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Zwielicht: Die Kinder des Sisyfos
Zwielicht: Die Kinder des Sisyfos
Zwielicht: Die Kinder des Sisyfos
eBook723 Seiten9 Stunden

Zwielicht: Die Kinder des Sisyfos

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Über dieses E-Book

Von den vier geplanten Romanen zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1968 und 1989 liegt hier der zweite vor: "Zwielicht". Nach dem 2001 erschienenen Roman "Ein Frühling irrer Hoffnung" entwirft Schöfer in "Zwielicht" ein breites Panorama der siebziger Jahre, in deren Verlauf viele Reformanstöße der Achtundsechziger weiterentwickelt werden. Die lange verdunkelte Arbeitswelt und die Natur werden in Bürgerinitiativen, in der Arbeiterbewegung und in der Literatur neu entdeckt. Gleichzeitig rüstet der demokratische Staat, in Abwehr der militanten Herausforderung durch die Gewalttäter der RAF, seine Gesetze und polizeilichen Machtmittel auf und setzt sie mit wachsendem Nachdruck auch gegen die außerparlamentarische Bewegung ein. Schöfer schildert Menschen, die in dieser zwiespältigen Entwicklung der Gesellschaft als handelnde Demokraten ihren Weg suchen.

Der Geschichtslehrer Viktor Bliss und der Betriebsrat Manfred Anklam, die Akteure des achtundsechziger Romans, werden in neuen Lebenskonstellationen verfolgt, während als dritte Hauptperson Armin Kolenda, ein angehender Journalist, beim Kampf gegen das Atomkraftwerk Wyhl seine große Liebe und unter den schreibenden Arbeitern des Werkkreises Freunde und Gegner findet. Mit heutigen Leserinnen und Lesern erforscht Schöfer in packenden und anrührenden Erlebnissen seiner literarischen Personen die geschichtliche Wahrheit eines erregenden Jahrzehnts unserer unmittelbaren Vergangenheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum16. Mai 2012
ISBN9783943941012
Zwielicht: Die Kinder des Sisyfos

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    Buchvorschau

    Zwielicht - Erasmus Schöfer

    Lust

    BUCH EINS

    MACHEN WIR HEUTE

    WAS MORGEN ERST SCHÖN WIRD

    ANNÄHERUNGEN

    Eigentlich hat der Tag eine klare Botschaft: Sommer. Reifende Landschaften. Auf den Halmen im leichten Wind lebende Getreidefelder, fahlgelb, manchmal blaurot durchsetzt, Zentaurien und Papaveren, erinnerungsschwanger. Säume gewunden gewellter Straßen. Wem aber jetzt einen Blumenstrauß pflücken aus diesem altdeutschen Angebot? In den Dörfern entdeckten sich Menschen die Fachwerkgesichter ihrer Häuser aus den Blechkleidern der armen Jahre zurück. Flammrote Geranien, dunkelviolette Petunien, üppig hängend vor weißen Fensterkreuzen, schöne friedliche Vorhänge vor den Dunkelheiten dahinter. Auch lichte Laubwälder, auch blaubraune Fichten auf Farnteppichen und herrschaftlichem Digitalisschmuck, nichts Schroffes. Die Straßengräben noch sattgrün bepelzt unter verknorzten Apfelbäumen, unter Ahorn, unter beerigen Ebereschen. Selten verwehte Plastiktüten in Weiß und Reklame, Zitate.

    Entspanntes Fahren, mit aufgekrempelten Ärmeln. Bilderflocken außenher innenher, die vollendete Vergangenheit München stöberte schmerzlos in die unvollendete Gegenwart Malina, Dutschkes hinterlassene Schuhe auf dem Kudamm-Pflaster und Manfreds vor Springer vergossenes Bruderblut als Kriegsbemalung im Spiegelgesicht, die ewige eine Osternacht in der Zelle, Beton um die Freiheit der aufrührerischen Gedanken, Peter Stein der segnende Heiland vor dem Aufstand in den Kammerspielen und der Krach mit Everding wegen der Geldsammlung für die Befreiungsfront im Vietnam-Diskurs, Steins Flucht nach Berlin in den Ruhm. Lenas entgleistes Gesicht nach dem Rausschmiss. Der Filmriss am Chiemsee. Das Ehe Exil auf Scheringers Dürrnhof. Lenas Besuch, das herzzerreißende Gespräch in der Bauernküche, mit Marianne und Richard als Terapeuten, männliche und weibliche Tränen genug, und die erschöpfte glückliche Wiedervereinigung im Zimmer über dem Kuhstall.

    Unvergessbar abgelegt bei den Gefühlsschätzen aber auch die Ikone Malina im Sonnengold auf dem Balkon, unter Aufsicht der strengen Freunde, so nah wie jetzt, das schwarze Flaumhaar auf dem da dem selben Arm, das Aura Flimmern um die benachbarten Körper zwischen ihm und ihr, die kleine Idylle im Heldenroman des großen Aufbruchs, des hoffnungsbeflügelten Frühlings. Der ganze achtundsechziger Film wieder im Kopfkino durch den Besuch dieser halbvergessnen Frau.

    Bei der Rast im Apfelbaumschatten kaum ein Fahrzeug durch das schwebende Rauschen in Ähren und Baumlaub als Stille. Aus einem Märchenbuch im hochgewölbten Blassblau der flatternde tirilierende Punkt mit der Frage an Malina: Gehört denn die noch dazu? Frage die aber eher doch heißen sollte: Wie kommst du Löweneckerchen mir zurück in die handnahe Nähe geflogen in diese nämlich sinnverwirrende Zwei Einsamkeit, und was ist die Hinterbedeutung davon im Sommer einundsiebzig zwischen Marburg und Kassel und dem Dorf Richtung Hofgeismar? Drei Jahre nach Lenas Vertreibung aus München und Johanns Abordnung in den Parteidienst nach Frankfurt?

    Hast du noch dieses Bild im Kasten, wie wir da saßen auf dem eisernen Boden in der Sonne, unser Küchenbalkon, Ostern achtundsechzig, Ferri und Johann haben gestritten mit Manfred, über die ÇSSR, im Frühling unsrer Einigkeit? Und wir zwei auf dem Balkon –

    Der Kölner Betriebsrat. Anklam hieß der, habich mir gemerkt, die Stadt inner DDR. Lenas Schinkenbrot schmeckt wie vonner Mutter. Das Gras hier ist weicher als damals die Gitterstangen im Kreuz, sann Malina. Warum habt ihr eigentlich kein Kind?

    Ich hab eine Tochter, in Amerika. Bin seit zwei Jahren Großvater, verhinderter. Ein viertelindianisches Mädchen.

    Nein wirklich! Malina lachte, verblüfft. Das sind ja Abgründe! Eine Jugendsünde, wie?

    Von mir oder von meiner Tochter?

    Ja von beiden wohl, wenn ich rechnen kann.

    Die frühreifen Lieben. Die halten keinen Sturm aus. Und erzählte von Johannas Besuch im letzten Sommer, in Gießen, mit dem Baby. Da war sie wirklich wie ne Mutter, meine Teaterhexe Lena. Hätte Talent dafür. Vielleicht kriegen wir noch ein Kind, als Enkel. Ann heißt sie. Drüben sagen sie Änn. Johanna lebt in Kanada, Manitoba, im Urwald. Innem Blockhaus, musstu dir vorstelln. Wild romantisch. Aber die Winter – einfach nur grausam! Der Vater arbeitet als Holzfäller, kann nicht zurück in die USA, Vietnam Verweigerer.

    Und, fragte Malina fasziniert – wann fliegst du hin?

    Na spätestens mit meinem ersten Beamtengehalt. Wenns bis dahin nicht Frieden gibt in Vietnam, und ne Amnestie für die Verweigerer. Dann würden sie zurückgehn in die USA. Ich glaub ehrlich gesagt nicht, dassie das Abenteuer durchhält. Hab ihr geschrieben, dass wir sie jederzeit zurücknehmen, egal wie gerupft. Aber sie hat einen Dickkopf.

    Von dir, wie?

    Mangels eines Gebüschs hockte sie sich in den Straßengraben, ungeniert. Bliss schaute nach der Lerche. Fliegst du eben nach Amerika, rief sie herüber.

    Er fragte nach ihrem Bruder, den andern Münchner Freunden, hatte den ganzen Verein aus den Augen verloren, über den Marburger Händeln.

    Die Genossen hats gewaltig durchgeschüttelt, die Panzer auf dem Wenzelsplatz. Die Kürbiskern Redaktion ist geplatzt deshalb, Karsunke und Geißler sind raus. Die wollten nicht glauben, dass die Russen die Konterrevolution verhindert haben. Und das Wahlbündnis neunundsechzig, mit der Riemeck und Werner Hofmann, ist auch dran gescheitert, dass sie den Einmarsch nicht verurteilt haben. Das hat die Linke gespalten.

    Ich dachte, die ADF ist baden gegangen, weil die Sowjets die Tschechoslowaken gehindert haben, ihren Sozialismus aufzufrischen. Das hat der APO und allen Sozialisten bei uns den Teppich weggezogen. Siehstu das anders?

    Bisschen schon Vik. Wir haben genügend Informationen, dass die CIA und der BND die Entwicklung gesteuert haben. Die ČSSR wär heut nicht mehr sozialistisch ohne die Hilfe des Warschauer Pakts. Ganz Europa wär destabilisiert.

    Ach Malina. Bliss schüttelte resigniert den Kopf. Der Tag ist zu schön für das hässliche Tema. Ich hab damals einen Brief an den Parteivorstand der DKP geschickt, zu Händen von Kurt Bachmann, hab erklärt, warum, im historischen Zusammenhang gesehn, die Sowjetunion nicht nur diesen Fehler gemacht hat, und welche Auswirkungen das hat auf die Situation der Linken in Westeuropa, ne stichhaltige politische Argumentation, kann dir den Durchschlag zeigen in Marburg. Solche Briefe hat der garantiert Dutzende oder Hunderte bekommen. Die Antwort war ein hektografiertes Schreiben des Sekretariats über die Hintergründe des konterrevolutionären Umsturzversuchs der westlichen Geheimdienste. Für mich wars eine sozialistische Tragödie. Komm, lass uns weiterfahren.

    Malina, aufstehend, fragte ohne Schärfe – es klang besorgt: Willst du vergessen, wer der wirkliche Gegner ist?

    Wer spricht von Wollen? Können ist die Frage. Mein Verstand ist ziemlich rücksichtslos. Ich weiß wer die Vietnamesen bombardiert und wer ihnen SAM-Raketen liefert.

    Er packte Aludose und Wasserflasche in den Beutel, legte ihn auf die Rückbank, benutzte den Apfelbaum als Pissoir, setzte sich ans Steuer, zu Malina.

    Das Vernünftige zu wissen kommt mir manchmal vor wie ne Zwangsjacke ums Leben, sagte er. Und startete den Motor.

    Lena hatte Viktor ihr ehefrauliches Okay gegeben für die soziologische Expedition mit Malina Stotz – treuherzig oder großzügig? Oder vergesslich? Fragte sich Bliss, da sie seine Empfindlichkeit für Malinas weibliche Ausstrahlungen in München geahnt hatte. Klar beruflich veranlasst, der Forschungsausflug ins nordhessische Aufstandsgebiet, Titel: Erkundung der Genossenschafts Recken für eine zukünftige Geschichte der Arbeiterkämpfe in Hessen. Die Frauen mochten sich schon in München, und gestern gleich wieder ganz unschwierig freundlich beim Trip zu dritt von Frankfurt nach Gießen, abends in Lenas Teater, Pavel Kohouts August August, August, das Clownsstück, das Lena verstanden hatte als Allegorie auf den ewigen Streit zwischen Fantasie und Ordnung, er aber als Teil der Auseinandersetzung zwischen den Künstlern und der kommunistischen Staatsmacht. Aus der Diskussion hatte Malina sich wie verstummt rausgehalten, wollte den Abend wohl nicht vermiesen mit Politik, hat nach Lenas Teatersorgen gefragt, unerschöpfliches Tema, und russische Anekdoten aus ihren Slawistiksemestern in Moskau, die heitere Rotwein Nacht bis eins halbzwei wie am Münchner Küchentisch – ein Mensch, bei dem nachrichtenlose Jahre verlebt waren wie Tage, ohne Entfremdung. Wer konnte Malinas herzlichem Charme widerstehn. Nicht ein Viktor Bliss. Ihre existenzielle Fröhlichkeit verklärte selbst ihre politische Strenge.

    Auf der Fahrt im bollrigen Wagen mehr große Augen ringsum als Worte, gegen den Motor und Fahrwind bei offnen Fenstern, schnell heiser von wenigen Sätzen. Malina Schauinsland, unvertraut mit dieser wohlwollenden, zufriedenen Landschaft am östlichen Schnittrand des westdeutschen Staates. Deren Kleinstädte hat Bliss ärmlich bereist bis zum Erbrechen mit Kochbüchern und Lexika im Koffer für Hausfrauen Lehrer Schüler, notdürftige verkorkste Zeiten, mein Gott welch Abstand welche Entfernung von damals bis jetzt. Zehn Jahre. Der zweite Lebens Anfang in Marburg an der Abendroth Universität. So hieß die nicht, nur für ihn und für ihn nur insgeheim, trotz Professores Maus und Hofmann auf den benachbarten Katedern. Der Aufbruch von der Lahn in die blauweiße Isar Metropole als Karriere Bruch. Morgengabe für Lenas Engagement an den Kammerspielen. Und drei Jahre seit der Flucht zurück aus München nach Marburg in die Arbeitsmansarde, in das aufgescheuchte Provinznest. Wo nach der großen Revolte auch nichts mehr sicher war. Weder der weißmähnige Professor noch die Zukunft. Vertraut aber inzwischen und lebbar die Zweinester Ehe mit Lena in Gießen, die Schaukelverbindung lahnauf lahnab in verbundener Freiheit.

    Bliss spuckte die Grashalmreste in den Wind. War froh dass er für seine Rechte das Steuer hatte. Der Rock war zu kurz für die braunen Sommerbeine.

    common

    A 44 heißt die Saite, Armin Kolenda spielt darauf souverän, lenkt das Spiel Zeug über die Kilometer, ein Zeigefinger lässig am Rad, die Melodie der Gedanken in De Ka We moll, gleichwohl andante, flüssige hundertzwanzig, kaum Mitspieler, der Blick schwingt windgleich ins westfälische Land, Soest, Erwitte, Geseke, weithin leuchtend im Grün die weißen Zementbrennereien, lassen die kalkigen Fahnen wehn vorm Westhimmel klar: Lieferanten dieser frisch gegossnen noch makellosen Rollbahn zwischen Ruhr und Fulda.

    Köln reist kreist mit, die zickzack schwirrende Fliege im Kopf, wirbelnde Neuronen im Dickicht der Sinapsen, das Wimmelbild der Gesichter Azis Hummel Pepsi Bogdan Tatze und Billa hell dazwischen und Biene rot und Aische schwarz, die jungen Bäume auf der Suche nach ihren Wurzeln im Jugend Zentrum, bodenlos elternlos heimatlos, Luftwurzeln schlangen sie um einen der war nicht gegen sie nie, Armin Kolenda, hat nur eine Spur mehr Massel gehabt beim Leben – erst die Werbung: kommt ich helf euch mir könnt ihr vertraun, aha, willst du einer wie wir sein, dann spiel mit uns sauf mit uns kiff mit uns, schau mal unsre geilen Pornos, die Umarmung des Vertrauens ohne Gewalt ist doch Gewalt, wo sind deine Lehrstellen mit Meistern die uns was Spannendes beibringen, statt Bierholen Werkstattkehren Autoputzen, Arbeitsplätze wo mal die Kohle stimmt nicht bloß Schufterei für dem Boß sein Mercedes, ein Auto ist viel leichter geknackt als acht Stunden Krücken fürn Chef, das ist kein Bruch Armin, die Reichen sind alle versichert, so seht ihr aus Boys, dafür wandert ihr hopp in den Knast, wem sag ich das, wisst ihr selbst: einmal Bewährung, zweimal Sozialdienst oder gleich ab in die Kiste je nach Richter. Da gibts auch im Jugendgericht noch genug, die sind unkündbar braun gegerbt unter den schwarzen Talaren, ungebrochne Verteidiger von Pflicht und Ordnung im deutschen Abendland, Flaschen abstauben im Supermarkt oder Beförderungserschleichung bei der KVB reicht schon so lang die Bewährung läuft, weiß euch Armin als angestellter staatlich geprüfter Sorger für überflüssige Teenis, der Beichtvater ohne Ölung von Gnaden der Ausgesetzten im kostenpflichtigen Garten der Lüste. Euch sind seine Früchte vergiftet verboten umstellt, bringt erstmal Leistung gefälligst.

    Geheimnisträger der Zukunftslosen – Mitwisser ihrer kleinen Not Sünden oder Lust Sünden auch. Das war die Falle. Entweder betreust du die Gebote des Schweinesystems oder du betreust die armen Schweine. Gespaltene Treue gibt es nicht, darf es nicht geben. Herr Kolenda Sie haben sich einer schweren Dienstpflichtverletzung schuldig gemacht indem Sie Ihr Wissen um Straftaten der Ihnen anvertrauten Jugendlichen der Heimleitung verhehlt haben. Im Interesse unserer Fürsorgeeinrichtung muss das zu unserer Trennung führen. Das bedeutet Ihre fristlose Kündigung zum 1. März. Amen. So wahr mir Gott helfe. Sie dürfen unser Jugend Zentrum ab sofort nicht mehr betreten. Tut mir leid hater nicht gesagt, der gesalbte Pater Eusebius. War plötzlich der Erzengel mitem Flammenschwert, Stellvertreter des Papstes in Köln. Zuwiderhandlungen müssten wir als Hausfriedensbruch werten Herr Kolenda. Gott befohlen. Kein Händedruck, kein Dank für zwei Jahre Arbeit zum Kirchenlohn. Lief dem aber so glatt doch nicht, die Abtreibung Austreibung der achtundsechziger Teufelchen, die hecken müpfige Kinder in vielen Ritzen der Domstadt. Meine haben Schreiben gelernt bei mir für die eigene Zeitung, Schreiben und Drucken, gute Investition inne öffentliche Intressenvertretung, Betonhammer Eins bis Vier, sogar der Stadtanzeiger hat drüber berichtet: Die Antizeitung aus der Betonburg, und WDR Zwei, klar war das Futter für die Radiothek zwei asoziale Teenager namens Billa und Tatze als Chefredakteure einer selbstgebastelten Zeitung die den Skandal im Jugend Zentrum heimlich öffentlich macht. Damit haben die Rausschmeißer nicht gerechnet dass die Mündel ihrer Fürsorge undankbar sind, Rabatz machen gegen die Leitung und den ganzen sozialen Brennpunkt aufwiegeln zum Protest mit einem Flugblatt ohne jemand zu fragen. Ganz clever die Überschrift mit dem Kanzler Zitat Mehr Demokratie wagen – auch im Ju Ze Herr Pater! Haben nicht einfach dumpf die Möbel zerschlagen wie früher, fordern Mitsprache über ihr Leben. Haben sie von den Studenten gelernt, nicht nur von mir, Anarchie is nich mehr angesagt. Hat die Schwarzen zwar auch nicht gerührt, aber wird mir helfen vorm Arbeitsgericht, das ist sicher. Vielleicht können Billa und Tatze selbst zur Verhandlung, aussagen über meine Arbeit. Heh – nicht nur die beiden, die ganze Kohorte das wär was – Sit In der Schmuddelkinder im Arbeitsgericht, kennen die bestimmt noch nicht! Und dazu die Leute vom Werkkreis mit gespitzten Stiften. Müssen die umziehn innen größren Raum, Licht der Öffentlichkeit heißt das Herr Richter, weiter nichts Herr Pater, das werden Sie doch nicht scheun, wenn Sie aus dem Fürsorger der runtergewirtschafteten Jugend den Versorger der Kripo – Kolenda als Polizeispitzel das würde euch schmecken, wird Zeit dass ich euch mal die Meinung sag, quatsch die Meinung – die Wahrheit! Die Wahrheit über eure Abstellschuppen für die Ausgegrenzten und Krüppel eurer schnieken Gesellschaft meine Herren vom Landschaftsverband, es wechseln die Zeiten, eure Suppe wird nicht mehr widerspruchslos gelöffelt meine Damen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, da hilft kein Gewalt ihr gebügelten Typen vom Jugend und Schulamt, das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine, die Nacht hat zwölf Stunden dann kommt schon der Tag dann kommt schon der Tag –

    sang Kolenda an die Hügel und Hüften des Eggegebirges durch seine brausenden Fenster aus dem fliegenden Wagen, dem wachsen wohl Flügel dem alten Eisen, der klappert und scheppert und bebt hebt gleich ab hundertvierzig zu Tal, die Moldau heißt heute Diemel, am Grunde der Diemel wandern die Steine die blutigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt –

    common

    Die offenen Fenster brachten die Hitze nicht von den Köpfen und Füßen. Jenseits einer Kuhweide lockte ein Talbach hinter Erlengesträuch Erfrischung. Klar Vik, gute Idee, wir haben doch Zeit.

    Über den dünnen Elektrozaun hob er sie ohne den Draht zu berühren, ihr nackter Arm um seinen Nacken, er hielt sie nicht fest. Strolchte leichtfüßig vor ihm durchs krautige Grün. Die schwarzweißen Tiere wiederkäuend schläfrig gebettet aufs Gras, mit zuckenden Ohren, triefenden Nasen, fliegenumschwärmt. Kein Mensch, Arkadien in Hessen.

    Ob das gesund ist Malina, in einen frischen Fladen zu treten, barfuß?

    Aber für welche Krankheit?

    Kneipp wüsste das. Für die Pflasterkrankheit der Städter vielleicht.

    Die hab ich kronisch, sagte Malina, nahm ihre Slipper in die Hände, quatschte patsch patsch in zwei Kilo verdaute Wiese.

    Bliss sah schaudernd den Spinat Brei um ihre Füße durch die Zehen quellen: Bist du verrückt Malina! Das sollte ein Witz sein!

    Wie Eierpampe, versuchs mal. Unheimlich!

    Die Frau tickt nicht normal. Er krempelte seine Hosenbeine hoch, zog die Sandalen aus. Angenehm die kühlen kurzgefressenen Halme an den Fußsohlen, leichter Kitzel. Völlig ausreichend als Naturerlebnis. Er suchte nach einem Stock, einem zweiten frischgeschissnen Haufen, stocherte darin herum, verscheuchte blauschwarze Schillerfliegen, probierte das feuchtwarme Gefühl mit der großen Zehe.

    Na? Wie isses?

    Ja doch. Ungewöhnlich eklig. Total neue Erfahrung Malina. Wolln wir uns reinsetzen?

    So weit würdich für heut nicht gehn Vik. Man muß die Angst vor der Scheiße allmählich abbaun.

    (Meint sie das politisch?) Diogenes soll sich als Rentner seine Tonne mit Pferdemist gepolstert haben. Aber der hatte Reuma, vermutlich.

    Malina lachte rüber: Vielleicht kehren im Alter die natürlichen Instinkte zurück?

    Mit grünen Socken stapften sie an den glotzenden Kühen vorbei, fanden die Viehschneise durch das Gesträuch in das knietiefe langsam strömende Wasser. Eine sandige Kuhle, die Hufmale, jeder Kiesel am Grund erkennbar. Malina musste ihren Rock nicht schürzen, zog die Luft durch die Zähne, doch verdammt frisch! Aber toll. Komm rein!

    In grünlichen Schlieren floss das verdaute Gras von ihren Waden bachabwärts. Gänseliesl. Er wusch seine Füße am Ufer sitzend, zog die engen Jeans aus, stieg in Unterhose ins Wasser.

    Obs hier Forellen gibt?

    Jetzt bestimmt nicht mehr.

    Weißtu was Vik? Ich muß hier einmal richtig untertauchen! Das ist ein Jungbrunnen, dies Wasser.

    Wartete nicht, zwei Schritt zurück auf den Bachrand und hoppla die Bluse aus, den Rock, den Slip, ließ die kleinen Brüste frei, Denk dir nichts bei Vik! Oder denk wir sind in den Isar Auen.

    An ihm vorbei, der ans Ufer stieg zwecks restlicher Entkleidung: Bin einfach ne Nixe! platschte ins Wasser, tauchte unter, Augenblicke lang bewegungslos am Grund der zierliche helle Körper im aufgewirbelten Sand, und prustend wieder hoch ins schüttere Sonnenlicht, schüttelte funkelnde Tropfen aus ihrem Haar, schaute den hosenfreien Bliss spöttisch an: Na du Nöck? Komm rein! Dass du abgekühlt wirst. Ist Platz genug in der Wanne.

    Sakrische Lust sie jetzt zu umarmen, ihre nassen Brüste an sich zu drücken, aber die von ihr bestimmten Regeln des paradiesischen Spiels, ihr unbefangenes Vertrauen, verboten ihm das. Er legte sich auf den Bauch in die eisige Kuhle mit angehaltenem Atem bis der spitz gewordne Verräter zurückgeschrumpft war zum fühllosen Anhängsel und sein Körper bibberte. Grönland!

    Da schießts heiß aus der Erde.

    Stimmt auch wieder. Und wer wärmt mich jetzt?

    Komm her – hier steht sie! Die Himmelslady. Leckt uns trocken mit ihrer großen Zunge.

    Ein Bauer von seinem Trecker schaute zu den beiden Nackten in der Sonne herüber, fuhr hörbar langsamer, stoppte aber nicht.

    Man wird wohl in Gottes freier Natur mal baden dürfen! rief sie über die Wiese. Doch hielt sie einen unmissdeutbaren Abstand zu Bliss bis sie trocken und in den Kleidern war.

    Im Wagen die gestockte Hitze, erträglich jetzt. Malina prüfte ihr Gesicht im Spiegel der Sonnenblende, strählte das kurze Haar mit den Fingern.

    Siehst fröhlich aus. Keck irgendwie.

    Soll ich nicht?

    Er stieß die Luft durch die Nase. Doch, klar. Gefällt mir sehr.

    Sie strich ihm flüchtig über die Stirn. Kein Grund für Sorgenfalten, mein Lieber. Nicht jeder rote Apfel ist reif. Hast übrigens schöne Füße, Vik.

    Woher weißt du das denn?

    Auf der Wiese hab ichs gesehn.

    Da gabs noch viel andres zu sehn

    Soso. Malina lachte. Dann fahr man jetzt los Vik. Sonst wirds doch noch zu spät für unsre Glasbläser.

    Schöne Füße Immerhin Was fang ich an mit Füßen Außer laufen

    Vielleicht stellvertretend die Füße Pars pro toto

    Was erwartet eine Frau von meinen Füßen Die meint was andres Aber was

    Nöck Ein Nöck ist ein Wassermann Meistens wild Nöck und Nixe da gehts ab mein Lieber da wirbelt der Schlamm Oder wer weiß

    Nicht jeder rote Apfel ist reif Was will uns der Herr Jesus mit diesem Gleichnis sagen Nur jeder zweite oder dritte Sie nicht Oder vielleicht noch nicht Aber demnächst? Kann auch sein.

    Was kann überhaupt nicht sein alles kann sein Muss aber nicht Sein kann immer nur eins Wenn eins ist bleiben die andern Sein könnenden Nichtse Unter den Nichtsen muß es eine Art Verdrängungswettbewerb geben welches sein darf Oder muss Vielleicht genieren sie sich wollen lieber nicht Oder wollen woanders Oder später Fühlen sich noch nicht reif Stuss

    Aber zum Beispiel diese Straßenkreuzung Ich kann grad-aus fahren rechts links sogar wenden und zurück Vier Möglichkeiten Vier mögliche Schicksale drei bleiben übrig als Nichtse Tut mir leid Wir fahren nach Juhu Das heißt Immenhausen Wo die Brimmen brausen Die Schlimmen mausen Malina ist meine kecke Begleitbrimme

    Ist es noch weit Vik?

    Im Vergleich zu Grönland oder Buxtehude überhaupt nicht.

    Doower Witz. Ich hab langsam Hunger.

    Tschuldige. Wollt glaubich sagen, mit dir ist mir keine Straße lang.

    Mhmh

    Was heißt nun wieder Mhmh. Aha, mit Ausrufezeichen? Oder Soso, mit Punkt? Oder Mir auch, mit Gedankenstrich? Also jetzt ganz sachlich: Am letzten Ort stand Wolfhagen dran. Vielleicht schaust du mal im Straßenatlas. Seite siemunsiebzich. Zierenberg ist der nächste.

    Das fand sie schnell: Sind wir ganz nah Vik – Meimbressen – Calden – Burguffeln – Namen haben die hier! Kopfschütteln. Wie kommt man an solche Namen? Immenhausen macht ja noch einen Sinn, Stadt der Bienen.

    Vereinte Verwunderung. Gibts Namensammler?

    common

    Sang noch an Warburg der hochgebauten Stadt vorbei auf die Landstraße kurvenreich von den Masters of War den wechselnden Zeiten, Dylan und Degenhardt und Beatles und Blääk Föös den Potpourri der heitren Rebellen der lockenhaarigen Friedensapostel, auch hatte die Sonne sich mächtig hochgearbeitet zwischen den häufigen Wolken, die Grüns der Wälder und Felder, der Vorgärten labten artenreich die stadtverstaubten Augen, von allein fand der Wagen den mehrfach erfahrenen Weg, Breuna, Listingen, Kopilot die braune Aktentasche, auf der ruhte die Hand des Eigentümers, lag auf dem darin verborgenen unveröffentlichten Schriftstück, dem Dossier, dem Volksepos, das drängte vorwärts zur Uraufführung vor denen, die seine eigentlichen Urheber und Anlasser waren, zu deren Verstärkung und Ruhm der Sozialarbeiter Kolenda seine Grenzen übertreten hat: Wochen der Neugier im unübersichtlichen Gelände der Glashütte mit Sony und Notizblock, Wochen der Schinderei vor dem Papier mit der Wut im Herzen und dem Wust im Kopf.

    Die langwierig wiederzukäuende Bitterkeit über den Rausschmiss, die sich geklärt hatte erst allmählich in die Aufgabe als Kundschafter in der richtigen Klasse, weg von der Hoffnungslosigkeit der jungen Verdammten, hin zu denen die kämpfend sich ihren Weg in die Zukunft freischlugen, ihn mitzogen in die eigne Klärung beim Schreiben und in die eigne Befreiung vielleicht.

    Viel zu schnell, mit dem Tempo der Autobahn und dem starken Magneten Glashütte, Grebenstein der letzte Ort vor dem Ziel, aus Gartenstaketen EIN SCHWARZER SPRUNG AUF DIE STRASSE und entgegen DER ANDERE WAGEN, er trat volle Kraft auf die Bremse, das kreischende Radieren der Räder, im Schlingern spürte er den doppelten Schlag unterm Boden und den Schreck in der Brust. Brachte das Fahrzeug zum Halt. Stieg aus, schwammige Beine. Schaute zurück. Die wieder leere Straße, flankiert von Bauernhäusern. Das schwarze Bündel, regungslos, zwischen der Bremsspur.

    Er schob sich hin, gegen seinen Widerstand. Zwei Fenster wurden geöffnet, er blickte nicht hoch. Das Fell: eine Katze. Die weißen Pfoten zuckten. Er bückte sich hinab, strich über den ausgestreckten warmen Körper. Steh doch auf – Katzen haben sieben Leben!

    Das Maul aufgesperrt, über die rosa Zunge lief Blut auf den Asfalt, das Rinnsal sickerte mäandernd zum Bordstein. Unterm Schwanz Angstpisse. Der kleine Kopf irgendwie aus den Fugen, zerschmettert. Die glasigen Augen blicklos.

    Es muss ihr Siebtes gewesen sein.

    Wer hupte ihn an, grell, unverschämt laut, stoppte kurz vor ihm. Stoßstange Kühlergrill aus den Augenwinkeln, der Fahrer schnauzte los: He lebensmüde oder was!?

    Er richtete sich hoch, das leblos erschlaffte Tier auf den Händen, leise: Die hab ich überfahren, eben.

    Das ist kein Huhn – sind Sie froh! Bauernkatzen gibts jedes Jahr neu für nix.

    Stieg ein, hieb den Schlag zu, kurvte an ihm vorbei. Landarbeiter, die dreckigen Stiefel.

    Hinter dem Holzzaun des Fachwerkhauses ein Blumengarten, die Fenster geschlossen.

    Im Nebenhaus die Frau nickte ihm zu, sagte nichts. Was meint die. Vom Kopf des Tieres tropfte das Blut noch. Ins Haus bringen? Zwischen die Blumen? Das Hoftor offen, nichts niemand bewegt sich. Paar Hühner. Mauersegler. Auf dem Feld, die Leute. Mittagsfrieden. Tödlicher Frieden.

    Er trug die Katze zum Wagen, legte sie auf dem Kofferraum ab, zog den Schlüssel aus dem Zündschloß, öffnete die Heckklappe, lagerte den Körper vorsichtig auf den Boden, drückte die Klappe leise in die Verriegelung.

    Vor dem Lenkrad sitzend wischte er sich mit einem Papiertuch die Rechte ab, mit Spucke das schon antrocknende Blut.

    Katzentöter.

    Lebe Wesen Killer.

    Heftiges Kopfschütteln. Mach halblang Kolenda. Zehntausend gekillte Kinder Frauen Männer sind die Strecke, rund gerechnet. Jährlich! Ruhig gestellt. Demobilisiert für immer. Wer zählt Katzen und Hunde und Igel und Rehe – das sorglose Halali täglich auf den Straßen. Wir sitzen alle flott in den eisernen Menschenfressern und treten aufs Gaspedal. Die Sonne scheint weiter. Heiter weiter. Opfer des Straßenverkehrs heißt das korrekt.

    Er startete, fuhr langsam, im Zweiten, der Leichenwagen DeKaWe, aus dem Dorf Grebenstein, Immenhausen 5 km. Wie er die Hand am Steuer ausstreckte zitterten vier Finger sichtbar. Tod ist Tod oder wie. In der Brust das Herz flimmerte noch nach mit der ablaufenden Welle des Schrecks.

    Er bog in einen Feldweg, ließ den Wagen ausholpern an einem Birkenhain. Setzte sich auf einen Baumstumpf, bettete den schwarzhaarigen Körper neben sich ins Gras. Löwenzahn Klee Sauerampfer Hirtentäschel, Wegwarten blau. Schwankende Halme namenlos. Wildhafer. Sonja weiß die alle. Bäume und Blumen. Stempel Griffel Narbe. Verhinderte Lehrerin auf jedem Sonntagsausflug.

    DER SOMMERFILM AUS DER EIFEL PLATZTE IN SEINEN KOPF. Die erbarmungslose Erinnerung an die sonnige Straße steil runter vom Dorfausgang, der tödliche Zweikampf KAIN ABEL; Martin auf dem Jungenrad bergab und Klaus auf dem Bambirad hinterher, ungebremst beide wie verrückt und losgelassen, unten an der Kurve die Friedhofsmauer, er sprang noch auf rannte ihnen nach schrie HALT! HALTET AN! sie hörten nichts mehr preschten zu auf die Mauer unbremsbar, das Kinderrad unter Klaus flattert schlingert kippt den kleinen Körper auf die Straße, meterweit rutscht es mit dem Kind auf dem Asfalt ogott! Aber hat ihm, ja doch! das Leben gerettet vor dem Zerschellen an dem steinernen Hindernis, starr lautlos in Panik der Junge als er neben ihm kniete, auch Martin stumm entsetzt beim Anblick des hervordringenden Bluts aus der abgelederten Haut an Bein und Brust des wimmernden Bruders. Sonja der leibhaftige Vorwurf, riss ihm fast das Kind aus den Armen. Deine Idee, Fahrradtour mit einem Fünfjährigen! Der Anfang vom Ende.

    Immer wieder in den Jahren die graue Friedhofsmauer aus Felsbrocken als Alb im Gedächtnis, unheilbares Trauma, Zeitzünder hinterrücks.

    Kolenda sammelte ein paar Steine vom Feldrand, bedeckte damit den Katzenkörper. Er pflückte zwei Löwenzahnkugeln, blies hinein. Die Flugsamen segelten sinkend über den Steinhaufen. Statt Blumen.

    In Immenhausen parkte er vor dem Glashüttenhotel, überlegte ob gleich in die Hütte oder erst offiziell anmelden bei Berner.

    common

    Das Objekt leicht auszufinden, neben dem Bahnhof. Überragend der weithin sichtbare Schornstein, ohne Fahne. Das Zeitungsfoto zeigte den Vorplatz verschneit, menschenvoll, schwarz verkleidete Männer mit einem Sarg. Unverkennbar die verglaste Pförtnerkabine.

    Der drin saß wies ihnen mit fünf Fingern das Glashüttenhotel, gegenüber der Fabrik.

    Malina vorweg, an die Teke, resolut: Ein Zimmer bitte. Und auf den fragenden Blick die lächelnde Korrektur: also zwei. Auf dem Anmeldeblock, freiwillig wahrheitsgemäß: Malina Stotz, Frankfurt, und er, gehorsamst: Dr. Bliss, Viktor, Gießen. Ein klares Verhältnis. Eben keins, Herr Wirt.

    Besser so. Na klar doch. Wir wollen wissen, ob hier Geschichte passiert ist.

    Immenhausen. Wie dösig dies farblose Nest im unausgeprägten Gelände, Kleinstadtdorf, kein Fluss, kein Berg, keine Burg, auch kein Waldrand, einfach so hingehängt an den Schienenstrang oder umgekehrt, und von hier ging aber vor anderthalb Jahren ein Geschrei durch Hessen und darüber hinaus, Art Land Sturm: Hört ihr Herrn und lasst euch sagen, wir setzen euch eine Mine ins Nest, eh nämlich ihr uns die Bude dichtmacht und schickt uns zum Amt mit dem großen A: blasen wir unsre Gläser mit den eignen Mäulern für uns! Und auf eigne Rechnung!

    Da kann ein promovierter Historiker aus der Nachbarschaft Marburg wohl kommen und nachsehn, ob auf dem Kuhdorf der Fortschritt fröhlicher fortschreitet als in den Metropolen der Banker. Geglaubt hats doch keiner wirklich, dass da was Neues sprosst aus dem alten Mist, ein Aufbäumen, ein Trotz gegen den Hauptstrom, das hessische Gallierdorf gegen die Imperatoren aus Römisch-Frankfurt ohne mirakulixischen Zaubertrank.

    Ausgerechnet der von seinen Genossen geschasste Altkommunist Hans Gebhard hat im Marburger Gewerkschaftshaus die Süßmuth Gläser Verkaufsausstellung angezettelt: Kollegen leistet euch was für eure Märker, nämlich diese doppelt schönen Gläser aus Arbeiter Atem und genossenschaftlichem Eigentum, und du Viktor Bliss komm mal raus aus dem Dampftopf Universität, wo du nichts kriegst als Falten im Fell, erforsch was im Hinterland wirklich passiert ist – vielleicht ist die Hütte in Arbeiterhand ne sozialistische Heckzwiebel aus dem roten Paradiesgarten. Aber das weiß jeder angewandte Linke im dritten Semester, Hans, dass sowas nicht hinhaut: befreite Inseln im Kapitalismus. Außer privat durch sechs Treffer im Lotto.

    Immerhin könnte man rausfinden, hat Abendroth in die Runde gepafft, wie diese Dorfburschen es fertigbringen, dass ihr Schornstein noch raucht, nach anderthalb Jahren, gegen alle Vernunft und Erfahrung. Die DDR steckt bestimmt nicht dahinter, sonst wär auch die DKP in den Bus gestiegen als die Frankfurter Rundschau und Jusos und Monitor – alle haben die Kurage der Süßmuth Leute mit hochgezognen Brauen bejubelt, Retter der dreihundert Arbeitsplätze, na schön, aber riechen konnt man das Frühjahr im Winter, die heimliche Hoffnung: da putzt mal ein mutiger Zwerg dem Riesen die Fresse ohne Respekt vor seinen goldnen Zähnen, weil ihm die Verzweiflung am Hals steht. Nicht Mitbestimmung, sondern, Ohren auf!: Selbstverwaltung!

    Wohlwollende Kommentare in allen Medien, außer der FAZ, und aber der Schorsch gleich mit seinem Essig: spürte das Lauern der Journalisten aufs Scheitern (mit erneutem Nachrichtenwert), auf die Bestätigung, dass ihr eignes liberales Raushalten aus den sozialen Kämpfen Garantie ihrer professionellen Objektivität sei. Und nicht etwa die Angst um die eignen Brötchen dahinter. Wenn die den Bach runter rauschen kommen wir mal wieder großartig raus mit unsrer Skepsis. Abendroth: Wie auch immer – da haben kleine Leute eine starke Sache versucht. Also nimm das ruhig unter die Lupe, Viktor. Wenn du jetzt Zeit hast.

    So war diese Gegenwart im Graduiertenseminar vom Stapel gelaufen.

    Malina Stotz überbrachte dem Geschäftsführer Berner im Auftrag der Frankfurter Landesleitung das Angebot, auf dem Sommerfest ihrer Partei in Hanau einen Solidaritätsbasar für Süßmuthgläser zu organisieren, mit tausenden von Besuchern würde gerechnet, die Kollegen sollten einen eignen Verkaufs-stand errichten, man könnte eine Podiumsdiskussion über die Erfahrungen mit der Arbeiterselbstverwaltung veranstalten, überparteilich besetzt: der Geschäftsführer selbst, ein Betriebsrat der Hütte und von der IG Chemie zum Beispiel Werner Vitt oder Franz Fabian, dazu ein Betriebsrat aus einem Großbetrieb, einer Zeche die auch von Schließung bedroht ist – ihren charmanten Witz packte sie aus, ihre Beredsamkeit, die Berner schweigend und mit ermunterndem Lächeln ohne Zwischenfragen gewähren ließ, bis Malina die Puste ausging. Immer noch durch seine schwarze Brille lächelnd erklärte der Mann, dass der Aufwand des Transports der Gläser nach Hanau wahrscheinlich in keinem Verhältnis zum möglichen Verkaufserfolg stünde, das lehrten die Erfahrungen mit Ausstellungen in einigen Gewerkschaftshäusern, das vielbeschworene Solidaritätsgefühl unter den Arbeitnehmern habe offenbar starke Einbußen erlitten, Süßmuthkäufer seien in den Mittelschichten zu suchen, die sich teures mundgeblasenes Glas als Statussymbol leisten wollten, und außerdem seien ihre Belegschaftsmitglieder in der Produktion so stark eingespannt, dass sie solche Verkaufsaufgaben nicht zusätzlich übernehmen könnten. Das Glasmachen, davon können Sie sich gern in der Hütte überzeugen Frau Stotz, ist nämlich etwas andres als das Pusten von Seifenblasen.

    Malina wollte ihren Auftrag so schnell nicht verloren geben, schlug vor, dass Genossen ihrer Partei aus Kassel den Transport und Verkauf der Gläser übernehmen könnten und außerdem kämen zu ihrem Fest nicht nur Arbeiter, sondern viele Freiberufler und Angehörige der Intelligenz aus Frankfurt, also kaufkräftige Bürger. Und die Podiumsdiskussion? Als Werbung für das Modell Süßmuth, die Arbeiterselbstverwaltung?

    Da richtete Berner sich auf in seinem Chefsessel unterm Bild des Firmengründers, drückte das Kreuz sichtbar durch, erklärte, dass er als Angestellter der Eigentümer in solchen politischen Fragen selbstverständlich deren gewählte Vertreter, die Gesellschafter, konsultieren müsse, denen er allerdings aus seiner Sicht zu solchen Unternehmungen nicht raten würde, da die Hütte politisches Glas nicht verkaufen könne, sondern im Gegenteil aus dem öffentlichen Gerede herauskommen müsse. Das beträfe auch solche Forschungsvorhaben wie Herr Dr. Bliss sie in seinem Brief vorgeschlagen habe. Es passe aber nicht ungünstig zu ihren Absichten, dass ein Journalist aus Köln, Herr Kolenda, von der Demokratischen Zeitung, am Abend im Hüttenhotel den Vertretern der Eigentümer und dem Betriebsrat die Frucht seiner Recherchen vortragen wolle, eine Art Vorlesung offenbar, bei welchem Anlass sie vielleicht Gelegenheit fänden, ihre Anliegen zur Sprache zu bringen. Auch wenn er, als verantwortlicher Geschäftsführer, das müsse er der Ehrlichkeit halber offen aussprechen, mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg halten würde. Wollten sie teilnehmen, würde er den Vorstand der Gesellschafter von ihrer Absicht vorab informieren.

    Arroganter Knochen, fand Malina, noch leise, im Flur des Bürogebäudes. Pusten von Seifenblasen! Hält uns für doof. Diese bürokratische Sprache auch. Und kopfschüttelnd: Wer den hier als Geschäftsführer eingesetzt hat! Oder gewählt. Seine ganze Botschaft hieß im Grunde: Haut ab. – Als ob sie keine Hilfe nötig hätten.

    Bliss schien der Mann mit der dicken Hornbrille unter dem exakten Scheitel sowas wie doppelbödig. Dieses Angestellter der Eigentümer war wohl die Anerkennung seiner formellen Abhängigkeit von den neuen Besitzern, aber als Geschäftsführer empfand er sich offenbar immer noch als Vormund der Arbeiter.

    Malina, da standen sie auf dem Hof in der bescheidenen Grünanlage vor dem wasserlosen Springbrunnenbecken, hielt Berners Arroganz allerdings eher für vorgetäuscht und ihn für einen Kandidaten auf psychosomatischen Krebs oder Schuppenflechte. Der Mann hat Angst.

    Aber den Kölner haben sie reingelassen und wollen ihn anhören. Kennst du diesen – wie hieß er gleich?

    Komenda. Oder Kolenda. Habich schon mal gelesen den Namen. Frag mich nicht wo.

    Bei dem hatten sie anscheinend keine Berührungsangst. Wahrscheinlich ist Marburg das falsche Stichwort. Und DKP erst recht. Hättst besser nur vom Volksfest gesprochen.

    Komm Vik. Die Zeiten der Heimlichtuerei sind vorbei! (Strenges Stirnrunzeln)

    Bliss, skeptisch: Wenn du dich da man nicht täuschst. Inner deutschen Kleinstadt.

    Als er zufällig zur Fassade des Bürogebäudes zurücksah, entdeckte er den Kopf des Geschäftsführers hinter einem Fenster. Er beobachtet uns!

    Lass ihn doch. Malina winkte freundlich hinauf: Wir müssen in der Offensive bleiben.

    Und Bliss wunderte sich, dass er ihnen überhaupt von der Gesellschafterversammlung mit dem Journalisten erzählt hatte, ohne Not.

    Weil er weiß, dass wir das auch ohne ihn rausgekriegt hätten.

    Wollte sich jetzt aber mit Kenntnis bewaffnen für den Abend, die Eigentümer bei der Arbeit, noch ne halbe Stunde bis Feierabend, komm Vik, wir schaun uns an wie sie ihre Pusteblumen da drin wirklich herstelln.

    Und dein Hunger?

    Welcher Hunger?

    common

    Er begrüßte den Pförtner, der im Unterhemd in seinem gläsernen Brutkasten Musik aus dem Kofferradio hörte. Franz Sattler platzte von der neusten Hüttenstory: Die Gesellschafter haben die Geschäftsführer Stein und Broch rausgeschmissen!

    Ist das wahr?!

    Und zwar ohne den Beirat zu fragen!

    Unmöglich.

    Die Nachricht elektrisierte Kolenda. Er wusste von seinem letzten Besuch, dass die Spannungen zwischen den drei Geschäftsführern und auch zwischen dem technischen Chef und der Belegschaft zu immer neuen Streitausbrüchen geführt hatten. Aber dass die Arbeiter so schnell und selbstentschlossen ihre Rolle als Eigentümer wahrnehmen würden und ihre Vorgesetzten entließen, offenbar ohne die Banken und die Gewerkschaft um Erlaubnis zu bitten, das war eine neue Qualität von Kühnheit. Oder Mut der Verzweiflung.

    Er fragte nach Jochen Zindler. Der konnte um diese Zeit zuverlässig Auskunft geben, nicht die mißtrauischen Berner und Müllrich.

    In der Flachglas Malerei, sagte das schwitzende Holzbein Franz, ganz nach hinten durch in der ersten Etage beim Chef.

    Beim Chef?

    Beim Süßmuth. Wissen Sie, Herr Kolenda, wenn man dreißig Jahre lang Chef gesagt hat lernt man nicht mehr um. Ich war schon in Schlesien beim Richard, und er hat mich siebenundvierzig auch als Kriegsversehrter wieder genommen. Der hatte Achtung vor einem, der seine Knochen fürs Vaterland hergegeben hat. Vergess ich ihm nie.

    Auf dem langgestreckten gepflasterten Hof zwischen der Fabrikhalle und den Nebengebäuden die Ausweise der Produktion: in der Sonne glitzernde Scherbenhaufen mehrfarbig, Quarzsand, Soda, Kalk, rostige eiserne Schubkarren, gesinterter Schamottbruch. Aus den geöffneten Fenstern das Rauschen der Brenner, Klirren von Glas, einzelne Stimmen. Gute Geräusche, die Fabrik atmet.

    Ungreifbar die Atmosfäre der Hütte, aber sie wehte ihn an, fing ihn ein als etwas Vertrautes, als hätte er selbst jahrelang in diesem Kosmos sinnvoller Abläufe gearbeitet, bei denen Dreck in Glas und nützliche Formen verwandelt wurde. Vielleicht hat er sich durch das wochenlange Schreiben über das an wenigen Tagen Erfahrene dieses Lebewesen angetraut, einverleibt, ähnlich denen, die hier, als seine Blutkörper, wirken, in ihm kreisen auf den vom Produktionsprozess vorgeschriebenen Bahnen, und es so doch erst aus einem Haufen toten Materials zu einer Fabrik werden lassen.

    Aber das steckt ihm noch länger, noch älter in den Knochen. Ein Gefühl von Zugehörigkeit, das er in Waltrop als Zwang, als Einschränkung seiner jugendlichen Freiheitslust empfunden hat: eine ganze Kleinstadt zusammengewachsen mit der Zeche, abhängig und durchdrungen die eine von der andern. Jeden Schritt zwischen Zechensiedlung und Lehrwerkstatt und Waschkaue und Kantine war der Vater vor ihm gegangen, nichts Selbstbestimmtes, Eigenmächtiges, der schwarze Brennstoff in der Erde als Elixier und Faszination und Verhängnis – das musste erst ausgejätet und abgestoßen werden, damit das Eigne entdeckt werden konnte unter dem Joch.

    Im Halbschatten der Zitterpappel, auf der Bank vor dem Quergebäude neben dem altschwarzen Zweihundertzwanziger des enteigneten Unternehmers sitzend, die Aktentasche zwischen den Füßen, scheint ihm die aus Erinnerung und Gegenwart gemischte Empfindung, flirrend wie die Blätter des Baumes in der schläfrigen Brise, ein Schlüssel zu seiner unentschiedenen, zwitterhaften Existenz zwischen der proletarischen Herkunft und den tastenden, vorsichtigen Unternehmungen kopfgeleiteter Abenteuer. Ein Schlüssel aber, für den das zugehörige Schloss noch nicht gefunden ist.

    Vorsichtig öffnete er die schwere Eisentür in den hohen Raum, in den blattgrüngetönte Nachmittagssonne durch ein wandhohes Atelierfenster flutete. Jochen Zindler, vor einer breiten Arbeitsplatte, zeigte ihm die aschgrauen Wellen seines Hinterhaupthaars: Treten Sie nur näher, Herr Kolenda! Was gibts Neues aus Köln? drehte sich aber nicht um, noch legte er das Messer aus der Hand, mit dem er an dem vor ihm liegenden Fenstermosaik arbeitete.

    Tach Herr Zindler, sagte Kolenda, bin also schon angekündigt. Der Dom steht noch, bis auf weiteres. Aber wie siehts in der Hütte aus?

    Wir schaffen – was sonst? Zindler schob seine silberne Drahtbrille zur Nasenwurzel, blickte ihn an, ironisch lächelnd: Und Sie? Warn Sie fleißig? Haben Sie uns was Brauchbares mitgebracht?

    Kolenda legte seine Aktentasche auf den Tisch, auf Glasscherben, Bleireste, Werkzeug. Passt gut, das abgeschabte Ding, in den dreckigen Rohstoff der Arbeit.

    Obs brauchbar ist, müsst ihr heut abend befinden. Er zog den Packen betippter Blätter aus der Tasche: Ich hab mein Bestes gegeben.

    Hoffentlich kein Roman, wie? Zindler fächerte die Blätter zwischen Daumen und Zeigefinger durch, las den Titel: Machen wir heute was morgen erst schön wird? Nicht schlecht. Könnte zutreffen. Hoffentlich.

    Kolenda zeigte auf den Untertitel: Reportage aus der deutschen Wirklichkeit. Den Roman wollen Sie ja schreiben.

    Zindler lachte, geschmeichelt. Wenn wir über den Berg sind. Im Augenblick krachts wieder im Gebälk.

    Der Sattler sagt, ihr habt die Geschäftsführer in die Wüste geschickt?

    Der Franz schwatzt zu viel. Einen haben wir behalten, Vielleicht einer zu viel.

    Berner.

    Der weiß wenigstens, weshalb er für die Hütte arbeitet. Hat unsern Stallgeruch.

    Hätte nicht gedacht, dass ihr so mutig seid, ehrlich gesagt. Ohne Beirat.

    Mutig? Zindler sprang der Zorn ins zerfurchte Gesicht. Unter den zusammengezogenen Brauen blitzte er durch die Brille: Wir haben uns nicht die Hütte erhalten, um sie uns von einem Maulhelden und einem technischen Tolpatsch kaputtmachen zu lassen! Für sechstausend Mark Nasenprämie im Monat! Wissen Sie, wie lange zehn Glasmacher arbeiten müssen für zwölftausend Mark Gewinn? Der Stein hat pfundweise Werbebriefe nach Japan geschickt, Südamerika, wollte Süßmuthglas in Kanada verkaufen! Allein die Portokosten! Entschuldigen Sie, aber ich bin ja nicht blöd, oder? Wo sitzen denn unsre Kunden? Am Äquator?

    Kaum, vermutete Kolenda, ohne allerdings einen Schimmer von den Vertriebswegen der Hütte zu haben, ungefähr genauso wenig wie von der Flachglasmalerei, bisher hat er ihn immer nur in der Hohlglasmalerei getroffen und keine Ahnung, dass er auch in diesem Atelier arbeitet, in Rufnähe offenbar vom alten Süßmuth.

    Zindler wies mit dem Bleimesser zur Decke: Man kann seine Schritte hören, wenns still ist.

    Er schnitt ein Stück Bleischiene auf passende Länge,

    Manchmal steht er plötzlich in der Tür. Schweigend.

    bog das Blei mit beiden Händen in den sanften Schwung, den die Zeichnung auf dem Tisch vorgab,

    Die fleischgewordne Anklage!

    nahm eine smaragdgrüne Scheibe von der von unten erleuchteten Milchglasplatte, auf der die noch nicht verwendeten Teile des Bildes lose lagen, schob sie in die Schiene

    Verzeiht mir nicht, dass ich unser Ultimatum mitunterschrieben habe.

    klopfte mit leichten Schlägen eines Holzhämmerchens Scheibe und Schiene ineinander,

    Obwohl er die Glaskunstwerkstatt behalten durfte!

    mit einem fingerbreiten Holzstift bördelte er den Schienenrand auf das Glas und drückte die Enden der Schiene zusammen,

    Das gehört ihm hier noch alles. Große Armbewegung durch den Raum, den Kolenda nun erst genauer wahrnahm – die zwei schräg gestellten, offenbar fertigen Bilder mit biblischen Motiven vor dem Atelierfenster, die senkrechten Regalfächer mit zahllosen farbigen Glasplatten, den kleinen keramischen Brennofen, den zweiten Arbeitstisch, bedeckt mit Pappestücken, Glasteilen, Werkzeugen, Flaschen.

    er schob das halb gefasste Glasstück in die quer darüber liegende Schiene des schon zusammengefügten Bildteils

    Neue Aufträge für Fenster bekommt er nicht mehr. Paar alte Sachen, die ich noch zu Ende bringe. Geschenk der Belegschaft.

    mit einem eisernen Hammer schlug er einen Stift an der unteren Glaskante ins Holz, um das Teil zu fixieren,

    Chorfenster für die Kirche in Hessisch-Lichtenau wird das.

    bördelte die obere Schiene um,

    Redet kaum noch mit mir. Gebrochener Mann. Altersstarrsinn.

    schnitt ein weiteres Stück Blei ab,

    Verstehts bis heute nicht, dass er uns das alles eingebrockt hat.

    Formte es mit dem Holzhammer gegen die freie Seite des grünen Glasstücks.

    Er blickte Kolenda über den Rand seiner Brille an, leichtes Kopfschütteln: Aber die wirklichen Scharfmacher waren seine Frau und sein Bruder, der Mephisto. Und die Glasunternehmer. Die haben ihn aufgeputscht. Wissen Sie ja. Trauerspiel.

    Sie hängen ganz schön dazwischen, wie?

    Mensch will man schon bleiben. Welche wollen hier Klassenkampf spielen. Zu denen gehör ich nicht Herr Kolenda. Ich hoffe Sie haben das in Ihrer Darstellung berücksichtigt.

    Kolenda lachte. Das können Sie heut abend überprüfen. Wenns bei unsrer Verabredung geblieben ist. Bei der neuen Entscheidungsfreude der Gesellschafter –

    Zindler grinste kaum merklich. Jemand wird bestimmt paar Tomaten in der Tasche haben.

    Wie – ehrlich? fragte Kolenda bestürzt und Zindler, feixend: Ich denk das ist heut üblich – bei den Aufständischen?

    Sie wollen mich hochnehmen Herr Zindler.

    Da lachte der herzlich: Keine Angst! Unsre Wurfgeschosse sind rein symbolisch.

    Er wandte sich wieder dem halbfertigen Glasbild zu. Sehn Sie, früher warn wir hier zu dritt. Ich habe nur als Maler gearbeitet. Jetzt bin ich auch Kunstglaser, zuständig für alles.

    Was Sie hier fabrizieren Herr Zindler, ehrlich, ist mirn böhmisches Dorf. Sieht ziemlich mittelalterlich aus, Ihr Handwerk.

    Außer dem Glasschneider ist seit der Gotik auch nicht viel Neues dazugekommen. Aber mit Böhmen liegen sie nicht schlecht. Rudi Bilo stammt da her. Wir andern Alten haben alle bei Richard Süssmuth gelernt, in Schlesien, Pensdorf, wo der seine erste Glaswerkstatt hatte. Gehörte zu den Erneuerern der alten Kunst, war jahrhundertelang vergessen, seit der Renaissance im Grunde, weil keiner mehr Kirchen gebaut hat. Und die Protestanten wollten Licht, keine bunten Bilder. Entschuldigen Sie.

    Kolenda hatte keine Ahnung was er entschuldigen sollte.

    Sie wollen doch hören, weshalb wir die Geschäftsführer –

    Das erfahr ich schon noch. Aber wie ein Kirchenfenster entsteht, das weiß hier vermutlich keiner, außer Ihnen.

    Und dem Alten da oben, sagte Zindler mit einem Kopfheber zur Decke.

    Den kann ich nicht fragen.

    Kolenda kramte ein Schreibheft aus seiner Aktentasche, einen Kugelschreiber. Ich bin kein Student Herr Zindler. Auch nicht wirklich Journalist. Ich könnte Ihnen erzählen wie die Kohle aus der Erde kommt. Das habich gelernt. Bis auf die Knochen. Dann habich umgesattelt auf Neugier. Deshalb bin ich zu euch gekommen. Unternehmen Neugier. Weiß nicht ob das mal einen ehrlichen Beruf abgibt. Wie ihr drüben das Glas macht, habich einigermaßen kapiert. Wie ihr die Hütte am Laufen haltet auch.

    Zindler fasste unter seinen graufleckigen Malerkittel, zog eine Kapseluhr an der Silberkette aus der Hosentasche, ließ den Deckel aufspringen: In fünf Minuten habich Feierabend. So lange müssen Sie Ihre Neugier zähmen. Oder sich umschaun.

    Er passte zwei weitere Scheiben in das halbfertige Bild, während Kolenda an den Arbeitstischen herumstöberte, die farblosen Pinsel, Gänsefedern und Holzstifte in einem Becher, die verschlossenen Flaschen mit Pulvern und Flüssigkeiten, ein Schleifstein, ein elektrischer Lötkolben, eine eigenartige Schere, das gleiche sichelförmige Messer, mit dem Zindler das Blei schnitt, Holzkohlestifte, ein Papiermesser rasierklingenscharf, Flachglasstücke, bräunlich bemalt, die gegen das Licht gehalten überraschend leuchtende Farben zeigten und Einzelheiten eines figürlichen Bildes. Zindler warnte zur Vorsicht, die Farbschicht sei leicht verwischbar, noch nicht eingebrannt.

    Als die Fabrikglocke, ziemlich entfernt, ziemlich leise, vom Hof herüberscholl, fiel Kolenda erst die fast ungestörte Stille in diesem Raum auf, die durch Vogelgezwitscher in den Bäumen vor dem Atelierfenster sogar etwas Sommerlich-Idyllisches bekam. Auch die Temperatur war hier gut erträglich, entspannter ließ es sich arbeiten als in der lärmigen, brütenden Hütte. Zindler zeigte ihm an einem Abfallstück, wie er mit dem spitz geschnittenen Federkiel feine Striche in die Farbe ritzte und die Pinselborsten so auftupfte, dass wie durch ein Raster eine Schattierung entstand. Die Grundfarbe sei aber immer im Glas selbst, entweder in der Masse durchgefärbt oder beim Überfangglas auf den farblosen Kern eine beliebige Farbe aufgeschmolzen, die dann entsprechend der gewünschten Zeichnung mit Flußsäure abgeätzt werde.

    Kolenda fragte, wie denn Farbe in das Glas eingebrannt werden könne, ohne dass es, selbst schmelzend, seine Form verlöre.

    Zindler erklärte die Frage für sehr berechtigt und dass hier fast Alchemie im Spiele wäre, jedenfalls die jahrhundertalten Erfahrungswerte der Glasschmelzer, die aus den verschiedenen zu Pulver gemahlenen Farbglaspigmenten und dem Flussmittel, Terpentin oder Dannerlack, die Farben so herstellten, dass deren Schmelzpunkt etwas unterhalb dem des Glasträgers liege. Im Ofen würde das Glas nur weich, die Farbe aber flüssig und verbinde sich so unlöslich mit der Trägerscheibe. Beim Überfangglas entfiele dieser Arbeitsgang, weil die Zeichnung sich durch das Ätzen ergebe oder aber durch Wegschleifen, wie er es sicher schon in der Hohlglasschleiferei beobachtet habe.

    Durch Kolendas Mitschreiben und Nachfragen schien der immer skeptisch grundierte Jochen Zindler sich in einen von seiner Sache begeisterten Künstler zu verwandeln, der dem Laienschüler seine Verfahrensgeheimnisse erklärte, als gälte es, ihn als Nachfolger, als Zauberlehrling zu gewinnen. Um nun aber systematisch beim Anfang des Prozesses zu beginnen, zeigte er ihm einen in halbfingerbreitem Holzkohlestrich bemalten matt transparenten Papierbogen, den Bleiriß, auf dem er über dem ursprünglichen, farbigen Bildentwurf die Linien eingezeichnet hatte, mit denen die Farbglasteile durch die Bleifassung voneinander getrennt werden sollten. Das Blei sei das wichtigste grafische Element jedes Kirchenfensters. Vom Bleiriß müsse er die Konturen auf Schablonenkarton durchpausen und die Einzelschablonen mit dieser dreischneidigen Spezialschere aus dem Karton heraustrennen. Die schnitte einen millimeterbreiten Streifen – er führte ihm das an einem Stück des braunen Kartons vor – zwischen zwei Einzelschablonen heraus, und warum das? Dazu zeigte er ihm das H-Profil einer Bleirute. Kolenda begriff, dass der Streifen die Breite ihres Mittelstegs hatte, durch den später die Glasstücke voneinander getrennt werden. Genau dieser Abstand müsste beim Zuschneiden der Teile berücksichtigt werden.

    Kolenda nahm die Schere in die Hand, bestaunte ihren unkompliziert-raffinierten Mechanismus. Er probierte sie an einem Stück Pappe aus.

    Auf die ausgeschnittenen Schablonen müsse er – als Malermeister! – noch die Nummern der Farbgläser schreiben – über tausend verschiedne mundgeblasne Sorten gäbe es – die er dann, als ungelernter Kunstglaser, aussuchen und zuschneiden müsse.

    Zindler zeigte ihm, den Glasschneider wie einen Stift in der Hand haltend, ihn mit dem Mittelfinger andrückend, wie spielerisch leicht er sich entlang der Kurve einer Schablone über ein Stück Glas führen ließ, ein leises Knirschen wurde hörbar, und tatsächlich brach das Glas unter einem kurzen Schlag des Schneiders genau entlang der angerissenen Kurve. Verblüffend. Ungläubig probierte er es selbst auf einer Scheibe, ohne Erfolg. Kein Knirschen, kein Ritz. Was mach ich falsch?

    Zindler, milde lächelnd, griff nach seiner Hand, drückte sie mit dem Diamanten fester aufs Glas, da kam das Knirschen. Und danach ein glatter Bruch längs des Risses.

    Glas ist ein unheimlich sensibler Werkstoff, erläuterte Zindler, lebt ganz verschieden je nach der Wärme, die man ihm zuführt oder entzieht. Wie eine Frau. Aber im kalten Zustand braucht es die entschlossene Hand.

    Es gibt keine Glasmacherinnen, oder? vermutete Kolenda.

    Zindler kannte keine. Vom Glasmaler würden die Stücke dann entsprechend der Bildvorlage konturiert, die Gesichter, Hände, Gewandfalten, anschließend gebrannt und seien dann fertig für den Kunstglaser, der sie, wie er eben, ins Blei setzt. Und verlötet, an den Kreuzungspunkten der Bleischienen. Aber erst zum Schluß, wenn das ganze Bild fertig in seinem Rahmen sitzt. Wie die beiden da drüben am Fenster.

    Und der Kitt? Kolenda zeigte auf den grauen Klumpen – wann verwenden Sie den?

    Das Verkitten ist der letzte Akt der Geschichte. Der Kitt wird nur auf der Wetterseite eingebracht, schließt das Fenster dicht gegen Regen und drückt die Scheiben gegen die Innenseite der Schienen.

    Zindler zog seine Aktentasche unter dem Arbeitstisch vor, die aussah wie die schwarze Schwester von Kolendas, verpackte die Termosflasche und eine Plastikdose, hängte seinen Kittel an einen Wandhaken neben der Tür.

    Ich muss jetzt, entschuldigte er sich, meine Frau wartet mit dem Essen.

    Treffen wir uns heut abend im Hüttenhotel? fragte Kolenda, leicht unsicher.

    Zindler, harmlos grinsend: Gewiß doch, dafür muss ich mich jetzt ausruhen. Damit ich bei Ihrer Vorlesung nicht aus Versehn einschlafe!

    common

    Unter dem hochragenden Ausruf, dem backsteingemauerten Kamin, wirkte die Fabrikhalle geduckt, trotz der zwei Reihen hoher Fenster.

    Jenseits der Hallentür: eine Wand, unsichtbar. Von fünfundzwanzig Grad in der Sonne auf fünfunddreißig oder so im Schatten: eine atemberaubende Wucht.

    Und der Lärm Mann! Das Fauchen der Gasbrenner, das Rauschen der Ventilatoren, das Klirren splitternden Glases waren zu unterscheiden. Wie halten denn die das aus! (Zu Bliss höherem Ohr raufgeschrien.) Der zurück: Sie scheinen lebendig!

    Die auf den hölzernen Plattformen um die beiden Steinöfen, an den rotglühenden Löchern, hemdlos fast alle, kurze Hosen, hantierend mit langen Stangen an denen leuchtende Masse hing, vor den Bühnen sitzend andre, unklare Verrichtungen, und Frauen in Kitteln, durcheinander laufend mit Glaskörpern auf kurzen Stangen. Irre!

    Ja wirklich! schrie Malina zurück.

    Ein älterer Mann, neben ihnen, grauer Kittel über der nackten Brust, das Armzeichen: Bitte kommen Sie! schritt voran in eine hölzerne Bude mit Ventilator auf dem Schreibtisch, schloss die Tür hinter ihnen, halber Lärm noch: Guschewski. Ich bin der Hüttenmeister. Herr Berner hat sie angekündigt.

    Bliss. Händedruck. Von der Marburger Universität.

    Malina Stotz aus Frankfurt. Kleiner Händedruck mit Lächeln.

    Zu Bliss: Was wollen Sie sehn?

    Ja alles, nickte Malina zuversichtlich. Wie das Glas gemacht wird.

    Schaun Sie sich selbst um – in zwanzig Minuten ist Schluß an den Öfen. Aber Vorsicht! Nichts anfassen! Alles kann heiß sein.

    Erstaunlich, wie unförmlich der sie in sein Fegefeuer entließ. Anscheinend immer noch oft Besucher.

    Die Glasbläser auf den Podesten (manchmal schaute einer kurz herunter zu ihnen, signalisierte mit den Augen einen Gruß) waren unablässig in Bewegung mit ihren Blasrohren, mit denen sie glühende, honigzähe Glasmasse aus den Öfen zogen, sie mal fast senkrecht überkopf in die Luft hielten, das Rohr am Holzgriff drehend und hineinblasend, oder waagerecht in eine Gabel gelegt eine schon sichtbare gläserne Hohlform an der Rohrspitze weiter auftrieben und mit einem nassen hölzernen Löffel längten, oder das Rohr mit dem so vorgeformten Werkstück dem zu ihren Füßen vor der Bühne sitzenden Helfer in eine zweiteilige Holzform steckten, die Backen aufwölbend in das Mundstück bliesen bis der Zuarbeiter die vom Wasserdampf umwölkte Form aufklappte und das Rohr mit dem anhängenden durchsichtigen Hohlkörper entließ, den der Glasbläser auf einer Platte ablegte, mit einem Eisenmesser an der Rohrmündung berührte, so dass der absprang und von einer der Frauen zu einem Förderband im

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