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Daffke.
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eBook329 Seiten4 Stunden

Daffke.

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Über dieses E-Book

Die unkonventionelle Anja ist ohnehin experimentierfreudig, und für die konservative Simone kann es derzeit gerade nur besser werden. Also nehmen die ungleichen Frauen eine längst eingeschlafene Freundschaft wieder auf und kämpfen sich zusammen durch den Irrsinn des Alltags, satellitenartig begleitet von Anjas gutem Freund Theo.
Von so einem Netz kann Daniela nur träumen. Ihr bleibt nur ihr Tagebuch, dem sie ständig ihr Herz ausschüttet.
Aber es zeigt sich, dass Licht und Schatten manchmal anders fallen als vermutet. Schließlich braucht jeder der vier eine gehörige Portion Daffke: also die Fähigkeit, trotz allem aufzustehen, jetzt erst recht zu lachen und den Rückschlägen des Lebens die Stirn zu bieten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Aug. 2024
ISBN9783759747105
Daffke.
Autor

Johanna Tüntsch

Johanna Tüntsch (Jahrgang 1979) ist Journalistin und PR-Autorin. Getrieben von einer tiefen Neugier auf die Menschen hat sie ihr Leben lang Fragen gestellt und Geschichten gesammelt. Inspirationen findet sie im Leben, in Begegnungen und manchmal auch einfach auf der Straße. Nach jahrelanger Arbeit für Kölner Lokalredaktionen sieht sie sich darin bestätigt: Jeder hat mindestens eine faszinierende Geschichte zu erzählen. Viele auch zwei oder drei.

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    Buchvorschau

    Daffke. - Johanna Tüntsch

    1

    Simone.

    Apfelbaumplantagen rauschten an ihr vorbei. Sie war noch nicht erwacht aus der morgendlichen Benommenheit, die sie seit einer Woche bei jedem Aufwachen in ihrem Bann hielt. Eine Benommenheit, von der sie noch nicht wusste, ob sie grausam oder gnädig war. Kalt kribbelte es in ihren Fingern, in ihren Armen, in ihrer Brust. Alles fühlte sich irgendwie taub an. Und gleichzeitig wie tausend Nadelstiche.

    Sie tastete auf dem Beifahrersitz nach ihrer Tasche. Sie hatte doch die Akte eingesteckt? Ja, da war sie. Aber was war das? Ihr Finger fuhr die zerkratzte Plastikoberfläche einer Tupperdose entlang. Sie hatte keine Tupperdose eingesteckt!

    Sie fühlte weiter, schob Portemonnaie und Filofax zur Seite, zerrte die Dose heraus, das Lenkrad mit der linken Hand haltend – um dann verblüfft in ihrer Rechten die rosa Brotdose zu finden, die sie durch all ihre 13 Schuljahre begleitet hatte.

    Sie machte eine Vollbremsung vor dem Zebrastreifen, gerade noch rechtzeitig, um eine zeternde alte Bauersfrau mit Kopftuch, braunem Anorak und wadenlangem Rock unverletzt von einer Straßenseite zur anderen humpeln zu lassen. In der Mitte der Straße blieb die Alte stehen, gestikulierte wütend mit ihrem Krückstock und setzte ihren mühseligen Weg dann fort.

    Mit den Augen folgte sie ihr, bis hinter ihr lautes Hupen erklang. Sie sah in den Rückspiegel. Eine Kolonne von Autos. Sie erinnerte sich. Pendler.

    Mittwochmorgen. Berufsverkehr. Leute wollten zur Arbeit, und sie war ein Teil von ihnen.

    Sie sah auf die rosa Brotdose, die sie unbewusst noch immer in der Hand hielt.

    Schließlich gelang es ihr, die Dose vorsichtig zurück in die Tasche zu legen, mit rechts den Schaltknüppel zu erwischen, den ersten Gang einzulegen und ihren Weg fortzusetzen.

    Das Hupkonzert hinter ihr war inzwischen so laut, dass sie erst an der übernächsten Querstraße, als wieder Ruhe eingekehrt war, einordnen konnte, welch seltsames Getöse sie nun schon wieder irritierte. Sie biss die Zähne zusammen, schaltete vom röhrenden ersten Gang gleich in den dritten und tuckerte am Ortsausgangsschild vorbei, ein weiteres Stück Landstraße entlang, zwischen weiteren Apfelbaumspalieren hindurch, zum nächsten Ortseingangsschild.

    Links die Schulstraße, rechts das alte Café. Dahinter die abbiegende Vorfahrtsstraße. Sie fuhr jetzt vollkommen automatisiert. Dort war das kleine Gericht. Sie war lange nicht hier gewesen, kannte es aber von früher gut.

    Sie bog in die Einfahrt ein, ließ den Wagen auf einen leeren Parkplatz rollen, schaltete den Motor ab. Drehte sich zum Beifahrersitz um und sah wieder die rosa Brotdose, die sie jetzt nahm und öffnete. Der Geruch von Graubrot mit Leberwurst nebelte ihr entgegen, doch die liebevoll geschmierte Stulle, die ihn ausstrahlte, war verborgen unter einem Zettel mit der Handschrift ihrer Mutter.

    „Vergiss das Essen nicht, Kindchen!"

    Ein Kloß explodierte in ihrem Hals und sie brach in Tränen aus.

    Im Verhandlungssaal saßen bereits ein ungeduldig mit den Fingern trommelnder Richter und eine schnippisch dreinblickende Staatsanwältin. Schemenhaft nahm sie einige Besucher auf den Zuschauerbänken wahr, doch ihr Mandant war nirgendwo zu sehen. Das war schlecht.

    „Entschuldigen Sie meine Verspätung", murmelte sie matt.

    Der Richter sah sie resigniert an. „Das fällt mir leichter, als die Abwesenheit Ihres Mandanten zu entschuldigen."

    Sie wühlte in ihrer Tasche nach dem Handy. „Ich werde ihn gleich mal anrufen und fragen, wo er steckt."

    „Danke, aber das ist nicht nötig. Er hat gerade selbst angerufen."

    Sie ließ das Handy wieder in die Tasche gleiten. „Er hat angerufen? Wo? Hier?"

    Der Richter nickte, sichtlich gereizt. „Genau hier", bestätigte er. „Erst rief er an und sagte, er habe kein Geld für die Fahrkarte hierher. Nachdem ich ihm gesagt habe, dass er gut daran täte, es sich dann schleunigst zu beschaffen, rief er zehn Minuten später an, um zu sagen, er habe es jetzt organisiert und fahre los.

    Zwanzig Minuten später stellten mir die Wachtmeister erneut ein Gespräch durch: Ihr Mandant war dran, und er wollte mir sagen, dass die Züge in diese Richtung alle Verspätung hätten! Ich habe das nachgeprüft im Online-Fahrplan; es stimmte nicht.

    Aber es kommt noch besser: Just bevor Sie gerade die Tür öffneten, rief er an, um mir zu sagen, dass er jetzt wieder zu Hause sei, weil ihm das alles zu aufwendig wäre, und dass ich die Sache mit Ihnen allein verhandeln solle. Er scheint über seine Pflichten nicht so ganz aufgeklärt worden zu sein.

    Jedenfalls habe ich jetzt veranlasst, dass er in Gewahrsam genommen wird. Dann muss er eben im Knast ein paar Wochen lang auf den nächsten Verhandlungstermin warten."

    Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Augenscheinlich nahm nicht einmal ein Betrüger, den sie vor zwei Monaten erst knapp aus einer drohenden Haftstrafe herausgeboxt hatte, sie ernst genug, um wenigstens bei ihr persönlich abzusagen. Stattdessen leistete er sich eine hochnotpeinliche Lügengeschichte gegenüber dem Richter und ließ sie auflaufen wie die größte Idiotin.

    Vom Richter zu erfahren, dass der eigene Mandant nicht kam! Beschämt fühlte sie rote Flecken in ihren Wangen aufsteigen. Der Richter, sichtlich genervt davon, dass nun auch noch sie selbst eine halbe Stunde zu spät kam, setzte noch eins drauf: „Sie haben wohl Ihren Mandanten nicht so richtig im Griff! Und mit einem Blick auf die Uhr, die oberhalb der Tür hing: „Manchmal kann‘s helfen, wenn man selbst ein gutes Vorbild ist!

    Sie fühlte Tränen in ihre Augen steigen. Sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie eine Dreiviertelstunde lang auf dem Gerichtsparkplatz gesessen und geheult hatte. Gleichzeitig fragte sie sich, was mit dem Richter los war; was mit der ganzen Welt los war. Sie kannte ihn seit ihrem Referendariat; er war eigentlich einer der nettesten im ganzen Bezirk. Vor zwei Wochen noch hatte sie sich darauf gefreut, für diese Verhandlung aus der Stadt herauszukommen und ihn wiederzusehen.

    Unerwartet sah sie plötzlich Betroffenheit in seinem Gesicht, das mit einem Mal die alte Freundlichkeit zurückgewann. „Ich werde neu terminieren und Sie dann benachrichtigen. Machen Sie sich keine Gedanken; verspäten kann sich ja jeder mal. Und Ihren Mandanten werden wir schon zurechtstutzen. Jetzt lächelte er aufmunternd: „Dann fahren Sie wohl am besten zurück in Ihre Kanzlei, oder nach Hause, oder dorthin, wo Sie sonst erwartet werden. Sie nickte nur, unfähig, noch ein Wort hervorzubringen. Heiß kribbelte es auf ihren Wangen.

    Unglaublich, sie war tatsächlich im Gerichtssaal in Tränen ausgebrochen.

    ***

    Anja.

    Von: anja.wilms@hotmail.com

    An: theo.fritsche@gmx.de

    Dienstag, 15.02. 21:53

    Betreff: Glücklicher Zufall

    Lieber Theo!

    Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist! Ich war im Gericht, und rate mal, wen ich dort getroffen habe? Meine alte Schulfreundin Simone!!!

    Sie war jahrelang meine allerallerbeste Freundin. Als Teenager waren wir unzertrennlich. So sehr, dass es unsere Eltern schon total genervt hat. Wie es eben normal ist in dem Alter.

    Wir haben Händchen gehalten, uns aus unseren Tagebüchern vorgelesen, beieinander übernachtet und stundenlang gequatscht; uns gegenseitig durch Liebeskummer und Stress mit unseren Eltern getröstet – wir wussten praktisch alles voneinander.

    Aber nach dem Abi haben wir uns dann immer mehr aus den Augen verloren. Wir haben uns irgendwie auseinandergelebt.

    Wir waren immer schon ein Stück weit sehr verschieden. In manchem waren wir ein Herz und eine Seele, aber da, wo wir es nicht waren, standen sich unsere Meinungen diametral gegenüber. Und je älter wir wurden, desto mehr haben wir uns in entgegengesetzte Richtungen entwickelt. Irgendwann hatten wir uns einfach nichts mehr zu sagen.

    Sie ist – na ja, das fand ich jedenfalls, sie ist irgendwie versnobt geworden. Hat Jura studiert und war eine von diesen typischen Juristinnen: Perlenstecker, Perlenkette, Barbour-Jacke, Burberry-Karos. Zur rosa taillierten Bluse ein marineblauer Kaschmirpullover, im Poloschnitt und über die Schultern drapiert, dazu enganliegende Stretchhosen oder Minirock in Beige – Du kennst diesen Typ Frau.

    Gibt es alternativ übrigens auch als Mann; dann daran zu erkennen, dass statt der Perlenstecker eine Hornbrille das Gesicht betont und die Hose Bundfalten hat. Ansonsten völlig gleich.

    Also, wie auch immer. Sie hat damals nicht mit mir in Bonn studiert, sondern in Hamburg. Und hat sich deshalb total aufgeblasen, wie selbstständig sie ist, dass sie in die große, weite Welt geht, während ich noch bei meinen Eltern wohnte. Ich war damals so sauer!

    Ich meine, ist ja kein Kunststück, in einer anderen Stadt zu studieren, wenn man von Mami und Papi alles bezahlt bekommt … Für mich war das halt nicht drin. Na ja, das war nicht der erste Knacks, den unsere Freundschaft bekommen hat, und es blieb nicht der letzte.

    Aber dann steht sie nun heute plötzlich in Rheinbach im Gericht! Kommt Ewigkeiten zu spät, nachdem ihr Mandant schon den Richter richtig dreist versetzt hat.

    Dementsprechend war der also völlig genervt, als sie dann hereinplatzte, und hat sie erst mal zur Schnecke gemacht.

    Wobei ich sagen muss, dass er einen Sch*tag gehabt haben muss, denn eigentlich ist er der netteste Mensch der Welt.

    Das hat er heute gut versteckt.

    Und Du glaubst nicht, was dann passiert ist: Sie ist in Tränen ausgebrochen! Ausgerechnet Simone. Für mich war das alles wie ein einziger, bizarrer Film. Sie ist der disziplinierteste, beherrschteste Mensch, den ich kenne!

    Und natürlich tat sie mir auch leid. Sie ist so lange meine beste Freundin gewesen.

    Heute ist mir klar geworden: Mit der ersten allerbesten Freundin ist es wie mit der ersten großen Liebe. Das bleibt immer etwas Besonderes. Ich habe so viele Freundinnen, die besser zu mir passen als Simone, und ich habe so viele Jahre lang echt nur ganz sporadisch mit ihr Kontakt gehabt, und wenn, dann meistens so, dass es mich im Nachhinein eher genervt hat. Aber als der Richter sie heute so anpampte, war ich innerlich wieder 14 Jahre alt und wollte sie einfach nur fest in den Arm nehmen und sagen: „Vergiss den Idioten!"

    Genau das hab ich auch gemacht. Sie war total überrumpelt, als ich hinter ihr die Treppe hinunterlief, und ich glaube, erst mal hat sie sich geschämt, dass ich sie so gesehen habe. Aber dann lagen wir uns in den Armen, und sie hat nur noch geschluchzt.

    Ich habe sie erst mal in ein kleines Café gebracht, damit sie sich beruhigen und erzählen konnte. Aber viel habe ich nicht aus ihr rausbekommen. Nur, dass sie verheiratet ist und sich vor wenigen Tagen von ihrem Mann getrennt hat. Die Ehe muss irgendwie schrecklich gewesen sein.

    Ich hätte das nie gedacht, denn für mich passten die beiden schon super zusammen; auch wenn er leider genau die Facette an ihr bedient hat, die ich am wenigsten leiden konnte.

    Ich kenne ihn nur flüchtig. Wir waren vor Jahren mal zu viert mit meinem damaligen Freund aus. Ich fand ihn einen ätzenden Angeber, der den ganzen Abend nur von seiner

    1.000-Euro-Kaffeemaschine erzählt hat. Jurist eben. Ich erinnere mich, wie die beiden in ihren Ralph-Lauren-Hemdchen uns gegenüber am Tisch saßen; er blau, sie rosa, beide mit gesticktem Pferdchen auf der Brust. Sahen aus wie Barbie und Ken in der Oxford-Version.

    Jetzt wohnt sie wieder bei ihren Eltern – mit Kind! Sie hat nämlich inzwischen einen Sohn. Drei oder vier ist er wohl, ich weiß nicht genau. Jedenfalls spricht er schon und findet es super, jetzt jeden Tag seine Großeltern zu sehen.

    Das ist natürlich gut; dadurch ist der Schock, dass sein Vater nur noch unregelmäßig auftaucht, nicht so groß. Aber für sie ist es der Super-GAU!

    Verständlicherweise. Wer will schon mit Anfang 30 wieder in sein Kinderzimmer zurück? Dann liegt ihr auch noch ihre Mutter ständig in den Ohren mit so überflüssigen Sprüchen

    wie: „Wir haben es dir ja gleich gesagt." Die wollten nämlich, dass sie einen Arzt heiratet, und zwar am besten einen, der mal die Orthopädiepraxis des Vaters übernehmen könnte.

    Oh, Mann! Manchmal kann‘s im Leben echt ganz schön übel umschlagen. Simone war für mich immer der Inbegriff dessen, wie geregelt, sauber und unchaotisch das Leben laufen kann, wenn man es besser auf die Reihe kriegt als ich. - Und jetzt das … Puh!

    Ich habe schon überlegt, ihr mein WG-Zimmer anzubieten, wenn Miriam Ende des Monats auszieht. Aber ich weiß nicht, ob ich das möchte – hier mit Kind wohnen? Und dann, wie gesagt, passen sie und ich ja auch eigentlich heute gar nicht mehr zusammen. Trotzdem merke ich, dass das jetzt gerade eigentlich keine Rolle spielen sollte und für mich gefühlsmäßig auch wirklich keine Rolle spielt. Im Gegenteil – vielleicht ist es die Chance, meine beste Freundin zurückzugewinnen.

    Wie gesagt – eigentlich gibt es keine, an der ich so hänge wie an ihr. Auch keine, die mich je so sehr genervt und zur Weißglut getrieben hat. Aber das macht die Liebe eben nur umso größer.

    Trotzdem – mit Kind! Was meinst Du? Ich meine, ich mag ja Kinder. Aber mit einem Vierjährigen zusammenwohnen, so von jetzt auf gleich? Hm, hm, hm. Ich überlege mir das mal. - Aber der Vorteil wäre, auch pragmatisch gesehen: Ich hätte dann erst mal wen, der die Miete mitträgt. Ansonsten muss ich die Semesterferien wieder alleine überbrücken, das wäre auch Mist. Neue Studenten findet man ja erst ab April wieder. Und – zurück zu den Eltern kann sie ja immer noch, wenn es nicht klappt.

    Was meinst Du?

    Liebe Grüße,

    Anja

    ***

    Daniela.

    15. Februar (Dienstag)

    Heute war auf der Arbeit großes Drama. Erst kommt der Angeklagte nicht und ruft dreimal an mit der schlechtesten Ausrede aller Zeiten: kein Geld, kein Zug, kein Haste-nich-gesehen. Dann stürzt fast eine Stunde später eine junge Anwältin rein, stellt sich als seine Verteidigung vor und weiß nicht, dass ihr Mandant gar nicht erschienen ist. Richter Schulze, völlig abgenervt, lässt sie ziemlich zickig auflaufen – und sie bricht in Tränen aus! So was hab ich in dem ganzen Jahr, das ich jetzt hier bin, noch nicht gesehen. Nachdem sie dann aus ihrem Prada-Täschchen ein Taschentuch gezubbelt hat, entschuldigt sie sich und geht.

    Dann folgt Teil 2 der wundersamen Inszenierung: Die Journalistin, die uns regelmäßig besucht, packt hektisch ihren Kram zusammen und folgt ihr – alles mitten während einer laufenden anderen Verhandlung. Ich hätte ja zu gerne um die Ecke gespinkst, um zu sehen, wie es draußen weiterging. Ob die sich kannten? Na ja, ich werd‘s wohl nicht erfahren. Schulze hatte jedenfalls den Rest des Tages eine echte Scheißlaune. Das kennt man gar nicht von ihm! Na, ist ja okay, er darf ja auch mal schlecht drauf sein – aber muss er‘s an mir auslassen? Wahrscheinlich war‘s ihm unangenehm, dass er ‘ne junge Frau zum Heulen gebracht hat.

    Na ja, das Problem hat Chris jedenfalls nicht. Dem hab ich heute Morgen gesagt, wie allein ich mich gestern Abend gefühlt hab, als er mit seinen Jungs was trinken war. Und was sagt er? „Na, heul doch!" Das Schlimmste war, genau das hab ich dann gemacht, obwohl ich echt nicht wollte, und ich hab mich total geschämt. Er fand‘s, glaub ich, auch nur scheiße. Hat sich schnell auf die andere Seite gedreht und die Decke über den Kopf gezogen.

    Aber es ist echt so schrecklich, hier ständig ganz allein zu sein. Morgens fahr ich auf die Arbeit, er pennt noch. Nachmittags komm ich irgendwann wieder, in eine leere Wohnung – er ist beim Sport. Also hau ich mich vor‘s Fernsehen und bereite irgendwann das Abendessen vor. Wenn ich Glück habe, ist er zum Essen da. Wenn ich noch mehr Glück habe, isst er, was ich gekocht hab. Aber da müssen schon Weihnachten und Ostern zusammenkommen. Manchmal habe ich das Gefühl, sein Ernährungsplan wechselt wöchentlich. Meistens kocht er ja eh lieber selbst, mit seinem ganzen Gemüse- und Fleischkram.

    Ja, und dann ist es auch schon wieder so weit, dass er in seine Bar muss. Ich räum auf, putze und geh dann schlafen. Ganz so hab ich mir das ja nicht vorgestellt, als wir uns kennengelernt haben … Aber gestern Abend hab ich mit Lilly telefoniert; das hat mich total deprimiert. Die sucht jetzt schon seit 18 Monaten einen Job; dabei hat sie doch einen besseren Abschluss gemacht als ich! Wenn‘s mit der Arbeit anders wäre, würd ich vielleicht wieder nach Hause gehen. Aber eine unbefristete Festanstellung tauschen gegen was mit Jahresfrist? Vielleicht muss ich einfach mehr rausgehen. Dann ist Chris zwar eifersüchtig, aber so geht‘s jedenfalls auch nicht weiter. Ich würd ihm ja in der Bar helfen! Aber das will er nicht. Erst, wenn die Bar dann schließt und außer putzen nix mehr zu tun ist. Ich glaub, die Angestellten wissen gar nicht, wer ich bin. Die halten mich bestimmt für ‘ne Stalkerin. Oder denken, ich bin die Putzfrau …

    2

    Anja.

    Von: theo.fritsche@gmx.de

    An: anja.wilms@hotmail.com

    Mittwoch, 17.02. 07:45

    Betreff: Vorsicht, Perlhuhngefahr!

    Liebe Anja,

    na, da hat Deine Freundin Simone ja eine ganz schöne Achterbahnfahrt hinter und zum Teil auch noch vor sich. Zu beneiden ist sie dabei sicher nicht. Ich hätte mit 30 jedenfalls nicht wieder bei meinen Eltern einziehen wollen, auch wenn ich damals noch keine Kinder hatte.

    Aber sie in die WG zu nehmen? Das solltest Du Dir gut überlegen! Ich spiel ja nur ungern die negative Stimme aus dem Off, aber Du sagst doch selbst, dass Eure Freundschaft daran zerbrochen ist, wie unterschiedlich Ihr seid. Mal frei nach Deiner Beschreibung – ich glaube auch nicht, dass sie sich bei Dir wohlfühlen würde. Du lebst ja schon eher in einem kreativen Chaos, und sie mag es offensichtlich gerne geordnet. Was das Kind angeht, hätte ich aus Deiner Sicht jetzt nicht so große Bedenken; schlimmstenfalls wirft es Euch sonntags um acht aus dem Bett. Aber ob SIE sich damit arrangieren könnte, dass ihr Kind in einer Lebenswelt wie Deiner aufwächst – das ist schon eine andere Frage … Versteh mich nicht falsch! Aber ich kenne auch diese

    „Perlhühner". Zwar weniger aus meinen Essener Studientagen, aber ich bin ja seitdem auch schon ein paar Jahre in der Welt unterwegs gewesen. Nach dem, was Du schreibst, sehe ich die Gefahr von Zickenalarm.

    Aber ich lasse mich natürlich gerne eines Besseren belehren!

    Solltest Du Dich für die WG mit Deiner ehemals besten Freundin entscheiden, drücke ich Euch auf jeden Fall die Daumen, dass es ein Erfolg wird! Notfalls komm ich auch zum Kistenschleppen vorbei. Hört sich ja so an, als wenn sie gerade keinen hat, der ihr so richtig unter die Arme greifen kann.

    Und sonst? Wie geht‘s denn jetzt mit Deinem Matthias und Dir weiter? Habt Ihr schon ein erstes Treffen abgemacht?

    Liebe Grüße!

    Theo

    ***

    Simone.

    Im kleinen Kaffeehaus hatte sich nichts verändert, seitdem sie es vor Jahren zuletzt betreten hatte. Noch immer die dunklen, abgegriffenen Thonet-Stühle, glänzend von Patina, noch immer das schummerige Halbdunkel von gelben und roten Milchglas-Leuchtern, die unregelmäßig über und zwischen den Tischen verteilt hingen, noch immer die gleichen roten Terrakottafliesen.

    Sie setzte sich an den einzigen freien Tisch. Es war der am Treppenabgang.

    Noch immer zog hier, unschön vertraut, die leicht stechende Note der Räumlichkeiten hoch, die dort unten seit 30 Jahren den Studenten, Intellektuellen und Träumern, die gerne herkamen, zur Verrichtung ihrer Notdurft zur Verfügung standen.

    Sie atmete unwillkürlich tiefer ein. ‚Absurd‘, dachte sie, und fragte sich, ob sie nicht lieber möglichst flach atmen sollte. Aber, seltsam, die leicht schäbige Atmosphäre des Cafés wirkte beruhigend auf sie, ebenso wie alle sinnlichen Eindrücke, die dazu gehörten.

    Sie dachte zurück. Hier hatte sie Anja zuletzt gesehen. Damals waren sie beide noch im Grundstudium gewesen.

    Was war passiert seitdem? Warum eigentlich hatten sie so ganz den Kontakt verloren? Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie mit Moritz gehabt hatte.

    „Warum willst du sie zu unserer Hochzeit einladen? Ihr habt seit Jahren keinen Kontakt mehr. Sie passt auch gar nicht zu dir. Sie wird kommen in irgendeinem schrecklich bunten Sari, der nach Räucherkerzen riechen wird, und keiner wird neben ihr sitzen wollen. Bis irgendwann alle Männer einen im Tee haben und nur noch ihre langen roten Locken sehen, die sie lasziv um den Finger wickelt.

    Ab diesem Zeitpunkt werden alle deine Freundinnen sie hassen – und dich dafür, dass du sie eingeladen hast."

    Jetzt öffnete sich der Windfang aus schwerem, rotem Samt und spuckte die Freundin aus. Ihre orangeroten Korkenzieherlocken waren heute zu einer unmöglichen Hochsteckfrisur aufgetürmt, die sich nach allen Seiten auflöste.

    Dafür wäre ihre Kleidung mit Jeans, weinrotem Strickpulli und schwarzem Anorak relativ normal gewesen – wenn da nicht das Palästinensertuch gewesen wäre.

    Simone fühlte Tränen in den Augen und einen ähnlichen Effekt wie eben, als das Aroma der Waschräume die Treppe hinaufgezogen war. Sie drückte die Freundin herzlich, und diese strich ihr liebevoll das schwarze Haar aus dem schmalen Gesicht.

    „Mone! Ich glaube, in den letzten zwei Tagen bist du noch dünner geworden."

    Sie stellte ihre braune Umhängetasche neben Simones rosa Handtäschchen und rieb sich die Hände. „Jetzt bestellen wir erst mal einen Keksteller!"

    Die Freundinnen sahen sich an und lachten. „Gibt es die hier überhaupt noch?", fragte Simone.

    „Oh, bestimmt. Wenn nicht, gehen wir uns beim Koch beschweren und sagen, er soll wen zum Kaisers schicken, damit er die billige Keksmischung kauft, ohne die das hier nicht mehr das Café Krümel ist! Anja lachte, setzte sich, legte ihre Hände auf Simones und zuckte kurz zurück. „Puh, sind die kalt!

    Dann griff sie mit ihren festen, sommersprossigen Händen Simones zarte, feingliedrige Hände, um sie energisch und liebevoll zu rubbeln. „Wie geht es dir, Schätzchen? Gibt‘s was Neues?"

    Simone schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Aber das ist mir auch lieber so. Er hat neulich mal kurz tagsüber bei meinen Eltern angerufen, um sein nächstes Treffen mit Frederik zu verabreden. Mir geht er aus dem Weg. Das Arbeiten in der Kanzlei ist der Horror. Ich würde gern meinen Chef fragen, ob ich einige Büroarbeit von zu Hause aus machen kann, aber ich habe Angst vor seiner Reaktion."

    Anja unterbrach für einen Moment ihre Rubbelei und sah sie aus grünen Augen erstaunt an. „Warum? Er wird doch sicher Verständnis haben für deine Situation?"

    Simone blickte aus dem Fenster. Eine Bahn fuhr gerade vorbei. Sie schloss die Augen und wünschte sich für einen Moment, in dieser Bahn zu sitzen, ihr monotones Rumpeln zu hören und niemals mehr aussteigen zu müssen.

    „Ach … Das ist halt kein Berufszweig, wo man sagt: Hey, ich bin grad ein bisschen fertig, weil ich mich von meinem Mann getrennt habe. Mein Chef wird sagen: Wenn es Ihnen

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