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Reinhard Kren | Monika Leisch-Kiesl [Hg.] Kultur _ Erbe _ Ethik „ H e r i t a g e “ i m Wa n d e l gesellschaftlicher Orientierungen Festschrift für Wilfried Lipp Die Publikation wurde gefördert mit freundlicher Unterstützung von: Bischöflicher Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz Land Oberösterreich Energie AG Oberösterreich Raiffeisen Landesbank Oberösterreich Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Lektorat: Barbara Forster Umschlaggestaltung, Layout und Satz: BK Layout+Textsatz, Ritzing 3, A 4845 Rutzenmoos Druck: Plöchl Druck GmbH, Werndlstraße 2, A 4240 Freistadt Print-ISBN: 978-3-8376-5338-0 PDF-ISBN: 978-3-8394-5338-4 https://doi.org/10.14361/9783839453384 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@transcript-verlag.de Reparaturbedarf 12 Rekapitulationen Thomas Will Das 21. Jahrhundert wird […] ein Jahrhundert der Reparatur werden, werden müssen. Und zwar der Reparatur an Natur, vor allem an Natur, aber auch an Geschichte und Technik, am Menschen. Wilfried Lipp Das seit alters gebräuchliche Wort ‚Reparatur‘ war, anders als in der britischen Denkmalpflege (repair), in der deutschsprachigen Fachdisziplin zunächst kaum verbreitet. Der damit aufgerufene Begriff blieb den schlichteren Aufgaben der Gebäudeinstandsetzung zugeordnet, während man bei den Bau- und Kunstdenkmalen von ‚Restaurierung’ sprach.1 Damit war angedeutet, dass es hier nicht um das bloße Erhalten der Gebrauchstüchtigkeit, sondern um mehr gehe: um schöpferisch-künstlerische oder aber geschichtswissenschaftliche Fragen. Das änderte sich im 20. Jahrhundert langsam. Erst mit dem Bewusstseinswandel, der aus der Krise der Konsum- und Fortschrittsgesellschaften in den 1960er/1970er Jahren hervorging, begann der Aufstieg des Reparaturwesens von den Niederungen der Flickschneider und Autowerkstätten ins Reich der Denkmalpflege. Oder auch umgekehrt: diese erweiterte ihren fürsorglichen Blick auf profanere Gefilde und Arbeitsweisen. 1 Zur Begriffs- und Methodengeschichte vgl. Will, Thomas, Reparieren. Die Kunst des Notwendigen, in: Meier, Hans-Rudolf / Scheurmann, Ingrid (Hg.), DENKmalWERTE. Beiträge zur Theorie und Aktualität der Denkmalpflege (FS Georg Mörsch zum 70. Geburtstag), Berlin / München 2010, 203 – 216. 104 Zunächst waren es allgemein kultur- und gesellschaftskritische Stimmen, die das Thema Reparatur ansprachen.2 Den Bogen zur Planungstheorie und Denkmalpflege spannte Lucius Burckhardt mit seinen Essays zum „kleinstmöglichen Eingriff“ und zur „Theorie des Flickwerks“.3 Im städtebaulichen Bereich wandelte sich unter dem Druck der Bevölkerung die Kahlschlag-Sanierung zur ‚behutsamen Stadterneuerung‘ und zur ‚Stadtreparatur‘. Im „Europäischen Denkmalschutzjahr“ 1975 findet die Methode der Reparatur dann offenbar erstmalig in einem deutschen Text zur Denkmalpflege Beachtung.4 Peter Breitling gibt darin auch eine Erklärung für deren bislang verborgenes Dasein: Während es bei der Erhaltung historischer Gebäude in der Geschichte immer Auseinandersetzungen über ästhetische Fragen gegeben habe, hätten Reparatur, Änderung und Erweiterung keine Probleme aufgeworfen, da sie von den Handwerkern nach traditionellen Regeln durchgeführt wurden. Ende der 1980er Jahre scheint die Fachwelt den Gedanken der Reparatur als einen in seiner Neutralität für den Diskurs der Meinungen und Methoden wertvollen, ja überlegenen Begriff anerkannt zu haben. Dazu hatten wesentlich die historische Bauforschung und die Bauwerksdiagnostik mit wissenschaftlich begründeten erhaltungsorientierten Instandsetzungskonzepten beigetragen. Von der behutsamen Erneuerung und der Stadtreparatur führt der Weg zur „Weltreparatur“ (Julius Posener).5 Auf der Tagung „Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus“ (Oktober 1993) prägte Wilfried Lipp, damals eben zum Landeskonservator von Oberösterreich bestellt, den Begriff der „Reparaturgesellschaft“.6 Der Vortrag dieses umfassend in den 2 3 4 5 6 Grundlegend: Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde. [1956/1980], München 71987 [Bd. 1], 41987 [Bd. 2]. Vgl. Burckhardt, Lucius, Die Kinder fressen ihre Revolution. Wohnen – Planen – Bauen – Grünen, Köln 1985. Vgl. Breitling, Peter, Erhaltende Erneuerung – Aus der Sicht des Architekten, in: Maier, Hans (Hg.), Denkmalschutz. Internationale Probleme – Nationale Projekte (Texte + Thesen 69), Zürich 1976, 72 – 98. Posener, Julius, Stadtreparatur – Weltreparatur, in: Idee, Prozess, Ergebnis. Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt (Internationale Bauausstellung Berlin 1984/87, hg. v. Senator für Bau- und Wohnungswesen), Berlin 1984, 48 – 53. Vgl. Lipp, Wilfried, Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus? Aspekte zur Reparaturgesellschaft, in: Lipp, Wilfried / Petzet, Michael (Hg.), Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus? Denkmalpflege am Ende des 20. Jahrhunderts (7. Jahrestagung der Bayerischen Denkmalpflege, Passau, Oktober 1993) (Arbeitshefte des Baye- Reparaturbedarf | Thomas Will Themen der Zeit bewanderten, brillant argumentierenden Kunsthistorikers machte auch auf uns Architekten Eindruck. Er schloss die etwas hermetisch wirkende Fachdiskussion an breitere baukulturelle, gesellschaftliche und philosophische Fragestellungen an, ein Unterfangen, das in schneller Folge Überprüfung und Fortsetzung fand.7 Der Denkansatz des ‚Prinzips Reparatur‘ wurde weiter für ökologische, energie- und volkswirtschaftliche sowie bau- und sozialpolitische Anliegen geöffnet und vertieft. Die Erkenntnis, dass nach so viel Erneuerung und damit auch Zerstörung der überlieferten Welt deren Reparatur vordringlicher sei als eine zur Perfektion neigende Restaurierung, war in der breiteren Fachdiskussion angekommen. So war es folgerichtig, dass die Denkmalpflege sich im seither geführten Leitdiskurs zur Nachhaltigkeit an zentraler Stelle einordnen konnte. Sie fand damit – ähnlich wie 100 Jahre zuvor mit der Distanzierung vom akademisch erstarrten Stilimitat – neue Nähe zu Architekten und Planern, die sich Gedanken über die Rolle ihres Arbeitsfeldes als größtem Ressourcenverbraucher machen müssen. Begriff und Thema der Reparatur sind seither fester Bestandteil der Denkmalpflege und nicht zufällig sind sie auch im Architekturdiskurs weit nach vorne gerückt. Was damit an Chancen und Anliegen verbunden war und ist, will ich thesenhaft rekapitulieren. Manches davon steht bereits selbst wieder unter Reparaturbedarf, was hiermit zumindest angedeutet sein soll. 7 rischen Landesamtes für Denkmalpflege 69), München 1994, 6 –12. Traditionell ist die von Lipp als Gesellschaftsetikett gewählte Bezeichnung vor allem im österreichischen Sprachraum verbreitet für technische Reparaturbetriebe z. B. des KFZ-Gewerbes („Reparaturgesellschaft mbH“). Der Politologe Claus Leggewie sprach bald darauf vom ökologischen Umbau der Industriegesellschaft zur „Reparaturgesellschaft“ (ders., Die 89er. Portrait einer Generation, Hamburg 1995), der Soziologe Hans Geser beschrieb den Wandel „[v]on der Neubau- zur Reparaturgesellschaft“ (ders., Von der „projektiven“ zur „reaktiven“ Kommunalpolitik, in: Sociology in Switzerland (Schweizer Gemeindestudien), hg. v. Soziologischen Institut der Universität Zürich, Zürich 1998), aus dem Bereich gewerkschaftlicher Umweltinitiativen folgte Blau, Evelyn / Weiß, Norbert / Wenisch, Antonia, Die Reparaturgesellschaft. Das Ende der Wegwerfkultur, Wien 1997. Vgl. Petzet, Michael / Hassler, Uta (Hg.), Das Denkmal als Altlast? Auf dem Weg in die Reparaturgesellschaft (Tagung des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS und des Lehrstuhls für Denkmalpflege und Bauforschung der Universität Dortmund auf der Kokerei Hansa, Dortmund-Huckarde, Oktober 1995) (ICOMOS – Hefte des Deutschen Nationalkomitees 21), München 1996. 105 106 1 Ein unbelasteter Arbeitsbegriff Restaurieren oder Reparieren? Die Methode der Restaurierung hat in der Baudenkmalpflege einen dramatischen Begriffswandel erlebt, von der idealistisch-hypothetischen Vollendung der Monumente zur wissenschaftlichen Restaurierung unserer Tage, der es um die behutsame Schließung von Fehlstellen geht. Ein Beigeschmack ist dennoch geblieben, ein Feld an Assoziationen, die mit den Prinzipien der Architektur wenig gemein haben. Deshalb ist der Begriff ‚Restaurierung‘ bei Architekten und Ingenieuren historisch und semantisch belastet. Anders die ‚Reparatur‘: sie kommt eher unprätentiös aus dem Alltag und ist als Methode wertneutral. Haftete ihr in der frühen Moderne etwas Notdürftiges an, so hat sie im Lauf der Energie-Diskurse eine moderne Karriere gemacht, man trifft sie heute auch auf der Architekturbiennale oder im ‚Repair-Café‘. Ihre Schwerpunkte Konstruktion und Gebrauch lassen sie als positive Planungsaufgabe begreifen. Mit dem Ziel, Bestehendes für die Zukunft in Dienst zu halten, ist ‚Reparatur‘ im Architekturdiskurs nicht diskreditiert wie der Begriff der ‚Restaurierung‘, der einst auch zerstörerischen Eingriffen diente. Das Konzept ‚Reparatur‘ ist somit geeignet, alte Gräben zwischen Denkmalpflege und Architekturpraxis zu überbrücken. 2 Reparaturbedürftigkeit Wie bei der Restaurierung ist auch bei der Reparatur zu prüfen, ob sie überhaupt notwendig ist. In manchen Fällen, wie bei nicht mehr aktiv nutzbaren Bauwerken oder -teilen, genügt oft eine Sicherung, wie die schon von John Ruskin beschriebene Abstützung einer Mauer. Doch ist die reine Substanzerhaltung meist nicht ausreichend und auch nicht im Sinne der Denkmalpflege. Nur die wenigsten Denkmäler können und sollen derart dem geschichtlichen Wandel entzogen, d. h. im musealen Sinne konserviert werden. Das ist auch eine Frage des Maßstabs: Wo ein kleines Objekt, etwa ein Möbelstück, von seiner Nutzung entbunden und dann fast unverändert bewahrt werden kann, ist dies beim Gebäude schwierig und bei der Stadt unmöglich. Wenn wir nicht in Kauf nehmen wollen, dass sich das Leben ganz von den Reparaturbedarf | Thomas Will alten Bauwerken abkoppelt und diese nur noch als Reservate besucht werden, dann muss die Masse der Baudenkmale dem oft strapaziösen Gebrauch verpflichtet bleiben. Deshalb sind sie immer wieder reparaturbedürftig. 3 Reparaturfähigkeit In vorindustriellen Kulturen war die Reparatur alltägliches Erfordernis der Arbeits- und Materialökonomie. Handwerksprodukte sind dem Grundsatz nach reparaturfähig. Alte Bauwerke haben deshalb gegenüber jüngeren den Vorteil, fast unbeschränkt reparaturfähig zu sein. Industriegüter sind dies nur begrenzt, insofern sie, vor allem am Bau, (quasi-)handwerklich montiert werden. Jeder, der ein Telefon reparieren lassen möchte, wird schmerzhaft daran erinnert, dass Reparaturfähigkeit in einer fortgeschrittenen Technologie und Ökonomie kaum ein Kriterium ist. Erst in jüngerer Zeit steuert verantwortungsbewusstes Produktdesign gegen mit Konzepten wie Lebensdauertypologien (Ezio Manzini) und Vorschlägen für reparaturmotivierende Herstellerhaftung und Kreislaufwirtschaften (Fairphone).8 Bei Bauwerken bedeutet die Reparaturfähigkeit Chance und Verpflichtung. Oft fehlt die Fähigkeit zur Reparatur aber beim (Kunst-)Handwerk. Will man nicht Wertvolles verlieren, sind dann doch die fortgeschrittenen, aber aufwändigeren Verfahren der wissenschaftlichen Restaurierung erforderlich. 4 Reparaturgebot In den Industriegesellschaften wird der Vorteil einer Reparatur verdeckt durch veränderte Kostenrelationen von Arbeit, Material und Transport. So kann in einer isolierten und kurzfristigen Bilanzierung die Reparatur eines Bauteils aufwändiger erscheinen als der Ersatz des Ganzen. Das gilt jedoch nicht für die gebotene langfristige, volkswirtschaftliche oder ökologische Betrachtungsweise. Wird das handwerklich gefertigte Teil durch 8 Vgl. Langenberg, Silke, Das Konzept „Ersatz“? Probleme bei der Reparatur industriell gefertigter Bauteile, in: Technikgeschichte 79 (2012), Heft 3: Reparieren – oder die Lebensdauer der Gebrauchsgüter, hg. v. Reinhold Reith u. Georg Stöger, 255 – 272. 107 108 ein billigeres Surrogat ersetzt, geht nicht nur das hochwertige Teil verloren; der Gesamtwert des Baubestandes sinkt, wenn der prozentuale Anteil des Minderwertigen steigt.9 Für eine vorausschauende Praxis der Instandsetzung und Pflege bleibt somit die Reparatur das entscheidende Erfordernis. Hilfreich dafür ist ein Umdenken bei der Kostenbetrachtung: zum einen die Umkehrung der Beweislast, womit jeweils nachzuweisen wäre, dass ein Neubau in der Gesamtbilanz günstiger ist als eine Reparatur; zum andern eine Umgruppierung im Haushaltsrecht, damit Reparaturen nicht länger als Verbrauch (Bauunterhalt), sondern als werterhaltende Investitionen gelten. 5 Ein offenes Konzept Restaurierung ist statisch und suggeriert Vollendung, obwohl sie fast immer nach einiger Zeit in Zweifel gezogen wird, schon deshalb, weil ihre wissenschaftliche Grundlage an die Fortschrittsmaxime der Moderne gekoppelt ist. Auch dort, wo sie de facto kaum gealtert ist, gilt eine Restaurierung deshalb oft als überholt. Die Reparatur ist diesem Aktualisierungsdrang weniger ausgeliefert. Mit ihrer Nähe zur dauernden Pflege (Wartung) verkörpert sie von Anfang an ein dynamisches Konzept: mäßig, aber regelmäßig, als Ziel Langlebigkeit, nicht Endgültigkeit. 6 Techniken Die bescheidene Reparatur ist nicht immer im Sinne einer restaurierenden Denkmalpflege, bei der zwar mehr geschieht, nachher aber weniger davon zu sehen ist. Bei der Reparatur fallen notwendige Ergänzungen oft sichtbar aus, nicht als Ziel, aber als Ergebnis einer praktischen Lösung. Damit verschwindet die wertende Unterscheidung zwischen traditionellen, denkmalpflegerisch ‚richtigen‘ und modernen, ‚fortschrittlichen‘ Techniken. Bei einer vernünftigen Reparatur gibt es nur mehr oder weniger geeignete Techniken, egal ob sie aus jüngerer oder älterer Zeit stammen. So gesehen mag der hier angeführte Gegensatz Restaurieren – Reparieren sich auch wieder aufheben: Wo sie ge9 Vgl. Langenberg, Silke (Hg.), Reparatur. Anstiftung zum Denken und Machen, Berlin 2018. Reparaturbedarf | Thomas Will lingt, ist die Restaurierung nichts anderes als eine wissenschaftlich abgesicherte Form der Reparatur. 7 Flickwerk als Ganzes Reparatur dient der Wiederherstellung der Gebrauchstüchtigkeit. Das ist nicht utilitaristisch zu verstehen. Ein Gebrauchswert der Denkmale betrifft nicht (nur) deren Zweck, sondern ihre Bestimmung, einen Sinngehalt als Angebot zur Wertschätzung. Bei Kunstwerken, deren Hauptfunktion eine ästhetische ist, kann dies die Wiederherstellung der ‚nützlichen‘ Form erfordern. „C’est véritablement utile puisque c’est joli.“ (Antoine de Saint-Exupéry) Anders als bei der Restaurierung ist aber die Wiedergewinnung eines möglichst ungestörten Erscheinungsbildes nicht Bedingung. Vielmehr gibt es die Möglichkeit, die Spuren der Instandsetzung und auch des vorausgegangenen Schadens erkennbar zu belassen. Ästhetische Aspekte sind dabei oft nicht Ausgangspunkt, wohl aber zu berücksichtigende Konsequenz. In einem sukzessiv entstandenen Werk, das Veränderungen oder Beschädigungen erfahren hat, können die Spuren gültige Teile eines neuen, aufgefächerten Ganzen bilden. Einige Wiederaufbauleistungen der Nachkriegszeit sind dafür beispielhaft. Sie sind nicht wieder ‚ganz‘ im formalen Sinn des ursprünglichen Werks, aber ganz im Sinne der Ablesbarkeit einer historischen Genese, einer unzensierten Biographie. In den geglückten Fällen kann man nach einiger Übung das Ganze erkennen, vergleichbar dem Schauen, wie es Rilke für die Torsi Rodins eingefordert hat: „So ist es auch bei den armlosen Bildsäulen Rodins; es fehlt nichts Notwendiges. Man steht vor ihnen als vor etwas Ganzem, Vollendetem, das keine Ergänzung zuläßt.“10 Die vielen nicht geglückten Fälle zeigen aber die Grenzen dieser Ästhetik im Alltag. 8 Respekt vor dem Original Reparatur ist ihrem Wesen nach respektvoll gegenüber dem beschädigten Werk. Sie will und kann den ursprünglichen Zustand 10 Rilke, Rainer Maria, Auguste Rodin, Leipzig 1920, 31. 109 110 meist nicht wieder herstellen. Indem sie stets nur ein repariertes Werk schafft, akzeptiert sie den Unterschied zum unversehrten Original, auch wenn die sichtbaren Unterschiede gering sein mögen. In der fachgerechten Reparatur wird die Geschichte des Schadens analog zu dessen Bedeutung in das Werk eingeschrieben. Ist es nur ein kleiner Schaden, etwa eine nicht mehr nutzbare Treppenstufe, so wird deren material- und formgetreue Auswechslung später nur eine kleine Episode im Gesamtbild des Werks darstellen. Man wird sie kaum bemerken. Ein größerer und deshalb in seiner Wirkung, oft auch in seiner Ursache nicht unbedeutender Schaden wird nach der Reparatur des Bauwerks erkennbar bleiben. Das ist ästhetisch angemessen in dem Sinn, wie auch die Erinnerung an diesen Schaden angemessen ist. 9 Spuren der Zeit Eine sichtbare Reparatur bringt in das Denkmal die Dimension der Zeit ein. Sie betont das Prozesshafte gegenüber dem abgeschlossenen Ideal, mit dem das ‚Original‘ meist gleichgesetzt wird. Ablesbarkeit von Geschichte ist allerdings kein Wert an sich. Diese kann auch banal sein. Ihr Sinn hängt von der Bedeutung der Spuren ab. Erfolgreich ist die sichtbare Reparatur deshalb vor allem bei Schäden, die aus einem gewaltsamen Ereignis oder aus der Tiefe der Zeit herrühren. Da sie den Gestaltwert, ja den künstlerischen Gehalt eines Werks beeinträchtigen können, gilt es, sie sparsam einzusetzen. 10 Erinnerungsmodus Restaurierung, Ersatz, Erneuerung – sie alle stehen für einen Fortschritt, der mit einem Akt des Vergessens verbunden ist. Die sichtbare Reparatur verweist dagegen auf die Geschichte des Bauwerks. Nicht notwendigerweise auf seine gesamte Geschichte, aber doch auf eine, zu der Anpassungen, Überformungen, auch Brüche und Konflikte gehören. So erweitert sich der Erinnerungswert durch die Reparatur, die uns Auskunft über den Umgang mit dem Werk gibt. Damit erzeugt sie eine spezifische (Ersatz-)Form der Memorialarchitektur, einer Gattung, die in der Reparaturbedarf | Thomas Will Moderne bekanntlich in eine Krise geraten ist. Das Konzept der Reparatur kann für den Versuch stehen, einen zeitgenössischen Erinnerungsmodus durch Arbeit an den überlieferten Denkmalen zu formulieren. In einer digital-industriellen Zivilisation, in der die handwerkliche Arbeit verschwindet, steht die Reparatur auch für eine Form des Widerstands gegen den unaufhaltsamen Verlust an Bautraditionen, die in ihren Materialspuren immer individuelle Geschichte(n) abbildeten. Deshalb hat sie auch Eingang in die Konzeptkunst gefunden. 11 Korrektur Die Archäologie, eine Leitdisziplin der Moderne, dekonstruiert die Bilder imaginierter Geschichte(n) und präpariert authentische Reste als Indizien eines Zerstörungsprozesses – ein auch ästhetisch höchst relevanter Vorgang. Als die Äginetenfragmente in der Münchner Glyptothek eine Ergänzung durch Bertel Thorvaldsen erfuhren, verstand man dies selbstverständlich auch als Restaurierung. Ihre Neuanordnung als frei im Raum montierte Torsi (durch Dieter Ohly und Josef Wiedemann am Beginn der 1970er Jahre) war nicht nur durch neue archäologische Erkenntnisse bestimmt, ebenso wenig wie die Vollendung durch Thorvaldsen nur eine künstlerische gewesen ist. In beiden Fällen ging das Ethos einer um wissenschaftliche Korrektheit bemühten Präsentation einher mit dem künstlerischen Zeitgeschmack.11 Anders aber als bei der klassizistischen Restaurierung, die Vollendung suchte (und bei diesem Beispiel auch erzielte), bleibt die moderne Reparatur, die hier mit einer Freistellung der Reste zusammenfällt, eine reversible, revisionsoffene Korrektur. Neue Erkenntnisse und Sehgewohnheiten können – sofern nicht die reparierte Fassung selbst als schutzwürdig erkannt wird – immer wieder neu im Sinne einer Korrektur eingebracht werden, ohne Schädigung der Originalfragmente. Darin liegt auch das nüchterne Eingeständnis, dass das Werk als ideales Ganzes ein für alle Mal dahin ist und wir uns ihm durch Reparaturversuche nur annähern können. 11 Vgl. Forster, Kurt W., Monument / Memory and the Mortality of Architecture, in: Oppositions. A Journal for Ideas and Criticism in Architecture 25 (1982), 2 –19, hier 13. 111 112 12 Posttraditionelle Kulturtechnik Was in traditionellen Wirtschaftsformen notwendiges Reparieren war, das gelingt heute nur als bewusste Kulturleistung. Durch die Konsumindustrie vordergründig befreit von der Not des Ausbesserns, entwickelt eine ‚reflexive Moderne‘ die Reparatur zur Strategie für den überlegten Umgang mit kulturellem Material. Diese Strategie ist konsumkritisch; technikfeindlich ist sie nicht. Sie stellt dem industriell normierten und beschleunigten Stoffersatz (verkürzte Lebenszyklen) eine individuelle, auf das Notwendige beschränkte Schadensbehebung gegenüber. Dazu gehört die Skepsis gegenüber Argumenten der Wirtschaftlichkeit, der Fortschrittlichkeit oder des Zeitgemäßen, wo diese zur Legitimation von Zerstörung dienen. Aus dem einst alltäglichen Verfahren der Reparatur erwächst so eine kritisch reflektierende, posttraditionelle Kulturtechnik. Sie verbindet Alt und Neu auf der Basis von praktischen Erfahrungen und der Idee der architektonischen utilitas. Sie steht gegen eine verschwenderische und geschichtsvergessene Wegwerfmentalität ebenso wie gegen eine vordergründige Nachbildungsroutine. Für die meisten Aufgaben, die sich an gestörten oder geschwächten Denkmalen ergeben, lassen sich mit dem Konzept der Reparatur vernünftige Lösungen entwickeln, vom handwerklichen Detail bis zur Stadtstruktur und -silhouette. Zu wünschen ist, dass die Denkmalpflege mit ihren hochentwickelten Kompetenzen ausstrahlt auf die größeren Reparaturaufgaben, die im Bereich von Kultur und Gesellschaft und, allem übergeordnet, im Reich der unterworfenen und gefährdeten Natur zu lösen sind.