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Der Schatten des Stricks: Kriminaldrama in zwei Bänden
Der Schatten des Stricks: Kriminaldrama in zwei Bänden
Der Schatten des Stricks: Kriminaldrama in zwei Bänden
eBook389 Seiten4 Stunden

Der Schatten des Stricks: Kriminaldrama in zwei Bänden

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Über dieses E-Book

Rachel Minchin ist angeklagt, den Mord an ihrem Ehemann geplant zu haben. Die Beweise sind erdrückend. Das Urteil nur zu schnell gefällt.
Während der Gerichtsverhandlung ist immer ein mysteriöser Fremder zugegen. Dieser Fremde versucht, mit Rachel Kontakt aufzunehmen. Weiß er, was zu ihrer Entlastung beitragen könnte? Parallel dazu versucht ein Detektiv, eine Neuaufnahme des Falles zu erwirken.
Wird eine neue Untersuchung, Licht in die Angelegenheit bringen?
Dieses Meisterwerk der komplexen Kriminalliteratur macht klar, warum Ernest William Hornung als ein absoluter Könner seines Fachs angesehen wurde.
Null Papier Verlag
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Juni 2019
ISBN9783962813710
Der Schatten des Stricks: Kriminaldrama in zwei Bänden

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    Buchvorschau

    Der Schatten des Stricks - Ernest William Hornung

    htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

    Erster Band

    Erstes Kapitel. Das Ende vom Lied

    Es ist vor­bei«, sag­te die jun­ge Frau mit un­na­tür­li­cher Ruhe zu sich selbst. »Nicht einen Tag, nicht eine Nacht mehr blei­be ich hier, wenn ich bis zum Mor­gen fer­tig wer­den kann.«

    Sie war al­lein in ih­rem Zim­mer, und nie­mand sah die töd­li­che Bläs­se des ova­len Ge­sichts, das ver­ächt­li­che Be­ben der fei­nen Na­sen­flü­gel und den trä­nen­lo­sen Glanz der fun­keln­den Au­gen. Wäh­rend sie noch da­stand, pol­ter­ten schwe­re Schrit­te zwei Trep­pen­ab­sät­ze hin­un­ter, wor­auf im Erd­ge­schoss eine Dop­pel­tür zu­ge­schla­gen wur­de.

    Es war ein ho­hes, schma­les Haus mit fünf je zwei Zim­mer ent­hal­ten­den Stock­wer­ken – Erd­ge­schoss und Man­sar­de mit ein­ge­rech­net – ein Haus, wie man sie in Lon­don so häu­fig fin­det. In die­sem hier aber hat­te sich vor kur­z­em ein eben­falls nicht all­zu un­ge­wöhn­li­ches Dra­ma ab­ge­spielt, auf das sich jetzt der Vor­hang her­nie­der­senk­te. Die Mit­wir­ken­den in die­sem Trau­er­spiel be­stan­den in­des nur aus zwei Per­so­nen, ob­wohl die böse Welt von ei­ner drit­ten mun­kel­te.

    Ra­chel Min­chin war, ehe sie den un­glück­li­chen Schritt un­ter­nahm, der ihr die­sen Fa­mi­li­enna­men ein­trug, eine eben­so rei­zen­de als blut­ar­me jun­ge Aus­tra­lie­rin ge­we­sen; das heißt, sie hat­te in Hei­del­berg bei Mel­bour­ne das Licht der Welt er­blickt, stamm­te aber von eng­li­schen El­tern ab, die, mehr vor­nehm ge­sinnt als prak­tisch ver­an­lagt, bei ih­rem frü­hen Tode der Toch­ter als ein­zi­ge Aus­rüs­tung für den Kampf des Le­bens ein hüb­sches Ge­sicht, einen vor­treff­li­chen Cha­rak­ter und den Stolz ei­ner rei­chen Er­bin hin­ter­lie­ßen. Au­ßer­dem hat­te Ra­chel eine recht hüb­sche Sing­stim­me, die in­des nicht groß ge­nug war, um ihr eine ge­si­cher­te Zu­kunft zu ver­spre­chen. So war sie denn schon mit zwan­zig Jah­ren als Er­zie­he­rin in den Wild­nis­sen Aus­tra­li­ens tä­tig, wo Frau­en eben­so rar sind als Was­ser, wo sich aber auch kein Mann fand, der Ra­chels Herz hät­te hö­her schla­gen ma­chen. We­ni­ge Jah­re spä­ter ver­dien­te sie sich die Über­fahrt nach Eng­land als Ge­sell­schaf­te­rin ei­ner Dame, und an Bord die­ses Schif­fes soll­te ihr Schick­sal sie er­ei­len.

    Mr. Min­chin, der eben­falls bei den An­ti­po­den ge­bo­ren und fast vier­zig Jah­re alt ge­wor­den war, bis er es end­lich zu ei­nem ge­wis­sen Wohl­stand ge­bracht hat­te, war trotz­dem ein welt­ge­wand­ter, viel­ge­reis­ter Mann und kein wil­der Busch­klep­per. Als tüch­ti­ger Mi­nen­bau­in­ge­nieur hat­te er viel vom Le­ben so­wohl in Süd­afri­ka als auch in Westaus­tra­li­en ge­se­hen, und nun woll­te er in Eu­ro­pa als wohl­ha­ben­der und durch kei­nen Be­ruf ge­bun­de­ner Mann so recht sein Da­sein ge­nie­ßen. Sich eine Frau zu neh­men, lag durch­aus nicht in sei­ner Ab­sicht, und auch Ra­chel wünsch­te sich al­les eher als einen Gat­ten. Aber die lan­ge See­rei­se, ihre un­be­frie­di­gen­de Stel­lung und die fort­ge­setz­ten Auf­merk­sam­kei­ten ei­nes hüb­schen, un­ter­hal­ten­den, selbst­be­wuss­ten Welt­man­nes bil­de­ten für sie in ih­rer Uner­fah­ren­heit eine eben­so ver­häng­nis­vol­le Ver­su­chung als für Alex­an­der Min­chin ihre Schön­heit und ihre mit so viel Stolz und Wür­de ge­tra­ge­ne Ar­mut. In al­ler Stil­le lie­ßen sie sich noch am Tage ih­rer Lan­dung in Eng­land trau­en, wo sie bei­de we­der eine ein­zi­ge be­freun­de­te See­le, noch per­sön­lich mit ih­nen be­kann­te Ver­wand­te hat­ten. An­fangs emp­fan­den sie die­sen Man­gel je­doch nicht, da sie sich zu­nächst ein­mal Eu­ro­pa an­se­hen und ihr Le­ben ge­nie­ßen woll­ten. Die jun­ge Frau be­son­ders gab sich umso eif­ri­ger die­sen Genüs­sen hin, als sie mehr und mehr ein­sah, dass die Vor­tei­le ih­rer Hei­rat doch vor­wie­gend ma­te­ri­el­ler Art wa­ren. Alex­an­der Min­chin er­wies sich näm­lich im Lau­fe des ab­wechs­lungs­rei­chen Le­bens in den großen Städ­ten durch­aus nicht mehr als der auf­merk­sa­me, stets gut­ge­laun­te Ka­va­lier, an des­sen rück­sichts­vol­les We­sen sie sich an Bord ge­wöhnt hat­te. Ein­zel­ner Vor­fäl­le zu nä­he­rer Er­läu­te­rung be­darf es nicht; nur so viel sei er­wähnt, dass sich Mr. Min­chin mehr und mehr dem Spiel und Trunk er­gab, bis schließ­lich alle sei­ne gu­ten Ei­gen­schaf­ten von die­sen Las­tern ver­schlun­gen wur­den. Ra­chels rasch auf­brau­sen­de, stol­ze Na­tur mach­te die Sa­che nicht bes­ser. Da sie sich in­des wohl be­wusst war, dass auch sie bei den im­mer häu­fi­ger wer­den­den hef­ti­gen Auf­trit­ten man­chen Feh­ler mach­te, so neig­te sie umso leich­ter zum Ver­ge­ben, wo­durch manch bit­te­rer Streit be­schwich­tigt und eine Ka­ta­stro­phe hin­aus­ge­scho­ben wur­de.

    In­zwi­schen lang­te das rei­se­mü­de und durch die Las­ter des Gat­ten in sei­nen Ver­mö­gens­ver­hält­nis­sen zu­rück­ge­kom­me­ne Ehe­paar wie­der in Lon­don an, wo Min­chin in­fol­ge ei­nes zu­fäl­li­gen Du­sels in Mi­nen­ak­ti­en zu ei­ner hö­he­ren Art des Spiels, als das bis­her be­trie­be­ne, über­ging. Er hat­te Blut ge­leckt. Mit Sach­kennt­nis und ein we­nig ba­rem Gel­de konn­te bei die­sen Spe­ku­la­tio­nen un­ter Um­stän­den ein Ver­mö­gen ver­dient wer­den, und Alex­an­der Min­chin ging dar­an, die­se Auf­ga­be zu lö­sen. Er ließ sich in Lon­don nie­der, mie­te­te in ei­ner bil­li­gen Ge­gend ein mö­blier­tes Haus, und dort war es, wo die ehe­li­chen Zwis­tig­kei­ten ih­ren Gip­fel­punkt er­reicht hat­ten.

    »Nicht einen Tag«, sag­te Ra­chel, »nicht eine Nacht mehr blei­be ich hier, wenn ich bis zum Mor­gen fer­tig wer­den kann.«

    Da Mrs. Min­chin eine ziem­lich ener­gi­sche Frau war, so ließ sie es auch jetzt nicht bei lee­ren Wor­ten be­wen­den. Die Pau­se zwi­schen dem Zu­schla­gen von Tü­ren im Erd­ge­schoss und ei­nem Geräusch auf dem Bo­den dau­er­te nur we­ni­ge Mi­nu­ten lang. Und die­ses Geräusch wur­de von Ra­chel her­vor­ge­ru­fen, die einen lee­ren Kof­fer die obers­te schma­le Trep­pe hin­un­ter­schlepp­te, was ei­nes der Dienst­mäd­chen be­wog, die Kam­mer­tür ein we­nig zu öff­nen.

    »Es tut mir leid, wenn ich Sie ge­weckt habe«, sag­te ihre Her­rin. »Die Trep­pe ist hier so eng. Nein, dan­ke, las­sen Sie nur, ich wer­de ganz gut al­lein fer­tig.« – Kur­ze Zeit dar­auf la­gen die Mäd­chen wie­der in tie­fem Schlaf.

    Es war kei­ne klei­ne Auf­ga­be, die Ra­chel sich vor­ge­steckt hat­te. Mit dem nächs­ten Schiff woll­te sie nach Aus­tra­li­en zu­rück­keh­ren, und so muss­te sie sich noch die­se Nacht rei­se­fer­tig ma­chen. Mit der sich all­mäh­lich le­gen­den Auf­re­gung be­fes­tig­te sich ihr Ent­schluss nur noch mehr. Je frü­her sie ih­ren Gat­ten ver­ließ, de­sto ge­rin­ger wür­de sein Wi­der­stand; zö­ger­te sie, so mach­te sei­ne au­gen­blick­li­che Ab­ge­stumpft­heit wahr­schein­lich bald wie­der der Ty­ran­nei des nor­ma­len Gat­ten Platz. Ge­hen aber woll­te sie so oder so. Nicht ein­mal den nächs­ten Tag woll­te sie mehr hier ver­le­ben, wenn sie sich auch sa­gen muss­te, dass die Vor­be­rei­tun­gen sie wohl bis zur Mor­gen­däm­me­rung fest­hal­ten wür­den.

    Es war im Sep­tem­ber. Nicht mit lee­ren Hän­den woll­te sie ent­flie­hen – über­haupt nicht ent­flie­hen. Nach reif­li­cher Über­le­gung woll­te sie ihn ver­las­sen und einen Kof­fer mit­neh­men, der das für die Rei­se Not­wen­di­ge ent­hal­ten soll­te. Die Aus­wahl war in­des nicht so ganz leicht. In Stun­den gu­ter Lau­ne hat­te Min­chin recht frei­ge­big sein kön­nen, und nicht ohne ein ge­wis­ses Schmerz­ge­fühl ge­dach­te Ra­chel beim Her­vor­ho­len von manch kost­ba­rem Ge­gen­stand an den Ein­kauf und an die Freu­de, die ihr, dem einst so ar­men Mäd­chen, der un­ge­wohn­te Be­sitz ge­macht hat­te.

    Trotz­dem aber blieb ihr Ent­schluss un­er­schüt­tert. Wohl ver­letz­te es ih­ren Stolz, sei­ne per­sön­li­chen Ge­schen­ke mit­zu­neh­men, ob­gleich dies al­les war, was sie je von ihm er­hal­ten hat­te; denn nie­mals war er zu be­we­gen ge­we­sen, ihr ein Ta­schen­geld aus­zu­set­zen. Um je­den Pfen­nig hat­te sie ihn bit­ten müs­sen, und dann soll­te sie auch noch dank­bar da­für sein. Es wäre also nicht ihre Schuld, wenn sie sich jetzt die Über­fahrt mit ih­rer Hän­de Ar­beit ver­die­nen müss­te. Al­lein die­se Geld­ver­le­gen­heit be­un­ru­hig­te sie doch. Still­schwei­gend sei­ne Ge­schen­ke mit­zu­neh­men, ver­letz­te ihr Ehr­ge­fühl, von ih­rem Stol­ze gar nicht zu re­den, und in ih­rer Be­dräng­nis kam sie in ei­nem Au­gen­blick plötz­li­cher Ent­mu­ti­gung nun doch zu dem Ent­schluss, ih­rem Mann ihre Be­dräng­nis an­zu­ver­trau­en und sich an sei­ne, al­ler­dings lau­ni­sche, aber manch­mal doch un­leug­ba­re Groß­mut zu wen­den.

    Wohl hat­te er ihr erst vor­hin ver­si­chert, sie kön­ne sei­net­we­gen ins Pfef­fer­land ge­hen, und wahr­schein­lich wür­de er auch jetzt noch von ihr ver­lan­gen, dass sie ih­ren Un­ter­halt selbst ver­die­nen sol­le, trotz­dem aber dräng­te es sie, ihm die Ent­schei­dung an­heim­zu­stel­len, und zwar so­fort.

    Sie sah auf ihre Uhr – die­se we­nigs­tens stamm­te von ih­rer Mut­ter – und sie zeig­te ihr, dass die ers­te Stun­de ih­res letz­ten Ta­ges un­ter sei­nem Da­che be­reits an­ge­bro­chen war. Alex­an­der Min­chin war ein Nacht­vo­gel, was sei­ne jun­ge Frau nur zu wohl wuss­te, und die­sen Abend hat­te er ihr im Zorn zu­ge­ru­fen, dass er in ei­nem der obe­ren Wohn­zim­mer zu schla­fen be­ab­sich­ti­ge. Aber er war bis jetzt noch nicht her­auf­ge­kom­men. Das be­tref­fen­de Zim­mer war ein nach rück­wärts ge­le­ge­ner klei­ner Raum, und Ra­chel warf auf ih­rem Wege nach dem Erd­ge­schoss einen Blick hin­ein. Es war leer, auch hat­ten die Mäd­chen we­der das im­pro­vi­sier­te Bett in Ord­nung ge­bracht, noch die Vor­hän­ge zu­ge­zo­gen. Ra­chel be­sann sich einen Au­gen­blick, ging dann aber doch eine Trep­pe hö­her, um rei­ne Bett­tü­cher zu ho­len. Es lag et­was un­end­lich Rüh­ren­des in die­ser un­will­kür­li­chen Für­sor­ge, die ih­ren Grund durch­aus nicht in ei­nem Rest von Lie­be, son­dern nur in ei­nem ge­wis­sen Pf­licht­ge­fühl hat­te, und die deut­lich ver­riet, was für eine vor­treff­li­che Gat­tin sie hät­te wer­den kön­nen.

    Min­chin hör­te sie nicht, als sie end­lich ins Erd­ge­schoss hin­un­ter­schlich, ob­wohl in die­ser mit­ter­nächt­li­chen Stun­de die Trep­pen­stu­fen be­son­ders laut un­ter ih­ren Fü­ßen zu knar­ren schie­nen – oder wenn er sie auch hör­te, so gab er je­den­falls kein Zei­chen von sich. Die­se Wahr­neh­mung ent­mu­tig­te Ra­chel; ihr wäre der schlimms­te Zor­nes­aus­bruch lie­ber ge­we­sen. Frei­lich dran­gen Lau­te von au­ßen nur schwer in die hin­ter dem Ess­zim­mer ge­le­ge­ne Stu­dier­stu­be, da der frü­he­re lang­jäh­ri­ge Mie­ter des Hau­ses, ein be­rühm­ter Pro­fes­sor, sich durch An­brin­gung von Dop­pel­tü­ren sei­ne Ruhe ge­si­chert hat­te. Die äu­ße­re, mit dun­kel­ro­tem Filz aus­ge­pols­ter­te Tür mach­te eben­falls ein be­ängs­ti­gen­des Geräusch, als Ra­chel sie mit has­ti­gem Ruck öff­ne­te. Lau­schend war­te­te sie. Aber auch jetzt ließ sich kein Ton von in­nen ver­neh­men: selbst als sei­ne Frau schließ­lich ins Zim­mer trat, ließ Min­chin sich nicht stö­ren. Die­se brauch­te in­des nur einen Blick auf ihn zu wer­fen, um sich über den Grund die­ser Stil­le im kla­ren zu sein. Im Lehn­stuhl des Pro­fes­sors saß des­sen un­wür­di­ger Nach­fol­ger mit auf die Brust ge­sun­ke­nem Kinn. Auf sei­nem Scho­ße lag eine Zei­tung, und ne­ben ihm stan­den eine lee­re Kar­af­fe und ein Glas, worin sich noch ein klei­ner Rest be­fand; er schi­en also noch vor dem Austrin­ken ein­ge­schla­fen zu sein. Über das elek­tri­sche Licht, bei des­sen Schein er ge­le­sen hat­te, war der grü­ne Schirm her­un­ter­ge­zo­gen, ein Zei­chen, dass er die Nacht of­fen­bar hier zu­brin­gen woll­te.

    Beim An­blick sei­ner un­be­que­men Lage woll­te Ra­chel et­was wie Mit­leid an­wan­deln, doch ließ die lee­re Fla­sche kei­ne Ge­wis­sens­bis­se bei ihr auf­kom­men. Sie selbst hat­te die Fla­sche am Abend ge­füllt, da ihr Mann beim Weg­ge­hen in ge­heim­nis­vol­ler Wei­se von ei­nem län­ge­ren Aus­blei­ben ge­spro­chen hat­te. Nun be­griff sie die­se Heim­lich­tue­rei, und ihr Ge­sicht ver­fins­ter­te sich, als sie an die un­er­hör­te Be­schimp­fung dach­te, die er ihr bei sei­ner Er­klä­rung ent­ge­gen­ge­schleu­dert hat­te. Nein, nicht eine Mi­nu­te län­ger als not­wen­dig woll­te sie hier blei­ben. Er schlief je­den­falls bis in den Mor­gen hin­ein. Nicht das ers­te Mal wür­de dies der Fall sein, und heu­te je län­ger de­sto bes­ser.

    Von ei­nem un­über­wind­li­chen Wi­der­wil­len ge­trie­ben, war sie auf den klei­nen Vor­platz zu­rück­ge­wi­chen, und dort stand sie nun blass, be­bend und von ei­nem Ekel und Ab­scheu er­füllt, der sich beim letz­ten Blick auf das be­schat­te­te Ge­sicht und die un­be­weg­li­che Ge­stalt im Lehn­stuhl noch ver­schärf­te. Ra­chel ver­moch­te sich kei­ne Re­chen­schaft über den Grund die­ses plötz­li­chen, über­mä­ßi­gen Ekels zu ge­ben, der ihr eine Art Übel­keit ver­ur­sach­te und sie gleich­sam an die Schwel­le fest­bann­te. End­lich aber fand sie doch die Kraft, ei­ni­ge Schrit­te zu­rück­zu­wei­chen, das elek­tri­sche Licht aus­zu­dre­hen und die bei­den Tü­ren eben­so lei­se, als sie sie ge­öff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Auf dem Vor­platz brann­te ein zwei­tes Licht, und auch die­ses lösch­te Ra­chel ge­wohn­heits­mä­ßig aus, ehe sie den Fuß auf die ers­te Trep­pen­stu­fe setz­te. Ei­nen Au­gen­blick spä­ter stand sie, von Ent­set­zen ge­packt, im Dun­keln.

    Noch im­mer kam kein Laut aus dem Stu­dier­zim­mer, nur ein lei­ses me­tal­li­sches Klir­ren ließ sich von dem an der Haus­tür an­ge­brach­ten Brief­kas­ten ver­neh­men. Es moch­te der Wind ge­we­sen sein, denn eine Schrau­be der au­ßer­halb der Tür an­ge­brach­ten, den Ein­schnitt schüt­zen­den Me­tall­klap­pe war los­ge­gan­gen. Und ob­wohl die­ses Geräusch sich nicht wie­der­hol­te, so schrieb Ra­chel es doch dem Win­de zu, als sie in ei­ner Auf­re­gung, die sie mit Be­schä­mung und Furcht zu­gleich er­füll­te, die Trep­pe wie­der hin­au­frann­te. Droh­te der Mut ihr zu schwin­den, der Mut, den sie doch so not­wen­dig brauch­te? Nein, nein, er durf­te sie jetzt nicht ver­las­sen, und als ob sie ihn da­durch zu kräf­ti­gen hoff­te, öff­ne­te sie das Gang­fens­ter und starr­te ei­ni­ge Mi­nu­ten in die küh­le, stern­hel­le Nacht hin­aus. Ein wei­ter Über­blick bot sich ihr frei­lich nicht, denn die Rück­sei­te von Häu­sern ver­deck­te zum größ­ten Teil den Ster­nen­him­mel. Die Rück­sei­te die­ser Nach­bar­häu­ser bil­de­te im Ve­rein mit der Rück­sei­te des von ihr be­wohn­ten Ge­bäu­des ein ge­schlos­se­nes Vier­eck. Dürf­ti­ge Gärt­chen von ver­schie­de­ner Grö­ße schim­mer­ten aus ei­nem Netz­werk von schmut­zi­gen Mau­ern her­vor, zwi­schen de­nen hie und da ein großer, herbst­lich zer­zaus­ter Baum her­vor­rag­te. Ra­chel aber sah we­der nach die­sen Gärt­chen, noch nach den Ster­nen, die sie matt be­leuch­te­ten. Ihr Auge hing an dem aus ei­nem ge­gen­über­lie­gen­den Fens­ter schei­nen­den Licht, das die gan­ze Nacht hin­durch brann­te. Es war das ein­zi­ge ir­di­sche Licht, das Ra­chel se­hen konn­te, das ein­zi­ge ir­di­sche oder himm­li­sche Licht über­haupt, dem sie Be­ach­tung schenk­te. Mit ei­nem Ge­fühl der Dank­bar­keit be­merk­te sie es, und als sie den Blick da­von ab­wen­de­te, mur­mel­ten ihre Lip­pen ein Ge­bet.

    Zur rech­ten Zeit war der Kof­fer ge­packt, den Ra­chel auch so­fort die Trep­pe hin­un­ter­schlepp­te, eine An­stren­gung, von der sie je­der Mus­kel schmerz­te. Viel Lärm aber muss­te sie da­bei doch nicht ge­macht ha­ben, denn noch im­mer blieb es still im Stu­dier­zim­mer. Kaum dass sie sich Zeit zum Atem­ho­len nahm, mach­te sie mit ei­nem Drücker die Hau­stü­re lei­se hin­ter sich zu und stand nun end­lich in der fri­schen, kla­ren Luft.

    Ei­nen Wa­gen konn­te sie zu die­ser Stun­de nicht fin­den, und au­ßer den Stra­ßen­keh­rern war kein mensch­li­ches We­sen zu se­hen. Die Son­ne stand be­reits hoch am Him­mel, als Ra­chel auf ih­rer Wan­de­rung durch die be­nach­bar­ten Stra­ßen end­lich einen Ein­spän­ner ent­deck­te. Nun aber tat sie et­was höchst Selt­sa­mes. An­statt sich di­rekt vor ihre Woh­nung fah­ren und ih­ren Kof­fer auf­la­den zu las­sen, gab sie dem Kut­scher plötz­lich eine an­de­re Rich­tung an und be­fahl ihm dann, vor ei­nem Hau­se zu hal­ten, an des­sen ei­nem Fens­ter ein Schild mit ei­nem Zim­mer­an­ge­bot hing. Auf Ra­chels Klin­geln er­schi­en nach auf­fal­lend kur­z­er Zeit eine Frau, de­ren Ge­sicht zu­erst Schre­cken, bei Mrs. Minchins An­blick aber un­ver­kenn­bar Ver­druss aus­drück­te.

    »So sind Sie also doch nicht ge­kom­men!« rief die Frau in bit­te­rem Tone.

    »Ich bin ab­ge­hal­ten wor­den«, er­wi­der­te Ra­chel ru­hig. »Wie geht es ihm?« kam es dann flüs­ternd von ih­ren Lip­pen.

    »Er lebt noch«, sag­te die Frau an der Tür.

    »Ist das al­les, was Sie mir zu sa­gen ha­ben?« frag­te Ra­chel mit sto­cken­dem Atem.

    »Ehe der Arzt nicht hier ge­we­sen ist, kann ich kei­ne wei­te­re Aus­kunft ge­ben.«

    »So hat er doch we­nigs­tens die Nacht über­lebt«, fuhr Ra­chel mit dank­ba­rem Auf­seuf­zen fort. »Ich schau­te im­mer wie­der nach dem Licht in sei­nem Zim­mer, selbst zu kom­men aber war mir nicht mög­lich. Ha­ben Sie die gan­ze Nacht an sei­nem Bett ge­ses­sen?«

    »Ja, die gan­ze Nacht ohne Un­ter­bre­chung«, ant­wor­te­te die and­re mit ei­nem Aus­druck un­ver­hoh­le­ner Stren­ge in den star­ren, rot­ge­rän­der­ten Au­gen; »kein Auge habe ich zu­ge­tan.«

    »Wie leid tut es mir, dass ich Sie nicht ab­lö­sen konn­te!« rief Ra­chel, die zu be­trübt war, um sich über den un­freund­li­chen Ton der Al­ten zu är­gern; »aber es war eben un­mög­lich, voll­stän­dig un­mög­lich. Wir … ich bin im Be­griff, Eng­land zu ver­las­sen. Ar­mer Mr. Se­ve­ri­no! Wenn ich doch ir­gend et­was für ihn tun könn­te! Je­den­falls aber müs­sen Sie jetzt eine Be­rufs­pfle­ge­rin zur Hil­fe neh­men. Und so­bald es ihm bes­ser geht … denn mir ahnt, dass er sich wie­der er­ho­len wird … kön­nen Sie ihm sa­gen …«

    Ein­ge­schüch­tert durch den scharf prü­fen­den Blick der ge­röte­ten Au­gen, zö­ger­te Ra­chel.

    »Sa­gen Sie ihm, dass ich be­stimmt hof­fe, er wer­de sich bald wie­der voll­stän­dig er­ho­len«, fuhr sie end­lich fort, »mer­ken Sie wohl, voll­stän­dig. Und sa­gen Sie Mr. Se­ve­ri­no auch, dass ich für im­mer fort­ge­he. Da ich je­doch mei­nen Plan, Sie in sei­ner Pfle­ge zu un­ter­stüt­zen, nicht aus­füh­ren konn­te, so ist es mir lie­ber, Sie er­wäh­nen da­von nichts, und auch nicht, dass ich hier war, um zu se­hen, wie es ihm geht.«

    Dies war ihr gan­zer Ab­schieds­gruß für den fast noch kna­ben­haf­ten jun­gen Mann, mit dem die klatsch­süch­ti­ge Welt den Na­men Ra­chel Min­chin heim­lich in Ver­bin­dung ge­bracht hat­te. Ihre eben er­wähn­te Äu­ße­rung soll­te üb­ri­gens, wie die Fol­ge zei­gen wird, auch noch in and­rer Hin­sicht von er­heb­li­cher Be­deu­tung für sie wer­den. Gleich dar­auf be­fand sich Ra­chel zum letz­ten Male vor ih­rer ei­ge­nen Haus­tür, in de­ren Schloss sie lei­se und ge­schickt den Drücker steck­te, wäh­rend in ei­nem be­nach­bar­ten Gar­ten die Vö­gel voll aus­ge­las­se­ner Lus­tig­keit zwit­scher­ten und die mes­sin­ge­ne Tür­klin­ke, so­wie die Klap­pe des Brie­fein­wurfs in der Mor­gen­son­ne fun­kel­ten. Da wur­de die Tür plötz­lich von ei­nem Schutz­mann weit auf­ge­ris­sen, hin­ter dem auf dem en­gen Vor­platz ein zwei­ter auf­tauch­te, wäh­rend an der Trep­pe die bei­den Dienst­mäd­chen stan­den. Ohne die ge­rings­te vor­he­ri­ge Er­klä­rung wur­de Ra­chel Min­chin von den Po­li­zis­ten zu ih­rem Gat­ten hin­ein­ge­führt, der noch in der­sel­ben Stel­lung, wie sie ihn ver­las­sen hat­te, in des Pro­fes­sors Lehn­stuhl saß, nur dass sei­ne Füße jetzt steif aus­ge­streckt auf ei­nem zwei­ten Stuhl la­gen und man bei dem von Nor­den her ins Zim­mer flu­ten­den Ta­ges­licht deut­lich er­ken­nen konn­te, dass die Hand des To­des ihn be­rührt hat­te.

    Un­be­weg­lich starr­te die jun­ge Wit­we auf ih­ren to­ten Gat­ten, wäh­rend vier Au­gen­paa­re mit noch prü­fen­de­ren Bli­cken auf ihr selbst haf­te­ten. Al­lein we­nig ge­nug stand auf dem blas­sen Ge­sicht mit dem ge­spann­ten Aus­druck und den zu­sam­men­ge­press­ten Lip­pen, de­nen nicht ein ein­zi­ger Schre­ckens­ruf ent­fah­ren war, zu le­sen. Sie hat­te nur die Schwel­le über­schrit­ten und war dann plötz­lich mit­ten auf dem ab­ge­tre­te­nen Tep­pich ste­hen ge­blie­ben, wo sich ihre Ge­stalt jetzt scharf von dem mit Bü­cher­re­ga­len be­deck­ten Hin­ter­grund ab­hob. We­der ein Schwan­ken der ge­schmei­di­gen Ge­stalt, noch ein Ha­schen nach ei­nem Stütz­punkt war zu se­hen, auch wur­de kei­ne Fra­ge aus­ge­spro­chen. Die Art, wie wir einen un­vor­her­ge­se­he­nen, fol­gen­schwe­ren Schlag auf­neh­men, setzt uns oft noch mehr in Er­stau­nen, als der Schlag selbst. Da­bei bringt eine solch un­ver­mu­te­te Tren­nung durch den Tod es uns häu­fig erst zum Be­wusst­sein, was wir uns im Zu­sam­men­le­ben mit dem Ent­schla­fe­nen al­les ha­ben zu­schul­den kom­men las­sen. So ging es auch Ra­chel Min­chin in den ers­ten Au­gen­bli­cken ih­rer tra­gi­schen Be­frei­ung. Gott selbst hat­te also ge­schie­den, was von ihm zu­sam­men­ge­fügt wor­den war! Hier lag er, der Mann, den sie aus Lie­be ge­hei­ra­tet hat­te! War es mög­lich, dass sie jetzt ohne Schmerz den Blick auf sei­nen sterb­li­chen Über­res­ten ru­hen las­sen konn­te? Plötz­lich aber nah­men Ra­chels Ge­dan­ken eine and­re Rich­tung, wo­bei sie, wie die von der Tür aus auf sie ge­rich­te­ten acht Au­gen gar wohl be­merk­ten, ent­setzt zu­sam­men­schau­der­te. Er muss­te schon tot ge­we­sen sein, als sie vom obe­ren Stock­werk her­un­ter­ge­kom­men war und ihn im Däm­mer­licht der be­schat­te­ten Lam­pe hat­te sit­zen se­hen. Die Kopf­hal­tung war un­ver­än­dert, das Kinn auf die Brust ge­neigt, der Mund so na­tür­lich ge­schlos­sen, wie im Schla­fe. Kein Wun­der, dass sei­ne Frau sich hat­te täu­schen las­sen. Und doch lag et­was Un­ge­wöhn­li­ches, et­was Ed­les auf sei­nen Zü­gen, das dem le­ben­den Man­ne nie­mals ei­gen ge­we­sen war. Ra­chel wun­der­te sich plötz­lich, dass der ih­rem Man­ne so gänz­lich frem­de Zug von Wür­de und Vor­nehm­heit, den nur der Tod ei­nem Ant­litz in sol­cher Wei­se zu ver­lei­hen ver­mag, ihr nicht so­gleich auf­ge­fal­len war. Sie schlug die Au­gen zu dem Stück­chen Him­mel auf, das durch den obe­ren Teil des Fens­ters her­ein­schau­te, und schon woll­ten ihr Trä­nen in die Au­gen stei­gen, als statt ih­rer ein Aus­druck des Ent­set­zens und plötz­li­cher Er­leuch­tung dar­aus her­vor­brach. Ein ge­zack­tes Loch be­fand sich in die­sem Fens­ter und auf dem Schreib­pult da­ne­ben lag ein um­ge­wor­fe­nes Tin­ten­fass, des­sen In­halt sich mit dem Blu­te des to­ten Man­nes ver­mischt hat­te. Nun erst be­merk­te sie, dass die­ser in Blut wie ge­ba­det war, und dass die jetzt ne­ben ihm auf dem Bo­den lie­gen­de Zei­tung, die ihn vor­hin noch halb ver­deckt hat­te, steif von Blut war.

    »Er­mor­det!« mur­mel­te Ra­chel, in­dem sie end­lich, schwer at­mend, ihr lan­ges Schwei­gen brach. »Das Werk von Die­ben.«

    Die Po­li­zis­ten wech­sel­ten einen ra­schen Blick.

    »So sieht es al­ler­dings aus«, sag­te der­je­ni­ge, der die Tür ge­öff­net hat­te, »das gebe ich zu.«

    Eine auf­fal­len­de Här­te klang aus sei­nem Ton, die Ra­chel in­des eben­so­we­nig be­ach­te­te als die neu­gie­rig vor­ge­streck­ten Köp­fe der un­ter der Haus­tür sich an­sam­meln­den Men­schen.

    »Aber ist dar­an über­haupt zu zwei­feln?« rief sie, von dem zer­bro­che­nen Fens­ter auf die ver­schüt­te­te Tin­te zei­gend. »Oder glau­ben Sie, er habe sich selbst er­schos­sen?«

    Ihr Ent­set­zen stei­ger­te sich bei die­sem Ge­dan­ken, der für sie noch fürch­ter­li­cher war als al­les and­re. Der Po­li­zist schüt­tel­te je­doch den Kopf.

    »Dann hät­ten wir die Pis­to­le fin­den müs­sen«, sag­te er. »Aber er­schos­sen ist er, und zwar mit­ten durchs Herz.«

    »Wer könn­te es denn aber ge­we­sen sein, wenn es nicht Die­be wa­ren?«

    »Das ist es eben, was wir alle gern wis­sen möch­ten«, sag­te der Schutz­mann, und noch im­mer fand Ra­chel nicht Zeit, sich über sei­nen ei­gen­tüm­li­chen Ton zu wun­dern. Die wei­ßen Hän­de krampf­haft ver­schlun­gen, beug­te sie sich jetzt über den Leich­nam, wäh­rend ihr to­ten­blas­ses Ge­sicht den Aus­druck qual­vol­ler Auf­re­gung trug.

    »Se­hen Sie nur, se­hen Sie!« rief sie, sich zu den An­we­sen­den wen­dend. »Ges­tern Abend trug er sei­ne gol­de­ne Uhr, das kann ich be­schwö­ren, und nun ist sie ver­schwun­den.«

    »Wis­sen Sie auch ganz ge­wiss, dass er sie trug?« frag­te nä­her­tre­tend der­sel­be Schutz­mann.

    »Ja, ganz ge­wiss.«

    »Nun, wenn dem wirk­lich so ist«, fuhr er fort, »und sie nir­gends ge­fun­den wer­den kann, so wird dies ein Punkt, sein, der sehr zu Ihren Guns­ten spricht.«

    Has­tig, mit vor Er­stau­nen weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen, rich­te­te Ra­chel sich auf.

    »Zu mei­nen Guns­ten?« rief sie. »Wol­len Sie viel­leicht die Güte ha­ben, sich deut­li­cher aus­zu­drücken?«

    Die Po­li­zis­ten stan­den jetzt zu ih­ren bei­den Sei­ten.

    »Nun«, be­gann der­je­ni­ge, der auch bis­her das Wort ge­führt hat­te, »ers­tens ein­mal will mir die Art, wie die­ses Fens­ter zer­bro­chen wor­den ist, nicht recht ge­fal­len. Wenn Sie es ge­nau­er an­schau­en, so wer­den Sie se­hen, was ich mei­ne. Die Scher­ben lie­gen alle drau­ßen auf dem Fens­ter­brett. Aber das ist nicht al­les – da Sie üb­ri­gens ge­ra­de einen Wa­gen vor der Tür ha­ben, so kön­nen wir wohl nichts Ge­schei­te­res tun, als dass Sie uns so­fort zur Po­li­zei­sta­ti­on be­glei­ten, ehe der Auf­lauf drau­ßen noch grö­ßer wird.«

    Zweites Kapitel. Die Schwurgerichtsverhandlung

    Seit Jah­ren hat­te man nicht mehr mit ei­ner sol­chen Span­nung ei­ner Ver­hand­lung in Old Bai­ley, ¹ dem Haupt­kri­mi­nal­ge­richt Lon­d­ons, ent­ge­gen­ge­se­hen, und viel­leicht noch nie­mals war eine eif­ri­ge­re Nach­fra­ge nach den we­ni­gen ver­füg­ba­ren Plät­zen in die­sem al­ter­tüm­li­chen Ge­richts­saa­le ge­we­sen. In der Tat hät­te aber auch selbst der un­ter­neh­mungs­lus­tigs­te mo­der­ne Thea­terdi­rek­tor, der einen Stern ers­ter Grö­ße für eine kur­ze Zeit ge­won­nen hat, nicht mehr Re­kla­me ma­chen kön­nen, um die bren­nen­de Neu­gier­de des Pub­li­kums zu er­re­gen, als es für Ra­chel Min­chin von sei­ten ih­res of­fi­zi­el­len Geg­ners, der Po­li­zei­be­hör­de, ge­sche­hen war.

    Ob die­se Be­hör­de schon da­mals, als die An­ge­klag­te in Un­ter­su­chungs­haft ge­nom­men wur­de, ein­ge­hen­der über den vor­lie­gen­den Fall un­ter­rich­tet war, als sie vor­gab, oder ob die Be­wei­se der Schuld erst wäh­rend der letz­ten vier­zehn Tage sich ge­häuft hat­ten, soll da­hin­ge­stellt blei­ben. Im­mer­hin aber bil­de­te die­se Fra­ge län­ge­re Zeit hin­durch den Ge­gen­stand hef­ti­ger De­bat­ten. Üb­ri­gens wur­de bald nach der Ver­haf­tung ver­brei­tet, dass eine Men­ge neu­er In­di­zi­en beim Ver­hör zu Tage kom­men wer­den, wo­durch sich der auf der An­ge­klag­ten las­ten­de Ver­dacht noch be­deu­tend ver­schär­fen wer­de. Die Zeu­gen wa­ren so zahl­reich, ihre Aus­sa­gen so ver­wi­ckelt, dass man glaub­te, ihre Ver­neh­mung wer­de wohl eine Wo­che be­an­spru­chen.

    Der Fall Min­chin soll­te als ers­ter wäh­rend der Herbst­ses­si­on ver­han­delt wer­den, und an ei­nem Mon­tag­mor­gen Ende No­vem­ber fand denn auch die ers­te Sit­zung statt. Die An­na­len des äu­ßer­lich un­schein­ba­ren his­to­ri­schen Ge­richts­ge­bäu­des hat­ten wohl sel­ten denk­wür­di­ge­re Tage als die­sen Mon­tag­mor­gen und die dar­auf­fol­gen­den zu ver­zeich­nen. Das Ge­schlecht der An­ge­klag­ten, ihre Ju­gend und ihre stol­ze Hal­tung, dazu ihre auf­fal­lend iso­lier­te Stel­lung, ohne einen Freund und Be­schüt­zer in der Not – dies al­les trug dazu bei, die Fan­ta­sie des Pub­li­kums zu we­cken und eine Auf­re­gung her­vor­zu­ru­fen, die durch die all­ge­mei­ne An­sicht, dass nie­mand an­ders das Ver­bre­chen be­gan­gen ha­ben kön­ne, nur noch mehr ge­stei­gert wur­de. So­wohl die Rich­ter als auch sämt­li­che mit dem Ge­richts­hof in Ver­bin­dung ste­hen­de Per­so­nen wur­den aus mehr oder we­ni­ger be­rech­tig­ten Grün­den um Ein­lass­kar­ten zu den Ver­hand­lun­gen ge­quält. Und als der wich­ti­ge Tag dann end­lich kam, muss­te sich der mit Er­folg ge­krön­te Be­wer­ber je­den Zoll breit sei­nes We­ges von der Ne­w­ga­te Street oder von Lud­ga­te Hill bis zum Ein­gang des Ge­richts­ge­bäu­des mit sei­nen bei­den El­len­bo­gen er­kämp­fen. Er hat­te drei ver­schie­de­ne, von ei­ner miss­traui­schen Schutz­mann­schaft ge­bil­de­te Si­cher­heits­kor­d­ons zu pas­sie­ren und sich die Gunst des Sher­riffs durch des­sen gal­lo­nier­te La­kai­en zu er­kau­fen, um schließ­lich mit ver­schie­de­nen be­kann­ten Per­sön­lich­kei­ten ein win­zi­ges Plätz­chen in dem be­schränk­ten Raum fürs Pub­li­kum zu er­rin­gen, wo man sich nur we­ni­ge Fuß von der dicht­ver­schlei­er­ten An­ge­klag­ten und nicht sehr viel wei­ter von dem Ge­richts­prä­si­den­ten im ro­ten Talar be­fand.

    Ei­ner der ers­ten, der sich am Mon­tag­mor­gen all die­ser Mühe un­ter­zog, und der letz­te, der sich nach Ver­ta­gung der Sit­zung aus der schlech­ten Luft hin­aus­flüch­te­te, war ein weiß­haa­ri­ger Herr von auf­fal­len­dem Äu­ßern, der sich durch kei­ne Wi­der­wär­tig­kei­ten ab­schre­cken ließ, sich auch an den fol­gen­den Ta­gen zu sei­nem Platz im Ge­richts­saa­le hin­durch­zu­rin­gen. Hin­ter ihm tauch­ten die wohl­be­kann­ten Ge­sich­ter von Jour­na­lis­ten und Rechts­ge­lehr­ten auf, die mit be­rufs­mä­ßi­gem In­ter­es­se den Fall ver­folg­ten. Dem Herrn im wei­ßen Haar aber wa­ren sie zum größ­ten Tei­le fremd. Hin und wie­der drang ge­gen sei­nen Wil­len ei­nes oder das and­re Wort ih­rer un­un­ter­bro­chen im Flüs­ter­ton ge­führ­ten Un­ter­hal­tung an sein Ohr, was ihn mehr als ein­mal be­wog, einen är­ger­li­chen Blick nach rück­wärts zu wer­fen, un­be­küm­mert dar­um, wel­che be­rühm­te Per­sön­lich­keit ihn ge­ra­de auf­fing. Er hat­te ein wohl­kon­ser­vier­tes Ge­sicht mit ei­nem schma­len, äu­ßerst ener­gi­schen Mun­de, stark aus­ge­bil­de­ten Kinn­ba­cken und ei­ner un­ge­wöhn­lich edel­ge­form­ten Stirn. Was bei sei­nem An­blick je­doch am meis­ten in die Au­gen sprang, war das üp­pi­ge, schnee­wei­ße Haar. Bart trug er kei­nen, und die bu­schi­gen Brau­en wa­ren so viel dunk­ler als die Haa­re, dass man sie für ge­färbt hät­te hal­ten kön­nen. Die Au­gen selbst aber wa­ren vom tiefs­ten Schwarz,

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