Verliere nicht dein tapferes Herz: Ein Roman zwischen Gegenwart und Vergangenheit aus Ostpreußen
Von Dagmar Meyer
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Dagmar Meyer
Dagmar Meyer wurde 1941 im damaligen Ostpreußen geboren. Nach der Flucht 1945 verbrachte sie Kindheit und Jugend in Geesthacht in Schleswig-Holstein. Anschließend studierte sie an der Pädagogischen Hochschule in Kiel für das Lehramt an Grundschulen und später an der Universität noch für das Lehramt an Realschulen. Nach Dienstjahren in Schleswig-Holstein und Berlin war sie bis zur Pensionierung Lehrerin in Baden-Württemberg. Nach Eintritt in den Ruhestand begann sie mit dem Schreiben. Der Roman "Verliere nicht dein tapferes Herz" (2012) umfasst das Leben der Eltern der Autorin und die Kriegsjahre in Ostpreußen bis Fluchtende. Dem zweiten Band "Petticoat und heiße Sohlen" (2015) liegen Kindheits-und Jugenderinnerungen in Geesthacht zu Grunde. Das Buch "Schwarze Spinne Weiße Schlange" (2017) spielt im Schulmilieu. Daneben entstanden zahlreiche Kurzgeschichten.
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Buchvorschau
Verliere nicht dein tapferes Herz - Dagmar Meyer
Vorwort
Zwischen Gegenwart und Vergangenheit liegen sechs Stunden Bahnfahrt – Zeit genug, um die Gegenwart zu verlassen und sich der Vergangenheit zu nähern.
Mehr als einmal male ich mir die Ankunft in der Stadt meiner Kindheit aus: Werden mir Straßen bekannt vorkommen, Plätze, Gebäude? Vor knapp vierzig Jahren bin ich aus Geesthacht fortgegangen; Jahrzehnte, die ausreichten, um Straßen zu verlegen, Plätze neu zu gestalten, Häuser abzureißen und andere zu bauen.
Zwischen der Abfahrt in Stuttgart und der Ankunft in Hamburg liegt auch eine nervige Bahnfahrt; ich bin in ein Abteil gepfercht mit Leuten, deren laute Gegenwart nur zu ertragen ist durch das Lesen der letzten beiden Briefe meines Vaters aus dem Jahr 1945.
In Hamburg steige ich in den Bus um, der auch schon damals, in meiner Kinderzeit vor sechzig Jahren, nach Geesthacht fuhr und eine Stunde dafür brauchte. Er fährt durch Stadtviertel, deren Namen mir auch heute noch geläufig sind.
Irgendwann taucht dann tatsächlich das Ortsschild von Geesthacht auf. Gespannt versuche ich, Straßenschilder zu lesen und Häuser wiederzuerkennen. Jeder Erfolg lässt mein Herz ein bisschen schneller schlagen. Da rechts geht es nach Düneberg, wo wir zuletzt gewohnt haben, und als das Kaufhaus „Hackmack" in Sicht kommt, muss ich auch schon aussteigen.
An der Hauptpost verlasse ich den Bus und gehe durch die Fußgängerzone der Bergedorfer Straße, die es früher so nicht gab, zum Krügerschen Haus, dem Stadtmuseum und verabredeten Treffpunkt. Manche Geschäfte tragen vertraute Namen. Zwischen neuen Gebäuden stehen viele alte im Kleid der norddeutschen Häuser des frühen zwanzigsten Jahrhunderts: dunkelroter Backstein mit Fenstern und Türen in weiß gestrichenem Holz.
Der Stadtarchivar holt mich im Museum ab. Während wir den kurzen Weg zum Rathaus gehen, versuche ich, ihm möglichst genau zu erklären, weshalb ich nach Geesthacht gekommen bin: zum einen, um auf den Spuren meiner Kindheit und Jugend zu wandern, zum anderen, um nach Material über die Jahre 1945 bis 1948 zu suchen.
Im Rathaus tauchen wir ab in die Katakomben, wo sich Archive meistens befinden. Ich habe das Gefühl, meinem Ziel immer näherzukommen, zwischen den deckenhoch gestapelten Ordnern und Kartons, den Regalen voller Bücher und Papier die Antworten zu finden, nach denen ich seit Monaten suche. Es ist, als käme nach einem Rennen das Zielband endlich in Sichtweite.
Mit geübter Hand greift der Archivar nach einem dicken grauen Heft, das mit „Sterberegister" und einigen Jahreszahlen beschriftet ist, und blättert es durch. Gebannt starre ich auf die Seiten, die, mit Tinte säuberlich ausgefüllt, in schneller Folge durch seine Hand gleiten, bis der dokumentierte Tod meines Vaters mir in die Augen springt.
Das Wissen um die vaterlose Kindheit ist das eine, die Sterbeurkunde in meinem Aktenordner zu Hause das andere. Aber die schonungslose Offenlegung auf sechzig Jahre altem Papier am Ort des Geschehens weht mit dem Aktenstaub alle Zweifel davon, die Freunde in mein Herz gelegt hatten: Man solle die Vergangenheit ruhen lassen.
Doch die stummen, unsichtbaren Jahre meiner jungen Eltern und meiner frühsten Kindheit haben keine Ruhe gegeben. Ich bin mir ganz sicher: Nun will ich mehr wissen. Alles.
Im Restaurant des kleinen Hotels in Geesthacht komme ich langsam zur Ruhe. Am frühen Abend sind kaum Leute im Gastraum, niemand achtet auf mich.
Auf dem Tisch vor mir mein Laptop, ein Stapel Briefe und Fotos. Darin ein Leben.
Mit aufmerksamen Augen schaust du mich an. Ich betrachte deine regelmäßigen, feinen Gesichtszüge, die schmale, gerade Nase und die hohe, leicht eckige Stirn. Wie auf fast allen Fotos ist das schwarze Haar in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten gebunden. Die helle Bluse und der lange Rock unterstreichen die Anmut deiner Erscheinung.
Wieder einmal bewundere ich deine Schönheit, Mutti, die der neunzehnjährigen Elfriede Stein auf diesem Foto von 1934.
Auf anderen Fotos aus den frühen Dreißigerjahren taucht neben dir ein junger, schlaksiger Mann auf, mit gewinnendem Lausbubenlächeln im schmalen Gesicht. Wasserblaue Augen blicken keck und charmant lächelnd auf die junge Frau, die ihn mal schüchtern, mal ganz offen anhimmelt. Seine dunkelblonden, glatten Haare sind kompromisslos aus der hohen Stirn gekämmt; die strenge Frisur bildet einen reizvollen Kontrast zu der Lässigkeit, die die schlanke, große Gestalt im grauen Anzug und mit bürgerlich konventionellem Hut ausstrahlt. Er sei ein fröhlicher Typ gewesen, unser Vater, hast du später oft gesagt, bei den Frauen beliebt, dazu intelligent und ehrgeizig. Und doch bin ich sicher, dass er auch eine ernste Seite hatte, dass mich auf anderen Fotos aus der verborgenen Tiefe der hellen Augen ein melancholischer Bodo Vollstedt ansieht, bei seiner Tochter um Verständnis werbend und um Verzeihung bittend für das, was geschehen ist, was er nicht hatte verhindern und wofür er die Verantwortung irgendwann nicht mehr hatte tragen können. Traurig schaue ich ihn an. So viele Fragen, für die es keine Antworten mehr geben wird.
Mein Blick schweift aus dem Fenster dieses Hotels, das es auch schon in meiner Kindheit gab, über Straße und Badeanstalt hinaus zur Elbe, in der ich als Kind noch geschwommen bin. Sanft glitzert das behäbig fließende Wasser in der Abendsonne. Mir ist, als wolle der Fluss sagen: Ich war hier, als du ein Kind warst, und bin hier, wenn du an deinem Lebensende nach Antworten suchst. Ich werde immer hier sein.
Tief atme ich durch und kehre aus den Kindheitstagen zurück an den Tisch, auf dem sich noch fernere Vergangenheit ausbreitet.
Deine dunklen Augen ermuntern mich, zurückzugehen in das Königsberg von 1933, mir vorzustellen, wie es damals war, in jenem Frühling, als du den Studenten Bodo Vollstedt trafst ...
1
Vor dem Schaufenster eines Modegeschäftes war Elfriede stehen geblieben.
„Jetzt komm schon, Elfriede!"
„Ja doch, gleich, nun hetze mich doch nicht so!"
Für die ausgestellten Kleider interessierte sich Elfriede allerdings heute nicht. Sie prüfte ihr Aussehen in der spiegelnden Fensterscheibe, strich die Haare noch einmal glatt, rückte den Gürtel des langen Rockes gerade und kontrollierte den Sitz der beigefarbenen Bluse mit dem weißen Spitzenkragen.
„Du siehst perfekt aus, wie immer."
Hildes Stimme klang ungeduldig. Lachend hakte sie Elfriede unter, kichernd und schwatzend liefen sie durch die Königsberger Straßen Richtung Schlossteich. Für die Schaufenster der vielen Geschäfte hatten sie heute keinen Blick, auch nicht für die neuen Fahnen, die seit wenigen Wochen an allen Straßenecken hingen, und für die Männer und Jungen, die im Gleichschritt und laut singend durch die Straßen marschierten, erst recht nicht. Immer mehr Fahnen und Marschierende waren seit der Machtübernahme Hitlers in den Straßen Königsbergs und ihrer Heimatstadt Tilsit aufgetaucht. Bei Elfriede war das anfängliche Staunen darüber einem zunehmenden Desinteresse und betonter Gleichgültigkeit gewichen. Sie wollte frei von Pflichten sein, wollte leben und lieben, wenn sich die Gelegenheit bot.
In diesem Jahr 1933 lag die Schulzeit erst wenige Wochen hinter ihnen, die Zukunft wie ein ungeschriebenes Tagebuch im Schrank und die grenzenlose Freiheit wie Parfum in der Luft. Heute war der Tag.
„Du, ich muss dir etwas erzählen."
Hilde beugte ihren Kopf verschwörerisch zur Freundin hinüber.
„Gestern habe ich Ruth Rosenthal getroffen."
Elfriede blieb stehen und sah Hilde interessiert an.
„Ach ja? Ich habe sie seit unserem letzten Schultag nur selten gesehen. Was erzählt sie denn so?"
„Todunglücklich ist sie. Vor zwei Tagen haben ihre Eltern im Briefkasten einen anonymen Brief gefunden. Übrigens nicht den ersten. Wenn sie nicht aus Tilsit verschwänden, würden sie schon merken, was mit den Juden geschehe. Ruth sagte, sie hätten furchtbare Angst."
Entsetzt schlug Elfriede die Hand vor den Mund und blickte sich ängstlich um.
„O Gott, sei bloß still. Wenn dich jemand hört! Das ist ja furchtbar."
Die stille, fleißige Ruth, die liebenswerte Klassenkameradin in allen Schuljahren – und jetzt so etwas! Sie schüttelte den Kopf.
„Komm, wir reden ein andermal darüber, jetzt nicht. Wir wollen uns doch amüsieren, nicht wahr?"
Vor dem Café „Bellevue würde Luise auf sie warten, die Dritte im Bunde der Freundinnen, so war es verabredet. Und drinnen eine flotte Tanzkapelle. Vor Aufregung hatte Elfriede rote Wangen und glänzende Augen. Hoffentlich warteten auch genug ansehnliche Tänzer, Studenten von der „Albertina
etwa oder Offiziersanwärter, die Freigang hatten. Die Mädchen waren gespannt.
„Na endlich. Ich stehe mir hier die Beine in den Bauch!"
Wie immer übertrieb Luise maßlos, wenn sie ihre Nervosität nicht zeigen wollte. So fiel auch die Begrüßung der Freundinnen überschwänglich aus. Doch da die Anspannung alle drei wie ein Virus befallen hatte, merkten sie es nicht und strebten dem Eingang des Cafés zu, aus dem bei jedem Türöffnen Musikfetzen auf die Straße flüchteten.
Im Durchgang zum Saal blieben sie zögernd stehen und entdeckten bald einen freien Tisch. Während Elfriede und Hilde die Paare auf der Tanzfläche und die Gäste an den anderen Tischen kritisch musterten und die Garderoben und Frisuren der anwesenden weiblichen Konkurrenz unauffällig einer Prüfung unterzogen, wanderten Luises Augen angestrengt am Eingang hin und her.
„Wartest du auf jemanden?"
Elfriede hatte Luise beobachtet.
„Ich? I wo!"
Luise schüttelte heftig den Kopf, sodass ihre braunen kurzen Haare flogen, und schaute demonstrativ in eine andere Richtung. Elfriede betrachtete ihre Freundin in der roten Bluse mit den kurzen Puffärmeln und den Rüschen am Ausschnitt, der einen üppigen Busen erkennen ließ. Luise war von kräftiger Statur, was auch der schmale lange Rock nicht verbergen konnte. In der Schule war sie deshalb so manches Mal gehänselt worden, doch Elfriede und Hilde hatten die Freundin stets gegen Lästermäuler verteidigt. Luise war eben so.
Ganz anders dagegen Hilde, die die anwesenden Tänzer inzwischen kühl musterte und Luises angespannte Nervosität nicht zu bemerken schien. Hilde mit den blonden Naturlocken, mit der Mannequinfigur und den märchenhaft blauen Augen. Neid glitzerte in den Augen mancher Mädchen. Schon in der Schule hatten sich die Jungen gedrängt, um der Ehre eines Gespräches mit ihr für würdig befunden zu werden. In dem hellblauen Kleid mit dem schwingenden Saum sah sie auch heute wieder hinreißend aus. Es würde nicht lange dauern, bis die ersten Tänzer sie aufforderten.
„Ja, wen haben wir denn da?"
Wie aus dem Boden gewachsen, stand Fritz Eder am Tisch der jungen Mädchen und schaute seine Schwester Luise spitzbübisch an. Hinter ihm drängten sich drei weitere junge Männer und begutachteten ungeniert die Freundinnen. Luise schickte ihrem Bruder einen beschwörenden Blick.
„Ach, Fritz, ich wusste gar nicht, dass du heute auch hier bist."
Elfriede und Hilde fanden keine Zeit, sich ausgiebig darüber zu wundern, dass Luise nichts von dem Erscheinen ihres Bruders wusste. Von Kindheit an kannten sie Fritz, der sich nun formvollendet verbeugte.
„Meine Damen, darf ich Ihnen meine Freunde und Studienkollegen vorstellen: Wilhelm von Berghoff, Student der Rechtswissenschaften wie ich, Heinz Bauer, der als unser Jüngster kurz vor der Matura steht und Medizin studieren will, und Bodo Vollstedt, der sich bereits in der medizinische Fakultät eingeschrieben hat."
Schüchtern schlug Elfriede die Augen nieder, während Hilde die Studenten kühl musterte. Luise streckte ihren Rücken durch.
„Und ich übernehme meinerseits die Vorstellung: Hilde Neumann und Elfriede Stein, die beide aus Tilsit stammen, und meine Wenigkeit Luise Eder, die Schwester des Rechtskandidaten Fritz. Freut uns sehr."
Inzwischen war die Pause vorüber, die Kapelle begann mit einem Walzer die nächste Tanzrunde. Wilhelm von Berghoff verbeugte sich vor Hilde, Heinz Bauer vor Luise, Bodo Vollstedt führte Elfriede Stein am Ellbogen zur Tanzfläche.
Leicht wie eine Elfe lag sie in seinem Arm, sodass Bodo keine Mühe hatte, mit seiner Partnerin im eleganten Schwung um die zahlreichen Tänzer herumzukurven wie ein Schiff um Untiefen. Auf den schnellen Walzer folgten Tango und langsamer Walzer. Der hoch aufgeschossene, schlanke Bodo sah auf das schwarze, gradlinig gescheitelte Haar seiner Tänzerin, in ihre dunklen, warmen Augen, wenn sie ihn anschaute, in ihr ebenmäßig geformtes Gesicht. Ihm gefiel alles, was er sah.
Auch Elfriede war angetan, tanzte sie doch für ihr Leben gern