Im Dorf: Schwansener Geschichten
Von Robert Kappel
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Über dieses E-Book
"Wir sollten uns erinnern, wir sollten die Geschichten ausfindig machen und uns erzählen, um zu verstehen. Geschichten weitergeben, darüber sprechen und aus der Vergangenheit lernen. Wir sollten offen sein, auch wenn das Erinnern schmerzt. Aber wir sollten es tun. Wir sollten Kapitäne unserer Erinnerungsfahrt werden, das Steuer in die Hand nehmen, sonst werden wir instrumentalisiert und von falschen Geschichtswächtern überrannt.
Meine Geschichten sind aus dem Augenblick des Beobachtens geboren, Geschichten, die oft eine lange Herkunft haben. Geschichten, wie ein Gemälde mit Musik, ein Stück mit einem Motiv oder nur Eingebung.
Ich durchlebe die Geschichten inmitten des Dorfes. Ich begebe mich auf eine gemeinsame Wanderung mit Freunden, mit Verwandten, mit Kumpeln, Bekannten - mit realen und erfundenen Charakteren. Das reale Leben hat sich oft anders abgespielt. Wir wissen nicht alles über das Leben in der kleinen Gemeinde. Es handelt sich um Geschichten, es ist kein Portrait und noch weniger eine Seelenschau, aber Stücke, die sich zum Ganzen fügen, und manchmal decke ich etwas für mich auf. Ich schreibe die Dorfgeschichten für mich und für die Menschen, mit denen ich verbunden bin.
Die Orte sind real, es gibt sie, sie sind die Haltepunkte, an denen sich die Geschichten aus Waabs und Schwansen abspielen. Es liegt an uns auszusprechen. Namen und Geschichten sind erfunden, jedenfalls manchmal." (Aus dem Nachwort).
Robert Kappel
Robert Kappel, geb. in Waabs, Schwansen, Schleswig-Holstein, Abitur in Flensburg, Studium der Volkswirtschaft, Professor an den Universitäten Hamburg und Leipzig, schreibt Lyrik und Erzählungen seit dem Jahr 2000. Weitere Informationen auf den Blogs: graensengrenzen: https://graensengrenzen.wordpress.com/ Weltneuvermessung: https://wordpress.com/view/weltneuvermessung.wordpress.com Vom Autor ist erschienen: Im Dorf. Schwansener Geschichten, Norderstedt: BoD ISBN 9783759749055
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Buchvorschau
Im Dorf - Robert Kappel
Inhaltsverzeichnis
Im Dorf
So nah
Land
Gesichter
Vergessen
Sturm
Wiede Sicht
Dixie
Rauschen
Absturz
Zeugnisse
Liebespaare
Ankommen
Braun
Musik
Feiern
Pott
Kohlen
Mary
Rockn‘ Roll
November
Wilhelm
Tapete
Joséphine
Windräder
Speckstein
Nachwort
Der Autor
Anmerkungen
Im Dorf
Schon wieder ist die Kirche voll. Steffen ist gestorben. Letzte Woche Loi, davor Franz und Käthe. Im Dorf sterben sehr viele Freunde und Nachbarn, alle sterben, alle suchen den Trost. Ich stehe ganz hinten. Die Orgel spielt. Ein feste Burg ist unser Gott. Alle können die Texte singen. Die Pastorin stimmt sich ein. Am Grab weinen viele Menschen, so wie ich damals am Grab meiner Eltern. Till spielte die Trompete. Il Silencio.
Auf der Landstraße nebenan rauschen die schwarzen Autos vorbei. Ohne Auto geht fast nichts. Es sei denn du bist jung und kannst dich mit dem Fahrrad oder Elektrorad bewegen. Zum Arzt sind es sechs km, zum Supermarkt ebenfalls sechs, zur Apotheke genauso weit. Wer nicht mehr Auto fahren kann, ist auf Hilfe von Verwandten oder professionellen Pflegediensten angewiesen. Beim Bäcker stehen sie schon wieder Schlange, morgens um 7 Uhr. Brötchen, Brot und Kuchen. Die Lastwagenfahrer, die Handwerker und einige ältere Touristen trinken ihren Kaffee. Manchmal liegt der Hund vor der Seitentür. Einen Bäcker gibt es im Dorf, Handwerksbetriebe, Restaurants, Campingplätze und auch einen Friseurladen, in dem zwei Frauen arbeiten, rund um die Uhr. Die Nachfrage ist gut, die beiden Frauen reden nicht so viel und schneiden, föhnen und färben gut. Zum nächsten Friseur in der Kreisstadt sind es 12 km. Der Dorffriseur ist billiger, in der Stadt haben die Friseure nach der Pandemie ordentlich zugelangt.
An den Bäumen hängen noch die Pflaumen, sie sind besonders lecker zu dieser Zeit. Leider sind die Bäume so hoch, dass ich sie nicht mehr einfach pflücken kann. Oben sind sie am besten. Ich benötige die Leiter. No risk no fun. Die Apfelernte in diesem Jahr ist besonders gut. Volle Äste, nur die Augustäpfel sind schon abgeerntet. Manch ein Apfel ist schon etwas verfault. Im September hat es wieder geregnet, aber er ist sehr schön gewesen, sogar noch im Oktober und November fand die Sonne zur Kraft zurück. Ich sitze vor der Haustür und lasse die Sonne in mein Gesicht scheinen. Die Haut freut sich über die angenehme Wärme.
Ich laufe durchs Dorf. Kaum ein Mensch ist unterwegs. An der Gabelung gehe ich heute nach rechts. Nicht zur Kirche, die suche ich später auf. Rechts geht es weiter, an der Feuerwehr vorbei und dann endlich kommt die kleine Straße mit den zwei Spuren. Ich gehe flott, am frühen Morgen möchte ich wenigstens schon Zehntausend Schritte schaffen. Ein Pärchen mit Hund ist unterwegs, überhaupt gibt es viele Hunde. Ich glaube, ich habe noch nie so viele gesehen. Hat wohl mit der Pandemie zu tun. Oder ist es die größere Bereitschaft, sich durch Gehen und Laufen mit dem Hund gesund zu halten. Ich weiß nicht, aber ich freue mich, wenn die Leute mich grüßen. Fast alle sagen Moin. Die Jugendlichen sagen Hallo. Moin, ist was für die Alten und die Alteingesessenen. Der Weg geht schnurstracks auf eine Lichtung, von der aus das Meer schon zu sehen ist. Die frische Brise öffnet die Nasen. Durchatmen, bereits am Morgen. Am Strand, am Wasser, der leichte Wellenschlag. Es plätschert dahin und so kann sich der Tag einstimmen. Ich schaue aufs Meer, es sieht gut aus. Kein Segelboot, kein Schiff und keine Fähre.
Auf der Steilküste weht ein leichter Wind, die Schlehen hängen noch an den Büschen. Sie ziehen den Mund zusammen. Viele Vitamine. Das tut gut. Ein Walnussbaum lädt zum Öffnen der Nüsse ein. Die schwarze Schale muss weg, dann kommt die braune Nuss hervor. Ich knacke zwei gegeneinander. Die Nuss ist frisch, fast weiß. Herrlich wie sie schmeckt, noch nicht nussig.
Bald schon zeigt sich die Steilküste von ihrer besten Seite. Der Blick geht nach unten. Sind es zehn oder fünfzehn Meter. Mir ist das eh schon zu hoch und so lasse ich den Blick lieber in die Weite schweifen. Zwei Joggerinnen ziehen ihre Bahn. Sie sind schnell und schlank. Sie reden in einer Tour.
Vor mir der Reitplatz. Hier werden die Turniere geritten. Die lokalen Reiterinnen und Reiter springen oft auf die besten Plätze. Sie können auf den schön gelegenen Parcours üben und den Blick aufs Meer schweifen lassen, wenn sie vom Pferd absteigen. Die Kinder gehen nach Langholz zum Reiten. Dort überlassen die Pferde ihre Spuren im Sand. Mit dem Pferd am Meer. Muss genial sein. Ich kann nicht reiten, nicht mehr reiten. Früher ja, aber das ist lange her. Die Enkelkinder lieben die Pferde und das Reiten, bis sie 12 oder 13 Jahre alt sind, dann ist Schluss.
Auf dem Sportplatz kämpft wieder die erste Mannschaft. Sie kann punkten. Sie haben offenbar eine leistungsstarke Truppe. Die zweite Mannschaft weiß sich ebenfalls gut zu schlagen. Wir gehen zur Vereinsversammlung. Der Trainer ist heute schlecht drauf, hatte die Mannschaft gerade einen Sieg verspielt. Nur ein Unentschieden. Aber alle anderen sind guter Laune. Am Tresen ist nicht viel los, die Leute trinken weniger. Meine Schwester wird mit einem großen Korb voller Geschenke geehrt. Sie ist stolz, sechzig Jahre Vereinsmitgliedschaft. Alle kennen sich, alle grüßen sich kurz mit Handschlag. Manch einer schimpft, ein anderer lobt den Sportsgeist. Die Altherrenmannschaft kickt auch noch. Nicht einmal im Winter ist Pause. Irgendwie ist im Verein wieder mehr los, seitdem die erste Mannschaft so gut spielt.
Der Weg zurück nach Hause ist nicht weit.
Im Dunkeln liegt die Kirche, ich werde morgen vorbeigehen, auf einer Bank sitzen und die Stille über mich ergehen lassen. Stille – doch es mischt sich die Musik in meine Gedanken. Bach. Ich höre die Kantaten, und schließ die Augen. Ich erinnere mich. Damals als ich zur Schule und mit den Eltern am Sonntag zur Kirche ging. Mutter konnte bis ins hohe Alter alle Lieder auswendig singen. Sie hatte keine Strophe vergessen. Ich hörte gerne ihre schöne Altstimme. Und ich summe bis heute mit. Die Musik in der Kirche hat mir gutgetan. Ich weile eine Zeitlang auf der hölzernen Bank und sehe die neu gestalteten Kirchenräume. Der Verein der Marienkirche hat in den letzten Jahren alles getan, um die Kirche zu renovieren. Sie erstrahlt nun in vollem Glanz und man kann sich sogar eine Kirchenführung online organisieren. Darüber freue ich mich. Aber die Kirchenbesucher werden immer weniger, nur Weihnachten und bei Taufen und Beerdigungen ist die Kirche voll.
Ich gehe zum Grab der Eltern. Stehe andächtig davor und bin ganz gerührt, dass die Enkelkinder Kastanien auf die Grabsteine gelegt haben. Eine schöne Sitte, haben sie von Hazel gelernt, sie legt Steine auf das Grab ihrer Eltern. So soll es bleiben. Im Wind fallen die Kastanien herunter. Überall liegen sie herum, sie gehören zum