Weltflucht: Essays
Von César Aira
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César Aira
César Aira, geboren 1949 in Coronel Pringles, veröffentlichte bisher über 80 Bücher: Romane, Novellen, Geschichten und Essays. Darüber hinaus übersetzt er aus dem Englischen, Französischen und Portugiesischen und lehrt an den Hochschulen von Rosario und Buenos Aires, wo er heute lebt. Aira gilt als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Autoren der Gegenwart – und als ihr raffiniertester. Seine Texte überraschen durch Genresprünge, aberwitzige und riskante Erzählkonstruktionen und Plots. 2016 erhielt er den Premio Iberoamericano de Narrativa Manuel Rojas.
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Buchvorschau
Weltflucht - César Aira
Weltflucht
Ich beginne, um von ferne und seitlich zu beginnen, bei einer kürzlichen Lektüre, einer jener fesselnden und reich belohnenden Romanreisen, die Aushängeschild und Losungswort für die Lektüre als kindliche Beschäftigung der Erwachsenen sind … und zugleich etwas mehr als Lektüre. Es handelte sich um The Black Arrow von Stevenson. Der Roman, 1888 erschienen, nach The Treasure Island und vor einigen weiteren schottischen Meisterwerken wie Catriona oder The Master of Ballantrae, war im Kielwasser der Schatzinsel entstanden und perfektioniert die mit diesem Roman eingeläutete ungewöhnliche Revolution: Literatur für die Jugend mit der Thematik und dem Rhythmus von Mantel-und-Degen-Schmökern, aber im Format kunstvoll raffinierter Romane. Selbst wenn Der schwarze Pfeil bei der treuen Stevenson-Leserschaft nicht unter den Top Ten rangiert, selbst wenn man ihn gewöhnlich, und durchaus nicht ohne Grund, als »historischen Roman« einzustufen pflegt, bilden die Abenteuer des jungen Dick Shelton im Rosenkrieg eine Lektüre, von der man schwerlich mehr verlangen könnte, die Quintessenz des Lesevergnügens … Und zugleich, wie gesagt, etwas mehr als Lektüre. Hier gibt es ein Paradox, das hochwillkommen und ziemlich offensichtlich ist: Um ihrer anspruchsvollsten Definition gerecht zu werden und ihre größte Wirksamkeit zu entfalten, muss eine Romanlektüre etwas mehr sein als Lektüre oder etwas weniger. Sie muss das Lesen auf eine andere, eine sekundäre, automatisierte Ebene übergehen lassen, damit der Traum, den der Roman darstellt, Gestalt annimmt, und sei es auch geisterhafte Gestalt.
Diesen Traum darzustellen, war im zwanzigsten Jahrhundert auch das Kino angetreten. Und will man versuchen, sich den figurativen Mechanismus zu erklären, der den Schwarzen Pfeil vorantreibt, könnte man an eine Filmproduktion denken. In einem Roman wie diesem, einem Roman, der es erfolgreich darauf anlegt, uns in Abenteuer zu entführen, in seine jeweiligen Situationen zu versetzen und jenes »vorübergehende Aussetzen der Ungläubigkeit« zu erzielen, das Coleridge forderte, gibt es viele Bereiche, um die man sich kümmern muss: die Kostüme, die Bühnenbilder, das Drehbuch, die Personen, die Szenenfolge, die Beleuchtung, die Requisiten … Schlagen wir eine beliebige Stelle auf, zum Beispiel die, wo die vereitelte Hochzeit von Joanna mit Lord Shoreby geschildert wird, jenem viel älteren Bräutigam, den der infame Sir Daniel ihr aufgezwungen hat, während ihr Geliebter Dick, als Mönch verkleidet und von Sir Oliver halbherzig beschützt, der Zeremonie ohnmächtig beiwohnen muss:
Einige von Lord Shorebys Mannen bahnten jetzt eine Schneise durch das Mittelschiff, wobei sie das versammelte Volk mit Lanzenschäften zurückdrängten; in diesem Moment sah man außen vor dem Portal die über den verharschten Schnee heranziehenden weltlichen Musikanten, die Sackpfeifer und Trompeter mit ihren vom kräftigen Blasen geröteten Gesichtern und die Trommler und Beckenschläger, die dreinhauten, als gälte es eine Wette.
Als sie sich der Tür des Gotteshauses näherten, fächerten sie nach beiden Seiten auf und standen, ihrer ohrenbetäubenden Musik selbst den Takt gebend, stampfend im Schnee. Hinter und zwischen ihren so zum Spalier geöffneten Reihen erschienen nun die Anführer des vornehmen Brautzuges; und dieser bot eine solche Vielfalt und Festlichkeit, eine solche Prachtentfaltung an Samt und Seide, Pelzen und Atlas, Stickerei und Spitzen, dass sich der Zug auf dem Schnee wie ein Blumenbeet am Wegesrand oder wie ein buntbemaltes Fenster in einer kahlen Wand ausnahm.
Zuerst kam die Braut, ein trauriger Anblick; fahl wie der bleiche Winter hing sie an Sir Daniels Arm; als Brautjungfer war ihr die kleine junge Lady beigesellt, die sich in der vergangenen Nacht Dicks so freundlich angenommen hatte. Dicht dahinter folgte in der glänzendsten Garderobe und mit gichtigem Hinkefuß der Bräutigam, und als dieser über die Schwelle des Gotteshauses trat und seinen Hut abnahm, sah man, dass sein kahler Schädel vor Erregung glühte.
Und dann schlug die Stunde von Ellis Duckworth.
Dick, der von widerstreitenden Gefühlen wie gelähmt dasaß und das Pult vor ihm mit den Händen umklammerte, bemerkte, dass die Menge in Bewegung geriet, dass die Leute zurückwichen und sich Arme und Blicke nach oben richteten. Als er ihnen mit den Augen folgte, gewahrte er drei oder vier Männer mit gespannten Bögen, die sich von der Galerie des Hauptschiffes herunterbeugten. Im selben Augenblick ließen sie schon ihre Sehnen schnellen, und noch ehe der Lärm und die Schreie der verstörten Menge in den Ohren zu voller Lautstärke anschwollen, waren sie von ihrem Hochsitz davongehuscht und verschwunden.
Das Kirchenschiff stand voller verstörter Menschen und hallte wider von ihrem Geschrei. Die Geistlichen drängten erschrocken von den Plätzen; die Musik schwieg, und obwohl die Glocken noch einige Sekunden lang oben in den Lüften weiterschlugen, schien ein Hauch des Unheils seinen Weg sogar bis in den Glockenturm gefunden zu haben, wo die Glöckner ihre Seile zogen, sodass auch sie ihre heiteren Mühen einstellten.
Genau in der Mitte des Kirchenschiffes lag, von zwei schwarzen Pfeilen durchbohrt, der Bräutigam. Die Braut war in Ohnmacht gesunken. Sir Daniel stand, die Menge überragend, bestürzt und grimmig da. In seinem linken Unterarm zitterte ein langer gefiederter Pfeil, und sein Gesicht war blutüberströmt, da ein zweiter Pfeil seine Stirn gestreift hatte.
Ehe überhaupt nach ihnen gesucht werden konnte, waren die Urheber dieser tragischen Unterbrechung längst eine Wendeltreppe hinuntergestürmt und durch eine Hintertür entkommen.
Dick und Lawless saßen indessen immer noch als Geiseln da. Sie waren beim ersten Lärm aufgesprungen und gaben sich tapfer alle Mühe, den Ausgang zu erreichen; aber wegen der Enge des Chorgestühls und des Getümmels der erschreckten Priester und Choristen war dieses Unterfangen fehlgeschlagen, und sie hatten mit stoischen Mienen wieder Platz genommen.
Da aber erhob sich, schreckensbleich, Sir Oliver und rief Sir Daniel zu, mit einer Hand auf Dick weisend:
»Hier«, schrie er, »hier ist Richard Shelton, o unselige Stunde, der Urheber der Bluttat! Ergreift ihn! – Gebt Befehl, ihn zu ergreifen. Um unser aller Leben willen, nehmt und fesselt ihn! Er hat geschworen, uns zu vernichten!«
Ich stelle fest, dass meine Übersetzung nur eine ansatzweise Vorstellung von der schwindelerregenden Genauigkeit geben kann, mit der diese und alle übrigen Szenen des Romans ablaufen. Worauf ich aufmerksam machen wollte, ist die Art, wie die Schreibweise hier dreidimensional operiert: Das Kirchenschiff wird in seiner ganzen Länge genutzt, seine Ein- und Ausgänge, die angrenzenden Räume, das Licht, die anwesenden Personen; dann die Choreografie der Bewegungen, und mit welch gut geölten Übergängen während der wenigen Sekunden, die alles dauert, von einem Bild zum nächsten gewechselt wird; wie die Farben, die