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Wer ist Lucy?
Wer ist Lucy?
Wer ist Lucy?
eBook329 Seiten3 Stunden

Wer ist Lucy?

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Über dieses E-Book

Während die Unternehmerin Rita Wegener auch mit 73 Jahren das Zepter noch nicht an die nächste Generation weitergeben will, leidet Anton unter seiner autoritären Mutter. Gleichzeitig bangt er um seine Ehe, in der es mächtig kriselt. Jule hofft, dass ihr Herzenswunsch endlich in Erfüllung geht. Und ein katholischer Priester entdeckt pädophile Züge an sich, die es zu bekämpfen gilt. Was haben diese Personen gemeinsam? Und warum mischt sich eine Unbekannte in deren Leben ein?
SpracheDeutsch
HerausgeberLindemanns
Erscheinungsdatum10. Juli 2024
ISBN9783963082412
Wer ist Lucy?
Autor

Frauke Mann

Frauke Mann, ist Diplom-Verwaltungswirtin (FH) und staatlich geprüfte Heilpraktikerin. Sie ist Jahrgang 1967 und lebt mit ihrer Familie sowie einer reinrassigen Bauernhofkatze und einem quirligen Jack-Russel-Mix am Fuße der Schwäbischen Alb. Aus den vielseitigen Berührungspunkten mit Menschen unterschiedlicher Façon und den Erfahrungen mit Patienten in ihrer eigenen Praxis sowie als jahrelange Dozentin im Gesundheitswesen sind die Roman­figuren geboren. Und ehrlicherweise muss gesagt werden, das sich, obwohl der Roman frei erfunden ist, die ein oder andere skurrile Situation der Protagonistin Jule Seltmann im Klinikalltag genauso abgespielt hat.

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    Buchvorschau

    Wer ist Lucy? - Frauke Mann

    1

    Die letzten Sonnenstrahlen brachen durch die bunten Glasfenster der barocken Pfarrkirche, hüpften mit fröhlich tanzenden Staubteilchen um die Wette, bahnten sich ihren Weg zum Altarbereich und warfen ein düster unwirkliches Licht auf das Ungeheuerliche, das sich dort abspielte.

    Regungslos stand er da, den klobigen Vorschlaghammer in der erhobenen rechten Hand, die linke mit der Handfläche nach unten flach auf den Altar gelegt. Nur eine einzelne Schweißperle verriet seine Anspannung. Jetzt sah man ein leichtes Zittern des rechten Armes, das sich über die Schulter fortsetzte und den Rücken hinablief. Ein kurzes Schaudern. Ein flüchtiges Blinzeln. Sofort die Augen wieder starr auf die flache Hand gerichtet.

    Die Angst vor dem unausweichlichen Schmerz ließ ihn erneut erschaudern.

    Aber es musste sein! Es musste getan werden. Wenn deine Hand dich zum Bösen verführt, dann haue sie ab, steht in Markus 9, Vers 43. Und diese Hand hatte ihn zu Bösem verführt. Sie hatte sich wie zufällig auf einen nackten Oberschenkel gelegt. Heute Nachmittag. Am Dorfweiher. Als sie nebeneinandergesessen waren, und der kleine Ansgar mit großen Augen den Geschichten von Jesus gelauscht hatte. Auch die anderen Kinder waren, nur mit Badehose und Bikini bekleidet, mucksmäuschenstill mit gespitzten Ohren und offenen Mündern ganz nahe bei ihm gesessen und hatten gestaunt, wie der blinde Bartimäus wieder sehend wurde.

    Er kannte sie alle beim Namen, die kleinen Jungs sowie die Mädels. Und so hatte er die andächtig lauschenden Kinder namentlich in die Geschichte miteinbezogen: Ansgar als Freund von Bartimäus, Friedhelm als Hirten, den kleinen Timmy als Schäfchen, die anderen als Steuereintreiber, Zöllner oder Gastwirte und die Mädchen als Marktfrauen. Und alle waren wie gebannt an seinen Lippen gehangen. Ja, er war ein guter Erzähler. Auch die Erwachsenen waren ganz Ohr, wenn er sonntags in der Kirche predigte.

    Und dennoch. Durch und durch verdorben war er. Diese zarten Jungenkörper, wie sie reizten und lockten, ein loderndes Feuer in ihm zündeten!

    Das Böse war bereits tief in ihn gedrungen, zu tief. Es zog und zerrte an ihm mit einer Vehemenz, die ihn auseinanderreißen würde, wenn er dem Ganzen kein Ende setzte. Jetzt. Hier und sofort!

    Nein! Niemals hatte er das Unaussprechliche getan. Bewahre! Doch heute, seine linke Hand auf dem nackten Oberschenkel des kleinen Ansgar, das war ein weiterer Schritt hinab ins Böse. Ins teuflische Verderben. Es musste Schluss sein, ein für alle Mal. Dann schlug er zu.

    2

    17:59 Uhr. Rita Wegener, eine 73-jährige gertenschlanke Seniorin, zupfte einen lästigen Wollfussel von ihrer Kostümjacke, überprüfte Frisur und Schminke und war bereit für die tägliche Berichterstattung der betrieblichen Vorgänge bei Holz Wegener.

    18:00 Uhr. Die pompöse Standuhr im Wohnbereich schlug sechs Mal. Liebevoll betrachtete sie das Prunkstück, das ihr Schwiegervater und Gründer der Firma Holz Wegener eigenhändig geschnitzt hatte und seit Jahrzehnten auf einem Ehrenplatz im großzügigen Eingangsbereich der 227-m²-Wohnung stand. Im Gegensatz zum warmen Schwarzwaldholz der Standuhr war der Fußboden aus kühlem italienischem Marmor. Rita liebte das leise Klackern ihrer Pumps auf dem edlen Bodenbelag. Das restliche Ambiente der über den Büroräumen der Firma Holz Wegener liegenden Wohnung bestach durch kühle Eleganz. Nirgends sah man überflüssigen Schnickschnack. Einzig neben dem Wohnzimmersofa stand aus schwarzem Alabaster die lebensgroße Skulptur einer weiblichen Schönheit und eine kleinere Ausführung davon auf dem Fenstersims. Vorhänge oder andere Staubfänger gab es keine. Stattdessen freie Sicht und einen herrlichen Natur-pur-Blick auf den umliegenden Schwarzwald.

    Die Möbel waren durchweg aus weißem Schleiflack. Und obwohl sie aus den 70er-Jahren stammten, strahlten sie wie am ersten Tag in ihrem samtigen Weiß. Gute Pflege und achtsame Behandlung. Neben absoluter Pünktlichkeit, Dinge, auf die Rita großen Wert legte.

    18:01 Uhr. Schon wieder zu spät …! Auf ihren Sohn war kein Verlass. Und das, obwohl sie ihm jahrelang eingetrichtert hatte, wie wichtig Pünktlichkeit im Leben ist. Ob er es mit seinen einundvierzig Jahren noch lernen würde? Rita seufzte.

    18:03 Uhr. Endlich öffnete sich die Wohnungstür. Herein trat Anton Wegener mit einem Bündel Akten unter dem Arm.

    „Du kommst zu spät. Es ist 18:03 Uhr. Beginn ist 18:00 Uhr. Achtzehn Punkt null null!"

    „Entschuldige, Mutter."

    „In deinem Kalender steht Tagesabschlussbesprechung 18:00–18:45 Uhr. Nicht später und nicht früher. Exakt fünfundvierzig Minuten. Nicht länger und nicht kürzer. Sie schaute ihn eindringlich an. „Täglich! Ihr Blick schien ihn förmlich zu durchbohren. „Wann merkst du dir das endlich?"

    „Ich war noch schnell auf der Toilette, Mutter."

    „Das ist kein Grund, zu spät zu kommen. Und nenn mich nicht immer Mutter."

    „Ja, Mami."

    „Na, geht doch!"

    „Ja, Mami", seufzte er.

    „Und wie du wieder aussiehst. Wo ist dein Jackett? Deine Krawatte?"

    „Mami, es hat dreißig Grad draußen."

    „Papperlapapp. Du bist der Chef hier. Bei Regen und bei Schnee und erst recht bei dreißig Grad. Chef ist Chef. Und als dieser gehört sich Jackett und Krawatte."

    „Aber heutzutage …"

    „Kein Aber! Ein Chef ohne Jackett und Krawatte ist kein richtiger Chef. Dein Vater – Gott hab ihn selig – hatte auch im Hochsommer ein seriöses Langarmhemd an."

    Anton unterdrückte den Impuls, frustriert zu schnaufen.

    Stattdessen nickte er ergeben.

    „Nun steh nicht rum. Gib mir endlich den Quartalsbericht. Ich hoffe, der ist besser als der letzte. Und komm mir nicht wieder mit der blöden Idee, hier ein Wellnesshotel mit Kinderpark aufziehen zu wollen! Wood und Wellness Wegener. Was Blöderes ist dir nicht eingefallen?"

    „Aber ich glaube, dass das gut ist. Und ich denke, das würde unseren Umsatz enorm –"

    „Das Denken überlass den Pferden, die haben den größeren Kopf."

    „Ach, Mami."

    „Davon abgesehen ist Holz Wegener eine traditionelle Kunstschnitzerei! Und kein Erholungstingeltangel mit Entspannungstrallala."

    „Aber es wäre ein Traum von Gabi."

    „Von Gabi? Wenn ich das schon wieder höre. Deine Frau hat von Tuten und Blasen keine Ahnung. Sie ist Kindergärtnerin! Und mit ihren Walle-Walle-Ökokleidern sieht sie aus wie … na, egal. Rita winkte ab. „Lass dir von so jemandem nichts einreden, mein Sohn.

    „Ja, Mami. Aber ganz ehrlich, wir haben das intensiv überlegt und durchgerechnet, und ich fände es wirklich gut, beides miteinander zu verbinden. Gabi würde die Kinderbetreuung –"

    „Schluss mit dem Mist. Warum musstest du auch eine Kindergärtnerin heiraten."

    „Erzieherin, Mami, Erzieherin heißt das."

    Rita überhörte diesen Einwand geflissentlich. Stattdessen monierte sie: „Kinder hüten! Das ist doch kein ernst zu nehmender Beruf. Jetzt durchbohrte sie ihren Sohn mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete. „Hättest du die Franzi Förster geheiratet, hättest du keine solchen Flausen im Kopf. Und das Holz wäre im Einkauf billiger. Ihrem Vater gehört der halbe Marrenwald. Aber nein, mein lieber Herr Sohn musste eine Kindergartentante schwängern.

    Anton ballte die Fäuste, presste die Lippen aufeinander und zählte in Gedanken bis zehn.

    Dann reichte er ihr die Unterlagen mit den Worten: „Mami, hier sind die Quartalszahlen."

    „Anton, jetzt versuchst du, vom Thema abzulenken. Ich durchschaue das."

    „Aber ich wollte …"

    „Wenn deine Gabi im Büro ihren Einsatz täte, anstatt die Rotzlöffel anderer Leute zu bespaßen, sähen die Quartalszahlen besser aus."

    „Aber Mami, das kann sie nicht."

    „Eben. Sag ich doch. Stattdessen hast du diese Christina Schmid eingestellt, die du teuer entlohnen musst."

    „Frau Schmid ist Bürokauffrau und macht einen guten Job."

    „Aber was die kostet! Rita beugte sich vor. „Als dein Vater – Gott hab ihn selig – hier die Dinge geleitet hat, habe ich alles alleine gemacht. Kostenlos sozusagen. Man hörte den Stolz in ihrer Stimme.

    „Das ist bald vierzig Jahre her."

    „Deshalb ist es nicht weniger wichtig, mein Sohn", erklärte sie mit erhobenem Zeigefinger.

    Wieder nickte Anton ergeben.

    Und Rita fuhr in versöhnlicherem Ton fort: „Ach ja, damit du es nicht vergisst: Am Sonntag ist der Seniorenausflug nach Degna. Ich werde also nicht zum Kaffee zu euch kommen, was mich freut, denn ich werde echten Kuchen bekommen, nicht dieses neumodische Ökozeugs, das deine Frau immer backt."

    „Das ist veganer Kuchen aus Dinkelmehl."

    „Sag ich doch, neumodisches Ökozeugs."

    „Mami, das ist gesund."

    „Papperlapapp. Ein Kuchen muss schmecken. Nach frischen Eiern und guter Butter!", erklärte Rita mit strenger Miene und unterstrich das Gesagte erneut mit erhobenem Zeigefinger.

    Dann fuhr sie selbstzufrieden fort: „Jedenfalls habe ich alles organisiert. Wir machen einen Tagesausflug. Abfahrt 09:00 Uhr am Rathaus. 09:53 Uhr Ankunft Raststätte Sindelfinger Wald. 13 Minuten Toilettenpause. 10:06 Uhr Weiterfahrt. 10:38 Uhr Ankunft in Degna. Um 10:45 Uhr Kirchenführung in der barocken ,Ave Maria‘, von Pfarrer Fischer höchstpersönlich. Anschließend …"

    Anton schaltete gedanklich ab – heilfroh, heute so glimpflich davongekommen zu sein.

    3

    Mit schmerzverzerrtem Gesicht überquerte Jakob Fischer den nunmehr spärlich beleuchteten Marktplatz von Degna. Seine linke Hand war notdürftig in ein Stofftaschentuch gewickelt. Die Blutung hatte aufgehört, aber die Schmerzen waren unerträglich: Bei jedem Schritt, bei der kleinsten Erschütterung durchpeitschte ihn ein höllisch scharfer Stich. Gut, dass es bereits auf Mitternacht zuging, so würde er niemandem mehr begegnen und ohne großes Aufsehen am Nachtschalter der Apotheke ein Schmerzmittel gegen diese entsetzlichen Qualen in seiner übel zugerichteten Hand holen können.

    Eben hatte er den historischen Dorfbrunnen hinter sich gelassen und wollte in die schmale Apothekergasse einbiegen, als sich die Tür vom Gasthof Schwanen öffnete, eine Gestalt heraustrat, kurz innehielt und dann torkelnd auf ihn zukam.

    „Ach, da ist er ja, der Herr Pfarrer. Unser Anwärter auf den Heiligen Stuhl. Was machst du denn so spät noch? Musst du nicht deine nächste Predigt vorbereiten oder … weiß der Geier, was der Herr Hochwürden sonst noch so macht?"

    Thorsten, Thorsten Bratsch – der hatte ihm gerade noch gefehlt. Schon nüchtern konnte der sein mieses Mundwerk nur schwer im Zaum halten, betrunken war er unausstehlich. Kaum zu glauben, dass sie früher beste Freunde gewesen waren. Damals, zu Schulzeiten, als die ganze Clique sich jeden Abend im alten Steinbruch getroffen hatte …

    „He – du sagst ja gar nichts. Sprichst du nicht mehr mit mir? Bist dir wohl zu … fein."

    Bedenklich schwankend kam Thorsten näher. Jakob wich zur Seite aus. Doch Thorsten war auf Krawall gebürstet: „He, bleib stehen, ich will mit dir reden!"

    Aber ich nicht.

    „Bleib stehen, du Drecksack!" Thorsten versperrte ihm den Weg.

    Der Geistliche stoppte, versteckte die lädierte Hand so gut es ging hinter seinem Rücken, trat vorsichtshalber einen Schritt zurück – sicher ist sicher – und ließ Thorsten nicht aus den Augen.

    „Nur weil du studiert hast, bist du noch lange nichts Besseres!", krakeelte der.

    Der Priester trat einen weiteren Schritt zurück. Und noch einen. Doch mit jedem Schritt, den er zurückwich, kam Thorsten zwei Schritte näher. Schon roch Jakob den von Bier und Schnaps durchsetzten Atem und sah in die blutunterlaufenen Augen seines Widersachers, aus denen der blanke Hass schrie.

    „Tagsüber den großen Macker mimen, aber wenn es dunkel ist – bist du ein Schisser vor dem Herrn!"

    Winzige Spucketröpfchen trafen das Gesicht des Geistlichen. Und mit einer Geschwindigkeit, die er dem Besoffenen nicht zugetraut hätte, fuhr urplötzlich Thorstens rechte Faust auf ihn zu und traf ihn an der Schläfe. Jakob taumelte, schrie auf vor Schmerz, hoffte, sich mit einem weiteren Rückwärtsschritt aus der Gefahrenzone bringen zu können, und rief: „Sag mal, spinnst du? Thorsten, was soll der Scheiß?!"

    Doch der starrte ihn mit hasserfüllten Augen an und brüllte: „Du warst es! Gib es zu – du allein bist an allem Schuld. Du hast sie umgebracht!" Gab ihm einen wütenden Schubs, so dass er erneut taumelte, beinahe das Gleichgewicht verlor und rückwärts stolpernd gegen den Dorfbrunnen stieß. Reflexartig versuchte Jakob, sich mit den Händen abzustützen. Keine gute Idee. In seiner verletzten Hand explodierte ein bestialischer Schmerz. Er schrie auf!

    Der scharfe Schmerz raubte ihm die Sinne, ließ ihn erneut straucheln und endgültig das Gleichgewicht verlieren. Im Fallen drehte er sich um die eigene Achse, schlug mit dem Kopf auf den steinernen Brunnenrand, sackte bewusstlos zusammen und blieb regungslos liegen.

    4

    „Und du warst wirklich nicht auf der Geburtstagsfeier deiner Enkeltochter?"

    „Nein."

    „Und warum nicht?"

    „Weil ich nicht eingeladen war."

    „Du warst nicht eingeladen? Oha!"

    „Genau. Oha!"

    „Das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist ja …"

    „War aber so."

    „Ach herrjemine! Ich meine, ich weiß ja, dass du und deine Schwiegertochter, also, dass ihr beide euch nicht grün seid, aber zum Geburtstag der Kleinen hätten sie dich schon einladen können."

    „Ja –, dass man als Oma nicht zum Geburtstag der Enkeltochter eingeladen wird, ist eine Frechheit."

    „Eine bodenlose Frechheit. Da muss ich dir zustimmen."

    „Das Allerletzte!"

    „Und was hat dein Sohn gesagt?"

    „Der? Der hat nichts gesagt. Hat seine Gabi vorgeschickt, um mit mir zu telefonieren."

    „Und was hat die gesagt?"

    „Dass es Kaffee und Abendbrot geben würde, und ich kommen könne, wie ich Lust habe."

    „Also doch eine Einladung."

    „Aber nein! Das ist doch keine Einladung! Ganz ohne Uhrzeit. Wo gibt’s denn so was?"

    „Herrjemine!"

    Wie ich Lust habe!, sagte sie. Frechheit!"

    „Ja."

    „Und dann solle ich eine Schüssel Kartoffelsalat mitbringen."

    „Was?"

    „Ja, du hast richtig gehört: Eigenes Essen mitbringen."

    „Als Gast?"

    „Ja!"

    „Das ist dreist."

    „Sag ich doch."

    „Unglaublich!"

    „Jedenfalls keine Einladung!"

    „Stimmt, das ist wirklich keine Einladung."

    „Das ist eine Zumutung!"

    „Eine Frechheit!"

    5

    Jakob öffnete die Augen. Er lag in einem blütenweißen Bett in einem unbekannten Raum. Links ein Fenster, rechts ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und vor ihm eine kahle Wand. Noch während er versuchte, das Ganze zu analysieren, öffnete sich schwungvoll die Tür und herein trat ein Mann in weißem Kittel mit einem Aktenbündel unter dem Arm.

    „Aha, nun ist er wach. Wie geht’s denn unserem Patienten?", fragte Franz Messerle, seines Zeichens Chefarzt der unfallchirurgischen Abteilung.

    „Franz? Franz Messerle? Freudig erkannte Jakob seinen alten Schulkameraden. „Ich dachte, du bist inzwischen an der Uniklinik in Ulm?

    „Nein, noch bin ich hier. Das hat sich verzögert. Um einen Monat. Der Chefarzt zuckte mit den Schultern. „Aber schön, dass du mich erkennst. So, wie du dir den Schädel angeschlagen hattest, ist das ein gutes Zeichen. Er machte eine Pause und sah seinen Patienten aufmerksam an. „Willst du mir vielleicht erzählen, woran du dich noch erinnern kannst?"

    Jakob befühlte mit der Rechten vorsichtig den Verband am Kopf und das Pflaster über dem Auge. Dann betrachtete er schweigend seine fachgerecht bandagierte linke Hand. Wie sollte er das erklären?

    „Die Gerüchteküche sagt, eine Schlägerei mit Thorsten Bratsch. Die Polizei war übrigens auch schon hier. Aber du hast noch die Narkose ausgeschlafen, deshalb kommen sie morgen wieder."

    Franz Messerle setzte sich an den Tisch und schlug die mitgebrachte Krankenakte auf.

    „So, was haben wir denn? Großflächige Schwellungen und Schürfwunden im Gesicht, las er vor, „Platzwunde über dem linken Auge, Gehirnerschütterung, Rippenprellung links, zahllose Hämatome am ganzen Körper und einen feinen Trümmerbruch der linken Hand.

    Der Chefarzt blickte auf. „Offizielle Visite ist übrigens erst um siebzehn Uhr, da kommt das ganze Team, aber ich wollte vorher schon sehen, wie’s dir geht. Und außerdem bin ich neugierig, was an dem Gerücht dran ist."

    Er schlug die Beine übereinander und wartete auf eine Antwort. Aber es kam nichts. „Ach ja, als Chefarzt habe ich dafür gesorgt, dass du im Einzelzimmer liegst. Ist dir hoffentlich recht. Dachte mir, dass du lieber alleine sein willst. Franz Messerle machte eine kurze Pause, als warte er auf eine Erwiderung. Und weil Jakob immer noch nichts sagte, fuhr er schließlich fort: „Ich selbst habe dich übrigens operiert und glaub mir, das war ein ziemliches Durcheinander in deiner linken Hand.

    Mit einem leichten Kopfschütteln erklärte er: „Kahnbein, Mondbein, Kopfbein – eine Menge … Brei und ganz viel Gesplitter. Ob das wieder wird, kann ich nicht versprechen. Ich habe mein Bestes gegeben. Jetzt heißt es abwarten."

    Er klopfte kurz auf die Krankenakte und legte sie dann beiseite.

    Noch immer nichts von Jakob.

    „So weit die Fakten. Aber jetzt mal unter uns: Ich verstehe nicht, warum der Thorsten dir die Hölle so heiß gemacht hat. Dass er ein Stänkerer ist und mit Vorsicht zu genießen, wenn er betrunken ist, weiß jeder. Dass er auch nüchtern kein gutes Haar an dir lässt und egal, was du in den Sitzungen vom Kirchengemeinderat vorbringst, immer dagegen schießt, ist eine unschöne Sache. Er schüttelte den Kopf. „Aber diese brutale Attacke, holla, das ist ein ganz anderes Kaliber. Verstehe ich nicht.

    Franz Messerle lehnte sich im Stuhl zurück und beobachtete Jakob, der die Bettdecke intensiv betrachtete, und ergänzte nachdenklich: „Wobei ich auch nicht verstehe, wieso du ausgerechnet hier Pfarrer geworden bist. Ich dachte, so was geht in der Heimatgemeinde nicht."

    „Geht eigentlich auch nicht, brach Jakob endlich sein Schweigen, „aber die wunderschöne, barocke Pfarrkirche von Degna hatte es mir schon immer angetan. Regelrecht verliebt war ich in sie und bin es heute noch. Und irgendwie …, fügte er mit leichtem Räuspern an, „hat es mein großer Chef im Himmel so eingerichtet, dass es klappte. Er hat quasi das Unmögliche wahr gemacht. Jakob lächelte versonnen. „Und es war perfekt. Bis zu dem Moment als Degna, Hausweiler und Waldkirch zu einer Seelsorgeeinheit zusammengefasst wurden. Da fing der … Ärger an. Vielleicht ist es an der Zeit zu wechseln. Jakob zuckte mit den Schultern und fixierte wieder die Bettdecke. Das Lächeln war erloschen. „Und Priester werden, ja, das wollte ich schon immer."

    „Haben wir beide unseren Namen alle Ehre gemacht: Ich bin Chirurg geworden und du Fischer", schmunzelte Franz Messerle.

    Menschenfischer, Markus 1, Vers 17", warf Jakob Fischer ein.

    „Im Gegensatz zu Thorsten Bratsch, das wäre nichts geworden mit einer Musikerlaufbahn. An ihm wäre jeder Bratschenlehrer verzweifelt." Franz Messerle lachte.

    „Ja, der Thorsten, der alte Säufer." Jakob schüttelte den Kopf.

    Jetzt schaute der Chefarzt seinen Patienten wieder ernst an, tippte mit dem Finger auf die Krankenakte und meinte: „Der Schwanenwirt sagt, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann Thorsten sich mit seiner Sauferei in echte Schwierigkeiten bringt. Aber schwere Körperverletzung, puh, damit hätte wohl keiner gerechnet. Und dann ausgerechnet bei dir!"

    Er machte eine Pause. „Mensch Jakob, das verstehe ich nicht. Ihr wart doch die besten Freunde. Damals, zu Schulzeiten. Oder hatte das was mit der Lisa zu tun?"

    „Elisabeth Köhler?"

    „Ja, in die war er doch verknallt."

    „Richtig. Arme Lisa. Tragisch!"

    „Was ist damals eigentlich passiert?"

    „Es war ein Unfall."

    „Ja, das weiß ich. Aber wie?"

    „Das ist über dreißig Jahre her, Franz. Jakob drehte seinen Kopf vorsichtig auf dem Kissen. „Das war der Sommer, als wir alle mit der Schule fertig waren und jeden Abend im alten Steinbruch saßen. Mit Lagerfeuer, Gitarre und Bier.

    „Stimmt, war eine tolle Zeit, antwortete Franz Messerle und nickte verträumt. „Aber an dem Tag saß ich schon mit meinem Rucksack und Interrailticket im unbequemen Zug nach Frankreich. Damals hatten wir ja noch kein Handy. Hab‘s also nicht wirklich mitgekriegt.

    Jakob schloss für einen langen Moment die Augen und kramte den Unglückstag aus seinem Gedächtnis hervor.

    Franz Messerle sah, dass er mit sich kämpfte und ließ ihm die Zeit, bis Jakob endlich zu erzählen anfing.

    „Also, die Lisa wollte mir ganz dringend was Wichtiges sagen. Sie brauchte meine Hilfe – wie so oft. Und da sind wir den schmalen Pfad hoch, an der alten Eiche vorbei, bis wir oben an der Abbruchkante standen. Ich erinnere mich genau, es war eine sternenklare Nacht. Man hatte von dort oben einen fantastischen Ausblick auf Degna mit der beleuchteten Pfarrkirche. Unten der Schein des Lagerfeuers und leise Gitarrenklänge. Geradezu romantisch … im Gegensatz zu Lisas Problem."

    Jakob hielt inne.

    „Nun … die Lisa fing unter Tränen an zu erzählen. Nämlich, dass sie schwanger sei. Von Thorsten. Dem sie bisher nichts gesagt hätte. Und nicht mal wisse, ob sie es tun solle und vor allem, was sie überhaupt tun solle. Ich sei der Erste, der davon erführe. Sie war völlig verzweifelt und hatte eine Heidenangst vor ihrem Vater. Meinte, wenn der von ihrer Schwangerschaft erführe, würde er sie totschlagen. Dann flehte sie mich an, ihr zu helfen. Fragte, ob ich wisse, wie das mit einer Abtreibung sei, wo man das machen könne und ob das anonym ginge. Sie sah keinen anderen Ausweg, heulte Rotz und Wasser und war total am Boden zerstört. Da habe ich sie halt in den Arm genommen, gesagt, dass wir irgendeine Lösung finden würden. Habe ihr über die Haare gestreichelt und sanft auf sie eingesprochen, bis sie sich halt beruhigt hatte. Und das war dann der Moment, als Thorsten wutentbrannt auf uns zustürmte. Eifersüchtig wie er war, hat er wohl nach uns gesucht. Und so wie das aussah, Lisa und ich eng umschlungen an der Abbruchkante, müssen wir für ihn wie ein Liebespaar gewirkt haben. Jedenfalls kam er wutschnaubend mit einem Stein in der erhobenen Hand auf uns zugerannt. Wir

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