Orgeln, seit 2017 als immaterielles Kulturerbe ausgezeichnet, sind heute ein fester Bestandteil europäischer Kirchenmusik. Doch nach der Reformation bedurfte es einer längeren Phase konfessioneller Grenzziehung und Selbstvergewisserung,... more
Orgeln, seit 2017 als immaterielles Kulturerbe ausgezeichnet, sind heute ein fester Bestandteil europäischer Kirchenmusik. Doch nach der Reformation bedurfte es einer längeren Phase konfessioneller Grenzziehung und Selbstvergewisserung, um nicht nur der Orgel, sondern jeglicher Instrumentalmusik im Gottesdienst den theologisch abgesicherten Platz zuzuweisen, der inzwischen so selbstverständlich erscheint. Dieser Prozess spiegelt sich in den zur Einweihung neuer Orgeln gehaltenen Orgelpredigten, die sich seit etwa 1600 zu einer eigenständigen homiletischen Untergattung entwickelten. Der musiktheologische Diskurs, der sich hier mit der Zeit ausbildete, erreichte nicht nur die Kirchgänger. In gedruckter Form verbreiteten sich die Predigten auch über größere räumliche und zeitliche Distanzen hinweg und trugen zur Formierung einer barocken Musikanschauung bei. Das Korpus heute noch ermittelbarer Orgelpredigtdrucke des 17. und 18. Jahrhunderts steht im Zentrum eines DFG-Projekts am Institut für Musikwissenschaft der Universität Regensburg. Die fast ausnahmslos von protestantischen Pfarrern verfassten Texte werden erschlossen und in einer wissenschaftlich fundierten Volltextedition zugänglich gemacht. Das hierzu entwickelte Online-Portal orgelpredigt.ur.de/ bietet vielfältige Möglichkeiten der Kommentierung und inhaltlichen Vernetzung. Das vorliegende Buch verfolgt das Ziel, die bereits vorliegenden Arbeitsergebnisse in einem interdisziplinären Kreis aus Musikwissenschaftler:innen, Theolog:innen und Historiker:innen zu präsentieren und die sich daraus ergebenden Probleme und Perspektiven zu diskutieren. Neben theologisch, musiktheoretisch oder kulturhistorisch ausgerichteten Textanalysen stehen Beiträge, die anhand verschiedener, regional und chronologisch breit gestreuter Fallstudien repräsentative Etappen der Orgelpredigt in ihre spezifischen Kontext beleuchten. Ein besonderes Anliegen ist es schließlich, die Orgelpredigt auch als ein gesamteuropäisches Phänomen zu sehen.
published in Lucinde Braun and Katelijne Schiltz (eds.), "Orgelpredigten in Europa (1600–1800). Musiktheoretische, theologische und historische Perspektiven", Regensburg: Schnell & Steiner, 2022, pp. 91-107.