Kibbuzkind: Eine deutsch-israelische Familiengeschichte
Von Lisa Welzhofer und Ursula Ott
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Buchvorschau
Kibbuzkind - Lisa Welzhofer
Lisa Welzhofer
Kibbuzkind
Eine deutsch-israelische
Familiengeschichte
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 by edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH ∙ Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Titelillustration: Marie Emmermann (Fotovorlagen Cover: wikipedia (2), Shutterstock)
Fotos: privat
Gestaltung: Hansisches Druck- und Verlagshaus, Frankfurt/Main, Ellina Hartlaub
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-96038-162-4
www.eva-leipzig.de
Für meine Kinder
und für meine Eltern
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
April 2014
April 2014
Mai 2014
Mai 2014
Mai 2014
Mai 2014
Juni 2014
Juni 2014
Juli 2014
Juli 2014
August 2014
September 2014
September 2014
Oktober 2014
Wertvolle Erinnerungen
Oktober 2014
November 2014
Dezember 2014
Dezember 2014
Dezember 2014
Januar 2015
Januar 2015
Februar 2015
Februar 2015
März 2015
März 2015
April 2015
Juni 2015
Nachwort
Danke
Vorwort
Ein Stoff für Hollywood. Das dachte ich sofort, als die junge Autorin Lisa Welzhofer vor sieben Jahren ein Thema bei chrismon anbot. Unsere Redaktion liegt nicht ganz in Hollywood, genau genommen liegt sie in einem gesichtslosen, eher kühlen Vorort von Frankfurt. Aber vielleicht spüren wir umso unmittelbarer, wann ein Thema heiß ist. Sie habe da im Haus ihrer verstorbenen Mutter ein Tagebuch gefunden, schrieb sie.
Ein Tagebuch, das ein Familiengeheimnis birgt. Da will man drin blättern. Ein verlorener Vater, den will man kennenlernen. Und dann noch in Israel, ausgerechnet. Sehnsuchtsland der Mutter, schicksalhaft mit der deutschen Geschichte verbunden, Krisenherd unserer Zeit. Ein verheißungsvoller Plot!
„Blind Date mit meinem Vater" hieß die Reportage in chrismon 2011. Aus dem Blinddate wurde eine herzliche Vater-Tochter-Beziehung, eine richtige Familie. Und aus der chrismon-Reportage ein ganzes Buch. Ich habe es in einem Rutsch durchgelesen, auch weil die Autorin uns wie in einem Roadmovie mitnimmt in dieses sonnige, von Bougainvilleas gesäumte wunderbare gelobte Land. Und erzählt, wie sie dort ihren Vater wieder findet. Man fiebert mit, man freut sich, man ist sehr versöhnt mit dieser Familie. Und fast ein bisschen neidisch.
So ein Abenteurer-Gen in der Familie, das ist gar nicht so häufig in Schwaben, wo man sein Haus eher in der Nachbargemeinde baut als sein Zelt am See Genezareth aufschlägt.
Lisa Welzhofer hat die Geschichte ihres wiedergefundenen Vaters für dieses Buch aufgeschrieben als Briefroman. An ihren kleinen Sohn Viktor, der nun einen Großvater dazu gewonnen hat. Dafür geht die Autorin noch eine Generation zurück. Viktor hatʼs gut, denn seine Mutter hat etwas vollbracht, was nicht viele Kriegsenkel schaffen: Sie hat das Schweigen gebrochen.
„Viele haben ihre Wunden unter einer dicken Schicht Verbitterung verborgen, in vielen Familien herrschte Schweigen", schreibt sie über die Generation ihrer eigenen Großeltern. Aber ihr Großvater Heinz, er hat geredet, hat ihr von bestialischen Szenen berichtet, die er als Offizier im Zweiten Weltkrieg im Vernichtungskrieg gegen Russland erlebte. Man muss reden, über Schuld und Verstrickung. Sonst leiden Kinder und Kindeskinder, das weiß man inzwischen aus der transgenerationalen Psychologie.
Darum ist dieses Buch nicht nur ein Generationengespräch – von den schuldbehafteten Großeltern über die Flower-Power-Mutter bis zur suchenden Tochter. Sondern auch ein Geschenk an Viktor und an seine kleine Schwester. Je mehr sie durch diese Briefe erfahren über ihre eigene Familiengeschichte, desto befreiter können sie ihre eigene Reise ins Leben antreten.
Mein Gefühl sagt: Es wird eine Fernreise werden. In dieser Familie ist immer Bewegung gewesen. Und Barbara, die Tagebuchschreiberin, hat es auf den Punkt gebracht: „Ich gehe leichten Herzens weiter in ein neues Land." Nichts Besseres kann man seinen eigenen Kindern mit auf den Weg geben. Gehe leichten Herzens immer wieder in ein neues Land.
Ursula Ott
Chefredakteurin chrismon und evangelisch.de
April 2014
Mein lieber Viktor,
ich habe schon ein paar Mal versucht, diese Geschichte aufzuschreiben. Aber es ist mir sehr schwergefallen und ich habe das Schreiben immer wieder abgebrochen. Vielleicht, weil ich nicht die richtige Sprache gefunden habe. Vielleicht, weil es sich um die Geschichte deiner Großeltern handelt und ich das Gefühl hatte, ich habe gar kein Recht, sie zu erzählen. Vielleicht auch, weil es um viele komplizierte Dinge geht. Um Deutschland und Israel, um den Krieg und das, was er aus den Menschen macht. Um Schuld und Verzeihen. Um Eltern und Kinder. Und um die komplizierteste Sache überhaupt: die Liebe.
Aber jetzt bist du seit fünf Monaten auf der Welt, und ich muss dir diese Geschichte einfach erzählen. Damit du etwas über deine Großmutter erfährst, die nicht mehr lebt. Damit du deinen Großvater besser kennenlernst, der in einem fremden Land wohnt. Und damit du verstehst, warum deine Mutter so ist, wie sie ist. Vor allem aber, weil es die Geschichte deiner Familie ist. Es ist auch deine Geschichte. Und wenn du eines Tages alt genug bist, sie zu lesen, dann wirst du schon ein wenig mehr über das Leben wissen und vielleicht auch über die Liebe und darüber, was sie mit einem macht. Weil so ein Baby wie du viel Zeit und Zuwendung braucht, wird es sicher eine Weile dauern, bis ich die ganze Geschichte aufgeschrieben habe. Darum fange ich nun mal an:
Zuallererst möchte ich dir deine Großmutter Barbara vorstellen. Sie wurde am 3. Oktober 1950 in Günzburg, einer bayerisch-schwäbischen Kleinstadt, geboren. 40 Jahre später wird der 3. Oktober zu dem Datum werden, an dem die Deutschen ihre Einheit feiern. Aber bis dahin war es 1950 noch ein weiter Weg. Als Barbara geboren wurde, gab es ein Ost- und ein Westdeutschland. Die Nachkriegszeit war eine Zeit des Aufbruchs, aber auch des Stillstands. Die Mangeljahre nach dem Krieg waren vorbei, die Menschen in Westdeutschland hatten sich in der neuen Staatsform Demokratie schon ein bisschen eingerichtet. Sie hatten gemerkt, dass man es mit viel Fleiß zu etwas bringen kann. Alle haben viel gearbeitet, um die Jahre der Armut möglichst schnell hinter sich zu lassen. Trotzdem konnte man noch überall sehen und spüren, dass der Krieg erst wenige Jahre her war. In jeder Familie gab es Männer oder Söhne, die nicht mehr nach Hause gekommen waren. In der Günzburger Bahnhofstraße klafften noch die Lücken zerstörter Gebäude.
Gesprochen wurde nicht über diese Lücken und über den Krieg, der sie gerissen hatte. Manche Männer kamen erst in den 50er Jahren aus der Gefangenschaft zurück. Aber keiner mochte hören, was sie getan und erlebt hatten. Alle wollten die schlimme Zeit schnell vergessen. Auch in den Schulen war das Dritte Reich, die schlimme Zeit des Nationalsozialismus, damals kein Thema. Alle wollten nach vorn sehen, wollten einen Neuanfang. Niemand mochte so genau darüber nachdenken, welche Fehler er selbst gemacht hatte. Barbara und ihre Generation, die Achtundsechziger, haben den Eltern dieses Schweigen später vorgeworfen.
In Günzburg waren die Amerikaner stationiert, die Soldaten haben viel Neues in diese kleine Stadt gebracht, haben sie ein bisschen zur weiten Welt geöffnet mit Rock ’n’ Roll, Kaugummi und Bourbon-Whiskey. In der Dorisbar wurde geraucht und Swing getanzt. Die Menschen lechzten nach Ablenkung. Im Kino liefen seichte Heimatfilme, die Mode wurde bunter, die Möbel leichter, das Essen fetter.
Die 50er und 60er Jahre waren eine Zeit der Oberflächlichkeit, in der die Menschen auf einer sehr dünnen Schicht aus Optimismus und Verdrängung über einem dunklen Abgrund in Richtung Wirtschaftswunder tanzten. In dieser Zeit ist deine Großmutter aufgewachsen.
Es war eine enge, wohlgeordnete Welt, in der sich Barbara als Jugendliche bewegt hat: In ihrer Freizeit war sie bei den Pfadfindern, im Turn- und Reitverein. Sie ging auf eine Klosterschule für Mädchen, in der Nonnen unterrichteten und wo strenge Regeln herrschten. Die jüngeren Schülerinnen durften nur auf der vordersten Kante ihrer Stühle sitzen, damit dahinter noch Platz für den Schutzengel war. Hosen waren verboten, weil sie sich für ein katholisches Mädchen nicht gehörten. Als Barbara zum Wandertag trotzdem mal in Hosen erschien, wurde sie wieder nach Hause geschickt. Die Nonnen beobachteten auch, wer in seiner Freizeit das Kino besuchte, das gleich neben der Schule lag. Barbara ist gern ins Kino gegangen. Wenn sie dann mal nicht richtig gelernt hatte, sagten die Nonnen: „Das kommt davon, wenn man ins Kino geht."
Barbara hat diese Klosterschule, die Scheinheiligkeit und den Mief, der in den Gängen hing, diese Mischung aus Lebens-, Lust- und Modernitätsfeindlichkeit gehasst. Dass sie keine gute Schülerin war, war wahrscheinlich Teil ihrer Verweigerungshaltung. Eine erste Aufmüpfigkeit gegen ein System, in das sie sich fügen sollte, und gegen das, was sich angeblich gehörte. Und so guckt dem Teenager Barbara auf den Fotos jener Zeit unter dichten dunklen Ponyfransen oft der Trotz aus den Augen, aber auch das Unfertige und auch ein bisschen das Unglück.
Nach der zehnten Klasse hörte Barbara mit der Schule auf. Sie wollte eigenes Geld verdienen, unabhängig sein. In der großen Psychiatrie am Ort fing sie 1968 eine Ausbildung zur Krankenschwester an. Es ist wirklich schade, dass sie dir davon nicht mehr erzählen kann, so wie mir. Die meisten Psychiatrien waren damals noch sehr rückständig, der Geist, der dort wehte, stammte aus derselben Zeit wie die Gebäude, die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet worden waren. Es waren unmenschliche Einrichtungen, Verwahranstalten, in denen die Kranken weggesperrt und mit starken Medikamenten und Elektroschocks behandelt wurden.
Ich erinnere mich zum Beispiel an Barbaras Erzählen von der sogenannten Karrengruppe: Das waren Insassen, die nicht allein spazieren gehen durften und deshalb wie Pferde vor einen Karren gespannt wurden, damit sie nicht weglaufen konnten. Manchmal hatte Barbara allein Nachtdienst in einem Saal mit 70 Betten und hat sich dabei gefürchtet.
Die angehenden Krankenschwestern wohnten im Dachgeschoss einer der Psychiatriestationen auf dem weitläufigen Gelände der Einrichtung. Die Lehrschwestern wachten darüber, dass die Schwesternschülerinnen sich züchtig verhielten. Barbara musste um 22 Uhr in ihrem Zimmer sein. Herrenbesuch war nicht erlaubt. Mit ihren Freundinnen ist