerer Fehler). Pfeile zeigen Zeitpunkt der Stimulation. Während Memantingabe die lern-bedingten Verbesserung blockiert, verdoppelt Amphetamingabe die unter Placebo beobachteten Verbesserungen. Die unveränderten Schwellen der nicht-stimulierten linken Hand deuten darauf, dass die
applizierten Substanzen für sich keine Auswirkungen auf die Diskriminierungsleistungen hatten und keine unspezifischen
Nebeneffekte bewirkten. b Ergebnisse der elektrischen Quellenlokalisation des stimulierten rechten (obere Reihe) und nichtstimulierten linken (untere Reihe) Zeigefingers. Projektionen von „single equivalent N20-dipoles“ auf individuell rekonstruierte 3-d MR -Datensätze. Unter Placebobedingungen zeigt sich eine Verschiebung der Quelle in inferior-lateraler Richtung des
postzentralen Gyrus, was zusammen mit der Erhöhung der Dipolstärke als Vergrößerung der Fingerrepräsentation interpretiert werden kann. Nach Memantingabe ist die Dipolposition unverändert, während sie nach Amphetamingabe im Vergleich
zu Placebogruppe nahezu verdoppelt ist. Auf der nicht-stimulierten Hemisphäre sind keine vergleichbaren Effekte zu beobachten. (Reprinted with permission from: Dinse et al. [3] Science 301: 91–94)
rigt. Umgekehrt führte tLFS im gleichen
Zeitraum zu einer Beeinträchtigung der
Diskriminationsfähigkeit. Um zu zeigen,
dass diese „LTP- und LTD-artigen“ taktilen Stimulationsprotokolle auch die kortikale Verarbeitung systematisch in reziproker Weise verändern, wurden SEP –
Ableitungen nach Doppelpuls-Stimula-
tion des N. Medianus vor und nach tHFS
und tLFS kombiniert. Dabei zeigten sich
ebenfalls bi-direktionale Veränderungen der kortikalen Erregbarkeit. So führte tHFS zu verringerter und tLFS zu verstärkter Doppelpuls-Suppression. Diese
Ergebnisse zeigen, dass die kurze Applikation (< 30 min) von Stimulationspro-
tokollen, die denen der zellulär verwendeten LTP – und LTD – Studien analog
sind, verhaltensrelevante und dauerhafte, frequenzabhängige und bidirektionale Veränderungen der menschlichen
Wahrnehmung und kortikalen Erregbarkeit hervorruft.
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Übersichtsartikel
Unabhängig von
Aufmerksamkeit
Trainingsbasiertes Lernen hängt entscheidend von Aufmerksamkeit und Motivation der Teilnehmer ab. Stimmt die
Ausgangshypothese für TISL, wonach
diese direkt synaptische Plastizität auslöst, sollten Faktoren wie Aufmerksamkeit eine untergeordnete Rolle spielen. In
einer Versuchsserie wurden VP aufgefordert, die Anzahl der Stimulusereignisse zu
zählen und damit den stimulierten Finger
mit Aufmerksamkeit zu belegen, während
zwei andere Gruppen in ihrer Aufmerksamkeit von der Stimulation durch Beobachtung akustischer Ereignisse oder eine
anspruchsvolle Kopfrechenaufgabe abgelenkt wurden. In allen drei Gruppen war
der Lernerfolg vergleichbar hoch, was darauf hindeutet, dass Aufmerksamkeit bei
TISL keine Rolle zu spielen scheint. Diese Beobachtungen bestätigen noch einmal die spezifischen Eigenschaften, die
TISL zugrunde liegen. Insbesondere die
Unabhängigkeit von Aufmerksamkeitsfaktoren macht den Ansatz der TISL für
mögliche Interventionen interessant (siehe Abschnitt „Therapie“).
Kann der Lernerfolg
vorhergesagt werden?
Es ist eine alltägliche Erfahrung, dass
nicht jeder gleich gut lernt. Dies gilt genauso im Bereich des perzeptuellen Lernens: Es gibt gute und schlechte Lerner,
warum das so ist, ist weitgehend unklar.
Schlechtes Lernen kann viele Ursachen
haben: Beeinträchtigungen der Sensorik,
sodass bereits beim Aufnehmen des Lernstoffs Probleme entstehen oder mangelnde Aufmerksamkeit. Es können aber auch
Defizite plastischer Mechanismen vorliegen. Ein Beispiel dafür ist der BDNF –
Polymorphismus.
Da TISL aufmerksamkeitsunabhängig funktioniert, ist es ideal zur Untersuchung von Lernvariabilität geeignet, da
dadurch Aufmerksamkeitsaspekte von
vornherein ausgeschlossen werden können. In einer EEG – Studie konnte kürzlich gezeigt werden, dass Gehirnrhythmen des sensomotorischen Kortex (müRhythmus) im alpha – Bereich, also etwa 10 Hz, ebenfalls einen wichtigen Prä-
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diktor für den Lernerfolg darstellen. Dabei scheinen zwei unabhängige Prozesse
eine Rolle zu spielen, die zusammen etwa
Zweidrittel des induzierten Lernerfolgs
vorhersagen. Hoher Lernerfolg war dann
gegeben, wenn 1). die Baseline-Power
des SI Alpha vor Beginn der Stimulation
möglichst hoch war, und 2). die während
der Stimulation einsetzende Desynchronisation (event-related desynchronisation) möglichst stark war. Demnach spielt
auch der „state“ der Gehirnaktivität vor
und während der Stimulation eine wichtige Rolle, die über den anschließenden
Lernerfolg entscheidet. Eine offene Frage ist, in wie weit dieser „state“ eines hohen oder niedrigen Baseline-Alphas eine
Momentaufnahme oder ein „fingerprint“
eines Individuums darstellt. Aus praktischer Sicht ergibt sich die Möglichkeit,
durch gezielte Veränderung des BaselineAlphas den Lernerfolg zu manipulieren,
etwa durch Neurofeedback Methoden.
Lerntransfer Hand-Gesicht
Taktile Sinneseindrücke von benachbarten Hautbereichen werden im Gehirn ebenfalls in benachbarten Gebieten verarbeitet. So entsteht im menschlichen Gehirn eine vollständige Abbildung
des menschlichen Körpers, der „Homunkulus“. Eine Ausnahme dieser Nachbarschaftsregel ist die Grenze zwischen Fingern und Gesicht, die im Homunculus
direkt nebeneinander repräsentiert sind,
obwohl sie im Körper weit voneinander
entfernt liegen. Bei Verlust eines Armes
werden die Nervenzellen der betroffenen
Armrepräsentation nicht arbeitslos, sondern übernehmen Funktionen der Verarbeitung von Tastinformation der benachbarten Gesichtsrepräsentation. Dieses vielfach gezeigte Phänomen ist die
Ursache von Phantomsensationen. Erklärt wird dieses Phänomen durch ein
Modell, bei dem Nervenzellen kompetitiv um afferenten Input wetteifern.
Offen war die Frage, ob solche „crossborder“ Plastizitätseffekte nicht nur bei
Wegnahme von afferentem Input wirksam werden, sondern auch bei Verstärkung des Inputs, wie es nach Lernprozessen der Fall ist. Um mögliche Transfereffekte nach TISL zu untersuchen, wurde
zunächst der Zeigefinger mit einem plas-
tizitätsauslösenden Protokoll stimuliert,
wodurch die Tastleistung des stimulierten Fingers verbessert wurde. Interessanterweise transferierten die Verbesserungen der Tastschärfe auf die Lippen und
die rechte Wange.
Diese Befunde zeigen, „Cross Border“Transfer auch ohne Beeinträchtigung afferenter Eingänge eintreten kann, nämlich, wenn Nervenzellen in einem Bereich
verstärkt stimuliert werden. Dabei scheinen physische Gegebenheiten wie die
Entfernung zwischen Hand und Gesicht
irrelevant zu sein, entscheidend ist vielmehr die kortikale Nachbarschaft. Weitere Experimente müssen zeigen, ob dieser Transfer als neuartige Interventionsmaßnahme genutzt werden kann, beispielsweise zur Therapie der Gesichtsregion nach Schlaganfall mittels Fingerstimulation.
Generalisierung der
TISL – Effekte
Das Training einer bestimmten Aufgabe verbessert diese, allerdings sind solche
Verbesserungen immer spezifisch für die
trainierte Aufgabe. Vor dem Hintergrund
möglicher potenzieller Einsätze als Intervention wird gegenwärtig untersucht, diese oft als „Fluch der Spezifität“ bezeichnete Eigenheit zu überwinden, damit wie
auch immer geartete Trainingsergebnisse auf breite Bereiche generalisieren, insbesondere weg von Laborbedingungen zu
Alltagssituationen.
Ein zentraler Aspekt von TISL besteht
darin, dass Verbesserungen des Verhaltens und der Wahrnehmung nicht durch
Training einer bestimmten Aufgabe erzeugt werden, sondern durch die gezielte Modifikation synaptischer Übertragung in neuronalen Netzwerken. Vor
diesem Hintergrund wurde die Hypothese aufgestellt, dass passive Stimulation alle neuronalen Prozesse umgestaltet, die
mit taktiler, haptischer und sensomotorischer Informationsverarbeitung zu tun
haben. Eine sich direkt daraus ergebende Vorhersage ist die, dass TISL nicht nur
die taktile Diskriminationsfähigkeit verändert, die in vielen Studien verwendet
wird. In einer Serie von Untersuchungen wurden daher weitere taktile, haptische und sensomotorische Fähigkei-
3
2
1
0
0
10 20 30 40 50 60 70 80 90
Alter [Jahre]
0.0
Schwellenänderung (mm)
4
Schwellenänderung post-prä (mm)
Diskriminationsschwelle (mm)
a
5
-0.1
-0.2
-0.3
jung
-0.4
-0.5
-0.6
alt
b
1.5
1.2
0.9
0.6
p<0.0005
r = 0.659
0.3
0.0
2
5
3
4
Prä – Diskriminationsschwelle (mm)
c
Abb. 5 8 Auswirkungen der repetitiver Stimulation auf altersbedingte Verschlechterungen der Diskriminationsfähigkeit alter
Menschen. a Taktile räumliche Diskriminationsschwellen als Funktion des Alters (n = 120). Nach repetitiver Stimulation (violette Symbole) waren die Schwellen sowohl in jungen als auch in älteren VP erniedrigt. Dadurch erreichen die Diskriminationsschwellen in der Gruppe der 65- bis 90- jährigen die Werte, die typischer Weise in der Gruppe der 50-jährigen zu finden sind.
b Vergleich der stimulationsinduzierten Verbesserung in der Gruppe der jungen und der älteren VP (mittlere Differenzen postprä ± mittlerer Fehler). Die Verbesserungen sind in der Gruppe der älteren Teilnehmer deutlich größer. c Zusammenhang zwischen den Schwellenwerten unter prä-Bedingungen und der stimulationsbedingten Verbesserung (post-prä). Die lineare Korrelationsanalyse (Pearson) zeigt, dass die Teilnehmer mit der schlechtesten Ausgangslage am meisten von der Stimulation
profitierten. (Reprinted with Permission from: Dinse et al. (2006) Ann Neurol 60: 88–94)
ten auf ihre Veränderbarkeit durch TISL
getestet, die die Ausgangshypothese bestätigten. So verbesserten sich die taktile
Diskriminationsfähigkeit, die Frequenzdiskrimination, Punkt-Muster-Diskrimination, haptische Objektwahrnehmung,
Reaktionszeiten bis hin zu sensomotorischem Verhalten wie beispielsweise Fingergeschicklichkeit [4]. Diese breite Generalisierung positiver Effekte macht den
Einsatz von TISL – Protokollen naturgemäß besonders geeignet für Therapie und
Intervention nach Hirnschädigungen.
Anderen Sinnesmodalitäten:
Sehen und Hören
Wenn die Grundannahme stimmt, dass
TISL unter Nutzung geeigneter zeitlicher
Stimulationsprotokolle direkt synaptische
Plastizitätsprozesse auslöst, sollte dies unabhängig vom taktilen System auch für
andere Sinnesmodalitäten gelten. Neuere Studien im visuellen System haben gezeigt, dass TISL auf der Basis analoger
LTP -und LTD-artiger Darbietung visueller Reize den im Tastsinn beschriebenen Befunden vergleichbare Verbesserungen der visuellen Wahrnehmung auslösen [1, 2]. Vergleichbare Effekte konnten im Hörsystem gezeigt werden, was darauf hindeutet, dass TISL eine universell,
von der spezifischen Sinnesmodalität unabhängige Interventionsform darstellt.
Wirksamkeit von TISL bei
älteren Menschen
Ein erster Schritt in die Richtung, TISL als
Intervention zur Verbesserung sensomotorischer Leistungen einzusetzen, waren
Untersuchungen an älteren Menschen mit
dem Ziel der Reduktion altersbedingter
Beeinträchtigungen. Grundsätzlich verschlechtern sich im Alter alle an der Wahrnehmung beteiligten Prozesse. Brillen und
Hörgeräte sind übliche Hilfsmittel; etwas
Vergleichbares für den Tastsinn gibt es
jedoch nicht. Stattdessen verschlechtert
sich dieser über die Lebenspanne dramatisch und nahezu unbemerkt. Die Folge ist,
dass der Tastsinn und seine zentrale Rolle für das Alltagsleben massiv unterschätzt
werden. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in den Industrienationen gibt es zurzeit große Anstrengungen,
einen unabhängigen Lebensstil bis ins hohe Alter zu gewährleisten. Es herrscht Einigkeit darüber, dass ein aktiver Lebensstil, körperliche und geistige Fitness zusammen mit reichhaltigen sensorischen
Anreizen eine Grundvoraussetzung für
gesundes Altern bilden, weil sie neuroplastische Prozesse fördern.
Um die Wirksamkeit bei älteren Menschen zu testen, wurde TISL in einer
Gruppe von 65- bis 89-Jährigen als neuartige Form der Intervention eingesetzt,
und die Ergebnisse, mit denen jüngerer
Teilnehmern zwischen 45 und 60 Jahren verglichen. Vor der Stimulation war
die Diskriminationsleistung des Tastsinns der Finger bei Teilnehmern über
60 deutlich schlechter als die bei Teilnehmern unter 60 Jahren. Nach TISL verschwand der Unterschied: Die Leistung
der älteren Versuchsteilnehmer erreichte
die durchschnittliche Leistung der jüngeren (. Abb. 5). Interessanterweise zeigten
sich bei den Teilnehmern mit besonders
schlechten Diskriminationsleistungen
die stärksten Verbesserungen nach TISL,
während Teilnehmer mit vergleichsweise geringen altersbedingten Verschlechterungen auch nur mäßige Veränderungen
aufwiesen. Dies deutet darauf hin, dass
ältere Individuen mit starken Störungen der taktilen Wahrnehmung am meisten von TISL profitieren. Die Arbeiten
mit älteren Menschen zeigen, dass trotz
der Akkumulation degenerativer Prozesse die typische Abnahme der taktilen und
sensomotorischen Leistung nicht unvermeidlich und unumkehrbar ist, sondern
durch TISL -Protokolle behandelbar ist.
TISL als Interventionstherapie nach Schlaganfall
Nach einem Schlaganfall können massive sensomotorische Beeinträchtigungen
auftreten, die trotz vorhandener rehabilitativer Behandlungen weitreichende physische, psychologische, finanzielle und soziale Auswirkungen haben. Der Verlust
sensorischer Fähigkeiten verstärkt die
Komplikationen, trotz möglicher ErhoNeuroforum 1 · 2015
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Übersichtsartikel
Aufmerksamkeit
Belohnung
Wirksamkeit
verstärkte Reizantwort,
die Lernen induziert
optimierter *
Reiz
Lernschwelle
einfacher
sensorischer
Reiz
Reizantwort
Reizdarbietung
Zeit
* optimiert = # Reize, Frequenz, Zeitstruktur, raum-zeitliche Muster
Abb. 6 8 Schematisches Modell der Faktoren, die Lernprozesse begünstigen. Sensorische Stimulation führt dann zu Lernvorgängen, wenn die vom Input ausgelösten Antworten eine „Lernschwelle“
überschreiten. Antworten, die durch normale Inputs erzeugt werden, sind zunächst nicht in der Lage,
Lernen auszulösen. Faktoren, die Inputs „optimieren“ und dafür sorgen, dass Lernvorgänge ausgelöst
werden, sind Aufmerksamkeit und Belohnung, die bei trainingsbasiertem Lernen eine zentrale Rolle spielen. Darüber hinaus können alle Faktoren, die die zeitliche Struktur des Inputs betreffen, Inputs
optimieren, was beispielsweise für hochfrequente und/oder burst-artige Inputfolgen gilt. (Reprinted
with Permission from: Seitz and Dinse (2007) Curr Op Neurobiol 17: 1–6)
lung motorischer Funktionen, die Hand
für allgemeine Alltagstätigkeiten zu nutzen. Alle auf neuroplastischen Prinzipien
basierende Rehabilitationsmaßnahmen
nutzen aufgabenspezifisches Training in
Verbindung mit erheblichem Übungsaufwand, um Plastizitätsprozesse auszulösen
und damit sensomotorische Funktionen
zu verbessern, trotzdem bleibt ein hoher
Prozentsatz dauerhaft beeinträchtigt. Aus
diesem Grund ist die Entwicklung zusätzlicher beziehungsweise alternativer Ansätze notwendig, die konventionelle Trainingsprozeduren ergänzen, verstärken
oder sogar ersetzen können, um Behandlungen auch über längere Zeiträume sowohl unter Aufwands- als auch Kostenaspekten praktikabel machen.
In Kooperation mit verschiedenen Rehabilitationskliniken wurde die Machbarkeit und Effektivität von TISL als Intervention sowohl an subakuten als auch
an chronischem Schlaganfallpatienten
unter Langzeitbedingungen untersucht,
um taktile, haptische und sensomotorische Leistungsfähigkeit der oberen Extremität zu verbessern. Dabei sollen durch
die Stimulation plastische Prozesse in der
unmittelbaren und weiteren Umgebung
der vom Schlaganfall betroffenen Hirnbereiche ausgelöst werden, um dadurch die
Funktionsrestauration zu beschleunigen
und in nicht direkt betroffenen Gebieten
Kompensationsprozesse zu unterstützen
und zu verstärken [4].
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Zur Stimulation kamen intermittierende hochfrequente elektrische Pulsfolgen zum Einsatz, die auf alle Finger der
betroffenen Hand appliziert werden. In
neueren Studien wurde ein spezieller Stimulationshandschuh mit eingearbeiteten
Elektroden verwendet, was das Verfahren erheblich vereinfacht. Um die Effekte des Schlaganfalls als auch die der Therapie auf objektiver Basis zu evaluieren,
wurden neben Fähigkeiten des Tastsinns
und der Motorik auch propriozeptive Fähigkeiten und alltagsrelevante Situationen
quantitativ erfasst.
In einer Gruppe subakuter Schlaganfallpatienten (Alter 55 bis 76 Jahre)
nach links- oder rechtsseitigem Mediainfarkt, die durch unterschiedlich starke sensomotorische Beeinträchtigungen der oberen Extremität charakterisiert waren, wurden TISL-Protokolle täglich (40 min/Tag,
5 Tage pro Woche) über einen Zeitraum
von zwei Wochen angewendet. Daneben
erfolgte eine Physiotherapie, aber kein spezielles Armtraining. Im Vergleich zur Ausgangssituation waren nach der TISL -Behandlung taktile Fähigkeiten, aber auch
sensomotorische Leistungen signifikant
verbessert. Follow-up Messungen nach 3
Monaten zeigten, dass diese positiven Effekte entweder unverändert blieben oder
sich sogar weiter verbesserten.
In einer randomisierten placebo-kontrollierten Studie wurde untersucht, wie
sich bei subakuten Schlaganfallpatienten
(Alter 34 bis 89 Jahre) eine Kombination
des TISL -Ansatzes zusammen mit Standardtherapie im Vergleich zur reinen
Standardtherapie auswirkt. Letztere umfasste Ergotherapie, Training von Alltagsaktivitäten und Heilpädagogik. Behandlungszeitraum waren wiederum 2 Wochen, TISL -Applikation 40 min/Tag für
5 Tage pro Woche. Verglichen mit der
Standardtherapie waren die Ergebnisse
der Kombinationstherapie in allen Bereichen überlegen, insbesondere im Bereich
der Sensorik und Propriozeption.
Der besondere Vorteil von TISL liegt
in seiner passiven Natur: Es erfordert keine aktive Teilnahme oder besondere Aufmerksamkeit der Teilnehmer. Es ist daher
möglich, die Stimulation während anderer Beschäftigungen wie beispielsweise
Fernsehen oder Lesen anzuwenden, was
die Akzeptanz dieses Verfahrens naturgemäß erhöht und niedrige Abbruchraten zur Folge hat. Es wurden daher in
einer Reihe von Einzelfallstudien Patienten über lange Zeiträume (> 1 Jahr) behandelt, bei denen der Infarkt im Einzelfall mehr als 10 Jahre zurücklag. In allen
Fällen wurde die Stimulation auf einer
regelmäßigen Basis (45 bis 60 min/Tag,
fünf oder sechs Tage/Woche) zu Hause
beim Patienten angewendet. In allen Fällen zeigten sich deutliche positive Auswirkungen auf die taktile, haptische und sensomotorische Leistungsfähigkeit. Bemerkenswert war, dass im Einzelfall viele Wochen täglicher Stimulation notwendig waren, bis Verbesserungen erkennbar wurden, die sich dann über weitere Monate
der Stimulation weiter verstärkten und
manifestierten.
Bisherige Untersuchungsergebnisse
zeigen, dass die positiven Auswirkungen
von TISL sowohl bei subakuten als auch
bei chronischen Patienten persistieren,
wenn die Stimulation über einen längeren
Zeitraum regelmäßig angewendet wird.
Darüber zeigen chronischen Langzeitpatienten positive Effekte, die sich nach
Wochen der Behandlung einstellen. Aus
diesen Gründen scheint das Prinzip von
TISL besonders zur Intervention geeignet, sei es in Kombination mit Standardtherapieverfahren oder als alleinige Maßnahme. Ein besonderer Vorteil, neben
dem Aspekt geringer Kosten, dürfte dabei die hohe Compliance sein, die sich aus
der Möglichkeit ergibt, die Stimulation zu
Hause parallel zu anderen Beschäftigungen wie beispielsweise Lesen über lange Zeit anzuwenden. Gerade dieser Gesichtspunkt spielt bei der Behandlung
chronischer Patienten eine wichtige Rolle.
Wirksamkeit kanonischer
Plastizitätsprotokolle
Die beschriebene Effizienz und Effektivität von TISL -Protokollen mag überraschen. Die Grundannahme ist, dass TISL
weitreichende synaptische Plastizitätsprozesse in den sensorischen und motorischen Gehirngebieten auslöst, die die stimulierten Hautbereiche repräsentieren.
Zur Erklärung dieser Wirksamkeit wurde ein Modell vorgeschlagen, in dem ein
durch sensorische Stimulation erzeugter Input dann zu Lernvorgängen führt,
wenn die vom Input ausgelösten Antworten eine „Lernschwelle“ überschreiten. Antworten, die durch normale Inputs erzeugt werden, sind zunächst nicht
in der Lage, Lernen auszulösen. Faktoren,
die Inputs bei trainingsbasiertem Lernen
„optimieren“ und daher dafür sorgen,
dass sensorische Inputs Lernvorgänge
auslösen, sind Aufmerksamkeit, Belohnung, Motivation oder Feedback. Im Fall
von TISL spielen diese Faktoren keine
oder eine untergeordnete Rolle. Es wurde daher angenommen, dass zusätzliche
Faktoren eine Rolle spielen müssen, die
die zeitliche Struktur des Inputs betreffen. Alle Stimulationsprotokolle, die auch
zur Auslösung synaptischer Plastizität
verwendet werden, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie hochfrequente oder/
oder burst-artige Inputfolgen verwenden. Zusätzlich dürfte auch die Quantität der Stimulation eine Rolle spielen, also
die Dauer und die Anzahl der verwendeten Stimuli. In dieser Modellvorstellung
führt dies dazu, dass auf diese Weise Inputs verstärkt werden, die normalerweise zu schwach sind, um die Lernschwelle
zu überschreiten (. Abb. 6).
Die beschriebene Gültigkeit dieses Ansatzes in allen Sinnesmodalitäten spricht
dafür, dass die zeitliche Struktur, die die
verwendeten Protokolle auszeichnen,
allgemeingültiger Natur ist. Es ist daher
denkbar, dass es nur wenige – kanonische
– Bedingungen gibt, die synaptische Plas-
tizität effektiv auslösen. Der TISL -Ansatz
ist dadurch charakterisiert, gerade solche
Protokolle einzusetzen, was seine erstaunliche Effizienz erklären könnte. Eine offene Frage ist, ob die immer wieder beobachtete Dichotomie in nieder- und hochfrequente Protokolle evolutionäre Vorteile hatte, etwa aufgrund des Vorliegens bestimmter Frequenzen in der Umwelt. Alternativ könnten molekulare Randbedingungen die spezifische Ausprägung dieser
Protokolle bedingt haben.
Handelt es sich um „Lernen“?
Die Effekte von TISL werden oft als
„Lernprozesse“ beschrieben. Argumente dafür waren empirische Daten, denen
zufolge die TISL -Effekte von NMDARezeptor-Aktivierung abhängig sind [3],
darüber hinaus führt TISL zu einer Erhöhung der kortikalen Erregbarkeit, beides
grundlegende Prozesse, die „Lernen“ zugrunde liegen.
Aus einer etwas allgemeineren Sicht
ist Lernen als Erwerb von neuem Wissen,
Verhalten, Fähigkeiten, Inhalten, Vorlieben oder als Verstehen definiert und besteht oft aus einer Neubewertung unterschiedlicher Informationen. Menschliches
Lernen erfolgt als Teil der Ausbildung, der
persönlichen Entwicklung und Übung. Es
erfolgt zielorientiert und wird durch Motivation gefördert. Dies macht deutlich,
dass der Begriff „Lernen“ sehr breit definiert ist und nicht nur auf Alltagssituationen wie das schulische Lernen oder
konkretes Aufgabenlernen beschränkt ist.
Unter der Annahme einer so allgemein
angelegten Definition erscheint es gerechtfertigt, Auswirkungen passiver Stimulationsprotokolle als „Lernen“ aufzufassen, was sich in dem Begriff „trainingsunabhängiges Lernen“ niederschlägt.
Korrespondenzadresse
H. R. Dinse
Neural Plasticity Lab, Institut für
Neuroinformatik, Neurologische
Klinik am Berufsgenossenschaftlichen
Universitätsklinikum Bergmannsheil
Ruhr-Universität Bochum
Universitätsstraße 150
Gebäude NB 3, 44780 Bochum
hubert.dinse@ruhr-uni-bochum.de
Martin Tegenthof. studierte Medizin und
Physik in Münster. Promotion in Medizin. Nach
Facharztanerkennung für Neurologie und Psychiatrie
Spezialisierung in spezieller Schmerztherapie und
Rehabilitationswesen. Habilitation in Neurologie
an der Ruhr-Universität Bochum. Aufbau einer
interdisziplinären Arbeitsgruppe zur neuronalen/
kortikalen Plastizität (www.ruhr-uni-bochum.de/
neuroplasticity/index.html.de), mit Schwerpunkten
im Bereich der klinisch-experimentellen
Neurophysiologie und des MR-Neuroimaging.
Seit 2010 Ärztlicher Direktor der Neurologischen
Universitätsklinik und Poliklinik des BG-Universitätsklinikums Bergmannsheil Bochum.
Hubert R. Dinse. studierte Biologie und Chemie
in Mainz und Marburg, Promotion und Habilitation
für das Fach Zoologie. Postdoc an der Universität
Pisa, Italien, freier Mitarbeiter am Battelle-Institut.
Visiting Professor an der University of California
San Francisco (UCSF). Seit 1990 Leiter des von
ihm gegründeten „Neural Plasticity Lab“ (www.
neuralplasticitylab.de) am Institut für Neuroinformatik
der Ruhr-Universität Bochum, stellvertretender Leiter
des Lehrstuhls Kognitive Systeme und Mitglied des
Direktoriums. Geschäftsführer der Firma haptec
Research & Technology GmbH und Senior Scientist
an der Neurologische Klinik Bergmannsheil. Seine
Hauptinteressen sind Tastsinn und Haptik, Lernen,
Plastizität und Alterung, Wahrnehmung sowie die
Entwicklung neuer Lern- und Therapieformen.
Danksagung. Wir danken für die Mitarbeit, den Einsatz und die Ideen unserer Mitarbeiter während der
letzten zwei Jahrzehnte, ohne die die Entwicklung
und Evaluation des Ansatzes der repetitiven Stimulation nicht möglich gewesen wäre.
Literatur
1. Beste C, Dinse HR (2013) Learning without training. Curr Biol 23:R489–99
2. Clapp WC, Hamm JP, Kirk IJ, Teyler TJ (2012) Translating long-term potentiation from animals to humans: a novel method for noninvasive assessment
of cortical plasticity. Biol Psychiatry 71:496–502
3. Dinse HR, Ragert P, Pleger B, Schwenkreis P, Tegenthoff M (2003) Pharmacological modulation of
perceptual learning and associated cortical reorganization. Science 301:91–94
4. Dinse HR, Kattenstroth JC, Gattica Tossi MA, Tegenthoff M, Kalisch T (2011) Sensory stimulation
for augmenting perception, sensorimotor behavior and cognition. In: Idan Segev, Henry Markram (Hrsg) Augmenting cognition. EPFL Press,
Lausanne, S 11–39
5. Malenka RC, Bear MF (2004) LTP and LTD: an embarrassment of riches. Neuron 44:5–21
6. Pleger B, Foerster AF, Ragert P, Dinse HR, Schwenkreis P, Malin JP, Nicolas V, Tegenthoff M (2003)
Functional imaging of perceptual learning in human primary and secondary somatosensory cortex. Neuron 40:643–653
7. Sasaki Y, Nanez JE, Watanabe T (2010) Advances in
visual perceptual learning and plasticity. Nat Rev
Neurosci 11:53–60
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