Talk Talk
Zu den bemerkenswertesten Bands der 80er Jahre gehören ohne Zweifel Talk Talk. Vor allem aufgrund der kaum greifbaren Entwicklung vom Pop-Darling zum experimentierfreudigen Ausnahmeprojekt. Die Geschichte der britischen Gruppe ist eng verbunden mit dem Werdegang des Frontmanns und Sängers Mark Hollis.
Hollis kommt 1955 im Londoner Stadtteil Tottenham zur Welt. 1975 wirft er an der Universität von Sussex sein Studium der Kinderpsychologie hin und geht zurück nach London, um sich seinem Hobby, dem Songschreiben, zu widmen. Sein älterer Bruder Ed Hollis, ein Produzent und DJ, übte in dieser Zeit großen Einfluss auf ihn aus.
Ed managt damals die Punkband Eddie And The Hot Rods, bei deren Tour Mark aushilfsweise als Roadie einspringt. Doch er will seine eigene Band und gründet Reaction. Dabei kommen ihm die Kontakte seines Bruders zum Label Island zu Gute, wo er 1977 sein erstes Demo abliefert. Unter den Songs findet sich auch der Titel "Talk Talk", ein Prototyp des Songs, der später auf der Platte "The Party's Over" erscheint. Im Juni 1978 kommt die Single "I Can't Resist" in die Plattenläden, findet dort aber keine weitere Beachtung. Hollis löst Reaction 1979 auf.
Die nächsten Monate arbeitet Hollis zurückgezogen an neuem Material. Bruder Ed macht ihn mit dem Drummer Lee Harris und dem Bassisten Paul Webb bekannt. Nachdem Island Records einen Vorschuss für Plattenaufnahmen springen lässt, verschwinden die drei Musiker mit dem Keyboarder Simon Brenner im Studio. Zusammen mit dem Ex-Stones-Produzenten Jimmy Miller nehmen sie dort unter dem Bandnamen "Talk Talk" ihre ersten Demo-Sessions auf. Keith Aspden kündigt daraufhin bei Island um die Band zu managen, was er bis zu ihrer Auflösung tat.
Bei ihrem ersten Livekonzert in London ist auch BBC-DJ David Jensen im Publikum und lädt die Gruppe zu seiner Radio One-Show ein. Er ist der erste, der den Song "Talk Talk" im Radio spielt. Die A&Rs von EMI glauben mit Talk Talk eine neue Ikone des New Romantic entdeckt zu haben und geben ihnen im November 1981 ihren ersten Plattenvertrag. Colin Thurston, der gerade Duran Durans Debütalbum für EMI produziert hatte, wird verpflichtet, auch das Material von Talk Talk plattentauglich zu machen.
Dabei wird jedoch schnell klar, dass die einzige Parallele der beiden Bands in der Verdopplung im Namen liegt. Während Duran Duran weltweit in die Charts schießen, floppt Talk Talks erste Single "Mirror Man"; "Talk Talk" schafft es immerhin auf Platz 52 der britischen Charts. Auch die Tatsache, dass sie im Vorprogramm von Duran Duran auf Tour durchs Vereinigte Königreich reisen, hat auf den kommerziellen Erfolg kaum Einfluss. Erst nachdem die dritte Single "Today" bis auf Platz 14 der Charts klettert, ist die Zeit für einen Longplayer reif.
Im Juli 1982 veröffentlichen Talk Talk endlich ihr Debüt "The Party's Over". Die Handschrift von Colin Thurston ist offensichtlich. Er verhilft den poetischen Texten von Mark Hollis in ihr zeitgemäßes trendy Synthiepop-Gewand. Die Fans sind heute der Ansicht, dass sie dort nicht hingehören und dass diese Platte ein "Ausrutscher" war. Trotzdem erreicht sie damals auf der Insel Platz 21 und die Band bereist als Support für Elvis Costello die USA.
Nachdem die Single "My Foolish Friend" 1983 wenig Beachtung findet, beschließt Mark Hollis, für zukünftige Projekte weniger Synthesizer zu verwenden. Diese Entscheidung zieht den Rauswurf des Keyboarders Simon Brenner nach sich. Auch mit Colin Thurston wollen sie nicht mehr zusammen arbeiten. Die Band verabscheut zunehmend die Schublade, in der sie EMI gerne zusammen mit The Human League, Spandau Ballet und Duran Duran stecken würde.
Dass sich Mark Hollis wenig aus seinem öffentlichen Image machte, war damals eigentlich schon an seinem weißen Anzug mit schwarzer Lederkrawatte und seinen Segelohren auszumachen. An einer verkaufsfördernden Rolle als charismatischer Mädchenschwarm hatte er kein Interesse. Die New Wave-Zwangsjacke des EMI-Marketings war also abgelegt. Dafür fand Hollis in Tim Friese-Greene einen kongenialen Partner in Sachen Songwriting und Produktion, der als inoffizielles viertes Mitglied die Band bis zur Trennung begleitet. Den Rest des Jahres verbringt Hollis zusammen mit ihm, um den Wendepunkt der Band einzuleiten.
Als im Januar 1984 die Single "It's My Life" erscheint, ist die Wende im Schaffen von Talk Talk schon zu hören. Die Band legt ihre Fesseln aus New Romantic und New Wave ab und beginnt, ihren eigenen Stil zu entdecken. Ein reiferes Songwriting und dichteres Arrangement, tiefgründige Lyrics und die markant melancholische Klagestimme von Mark Hollis werden in diesem Jahr zum Markenzeichen der Ausnahmeband. Das gleichnamige Album erscheint einen Monat später - die zweite Single "Such A Shame" wird ein weltweiter Hit (Platz 4 in Deutschland).
Der kommerzielle Erfolg kommt zum richtigen Zeitpunkt für die Gruppe, denn insgesamt wurden 250.000 britische Pfund für die Produktion im Studio verblasen. Eine ausgedehnte Europatour untermauert den Status der Band auf dem Kontinent. Und so sieht sich die Gruppe auf der Bühne einer Flut von BHs und Teddybären ausgesetzt, genau wie es sich EMI vorgestellt hatte. Das Album "The Colour Of Spring" toppt diesen Trend noch und wird zum meistverkauften Album ihrer Geschichte.
Im Februar 1986 schießt es auf Platz 8 der UK-Charts und erreicht darauf Goldstatus. Talk Talk starten ihre erste und letzte große Welttournee. Die Band befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Schaffensphase, wovon das erst 1999 erschienene Livealbum "London 1986" Zeugnis ablegt. Sogar das Montreux Festival zeigt sich vom experimentellen Verständnis der Popband begeistert und lädt Talk Talk im Juli 1986 für ein Konzert ein (DVD "Live At Montreux 1986").
Um dem Rummel um seine Person und die Band zu entgehen zieht Hollis 1987 in eine verlassene Kirche in Suffolk um und richtet sich dort ein Studio ein, um zurückgezogen am vierten Album arbeiten zu können. Die EMI-Bosse reiben sich bereits die Hände nach dem neuen Output, denn damit soll der logische nächste Schritt hin zur Stadionband gelingen.
Doch Hollis überschreitet mehrfach die Deadline zur Abgabe des Materials und verweigert den Verantwortlichen Einsicht ins neue Werk. Er informiert stattdessen das Label davon, dass die neuen Arrangements viel zu komplex seien, um sie einem Publikum live zu präsentieren. Daher verbitte er sich ausgekoppelte Singles und Videos. EMI reagiert fassungslos, doch dies soll erst der Anfang sein.
Nach 14 Monaten im Studio wird im September 1988 "Spirit Of Eden" einem gespannten Publikum vorgeführt, mit unterschiedlicher Resonanz. Eines ist sofort klar: Talk Talk haben kommerziellen Selbstmord begangen. Die sechs Albumtracks sind in mehrstündigen Improvisationen während der langen Aufnahmesessions zu einem organischen Gesamtkunstwerk erwachsen, das heute noch seines Gleichen sucht. Eigentlich ein Jazz-Album, das mit einzigartiger atmosphärischer Dichte experimentiert und gleichzeitig einen riesigen Freiraum für dynamische Improvisation lässt. Fortan wird Mark Hollis an ganz anderen Maßstäben gemessen: Neil Young, Miles Davis, ja sogar Claude Debussy und Erik Satie.
Die Bande zwischen der Band und ihrem Label bröckelt stetig. Nachdem Hollis widerwillig zugesteht, "I Believe In You" als Single auszukoppeln, kürzt EMI den Song auf radiogerechte Sendezeit. Hollis zürnt. Um aus dem Vertrag heraus zu kommen, akzeptieren Talk Talk 1990 zähneknirschend das von EMI gewünschte Best Of-Album "Natural History", doch als das Label im Folgejahr ungefragt das Remixalbum "History Revisited" in Auftrag gibt, zieht die Band vor Gericht. Mit Erfolg: EMI muss das Album vom Markt nehmen; verkauft hat es sich bis dahin freilich schon ausgiebig.
Talk Talk wechseln zu Polydor, um dort die Arbeit an neuem Material beginnen zu können. Paul Webb steigt zu der Zeit aus und Hollis lädt noch mehr Gastmusiker ein als auf dem letzten Album. Er beschäftigt sich zu der Zeit erstmals mit den Werken des amerikanischen Minimalisten Morton Feldman. Auch Can (vor allem "Tago Mago") gelten ihm nach wie vor als Inspiration.
Im September 1991 erscheint auf dem Polydor-Ableger Verve (eigentlich ein Jazzlabel) das Talk Talk-Abschiedswerk "Laughing Stock". Mit diesem Album entfernt er sich mit Friese-Greene noch weiter vom Mainstream, ein sechsteiliges Werk voller minimalistischer Brillanz, wo jede noch so kleine Note und jede Pause zählt.
Für die Massen jedoch unzugänglich und für die meisten Fans eine Enttäuschung. Zwar gründen Lee Harris und Paul Webb 1992 die Band 'O'Rang und Mark Hollis veröffentlicht unter seinem eigenen Label Pond Life auf der Platte "Missing Pieces" unveröffentlichtes Talk Talk-Material und 1998 ein selbstbetiteltes Solodebüt. Talk Talk bleiben jedoch Geschichte.
2003 hört man wieder etwas von Ex-Basser Paul Webb: Unter dem Pseudonym Rustin Man nimmt er mit Portishead-Sängerin Beth Gibbons das Album "Out Of Season" auf und geht auch mit ihr auf Tournee.
Die Faszination für Talk Talk lebt dennoch weiter: 2012 erscheinen die Alben "The Party's Over", "It's My Life", "The Colour Of Spring" und "Spirit Of Eden" als Remasters-Neuauflage. "The Colour Of Spring" und "Spirit Of Eden" sogar als LP- und DVD-Audio-Set, das heißt: 180 Gramm-Vinyl und 96kHz/24bit-Stereo-Abmischungen auf DVD mit jeweils einem Bonustrack. Kurz darauf covern zahlreiche Bands Songs der Gruppe für die Compilation "The Spirit Of Talk Talk".
Es bleibt bei den guten Absichten nachgewachsener Musiker, das Original tritt nie wieder gemeinsam auf. Am 25. Februar 2019 wird bekannt, dass Mark Hollis im Alter von 64 Jahren gestorben ist. Eine offizielle Bestätigung bleibt zunächst aus, aber bald folgt ein Posting von Paul Webb, der an die gemeinsame Zeit in den 80er und frühen 90er Jahren erinnert. Zahlreiche Musiker ehren den Verstorbenen mit Verweis auf den immensen Einfluss, den die Studioalben der Band auf die eigene künstlerische Entwicklung ausgeübt haben. Außerdem wird bekannt, dass es 2014 beinahe zu einer Kooperation zwischen Hollis und Regisseur Wim Wenders gekommen wäre, die sich nach einem Treffen in Berlin allerdings zerschlug.
Ebenfalls 2019 erscheint das zweite Soloalbum von Paul Webb als Rustin Man. Verzichtete er auf "Out Of Season" noch bewusst auf den Einsatz der eigenen Stimme, überstrahlt "Drift Code" sein intensives Timbre, das frappierend an den späten Bowie erinnert.
© Laut
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