Drei zentrale Schlussfolgerungen lassen sich aus der materialistischen Staatstheorie von Joachim Hirsch in Bezug auf emanzipatorische gesellschaftliche Veränderungen ziehen: Erstens wird der Staat nicht als eine außerhalb der...
moreDrei zentrale Schlussfolgerungen lassen sich aus der materialistischen Staatstheorie von Joachim Hirsch in Bezug auf emanzipatorische gesellschaftliche Veränderungen ziehen: Erstens wird der Staat nicht als eine außerhalb der Gesellschaft stehende Institution betrachtet. Die politischen Kämpfe, die sich im Staat manifestieren, werden vielmehr als verstaatlichte, also in die politische Form überführte, gesellschaftliche Kämpfe gesehen. Gesellschaftliche Kämpfe wirken im Staat, und zwar keineswegs nur indem sich Akteure dieser Kämpfe selbst an den Staat wenden oder selbst Teil des Staates sind, sondern auch über eine allgemeine Verschiebung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen.
Hieraus folgt die zweite wichtige Erkenntnis, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht vom Staat aus gedacht werden können. Der Fokus liegt vielmehr auf sozialen Bewegungen und der Eigenständigkeit dieser Bewegungen sowie auf der Gefahr, dass diese ihr emanzipatorisches Potenzial zu verlieren drohen, wenn sie Teil der politischen Form werden.
Eine dritte wichtige Erkenntnis der staatstheoretischen Debatten der 1970er Jahre für emanzipatorische Transformationen folgt daraus, dass mit einer abstrakten theoretischen Bestimmung des kapitalistischen Staates noch wenig über seine konkrete Form gesagt ist. Um diese Herrschaftsform verstehen zu können, muss also auch der historisch konkrete Staat begriffen werden. Kapitalistische Gesellschaften und in der Folge auch kapitalistische Staaten unterscheiden sich historisch und räumlich erheblich voneinander. Für eine Perspektive, die kapitalistische Verhältnisse überwinden will, ist dieser vielleicht banal klingende Befund wichtig, weil sich in den unterschiedlichen Gesellschaftsformationen Herrschaft und damit auch die Bedingungen für gesellschaftliche Transformation und politische Kämpfe erheblich voneinander unterscheiden. Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus.
Joachim Hirsch fasst diese Erkenntnisse in seinen Überlegungen zum radikalen Reformismus zusammen. Es geht weder um ein religiös anmutendes Umschlagen in der Revolution, in der sich alles durch ein „Ereignis“ verändert. Noch geht es darum, ausschließlich auf graduelle Verschiebungen in den bestehenden Verhältnissen zu setzen, ohne die zugrundeliegenden Lebensformen, Alltagspraktiken und institutionellen Formen in Frage zu stellen.
Wir möchten im Folgenden einige grundlegende Momente dieser emanzipationstheoretischen Überlegungen darstellen, um hiervon ausgehend mit einem Konzept für eine alternative Sozialpolitik einen Entwurf zu diskutieren, der auf eine nicht-etatistische Transformation des Staates zielt und zugleich versucht, die Spielräume für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zu erweitern. Es geht um den Versuch einer politischen Intervention, bei der gesellschaftliche Veränderungen nicht auf einen fiktiven Punkt in der Zukunft projiziert werden, sondern schon im Jetzt mit der konkreten Veränderung von sozialen Praktiken beginnen, in der aber zugleich die Perspektive einer grundsätzlichen Überwindung des Kapitalismus aufgehoben bleibt. Dementsprechend ist das Ziel nicht vorrangig die Ausweitung ‚vermeintlich‘ herrschaftsfreier Räume in kapitalistischen Gesellschaften, sondern Veränderungen, die auch rechtlich abgesichert werden und dadurch für alle zugänglich gemacht werden. Unabhängig von individuellen oder klassenspezifischen Ressourcen. Dies wollen wir auch unter Bezugnahme auf andere transformatorische Konzepte im Folgenden diskutieren.
Nach einer Erläuterung des Begriffs Radikaler Reformismus (1) wenden wir uns der Krise des lohnarbeitszentrieten Sozialstaats und der Notwendigkeit einer alternativen Sozialpolitik zu (2). Soziale Infrastruktur als radikal-reformistisches Transformationskonzept ist die Ausformulierung eines solchen sozialpolitischen Ansatzes, den wir zunächst in seinen Grundzügen darstellen (3.1), in seinem spezifischen Verhältnis zum bedingungslosen Grundeinkommen diskutieren (3.2), im Hinblick auf die Notwendigkeit anderer gesellschaftlicher Arbeitsverhältnisse in den Blick nehmen (3.3) und schließlich in seinen Konsequenzen für die Transformation und grundlegende Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse explizieren (3.4).