Nachtdiebe
Von Bodo Kirchhoff
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Über dieses E-Book
Bodo Kirchhoff erzählt in seiner auf einem früheren Roman basierenden Novelle Nachtdiebe von einem Mann, der innerhalb weniger Tage und Nächte, in einem Schrecken ohne Ende, aus lebenslangem Kindertraum erwacht. Eine aberwitzige Hoffnung treibt ihn in die Medina von Tunis, wo er gespenstischen Menschen und einer unerwarteten Liebe begegnet.
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Buchvorschau
Nachtdiebe - Bodo Kirchhoff
Erzähl vom Ungeheuer, bittet das Kind am Abend den Vater.
Zum ersten Mal sind Quint und sein Sohn Julian allein auf Reisen; die Mutter, eine Übersetzerin, hat beruflich in Paris zu tun. Das Ziel ist Tunis, aber für Quint ist es keine Urlaubsreise: Er sucht Helen, die junge Frau, die ein Jahr auf Julian aufgepasst hat und dann plötzlich verschwand. Einziges Lebenszeichen ist eine Postkarte aus Tunis, wo sie in einem kleinen Hotel an der Medina wohnte und ein Heft mit Aufzeichnungen hinterließ. Quint bezieht mit seinem Sohn im selben Hotel ein Zimmer. Und während er Julian vom Ungeheuer erzählt, dringt mehr und mehr das Ungeheure in seine Welt: Da ist die Wirtin des Hotels, Madame Melrose, der Quint in einem unbedachten Moment erliegt, und ein unheimlicher Hotelgast, Dr. Branzger, nach eigener Aussage Exilant aus der nicht mehr existierenden DDR. Aber vor allem ist da das Heft von Helen, eine einzige Abrechnung mit Quint. Als immer wieder beschriebene Seiten unter der Tür von Quints Zimmer durchgeschoben werden, muss er das Schlimmste befürchten.
Bodo Kirchhoff erzählt in seiner auf einem früheren Roman basierenden Novelle Nachtdiebe von einem Mann, der innerhalb weniger Tage und Nächte, in einem Schrecken ohne Ende, aus lebenslangem Kindertraum erwacht. Eine aberwitzige Hoffnung treibt ihn in die Medina von Tunis, wo er gespenstischen Menschen und einer unerwarteten Liebe begegnet.
Bodo Kirchhoff: Nachtdiebe, NovelleVerlagslogoInhalt
Für Claudius
I
Erzählen ist immer auch der Versuch, etwas Verlorenes zurückzugewinnen, mehr zu sein als nur ein Tagedieb, der alten Träumen nachhängt. Ich hatte das Glück einer guten Arbeit, die noch dazu viel Freiraum ließ, Radiosprecher in Goethes Geburtsstadt; ich hatte auch das Glück einer guten Wohnlage bei bezahlbarer Miete. Aber vor allem ist mir das Glück eines gesunden Kindes zuteilgeworden, eines Sohns, auf den, als er schon reden konnte, abends oft eine Studentin aufgepasst hat. Und damals hätte ich sogar noch einmal mit der Liebe in Berührung kommen können, weil meine Frau an Trennung dachte. Damals, das hieß während des osteuropäischen Umbruchs, der mich als Sprecher der Nachrichten täglich beschäftigte. Seitdem ist es Herbst und Winter geworden, Frühling und Sommer, und ich war angebunden in der Stadt am Main, die bis vor kurzem noch in der Mitte des Landes lag. Der erste Jahrestag der überraschenden Einheit fiel dann in meine Urlaubszeit; ich mag den letzten Atemzug des Sommers, wenn schon ein anderer Wind weht, selbst im Süden, am Rand der Wüste.
An diesem Tag flog ich nach Tunis. Neben mir am Fenster saß Julian, klein, rundbäckig, hell; er schlief. Alles an ihm erschien mir hell, sein Haar, seine Stimme, die Haut, besonders natürlich sein Verstand, und selbst seine braunen Augen leuchteten auf, wenn er lachte. Aber nun schlief er ja, worüber ich froh war. Julian schwitzte im Schlaf. Auf seiner Nase glänzten Tröpfchen, mit einer Ansichtskarte fächelte ich Luft hinüber; ohne diese Karte – sie hatte mich Ende September erreicht – wären wir zwei nie verreist. Auf ihrer Rückseite stand Folgendes: Du irrst Dich nicht, das ist meine Schrift, ich lebe. Tunis ist angenehm, in der Medina fand ich ein kleines Hotel mit viel Ruhe. Was macht Julian? Wie geht es Christine? Und wie geht es Dir? Hoffen wir das Beste für jeden, Helen.
Längst konnte ich ihre Worte aufsagen wie einen Vers. Helen hatte sie mit Bleistift geschrieben, bei dem Wort Ruhe war ihr offenbar die Spitze abgebrochen. Ich beugte mich an Julian vorbei und sah aus dem Fenster. Noch immer das Meer, blau und gekräuselt; über Korsika war er eingeschlafen. Wange auf der Schulter, Hände im Schoß, so saß er da und schnaufte. Die Stewardessen ließen ihn kaum aus den Augen. Wenn Julian schlief, kam seine sanfte Macht zum Vorschein, auch Helen hatte diese Macht gespürt. Oft hatte sie ganz gebannt an Julians Bett gesessen, wenn Christine und ich von einem Konzert heimkehrten; erst das Geld, das ich ihr zuschob, brachte sie wieder zu sich. Helen kam zwei- bis dreimal in der Woche. Sie trank und rauchte nicht, und nie trafen wir sie vor dem Fernseher an. Christine hatte sie eingestellt, sie mochte Helen. Genaugenommen mochte sie, dass Helen sie mochte, was ich wiederum gar nicht mochte, weil es Christine Auftrieb gab, auch ihren Scheidungsgedanken, die mich beunruhigten. Ich war einfach sehr an Christine gewöhnt, außerdem bewunderte ich ihre Klugheit; sie übersetzte schwierige Bücher und hatte dafür schon Preise bekommen. Während ich das Mittelmeer überflog, besuchte sie in Paris einen russischen Autor, und selbstverständlich habe ich ihr eine Nachricht hinterlassen: Hatte die Idee, mit Julian nach Tunis zu fliegen, rufe dich an! Christine, das wusste ich, hatte Verständnis für verrückte Ideen, aber das Ganze war sehr durchdacht.
Erst als das Flugzeug zur Landung ansetzte, weckte ich Julian, Schau, da, die Wüste, rief ich und zeigte auf ein Ödland längs der Piste, das natürlich nicht die Wüste war, aber woher sollte er das wissen? Julian nahm meine Hand. Er fragte nach Kamelen, und ich erzählte ihm, die Kamele seien unterwegs. Und auch das glaubte er; mir nicht zu glauben, ist auch kein Kinderspiel bei meiner Stimme.
Die Fahrt ins Zentrum zog sich hin. Tausende waren an diesem Oktobertag auf der Straße und verlangten die Rückkehr zu alten Gesetzen, ein Gewirr aus braunen Kutten und weißen Gewändern in einer Sonne, die immer noch brannte. Da ich dem Fahrer nur Medina! gesagt hatte, hielt er vor einem wuchtigen Tor, hinter dem die Altstadt begann. Sofort kamen Händler und Bettler zum Wagen, und ich wollte schon in ein besseres Viertel ausweichen, da fiel mir Helens Karte wieder ein, diese Spur von Nachdruck auf dem Wort Ruhe. Julian im Arm und in der Hand einen für die Gegend zu feinen Koffer, betrat ich also die Medina von Tunis, ohne jedes Interesse für Leben und Treiben um uns herum; während mich Julian am Haar zog, Zeichen dafür, dass er Christine entbehrte, hielt ich nach Hotelschildern Ausschau. Und so sicher ich mir bei einem Dutzend kleiner und kleinster Herbergen war, vor der falschen Adresse zu stehen, so sicher war ich mir, am Ziel zu sein, als ich an einem schmalen Gebäude mit trocknender Wäsche auf dem Dach die Schrift Petit Hôtel de la Tranquillité las.
Wenig später führte mich die Besitzerin, eine auffallend blasshäutige Frau mit einem schönen Gesicht voller Fältchen, in das Zimmer, das Helen bis vor kurzem bewohnt hatte. Vorletzte Woche, sagte sie in meiner Sprache, die auch ihre war, sei Mademoiselle Helen auf einmal verschwunden, ohne ein Wort und ohne ihr Depot im Safe aufzulösen. Hier am Fenster hat sie immer gesessen, wenn ich ihr morgens grünen Tee gebracht habe, können Sie sich das vorstellen? Und sie nahm Helens Sitzhaltung ein, als gelte es, ein Verbrechen zu rekonstruieren, und nannte bei der Gelegenheit einen Namen, der mir zu märchenhaft klang, um ganz echt zu sein, Madame Melrose. Daraufhin stellte ich mich als Helens Onkel vor und das offenbar sehr überzeugend; die Besitzerin des Kleinen Hotels zur Ruhe bot mir eine Einsicht in Helens Depot an.
Kaum waren wir wieder unten, bat sie um unsere Pässe und verglich besonders Julian mit dem Lichtbild. Dann erst schloss sie das Depot auf und entnahm ihm ein hölzernes Kästchen. Es war flach und schwarz und hatte ein Schlüsselloch zwischen arabischen Zeichen; es passte zu Helen. Madame Melrose – innerlich war ich schon bereit, sie so zu nennen – übergab mir den kleinen Schlüssel, und ich öffnete das Kästchen etwa vom Format einer Pralinenschachtel. Eine Mappe aus billigem Karton lag darin, darauf Helens Initialen und darunter, in Druckbuchstaben, eine Art Titel: Mein Jahr mit Quint. Ich sah das und erschrak wie jemand, der auf ein vergessenes Kinderbild von sich stößt – das bin ja ich dort, hätte ich fast gesagt, als Madame Melrose schon ihre Hand aufhielt, damit ich ihr den Schlüssel zurückreichte. In der Mappe befinden sich lose Seiten, alle mit Maschine getippt, erklärte sie und tat dann, was sie tun musste. Sie schloss das Kästchen und schob es wieder in Helens Depot. Angenehme Tage in meinem Haus, Monsieur. Sie können hier grünen Tee bekommen, aber auch frische Milch – die letzten Worte hatte sie mit Blick auf Julian gesagt; jeder Weg zu Helens Mappe führte über diese Frau, so viel war sicher.
In dieser Nacht schlief ich an Julians Seite, ganz exklusiv und wie beschützt von ihm. Aber als mich der erste Sonnenstrahl