Müller-Böling, Detlef; Wanka, Johanna
Reaktionen auf die 12 Thesen
Die Hochschule : Journal für Wissenschaft und Bildung 11 (2002) 2, S. 16-26
Quellenangabe/ Reference:
Müller-Böling, Detlef; Wanka, Johanna: Reaktionen auf die 12 Thesen - In: Die Hochschule : Journal
für Wissenschaft und Bildung 11 (2002) 2, S. 16-26 - URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-165333 - DOI:
10.25656/01:16533
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-pedocs-165333
https://doi.org/10.25656/01:16533
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Reaktionen auf die 12 Thesen
Wenn ich die Spielregeln recht verstehe,
hat man mich zu dieser Disputation als
„Gallus“ eingeladen, als Streithahn. Ich
will diesen Part gern spielen. Allerdings
möchte ich zuvor sagen, dass ich meine,
Sie können stolz darauf sein, einer Reformuniversität anzugehören, die sich
über viele Jahrhunderte der Wahrheitssuche verpflichtet hat, der Integration, dem wissenschaftlichen Anspruch, der Werthaltigkeit von Wissenschaft und diese bewahrt hat, auch wenn das in der Geschichte naturgemäß nicht immer ganz einfach gewesen ist.
Schwer ist es auch, denke ich, die Bezeichnung „Reformuniversität“
zu bewahren und immer wieder erneut sich diese Bezeichnung zu verdienen. Damit bin ich bei einer meiner Grundaussagen, die alle Thesen, die
ich jetzt aufstellen werde, implizit durchziehen wird: Reform ist kein ewiges Epiteton, das man sich anstecken kann. Es muss immer wieder erarbeitet werden. Und genau so ist es mit dem Anspruch der Universität, wissenschaftliches Niveau zu produzieren, die Einheit von Forschung und
Lehre zu repräsentieren. Dieser Anspruch ist kein auf immer und ewig
definiertes Gut. Er ist nicht etwas, was man in einer Grundordnung, in einer Gründungsurkunde übermittelt bekommen kann. Sondern er ist etwas,
was sich alle Akteure, Studierende wie Lehrende, jeden Tag neu verdienen müssen.
Ich stimme den drei allgemeinen Strukturaussagen zu, die Reinhard
Kreckel seinen Thesen vorangestellt hat: Wir stehen heute in einem Prozess der allgemeinen Akademisierung, nicht nur in unserem Land, sondern weltweit in den Industrieländern, in den Schwellenländern genau so.
Wir sind unterfinanziert. Und wir stehen vor der Herausforderung der Internationalisierung. Aber ich füge hinzu, es gibt noch zwei andere Punkte,
die ganz wesentlich dafür sind, dass wir uns bewegen müssen: Einer
hängt mit der Finanzierung zusammen. Es ist nicht mehr so wie in früheDetlef Müller-Böling
Gütersloh
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ren Zeiten, als es ein grundlegendes Vertrauen in die Leistungen der Universitäten gegeben hat und damit auch einen selbstverständlichen Anspruch auf die Alimentierung der Gelehrten innerhalb der Universität.
Die Gesellschaft fragt heute, was wir mit unserem Geld machen. Es gibt
eine grundlegende Vertrauenskrise gegenüber den Hochschulen. Wir
müssen sehr viel mehr als in der Vergangenheit begründen, warum es uns
eigentlich gibt, welche Bedeutung wir für die Gesellschaft haben. Das
fällt uns in einigen Disziplinen leichter als in anderen.
Der zweite Punkt, den ich zu den Strukturtatsachen hinzufügen möchte, ist die Frage der Interdisziplinarität. Viel mehr als in früheren Jahrzehnten ist wissenschaftlicher Fortschritt nur noch an den Rändern der
Disziplinen, zwischen den Disziplinen, in der Gemeinschaft der Disziplinen erarbeitbar. Hierfür müssen wir Strukturen finden, um auch als Universitäten den neuen Herausforderungen gerecht zu werden.
Die Antwort ist nicht, wie in Kreckels These 2 nach meiner Auffassung fälschlicherweise gesagt wird, dass es „Volluniversitäten“, „Schwerpunktuniversitäten“ und „Fachhochschulen“ gibt. Mir ist völlig unklar, ob
Herr Kreckel hier wieder den Streit vom Ende des 19. / Anfang des 20.
Jahrhunderts zwischen Universitäten und Technischen Hochschulen herauf beschwören will. Damals sind die Technischen Hochschulen von oben
herab betrachtet worden. Sie durften sich nicht Universitäten nennen, sondern nur Technische Hochschulen. Sie durften keinen Doctor honoris
causa vergeben, sondern nur einen „Doktor ehrenhalber“. Das setzt sich
bis heute fort. Mittlerweile sind sie aber auch anerkannte Universitäten.
Ihre Disziplinen finden sich in der sogenannten „Volluniversität“ gar
nicht. Die Volluniversität ist eigentlich auch nur eine Teiluniversität.
Ich empfinde es darüber hinaus als despektierlich gegenüber den anderen Universitäten, von einer Volluniversität zu sprechen. Die anderen
sind dann nur Halb- oder Teiluniversitäten? Ich kann das nicht nachvollziehen. Auch die in These 2 bezeichneten „Volluniversitäten“ müssen
sich fragen, wo sie ihre Schwerpunkte setzen, welche Fächer sie absolut
oder in Relation zu den anderen Fächern in der Universität ausbauen wollen, ob sie zur Biologie eine Informatik dazu nehmen und dann eine Bioinformatik, ob sie in der Gentechnologie die Schwerpunkte setzen wollen
etc. Und Sie können diese Fragestellungen auf die Geisteswissenschaften
genauso beziehen. Insofern kann ich diese Unterscheidung zwischen
Volluniversität, Schwerpunktuniversität und Fachhochschule in keiner
Weise nachvollziehen.
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Ich meine statt dessen, es muss sehr viel mehr dafür gesorgt werden,
dass es in der Voll-, in der Teil- oder ich weiß nicht in was für einer Universität zu einer Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen kommt. Das
bedeutet, dass wir ganz andere innere Strukturen brauchen als wir sie augenblicklich haben. Die Fakultäten versäulen die Sache. Wir brauchen
Schwerpunktdefinitionen in der Forschung innerhalb der Hochschule.
Wir brauchen sozusagen Sonderforschungsbereiche innerhalb der Hochschule, die nicht mehr nur von außen definiert sind, sondern mit dem
normalen Haushalt finanziert werden. Und wir brauchen Überschreitungen der Grenzen in den Studiengängen. Das erfordert auch andere Strukturen in der Lehre: Das heißt, die Hochschule wäre dann einerseits nach
Studiengängen organisiert, gleichzeitig – und nicht unbedingt deckungsgleich – auch nach Forschungszusammenhängen. Das bedeutet aber nicht,
dass man dann noch in einer Fakultät organisiert ist. Das ist die eigentliche
Herausforderung.
Richtig ist, wie in These 4 ausgemacht, dass wir einem bestimmten
grundlegenden Bildungsideal nacheifern sollten, das dem Humboldt’schen
Bildungsideal entspricht – allerdings doch nicht nur für die Volluniversität,
also für die geisteswissenschaftlichen/naturwissenschaftlichen Universitäten. Sondern das gilt für andere auch. Ich will es anders zuspitzen: Das
Humboldt’sche Bildungsideal sollte handlungsleitend für einen wesentlichen Teil des Hochschulsystems sein, keineswegs unbedingt für alle Teile des Hochschulsystems. Wenn wir die Realität augenblicklich betrachten, dann stellen wir fest, dass 25 von 80 Universitäten in Deutschland 75
Prozent der DFG-Mittel einstecken. Die Realität sieht also bereits heute
so aus, dass wir Forschungsuniversitäten und Lehruniversitäten haben
oder, ich will der Wahrheit näher kommen, Forschungsfakultäten und
Lehrfakultäten, die ihre Schwerpunkte unterschiedlich setzen.
Dass unser Hochschulsystem einer umgekehrten Pyramide gleicht,
2/3 Studierende an den Unis, 1/3 an den Fachhochschulen, hat mit einer
Versäulung unseres Denkens zu tun, allerdings nicht mit der Realität,
weil nämlich an den Universitäten sehr wohl auch praxisorientierte Ausbildung betrieben wird. Was ist denn eine Medizinerausbildung? Was ist
denn eine Lehrerausbildung? Was ist denn eine Juristenausbildung?
Immer ist es schon so gewesen. Und die Fürsten haben gerade deswegen Universitäten gegründet, um qualifizierte Beamte zu haben. Von daher müsste die These 5 sogar noch schärfer gefasst werden: Die funktionale Differenzierung zwischen Fachhochschule und Universitäten ist
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nicht nur unvollkommen vollzogen worden, sondern sie funktioniert überhaupt nicht. Die Eingrenzung einmal in jemanden, der praxisorientiert, und
einen anderen, der theorieorientiert lehren soll, und in einen, der nur
Grundlagenforschung betreibt, und einen anderen, der anwendungsorientiert forschen soll, funktioniert nicht. Ich kann keine Unterscheidung
mehr zwischen anwendungsorientierter und Grundlagenforschung treffen
heutzutage. Wir befinden uns in einer anderen Welt, in der die Kette von
Grundlagenforschung zu anwendungsorientierter Forschung und dann
Praxisumsetzung nicht mehr gilt. Sondern wir haben vielfältige Verknüpfungen. Gerade aus der Praxis heraus werden die richtigen Fragen gestellt
und dann mit der Praxis zusammen wissenschaftlicher Fortschritt erzielt.
Insofern können wir auch nicht den echten Universitäten die Aufgabe der
Elitenbildung auf der einen Seite und der Grundlagenforschung auf der
anderen Seite zuordnen. Das ist viel zu kurz gesprungen, da ist These 6
zuzustimmen.
Der Übergang von der funktionalen zur vertikalen Differenzierung
durch Verwettbewerblichung wäre eine gefährliche Alternative, so behauptet These 7. Es stimmt, dass die funktionale Differenzierung den
Wettbewerb erschwert. Warum aber gleich „Verdrängungswettbewerb"?
Ich weiß eigentlich gar nicht, wer hier verdrängt wird. Es stimmt auch
nicht so einfach, dass die funktionale Differenzierung Kräfte schont, das
Gegenteil ist der Fall. Die Versäulung in unserem bisherigen System hat
zu schrecklichen Machtkämpfen geführt, die pausenlos wieder auftauchen. Die Fachhochschulen haben die ihnen zugewiesene Rolle nie akzeptiert. Man hat Dämme aufgeschichtet, gegen die sie seit ihrer Gründung anrennen. Egal, welches Thema hochkommt, ob Dienstrechtsreform, ob Bachelor-Master, ob Eingangsbesoldung öffentlicher Dienst –
sofort haben wir wieder dieses Problem mit den Säulen oder mit den
Schubladen, die wir aufgerichtet haben. Da ist ein unglaublicher Machtkampf pausenlos im Gange. Ich würde mir wünschen, dass die Kraft, die
dort, ich sag es offen, vergeudet wird, in wissenschaftliche Exzellenz
umgesetzt wird im Rahmen eines Wettbewerbs.
Entscheidend ist nicht, was wir vorher hinein definiert haben, sondern
was an Ergebnissen herauskommt. Danach entscheidet sich, ob das eine
Forschungsuniversität ist oder eine Forschungsfakultät mit höchstem Anspruch, mit wissenschaftlicher Exzellenz oder nicht. Das kann man heutzutage sehr gut empirisch erheben in verschiedensten Verfahren – nicht
zuletzt durch Rankings. Insbesondere das, was wir im CHE mit dem
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„Stern“ zusammen herausgeben, drückt das aus. Denn ich halte die in
These 8 weiter aufrecht erhaltene Differenzierung zwischen theorie- und
anwendungsorientierten Bachelor- und Masterstudiengängen für die eine
oder für die andere Seite einfach für illusorisch. Das hat die KMK am
5. März 1999 zwar in dieser Form beschlossen, aber die Realität ist längst
über diesen Beschluss hinweg gegangen. Hier werden jetzt Bachelor- und
Masterstudiengänge ausgerichtet, wie immer jemand will. Das Hochschulrahmengesetz 1998 ist die eigentliche Befreiung für die deutschen
Hochschulen gewesen. Innerhalb von kürzester Zeit waren – der Bundespräsident Herzog hatte das Gesetz noch gar nicht unterschrieben – bereits
300 Bachelor- und Masterstudiengänge eingerichtet. Jetzt sind es über
1.000. In diesem Sinne entsteht ein Wettbewerb, und dadurch entsteht
meines Erachtens auch Leistung.
Zur Frage der Gleichheitsfiktion, die laut These 9 „zur Qualitätssicherung beiträgt“, will ich nur sagen: Die Gleichheitsfiktion sichert eine ganz
bestimmte Art von Qualität, nämlich Mittelmaß auf international gutem
Niveau. Aber wir müssen, wenn wir über die Differenzierung im Hochschulsystem sprechen, sehr viel mehr von zwei unterschiedlichen Arten
der Qualitätsdifferenzierung sprechen: einmal von einer vertikalen, also
besser oder schlechter, höherwertiger oder minderwertiger; zum anderen
aber auch von einer horizontalen Andersartigkeit. Das ist das, was wir
augenblicklich offiziell verkünden, dass die Universitäten andersartig
sind als die Fachhochschulen oder umgekehrt. Im Hinterkopf haben aber
alle immer: Die sind eigentlich besser oder schlechter. Und auch das zieht
sich teilweise durch das Thesenpapier, wenn gesagt wird, die müssen von
der einen in die andere Seite wechseln können.
Ich stimme voll mit der These 10 überein, dass vor revolutionärer
Ungeduld gewarnt wird. Das Centrum für Hochschulentwicklung heißt
eben Centrum für Hochschulentwicklung, und nicht für Hochschulrevolution. Natürlich muss aus der Vergangenheit heraus entwickelt werden.
Wenn so viel von „Amerikanisierung“ des deutschen Hochschulsystems
geredet wird, ist das alles totaler Mumpitz. Wir müssen, natürlich unter
Berücksichtigung derjenigen, die um uns herum sind, unsere eigene Stärke weiterentwickeln. Das ist völlig klar. Wir müssen uns aber auch davon
lösen, dass jede Reform für die Ewigkeit gemacht ist. Wir müssen erkennen, dass wir Reformen auch nachbessern können. Ein bisschen mehr
Revoluzzergeist wäre schon mal angebracht, natürlich mit Sinn und
Verstand eingesetzt. Das kann nicht schaden, wobei ich viel optimisti20
die hochschule 2/2002
scher bin als die Thesen von Reinhard Kreckel. Es gibt doch mittlerweile
bereits eine Vielzahl von Hochschulen in Deutschland, die das angepackt
haben, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, die sowohl Strukturreformen innerhalb ihrer Hochschule als auch inhaltliche Reformen im
Hinblick auf die Zusammensetzung der Fächer, Auflösung von Fakultäten, Departments, Matrixstrukturen, mehr Interdisziplinarität einrichten.
Ich setze sehr auf den kreativen Geist aus den Hochschulen heraus, die
dieses Epiteton „Reformhochschule“ verdienen. Es gibt sie. Das schafft
natürlich auch eine neue Form von Wettbewerb.
Ich stimme auch mit der letzten These überein, dass wir einen Grundkonsens haben müssen darüber, wie dieses Hochschulsystem aussehen
soll. Allerdings denke ich, dass ein allgemein akzeptiertes und völlig
konzertiertes System in einer Gesellschaft eine absolute Fiktion ist. Wir
brauchen ein Leitbild, das aber genügend Vielfalt ermöglicht. Ich habe
das als die „entfesselte Hochschule“ bezeichnet. Wenn wissenschaftlich
auf der einen Seite und wirtschaftlich auf der anderen Seite gearbeitet
wird, wenn autonom und profiliert vorgegangen wird, wenn Internationalität eine große Rolle spielt, Wettbewerblichkeit und zuletzt auch Virtualität, dann sind wir auf dem richtigen Weg.
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Angesichts dessen, dass sich die Frage:
„Hochschulreform warum?“ jede Hochschule stellen sollte, entbehrt es nicht
eines gewissen Reizes, wenn sie sich
von einer Universität mit einer mehrhundertjährigen Reformtradition unter
Verweis darauf gestellt wird. Allerdings
wird nur der Schelm an eine schelmische Antwort denken.
Der ernster gestimmte Zeitgenosse wird vielleicht, die Fragestellung
erweiternd, fragen: Warum gab es überhaupt Reformuniversitäten? Und
er wird zu der Antwort gelangen, dass Reformuniversitäten immer dann
entstanden, wenn der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Anspruch an die Universität und der Fähigkeit dieser, dem gerecht zu werden, unüberbrückbar geworden war. Die Tatsache allerdings, dass es dazu
einer Neugründung bedurfte, kann als Hinweis darauf gesehen werden,
dass es mit der Reformfähigkeit der Universität aus sich selbst heraus
schon immer nicht zum Besten bestellt war.
Nicht ohne Reiz ist auch eine zugegebenerweise etwas provozierende
Ausdehnung der Fragestellung mit Blick auf die allenthalben als Vorbild
für die deutschen Hochschulen präsentierten amerikanischen EliteUniversitäten. Erstaunt wird man feststellen, dass seit deren Gründung im
19. Jahrhundert wenig Reformerisches zu finden ist: Die Humboldtsche
Universitätsidee wird hochgehalten. Das aus der mittelalterlichen Universität überkommene Graduierungssystem Bakkalaureus-Bachelor, Magister-Master wird nach Deutschland exportiert, wo es im Zuge einer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts erst gänzlich aufgegeben worden
war. Ganz zu schweigen von den mittelalterlichen Bräuchen, die in
Deutschland der 68er Revolte zum Opfer gefallen sind (Wie war doch das
mit den Talaren?). Jedenfalls ist der Schluss, dass gewisse Züge der gegenwärtigen Reformdiskussion in Deutschland den Charakter einer Reform der Reform tragen, nicht völlig verfehlt. Die Weiterungen ließen
sich fortführen. Um der Gefahr der Entfernung vom Thema zu entgehen,
wird an dieser Stelle jedoch ein Punkt gesetzt.
Die 12 Thesen, wenn sie denn so vom Akademischen Senat akzeptiert
worden sind, stellen die Antwort der Martin-Luther-Universität auf die
selbst gestellte Frage dar. Der Eindruck, den sie hinterlassen, könnte wiederum in provozierender Weise und kurz gefasst lauten: Die Dinge sind
so wie sie sind, ob es uns gefällt oder nicht. Arrangieren wir uns und verJohanna Wanka
Potsdam
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suchen das Beste daraus zu machen, damit unsere geliebte Universität
nicht weiter Schaden nimmt.
Zugegeben, diese Formulierung ist despektierlich; sie verlangt nach
Begründung. Diese soll gegeben werden durch Fragen, die an die Thesen
und deren Begründung gestellt werden können.
Zum Vorwort stellt sich die Frage, ob die als allgemeine Strukturtatsachen genannten Phänomene tatsächlich als solche bezeichnet werden
können oder ob es nicht besser ist, wie es an anderer Stelle auch geschieht, sie als veränderte Randbedingungen aufzufassen, Randbedingungen, die durch die gesellschaftliche Entwicklung geschaffen werden:
Verwissenschaftlichung weiter Arbeits- und Lebensbereiche, Veränderungen des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, Globalisierung u.a.
Die Thesen 1 bis 3 sind so einfach wie wahr. In der Begründung zu
These 2 stößt man sich jedoch an dem aus der mittelalterlichen Universität überkommenen Begriff der „oberen Fakultäten“. Spätestens seit dem
Siegeszug der in der sogenannten Artistenfakultät angesiedelten Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich
doch oben und unten verkehrt, mindestens jedoch ist die Lagebestimmung oben hinfällig geworden. Notwendig erscheint auch eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der klassischen Volluniversität. Dabei geht es
gar nicht darum, dass es Universitäten gibt, die sich als Volluniversität
begreifen, aber keine Theologie mehr aufweisen, sondern dass der andauernde Differenzierungsprozess der Wissenschaften dazu geführt hat, dass
auch die klassische Volluniversität kein vollständiges Fächerspektrum
mehr aufweisen kann, was in der Begründung zu These 4 eingestanden
wird. Im Grunde genommen beginnt die Auflösung des Begriffes der
Volluniversität doch mit dem Entstehen der ersten technischen Hochschulen.
These 4 gehört zu den problematischeren Thesen. Dabei ist es relativ
bedeutungslos, darüber zu sinnieren, was die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin mit dem zitierten Satz gemeint haben könnte. Sicher
ist, dass die klassische Volluniversität zwei Vorteile besitzt: Sie kommt
dem Humboldtschen Bildungsideal am nächsten, und sie hat die besten
Voraussetzungen für die interdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit. Aber
kann sie den zunehmenden quantitativen Bedarf an wissenschaftlicher beruflicher Bildung decken? Nein, zumindest nicht ohne eine entsprechende
Ausweitung der Hochschulausgaben. Die Gründung der als Schwerpunktuniversitäten bezeichneten Hochschulen kann als Versuch angesedie hochschule 2/2002
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hen werden, das Dilemma zu verringern, ohne den ersten Vorteil der
Volluniversität aufzugeben. Aber auch die Schwerpunktuniversitäten
konnten das Problem der Zunahme der Studiennachfrage nicht lösen. Erst
mit der Gründung der Fachhochschulen, zunächst noch ohne starken Bezug zur Forschung, aber dafür mit ausgeprägtem Praxisbezug, schien das
Problem der zunehmenden Studiennachfrage lösbar zu werden. Allerdings kommt dem Hinweis darauf, dass sich nur knapp ein Drittel der
Studienanfänger an Fachhochschulen einschreibt, so lange wenig Beweiskraft zu, solange das Verhältnis der Studienplatzzahlen zwischen Universitäten und Fachhochschulen so ist, wie es ist. Im Übrigen wäre es konsequent gewesen, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die kostengünstigste Ausbildungsform die ist, die keinerlei Forschungsbezug aufweist.
Als eine akzeptable Wiedergabe des Faktischen bieten sich die Thesen 5 und 6 an, ihre Begründung und ihr Nachhall werfen aber Fragen
auf: Warum ist die funktionale Differenzierung zwischen Universitäten
und Fachhochschulen unvollkommen geblieben? Ist der behauptete Primat der Forschungsorientierung der Universitäten nicht eine Chimäre,
wenn der Wissenschaftsrat feststellen kann, dass es Fachhochschulbereiche mit besseren Forschungsleistungen gibt als an manchen Universitätsbereichen? Wer hindert die Universitäten daran, ihre anwendungsorientierten Studiengänge an die Fachhochschulen zu überführen? Worin besteht die schleichende „Verfachhochschulung“ der Universitäten, in der
Erhöhung des Lehrdeputats ihrer Hochschullehrer, in der Übernahme der
Lehrmethodik der Fachhochschulen oder im Verschwinden des wissenschaftlichen Mittelbaus? Zur völligen Akzeptanz der Thesen müssen diese Fragen beantwortet werden. Dabei führt die Antwort auf die erste Frage zu den weitgehendsten Einsichten in das funktionale Gefüge der verschiedenen Hochschularten.
Am bedeutungsschwersten kommt die These 7 daher: Da die funktionale Differenzierung zwischen Universitäten und Fachhochschulen nicht
gelungen ist, nur keinen Wettbewerb! Um Kräfte zu schonen, keinen
Wettbewerb? Offenbart sich hier ungewollt ein Hinweis darauf, weshalb
das deutsche Hochschulwesen, verglichen mit seinem früheren Zustand,
so viel an Glanz verloren hat? Deshalb lautet die Gegenbehauptung:
Nichts braucht die Wissenschaft in Deutschland gegenwärtig mehr als
Wettbewerb, Wettbewerb um die besten Wissenschaftler, die besten Studierenden und um die finanziellen Mittel. Dass dieser Wettbewerb nicht
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von wissenschaftsfremden Kriterien bestimmt werden darf, versteht sich
von selbst.
Als wenig kongruent muss angesehen werden, wenn einerseits festgestellt wird, die unvollkommene funktionale Differenzierung lege die
Umwandlung der Fachhochschulen in Universitäten nahe, und andererseits davor gewarnt wird, „die Demarkationslinie zwischen den unterschiedlichen Hochschultypen“ völlig zu beseitigen, damit es nicht zu einer vertikalen Differenzierung der Hochschulen komme. Unabhängig von
der Antwort auf die Frage, ob ein Wettbewerb zwischen den Hochschulen
die Möglichkeit der Verdrängung (wohin?) einschließen muss, ist der
Hinweis auf die deutschen Hochschulen der Vergangenheit fragwürdig.
Zwischen den preußischen Universitäten im Kaiserreich gab es sehr wohl
einen Wettbewerb um die besten Professoren, zwar unter staatlicher Mitwirkung, aber immerhin. Dieser Wettbewerb gewann an Schärfe, wenn er
länderübergreifend geführt wurde. Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass nur selten eine Berufung von einer österreichischen
Universität an eine preußische gelang, weil Österreich in der Regel die
preußischen Berufungszusagen überbot. Das heißt: Wettbewerb ist möglich ohne kostendeckende Studiengebühren und Marktpreise für Forschungsleistungen.
Dass es einen Wettbewerb um berühmte Forscher zwischen Universitäten und den zu Universitäten umgewandelten Fachhochschulen geben
könnte, kann nur als Schreckgespenst angesehen werden, denn es dürfte
einige Zeit vergehen, bis die vorhandenen Ausstattungsunterschiede egalisiert wären. Im Übrigen: Berühmte Forscher zieht es in Deutschland
kaum noch an die Hochschulen.
Auch der als Bedrohung apostrophierte Bedeutungszuwachs von leistungsabhängiger Mittelzuweisung und Evaluierung kann so nicht akzeptiert werden. Ohne Frage schließt die Anwendung von Mittelverteilungsmodellen das Risiko ein, Falsches zu honorieren und Fehlverhalten
zu stimulieren. Unter Mitwirkung aller Beteiligten sollte es aber möglich
sein, die Risiken zu minimieren und den Energieaufwand nicht dysfunktional werden zu lassen. Jedenfalls gibt es zu einem Wettbewerb auch
staatlicher Hochschulen um die vorhandenen Ressourcen keine Alternative.
These 8 findet bis auf die Frage, ob Theorie- und Anwendungsorientierung die zutreffenden Alternativen sind, Zustimmung. Arbeitsteilung
zwischen Universitäten und Fachhochschulen war ja ein Beweggrund für
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die Schaffung der Fachhochschulen. Bemerkenswert ist aber der Fatalismus, der aus der Begründung hinsichtlich der Einführung der Bachelorund Masterstudiengänge spricht. Kommen wird die flächendeckende Einführung dieser Studiengänge, wenn die Praxis, die Hochschulen und die
Nachfrage es verlangen. Dabei sind Vor- und Nachteile sorgfältig abzuwägen. Wenn es stimmt, dass das amerikanische Analogon des VDI den
Bachelor-Ingenieuren die berufliche Anerkennung versagt, sollte uns das
zu denken geben. Die Überlegungen sollten aber nicht nur mit dem Blick
auf die Nachbarn angestellt werden. Entscheidend muss die Antwort auf
die Frage sein, wie viel Forschungsbefähigung die generelle wissenschaftliche Berufsbefähigung einschließen muss, wenn die Berufspraxis
außerhalb von Hochschulen und Forschungseinrichtungen liegt.
These 9 müsste ergänzt werden durch „..., fördert aber nicht die notwendige Differenzierung“. Was wir brauchen, ist Qualität in der Breite
und Herausbildung von Spitzenhochschulen. Ein vernünftig gestalteter
Wettbewerb muss beides leisten können. Das Schreckgespenst zu fünftrangigen Universitäten mutierter Fachhochschulen und eines zu erwartenden Heers von Wettbewerbsverlierern sollte auch hier den Blick für
die Notwendigkeit des Wettbewerbs nicht verstellen.
Den Thesen 10 bis 12 kann im Wesentlichen zugestimmt werden. In
ihren Begründungen werden Fragen gestellt, die beantwortet werden
müssen, allerdings in endlicher Zeit, damit die notwendigen Reformen
nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Das letztendliche Eingeständnis eines sich entwickelnden faktischen Leistungswettbewerbs sollte seine Ergänzung im Zugestehen des Notwendigen finden,
auch wenn dadurch vorhergehenden Thesen der Boden entzogen wird.
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