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10 March 2010
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Crang, M. (2008) ’Zeit:Raum.’, in Spatial Turn : Das Raumparadigma in den Kultur- und
Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript Verlag, pp. 409-438.
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09 March 2010
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Crang, M. (2008) 'Zeit:Raum.', in Spatial Turn : Das Raumparadigma in den Kultur- und
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Zeit : Raum
MIKE CRANG
Gelegentlich trachtete die Geographie danach, eine Raumwissenschaft zu
sein; manchmal wollte sie sich durch räumliche Differenzierung oder die
Synthese verschiedener Faktoren in bestimmten Umgebungen definieren.1
In der Tat verhält es sich nach allgemeiner Auffassung so, dass die
Fragestellungen der Geographie an Definitionen ausgerichtet sind, die den
Raum in ihr Zentrum stellen. Wenn wir aber Studierende im ersten Studienjahr danach fragen, was Raum sei, gehen die konstruktivsten Antworten in Richtung letzte Grenze. Tatsächlich ist es wahrscheinlich, dass die
meisten Studierenden der Geographie in einem bis zu neun Jahre dauernden Studium sich nur selten mit explizit theoretischen Diskussionen des
Raums befassen. Raum gilt als offensichtlich, als evident und scheint nicht
wirklich weiterer Untersuchung zu bedürfen. Unsere Sicherheit im Gebrauch des Wortes Raum wie auch unser Unvermögen, das Besondere
dieses Begriffs zu bestimmen, erinnert an die Diskussion des Begriffs der
Zeit durch Augustinus, Bischof von Hippo, 397 n. Chr.: „Was also ist die
Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären soll, weiß ich es nicht.“2
Sowohl Zeit als auch Raum sind alltägliche Begriffe, die jedermann
aus der Alltagserfahrung heraus versteht, und so bleiben sie oft undefiniert. Dieses Definitionsmanko wird durch die fachwissenschaftliche
Arbeitsteilung verschlimmert, denn die Geographie tendierte immer dazu,
sich als Raumwissenschaft zu begreifen und daher sich in Bezug auf die
Zeit für unzuständig zu erklären. Befragt man Studierende der Geographie
nach ihren Begriffen von Raum, ergibt sich eine große Mannigfaltigkeit
1
2
Der Original-Beitrag erschien unter dem Titel: „Time : Space“, in: Cloke,
Paul/Johnston, Ron (Hrsg.): Spaces of Geographical Thought. Deconstructing Human Geography’s Binaries, London u.a. 2005, S. 199-220. Er wurde
für den Wiederabdruck geringfügig überarbeitet.
Augustinus: Bekenntnisse, S. 314.
410 │ MIKE CRANG
von Antworten; wenn ich aber die gleichen Studierenden nach Zeit frage,
zeigen sie sich ratlos. Wenn Zeit als problematisch betrachtet wird, dann in
dem Sinne, dass ein angemessener Maßstab gefunden werden muss, um
den zur Diskussion stehenden Prozessen und Phänomenen gerecht zu
werden – geradeso wie es auch für räumliche Kategorien gilt.
Die einzige Frage ist nun nicht, wie das wahre Wesen von Raum und
Zeit beschaffen ist, sondern vielmehr, wie viel wir von beiden betrachten.
Ich werde hier zeigen, dass die Geographie doch einige Aufmerksamkeit
der Frage zugewendet hat, was Raum eigentlich sei und welche Beziehungen sich zu skalaren Kategorien wie Regionen, Örtlichkeiten oder sogar zu
Vorstellungen von Ort herstellen lassen. Ich möchte diesen Fragen nachgehen, um im Verlaufe dieses Beitrags die räumliche Seite der Zeit-RaumDichotomie zu entfalten. Die genannte Binarität soll unterlaufen werden,
indem ich zeige, dass der Raum weder evident ist noch sich selbst erhält,
sondern vielmehr – was umgekehrt auch für die Zeit gilt – auf problematische Weise durch ihrerseits problematische Begriffe von Zeit definiert
wird. In Bezug auf diesen letzten Punkt müssen wir zugeben, dass die
Geographen bislang noch kein großes Engagement entwickelt haben.
Also scheinen sowohl der – mit der Geographie eng verbundene –
Raum als auch die Zeit so klare Kategorien darzustellen, dass sie keiner
weiteren Untersuchung bedürfen. Es sei denn, man würde nachweisen,
dass beide soviel Gepäck und so viele unterschiedliche Bedeutungen mit
sich führten, dass sie sorgfältiger Aufmerksamkeit bedürfen. In diesem
Kapitel soll erstens behauptet werden, dass Raum und Zeit zahlreiche
Facetten und Definitionen haben. Zweitens sind sie nicht nur für sich
genommen komplex, sie neigen zudem dazu, ihre Begriffe gegenseitig zu
bestimmen oder zu verunklaren. Häufig stützen sich Definitionen der Zeit,
explizit oder implizit, auf Definitionen des Raums und umgekehrt. Ich
werde zu zeigen versuchen, dass hierbei manchmal die Zeit mit dem Raum
verglichen wird (aber selten umgekehrt) und der Raum paradoxerweise als
Gegensatz der Zeit definiert wird – was einem klassischen Dualismus entspricht. Diese analytischen Differenzierungen verfolgen unterschiedliche
ontologische Konzepte und philosophische Positionen.
Doreen Massey hat beispielsweise nachgewiesen, dass für radikale politische Konzepte die traditionell bedeutsame Kategorie die Zeit war, welche mit den Möglichkeiten von Fortschritt und Wandel assoziiert wird.3 Es
ist charakteristisch, dass dies eine Verbindung des Raum-Zeit-Dualismus
mit einem anderen bedeutenden philosophischen Dualismus impliziert –
dem von Sein und Werden. Sein hat mit dauerhaft bestehenden Wesen und
Entitäten zu tun, Werden hingegen mit einem sich in der Zeit entwickelnden Prozess. Der Raum ist ans Sein, die Zeit ans Werden geknüpft. So
3
Vgl. Massey: „Politics and Space/Time“; dies.: „Philosophy and Politics of
Spatiality“.
ZEIT : RAUM │ 411
kommt man zu dem Schluss – um die breite Rezeption eines Essays von
Foucault zu paraphrasieren – dass die Zeit als fruchtbar und schöpferisch
erscheint, während der Raum als passiv und träge aufgefasst wird. Und
doch hat in den vergangenen ein oder zwei Jahrzehnten so etwas wie eine
Umkehrung stattgefunden oder, um Sojas Untertitel zu benutzen, ein Wiedererstarken des Raums in der Gesellschaftstheorie.4
Einige Autoren haben konstatiert, dass es in der Beschäftigung mit
Zeit und Raum eine epochale Verschiebung zugunsten des Raums gegeben
habe und dass unsere Begriffe von den Beziehungen zwischen Raum und
Zeit durch soziale Veränderungen beeinflusst werden. Darauf deutet das
folgende, oft angeführte Zitat Foucaults:
„Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen: die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit, die Überlast der Toten, die drohende Erkaltung der
Welt. […] Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir
sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in
der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander.
Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein
großes[,] sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein
Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.“5
Diese programmatische These wurde, genau wie auch ich sie hier verwende, zum Banner einer Darstellung, die Theorie auf dem Weg zu einer
Beschäftigung mit dem Räumlichen sieht. Dieser Umbruch in der Theorie
verläuft parallel zu sozialen und materiellen Veränderungen – in einer
Welt der globalisierten Medien und des globalisierten Handels, in der die
Folgen von Veränderungen in einem Markt sofort in einem anderen spürbar werden. So beschreibt Fredric Jameson eine durch Gleichzeitigkeit gekennzeichnete Welt, die eine Ästhetik der Nachahmung hervorruft, die auf
die eklektische Verbindung von Formen vieler Epochen hinausläuft. Einfach ausgedrückt, löst nicht mehr ein Stil den anderen in linearer Folge ab
oder wird diesem gegenüber höher bewertet, vielmehr bestehen sie zur
gleichen Zeit nebeneinander.6 Der Architekt Bernard Tschumi stellt dies in
einer einfachen Grafik dar und bezeichnet den Raum als „synchrone Zeit“7
– Koexistenz von Dingen zur gleichen Zeit (vgl. Abb. 1).
Jameson argumentiert entsprechend, dass wir uns neu orientieren müssen. Erforderlich sei ein „cognitive mapping“, um mit dieser zeitlichen
Koexistenz zurechtzukommen. Weiterhin behauptet er, dass in der gegenwärtigen Epoche die Sprache der Theorie, und womöglich ihr ontologi4
5
6
7
Vgl. Soja: Postmodern Geographies.
Foucault: „Andere Räume“, S. 34.
Vgl. Jameson: The Cultural Turn.
Tschumi: „Diasync“, S. 170.
412 │ MIKE CRANG
scher Belang, sich von zeitlicher Entwicklung zum räumlichen Einschluss
wandle – die Auswirkungen von Handlungen werden nicht mehr im historischen Verlauf entfaltet, das vorrangige Problem ist vielmehr ihre rapide
räumliche Ausbreitung; nicht die Zeit, sondern der Raum birgt die Folgen.
Abb. 1: Synchrone und diachrone Zeit in der gebauten Umwelt8
Synchrone Zeit
(Simultaneitäten)
Diachrone Zeit
Auch in künstlerischen Bewegungen „ist die Ausgestaltung des Raums
zum zentralen ästhetischen Problem der Kultur des mittleren 20. Jahrhunderts geworden, so wie das Problem der Zeit (bei Bergson, Proust und
Joyce) das zentrale ästhetische Problem der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts war.“9 Eine derartige Darstellung des Zeitgeists unseres Jahrhunderts mag ansprechend sein, aber sie übertreibt eindeutig den vermeintlichen Wandel des Gegenstands. So merkte kürzlich Fredric Jameson
zynisch an:
„Was kommt nach dem Ende der Geschichte? Da keine weiteren Anfänge vorgesehen sind, kann es nur das Ende von etwas anderem sein. Aber die Moderne ist
schon vor einiger Zeit zu Ende gegangen und mit ihr, wahrscheinlich, die Zeit
selbst, da ja weithin das Gerücht umging, es sei davon auszugehen, dass der
Raum die Zeit im allgemeinen ontologischen System der Dinge ersetzt habe. Zu
guter Letzt ist die Zeit zu einer Unperson geworden, und man hat aufgehört, darüber zu schreiben.“10
8
9
Nach Tschumi: „Diasync“.
Daniel Bell, zitiert nach Harvey: The Condition of Postmodernity, S. 201 [in
der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
10 Jameson: „The End of Temporality“, S. 695 [in der Übersetzung v. Holger
Steinmann u. Simone Loleit].
ZEIT : RAUM │ 413
Im Folgenden stellt Jameson die schwierige Frage, ob einige der theoretischen Konzepte, die gegen Ende dieses Textes dargelegt werden sollen,
überhaupt erfolgreich einen Dualismus zusammenflicken können, obwohl
es doch wohl häufiger der Fall zu sein scheint, dass sich „Zeit und Raum
in einer Homerischen Schlacht bekriegen“11. Eher, als dass wir nun fachintern feiern, dass die Gesellschaftstheorie die Geographie wahrgenommen
zu haben scheint, müssen wir darlegen, wie sich Raum und Zeit gegenseitig beeinflussen.
Im ersten Schritt werde ich eine Reihe von Raumtypen entfalten, um
dann eine ähnliche Reihe von Zeitvorstellungen aufzuzeigen. So können
wir zumindest andeuten, dass es sich nicht um eine einfache binäre Beziehung zwischen zwei Begriffen handelt, sondern um Beziehungen zwischen
unterschiedlichen Arrangements von Begriffen und somit häufig um unterschiedliche Beziehungen zwischen spezifisch unterschiedlichen Elementen. Worauf ich außerdem hinweisen möchte: Viele dieser spezifischen
wie variablen Definitionen werden selbst von spezifischen und variablen
Dualismen getragen. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich zwei Weisen nachzeichnen, in denen Raummodelle verwendet worden sind, um Zeit
zu verstehen. Zuerst soll untersucht werden, wie eines der im folgenden
Abschnitt aufgezeigten ontologischen Konzepte des Raums – das des
abstrakten Raums – im besten Fall als Veranschaulichung problematischer
Zeitauffassungen, im schlimmsten Fall als Verdunkelung der gesamten
Vorstellung des Zeitlichen betrachtet wurde. Die Beziehung dieses Typs
Raum zur Zeit ist oft dafür benutzt worden, die Schwierigkeiten einer Verräumlichung der Zeit zu illustrieren – einer der zentralen Gründe dafür,
warum Raum gegenüber der Geschichte als sekundär abqualifiziert wurde.
Ich schlage vor, dies zumindest als ein Problem zu betrachten, das möglicherweise nicht den räumlichen Begriffen selbst, sondern der besonderen
Verwendung des abstrakten Raumbegriffs inhärent ist. Das zweite Beispiel, das von mir angeführt wird, bezieht sich auf eine etwas weiter
gefasste Epistemologie des Raums, das der Landschaft als Konvergenz,
die eine Vielfalt von interagierenden Temporalitäten anzeigt. Hier wird der
Raum dafür genutzt, dasjenige freizusetzen und zu pluralisieren, was
eigentlich der Kategorie der Zeit zukommt. Zuletzt wende ich mich den
Kategorien zu, die Raum und Zeit zu verbinden suchen; dabei gilt die
Konzentration einem von dem Literaturwissenschaftler Mikhail Bakhtin
übernommenen Konzept: dem Chronotopos.
11 Ebd., S. 698 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
414 │ MIKE CRANG
Vielfältige Räume
Im Folgenden werden hier zunächst einige der Themen von John Agnews
Aufsatz „Space : Place“12 rekapituliert, um solche Interpretationen von
Raum hervorzuheben, die in Bezug auf die Zeit-Vorstellungen von zentraler Bedeutung waren. Wollen wir mit der offensichtlichsten Bedeutung
von Raum beginnen, dann ist es die der Lage. Was meinen wir grundsätzlich, wenn wir von lokalisiert reden? Eine Definition mag häufig mit Koordinaten beginnen: x und y, Ost-West und Nord-Süd als eine Ausformung
des Newtonschen Raums; leider bleibt sie zu häufig dabei stehen. Dies
deutet darauf hin, dass hier eine Bedeutung von Raum als Länge, Fläche
oder Volumen impliziert ist, die ihrerseits eine unendliche Zerteilbarkeit in
Einheiten impliziert (x1, x2, x3, … xn, y1, y2, y3, … yn). Das heißt zudem:
Hier geht es um eine Unterscheidung der Lage, nicht um ein Charakteristikum. Dabei setzen wir zwei Dinge voraus. 1.) Objekte sind von ihrer Lage
unabhängig – ein Haus an einem Ende einer Straße mag das gleiche sein
wie eins am anderen Ende, der einzige Unterschied zwischen ihnen ist die
Position. Das hieße nun nicht, dass dies keinen Unterschied macht, man
denke nur an die drei Schlüsselfaktoren der Hauspreise („Lage, Lage,
Lage“), und schon sieht man, dass die räumliche Position wichtig ist. Aber
die Art dieser Unterscheidung ist rein rechnerisch oder quantitativ. Man
erkennt, dass diese Raumvorstellung ihre logischen Schlüsse aus den Prämissen hinter dem Standortmodell von Thünen oder Christaller zieht –
eine isotrope Fläche, in der Raum homogen und quantifizierbar ist und alle
anderen Differenzen getilgt sind. Solch ein Raumkonzept aber hat tatsächliche Konsequenzen. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist die Kartierung
des Westens der Vereinigten Staaten, wo, jenseits der Route 277 in Ohio,
das Land für mögliche Homesteads, Siedlungen und Townships13 durch
weite, ausgreifende Meridianlinien markiert wurde, die sich mit einer solchen Regelmäßigkeit quer über das Land zogen, dass es mit Millimeterpapier verglichen wurde.14 Dem Raum wurde jeglicher substantielle Gehalt entzogen und durch leere und austauschbare Einheiten ersetzt. Dies
erleichterte die schnelle Nutzbarmachung des Lands – mit standardisierten
Parzellengrößen bzw. deren Vielfachen, wobei die individuelle Lage allein
durch das Raster identifiziert wird. 2.) Diese Auffassung von Raum sieht
Territorium als unterteilbar und multiplizierbar an. Anders ausgedrückt:
Wenn die einzige Unterscheidung zwischen Orten in ihrer Lage besteht,
12 Agnew: „Space : Place“.
13 [Anm. d. Übers.: Laut des Homestead Act von 1862 ist solch eine Heimstätte
(homestead) ein Bereich von 160 Morgen, der jedem US-Bürger bewilligt
wurde, der sich entschloss, für wenigstens fünf Jahre dieses Stück Land zu
besiedeln und zu bebauen. Ein Township ist eine Verwaltungseinheit von 6
Quadratmeilen.]
14 Linklater: Measuring America, S. 178.
ZEIT : RAUM │ 415
können diese immer feiner in kleinere Bestandteile unterteilt oder aber
auch zusammengefügt werden, um größere Einheiten zu bilden. Die einzige Veränderung besteht in der Quantität. Wie Lefebvre es ausgedrückt
hat: „Dies ist ein Raum, der homogen und doch gleichzeitig in Fragmente
zerbrochen ist.“15
Es gibt zahllose, alternative Weisen, den Raum auf einen Begriff zu
bringen. Von diesen wähle ich drei aus, die die Themen umreißen, die sich
später ergeben werden. So könnten wir zunächst argumentieren, dass dieser leere Raum im Grunde überaus verfestigt ist; dass ihm schon Bedeutung zukommt, bevor er mit Inhalt gefüllt ist. Eine relationale, Leibnizsche
Sicht würde ihn alleine durch die Objekte in ihren Verhältnissen
untereinander definiert sehen. Ein Beispiel: Eine Feudalgesellschaft, in der
die Landzuteilung nach der Zahl der Schweineherden bemessen wird, die
darauf weiden können (um nur einen Maßstab anzuführen, der im Domesday Book aus dem England des 11. Jahrhunderts benutzt wurde), hat eine
ziemlich andere Vorstellung vom Raum als eine Gesellschaft, in der standardisierte Längen- und Breiteneinheiten den Besitz definieren. Die sich
wandelnden Bedeutungen von Raum in unterschiedlichen Epochen erzählen nicht nur eine Geschichte des akkuraten Vermessens, diese Geschichte
handelt auch vom Wandel der Beziehung zum Raum in verschiedenen
Gesellschaften; oder wie Lefebvre es ausdrücken würde: Es geht nicht nur
um die sozialen Beziehungen und Widersprüche im Raum, sondern des
Raums.16 Um es anders zu formulieren: Gesellschaften erscheinen nicht
einfach in einem vorgegebenen Raum, wobei die einzige Frage wäre, wie
viel sie davon besetzen; sie erzeugen vielmehr den Raum. Selbst wenn wir
an die leeren Räume denken, die mit dem Vermessen und Unterteilen des
amerikanischen Westens geschaffen wurden, so wurde dieser Raum doch
nur produziert, um seine Kolonisierung zu ermöglichen und zu erleichtern
(und zwischen Staat, Farmern und Spekulanten einen Interessenausgleich
herbeizuführen). Seine Leere und der Mangel an substantieller Bedeutung
aller vorhandenen Stellen sind geschaffen, es handelt sich um eine
„semantische Leere, die vorgängige Bedeutungen tilgt“17.
Diesen abstrakten Raum kann man der bewohnten, personalisierten
Bedeutung, die Orten gegeben wird, entgegensetzen. Wie sich Michel de
Certeau ausdrückte – und dabei die Begriffe, wie sie generell in der Geographie gebraucht werden, irritierenderweise vertauschte: Raum ist der
bewohnte Ort.18 Um es auf den Punkt zu bringen: Häuser unterscheiden
sich in mehr als nur in ihrer Lage, wenn eines dieser Häuser unseres wird.
Diese Unterteilung von Ort und Raum ist seit einer langen Zeit gültig, und
15 Lefebvre: The Production of Space, S. 342; Hervorhebung im Original [in
der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
16 Vgl. ebd., S. 334.
17 Ebd., S. 307 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
18 Vgl. Certeau: „Practices of Space“; ders.: Kunst des Handelns.
416 │ MIKE CRANG
wir können sie sicherlich bis auf Platon und Aristoteles zurückführen. Der
Raum wird hier vorgestellt als kenon, d.h. Leere, oder als chora, mit variierenden Bedeutungen wie amorph, Gefäß oder Behälter, und als topos,
womit der bekannte, umfriedete und bewohnte Ort bezeichnet wird.19 Es
ist möglich, chora als instabilen Begriff, als Weder-Ort-noch-Raum zu
lesen, wie dies beispielsweise Derrida tut.20 Dennoch wurde chora zumeist
mit kenon zusammengelesen, um zu betonen, dass der Raum der nasse Ton
ist, der darauf wartet, geformt zu werden, oder genauer: das Gefäß, das
darauf wartet, befüllt zu werden. Der Frage nach dem topos möchte ich
mich genauer widmen. So könnten wir an heilige Orte denken, die das
sind, was Lefebvre einen absoluten Raum nennen würde. Diese sind keineswegs beweglich, sie beruhen vielmehr auf der besonderen Belehnung
eines Orts. Diese Stätten sind eben gerade nicht austauschbar. Dies ist die
ursprüngliche Idee des genius loci, des Geists eines Orts. Interessanterweise wird einem damit heute meist die besondere Qualität eines Orts nahe
gelegt, die durch eine dauerhafte Verbundenheit und Konvergenz vieler
Faktoren – der alltäglichen Rhythmen, der persönlichen Geschichten sowie
säkularer und religiöser Rituale – entstanden ist. Die Betonung der Konvergenz suggeriert, dass es hierbei um die Fusion zu einem neuen Ganzen
geht. Es geht also nicht um „extensive Grenzen“, um die Definition eines
Orts durch die Grenzen räumlicher Ausdehnung, sondern vielmehr um
eine intensive Schwelle, an der es eine innere Transformation gibt, die
einer Phasenverschiebung gleicht.21
Wenn wir uns an unsere erste Liste binärer Oppositionen erinnern, so
wird deutlich, dass Vorstellungen der intensiven Schwelle oder des Bewohnens dem Ort ein Werden zuschreiben – und nicht einfach ein Sein. Er
wird geschaffen und erneuert und somit auch verändert. Diesem Komplex
können wir uns anhand eines Vokabulars nähern, das den Raum als
Handlung und nicht als Lage begreift. Eine Möglichkeit dieser Annährung
ist durch die Vorstellungen des Wohnens gegeben, die wir, nach Heidegger, als die Aktivität des In-der-Welt-seins verstehen können. Mit Sicherheit können wir an dieser Stelle die affektive Dimension des Raums betonen – seine emotionale Resonanz, wie etwa das Sicherheitsgefühl, sowie
seine Besonderheit. In diesem Sinne bestimmt Gaston Bachelard räumliche Archetypen der Sicherheit wie die Höhle, aber auch weitergehende binäre Oppositionen von Innen und Außen.22 Stärker aber noch ist der Eindruck, dass es nicht um einen Raum geht, der Objekte enthält, sondern um
einen Raum, der durch Handlungen geschaffen wird; somit könnte man
eher von Spacing sprechen. In seiner Analyse eines griechischen Tempels
19 Vgl. Grosz: Space, Time and Perversion.
20 Vgl. Eisenman: „Separate Tricks“, S. 134.
21 Vgl. Landa: „Extensive Borderlines and Intensive Borderlines“; ders.:
„Deleuze, Diagrams and the Open-Ended Becoming of the World“.
22 Vgl. Bachelard: Poetik des Raumes.
ZEIT : RAUM │ 417
konstatiert Heidegger, dass dieser nicht einem gegebenen Ort hinzugefügt
wird; vielmehr gelte: „das Gebäude geht seiner Stätte voraus.“23 D.h., es ist
der Tempel, der den Eindruck eines sakralen Raums schafft, er schafft den
Grund für sein Volk.24 Anhand der Dichtung Hölderlins über die großen
deutschen Ströme erläutert Heidegger, dass Ströme nicht Symbole verschiedener Orte sind, sondern dass sie diese Orte schaffen. Sie machen das
Land, das mit ihnen verbunden ist, nicht nur in einem geomorphologischen
Sinne, sondern auch im Sinne eines bewohnten Territoriums; somit stellen
diese Gedichte die Verortung dar, sie sind örtlich im Gegensatz zu räumlich.25
Der Grund meiner Beschäftigung mit Heidegger besteht darin, dass er
(1.) eine fruchtbare Verbindung zur Problematik der Zeit anbietet, die
seine Hauptsorge ist, und dass er (2.) uns von der Sichtweise abbringt, der
abstrakte Raum sei objektiv und der Ort subjektiv. Er richtet sich gegen
diesen Dualismus, indem er auf der Objektivität des Wohnens besteht. Er
erläutert, dass jegliches Verständnis vom Sein am Ort seinem Situiert-Sein
entspringe. Sein Fokus ist weder auf das Subjekt noch auf das Objekt
gerichtet, sondern auf die Situation.26 Mit anderen Worten: Es gibt kein
unverortetes Wissen, keinen transzendentalen Gesichtspunkt und kein
unverortetes transzendentales Subjekt. Während Heideggers Position
gefährlich konservativ sein kann, so kritisiert er doch abstraktes Wissen,
da es von Darstellungsweisen abhängt, die uns von der Beschäftigung mit
der Erfahrung abhalten. Diese Kritik findet ihr Echo in Lefebvres wohlbekannter Dreiteilung in (1) Darstellungen des Raums, (2) darstellender
Raum und (3) räumliche Praxis;27 jene kann umschrieben werden als
(1) abstrakte Ideen des Raums, (2) affektiver und schließlich (3) gelebter
Raum. Diese Dreiteilung liefert auch den Rahmen für diesen Text. Wir
beginnen bei ideologischen Raumvorstellungen, die offensichtlich eine
Rolle spielen bei der Formung von Gesellschaften, ihrer Strukturen und
Aktivitäten; dann reflektieren wir das Gespür für die Bedeutung und die
emotionale Resonanz von Orten, bevor wir schließlich über die
Bewohnung dieser Orte nachdenken – also nicht über ihre Darstellung
durch vermittelnde Schemata, sondern ihren direkten Bezug zu den
Aktivitäten und Identitäten der Leute. Es ist verräterisch zu erkennen, wie
bestimmte Aspekte der Bedeutungsvielfalt von Raum im Laufe der Zeit
immer wieder erörtert wurden.
23
24
25
26
27
Wigley: Architektur und Dekonstruktion: Derridas Phantom, S. 67.
Vgl. Elden: Mapping the Present, S. 66.
Vgl. ebd., S. 36.
Vgl. Jameson: „Time and the Concept Modernity“, S. 213.
Vgl. Lefebvre: The Production of Space, S. 40-46.
418 │ MIKE CRANG
Vielfältige Zeiten
Wenn der Raum oftmals als eine allgemein anerkannte Grundvoraussetzung und ein von allen geteiltes Gegebenes aufgefasst wird, welches
Analysen als fester Anker dient, so kann das Gleiche in noch stärkerem
Maße von der Zeit gesagt werden, weil hier zudem das Gesetz der Richtung greift. Zeit wird oft, im Unterschied zum Raum, durch ihre Unumkehrbarkeit definiert.
Diese Wahrnehmung des Flusses unterstützt die Vorstellung der Zeit
als Werdendes und des Raums als Seiendes, der Zeit als Handlung und des
Raums als Umgebung. Dennoch kann auch Zeit keinesfalls selbstevident
sein. Tatsächlich können wir sagen, dass die gelebte Zeit – um mit dieser
zu beginnen – stärker von Zyklen als von linearen Flüssen bestimmt ist.
„Das alltägliche Leben ist vor allem ein zeitlicher Begriff. Als ein solcher
vermittelt er die Tatsache der Wiederholung; er bezieht sich nicht auf das
Einzigartige oder Einmalige, sondern auf das, was sich ‚Tag für Tag‘
ereignet.“28 Diese Zeit ist nicht von Entwicklungslogik und bewusster Planung geprägt. Cullen erklärt, diese Beherrschung durch die Routine
bedeute, dass – quantitativ ausgedrückt – überlegte Entscheidungen „überschwemmt werden durch ein vorherrschendes Muster von Wiederholung
und Routine. Wir verwenden am Tag sehr wenig Zeit darauf, um entweder
über eine zukünftige Handlung nachzudenken oder um eine vorab überlegte auszuführen. Der Großteil unserer Zeit ist dem Ausleben eines verfeinerten Musters von wohlgeordneter und ordentlich eingepasster Routine
gewidmet.“29
Mit anderen Worten: Unserem täglichen Leben eignet eine Zeitlichkeit, die oft nicht dem linearen Verlauf des Zeitpfeils entspricht, sondern
aus Zyklen geformt ist. Aufstehen, zur Arbeit gehen, Mahlzeiten einnehmen, Werktage und Wochenenden – all dies ereignet sich mit enormer
Regelmäßigkeit, wenn wir die westlichen Gesellschaften betrachten. In
größeren Abständen gibt es die Folgen von Geburtstagen und Festen.
Anders gesagt, rituelle Zeiten, ob religiöse, persönliche, kommerzielle
oder Mischungen aus all diesen, sind häufig zyklisch. Edward T. Hall
bringt das Beispiel der Quiche Maya, die traditionell sowohl heilige als
auch zivile Kalender besaßen, von denen beide eine unterschiedliche
Anzahl verschieden langer Monate hatten, die nur alle 52 Jahre zusammenfielen.30 Im Unterschied zu den anglo-europäischen Kalendern, wo der
Kreislauf der Routine zumeist nicht weiter differenzierte Tage abdeckt, hat
28 Felski: „The Invention of Everyday Life“, S. 18 [in der Übers. v. Holger
Steinmann u. Simone Loleit].
29 Cullen: „The Treatment of Time in the Explanation of Spatial Behaviour“,
S. 31 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
30 Vgl. Hall: The Dance of Life.
ZEIT : RAUM │ 419
hier jeder Tag im heiligen Kalender einen eigenen Namen.31 Wenn wir die
Traumzeit der australischen Aborigines betrachten, so werden wir gewahr,
dass es sich um eine Zeit kontinuierlicher Wiederkehr und Relevanz handelt – es ist eine mythische Zeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie
außerhalb unserer allgemeinen Zeit steht, und die nicht vergangen, sondern
kontinuierlich gegenwärtig ist.32 Des Weiteren sollten wir nicht das
Gegenteil der heiligen Zeiten vergessen: profane Zeiten, wie die Zeit des
Karnevals oder andere Zeiten der Muße, in denen die normale Ordnung
auf den Kopf gestellt wird. Zyklische Zeit kann demnach auf unterschiedlichen Ebenen bedeutsam sein. Hall schließt, dass wir mindestens acht
Gruppen von Zeittypen bestimmen können, die anhand von grundlegenden
Oppositionen unterschieden sind: Demnach können einige als physisch
(z.B. das Altern, die Jahreszeiten) gedeutet werden, andere als kulturell
(z.B. Religionen); einige Zeiten könnten als individuell oder kollektiv
definiert werden, andere sind „exogen“ (wenn sie als objektiv erscheinen)
und andere kontextbezogen (abhängig vom Betrachter), um den Gegensatz
von objektiv und subjektiv aufzugreifen. Setzt man diese Aspekte zueinander in Bezug, so ergeben sich (1) heilige, (2) profane, (3) kleinskalierte,
(4) synchrone, (5) persönliche, (6) biologische, (7) physische und (8) metaphysische Zeittypen.33
Nur um dieser komplexen Darstellung noch etwas hinzuzufügen,
könnten wir das sich im Verlauf der Geschichte wandelnde Verhältnis von
linearer und zyklischer Zeit in den Blick nehmen. Wissenschaftler haben
oft auf die Verbindung von Frauen und reproduktiver Arbeit hingewiesen
und behauptet, diese habe einen eher zyklischen Charakter gehabt – während Männer, die Zugang zum öffentlichen Raum haben, auch Zugang zu
einer öffentlichen Zeit des historischen Fortschritts hätten. Historisch lässt
sich das gleiche Muster auf die Erfahrung der Klassen übertragen; lineare
Zeit ginge hier einher mit einer fortschrittlichen Selbsterzählung von
Selbstverwirklichung und Bildung, die wir in der frühmodernen Epoche
unter dem Bürgertum sich entwickeln sehen – gestützt durch eine große
Zahl neuer Technologien.
So können wir hier beobachten, dass die Stunden- und Gebetsbücher,
die zu Andachtsübungen für jede einzelne Stunde jedes einzelnen Tages
anleiten, von persönlichen, reflektierenden Tagebüchern abgelöst werden,
welche das Selbst und das Selbstverständnis in eine weltliche Erzählung
verweben. Es wird häufig behauptet, diese Erzählform sei mit einer linearen Zeit verbunden, die sich allmählich in der Gesellschaft verbreitet
31 Vgl. ebd., S. 81.
32 Vgl. Perkins: „Timeless Cultures – the ‚Dreamtime‘ as Colonial Discourse“.
33 Vgl. Hall: The Dance of Life, S. 17.
420 │ MIKE CRANG
habe.34 Es ist innerhalb von Untersuchungen literarischer und textueller
Darstellungen von Zeit üblich anzunehmen, die Fähigkeit, sich selbst in
der Zeit zu begreifen, bedeute zugleich wirklich, sein eigenes Leben als
Erzählung wahrzunehmen.35 Das Selbst wird demnach dadurch zu einer
Einheit, dass es eine sich zwischen Anfang und Ende entwickelnde
Erzählung besitzt. Andere Darstellungen verweisen auf den Aufstieg des
Kapitalismus zur Zeit des Hauptbuchs – einer Zeit, die über die
mittelalterliche, von Glocken, die zu Kirche oder Moschee rufen, erfüllte
Zeit triumphiert.36 Wenn der abstrakte Raum Land tatsächlich zu einer
Ware macht, könnte man sich Lewis Mumford anschließen, die Uhr zum
wesentlichen Instrument des industriellen Kapitalismus zu erklären.37 Jede
Minute des Tages wird berechen- und messbar, um unter Kapital und
Arbeit gehandelt zu werden. Wir müssen behutsam mit einer Entgegensetzung von zyklischer und linearer Zeit, wie etwa bei Hegel und Marx,
umgehen; sie identifizierten das hinduistische Indien mit der zyklischen
Zeit und so mit einem Mangel an Fortschritt und setzten die Britischen
Kolonisatoren mit fortschrittsgewandter, dynamischer Modernität gleich.38
Nuanciertere Darstellungen religiöser Zeitvorstellungen betrachten die
Klöster selbst als Entwicklungsstätten neuer Technologien, insofern sie
jeweils auf die Tageszeiten und das Kirchenjahr abgestimmte Ordnungen
und Abfolgen von Andachtsübungen erfanden. Tatsächlich war es also die
Religion selbst, die – bei Augustinus – die Vorstellung eines Erzähl-Selbst
beförderte, sowie die Wahrnehmung der Zeit als etwas, das klug zu verwenden sei.
Wenn wir uns nun noch die Zeit als Fluss vorstellen, stoßen wir auf
Paradoxien. Um zu Augustinus und seiner großartigen erzählenden Umgestaltung des Selbst in den Bekenntnissen zurückzukehren: In Buch 11, in
dem er ausführlich durchdenkt, was dies für die Zeit heißt, formuliert er
zum ersten Mal die Vorstellung einer verschwindenden Gegenwart, die
erst gedacht werden kann, wenn sie vorbei ist. Das bedeutet, die Gegenwart ist nicht so sehr ein Tag oder eine Stunde oder gar eine Sekunde als
vielmehr die feine Grenzlinie zwischen Zukunft und Vergangenheit. Ich
würde vorschlagen, diese weniger als sich selbst voranbewegend, sondern
vielmehr als Linie aufzufassen, durch die die Zukunft in die Vergangenheit
fließt. Mit den Worten von Henri Bergson: Die Gegenwart sei nicht so
sehr „das was ist, [sondern] […] einfach nur das […], was geschieht.
Nichts ist so wenig, wie der gegenwärtige Augenblick, wenn man darunter
34 Vgl. Maynes: „Gender and Narrative Form in French and German WorkingClass Autobiographies“; dies.: „Autobiography and Class Formation in
Nineteenth Century Europe: Methodological Considerations“.
35 Vgl. Currie: „Can There Be a Literary Philosophy of Time?“, S. 45.
36 Vgl. Le Goff: Time and Culture in the Middle Ages.
37 Vgl. Nowotny: Time, S. 47.
38 Vgl. Spivak: „Time and Timing: Law and History“.
ZEIT : RAUM │ 421
jene unteilbare Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft versteht.
Wenn wir uns diese Gegenwart als sein werdend denken, ist sie noch
nicht; und wenn wir sie als seiend denken, ist sie schon vergangen.“39 Die
Gegenwart als der einzige Bereich, in dem wir handeln, scheint sich demnach fortzustehlen, während die Vergangenheit und die Zukunft ganz klar
unterscheidbare ontologische Eigenschaften haben – die eine existiert noch
nicht, die andere hat aufgehört zu sein. Augustinus – mit dem gleichen
Problem beschäftigt – kehrte die Schlussfolgerung um und erzeugte damit
das, was wir das „gegenwärtige Jetzt“40 nennen können anstatt der verschwindenden Gegenwart:
„Als klares Ergebnis zeigt sich aber, daß Zukünftiges und Vergangenes nicht ist
und daß es nicht in strengem Sinne zutrifft, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft. In strengem Sinne müßte man wohl sagen: Es gibt drei
Zeiten, eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem
und eine Gegenwart von Zukünftigem. Diese drei sind nämlich in der Seele
wirklich vorhanden, während ich sie anderswo nicht sehen kann: gegenwärtige
Erinnerung an Vergangenes, gegenwärtiges Anschauen von Gegenwärtigem, gegenwärtige Erwartung von Zukünftigem.“41
Augustinus neigt eher dazu, Zeitlichkeit in menschlicher Erfahrung zu
begründen als durch ein äußeres Maß. Wir langen nach vorne, um die
Zukunft zu erfassen, während wir unsere Vergangenheit mit uns
herumtragen – und so machen wir uns beide Elemente gegenwärtig. Der
Begriff, den Augustinus für das Ausspannen des Geistes, um unsere
Erwartungen und unsere Erinnerungen zu umfassen, benutzt, lautet
distentio animi. Der Verstand erwartet, er ist aufmerksam, und er erinnert
sich.42 Unsere eigene Erfahrung wird uns sagen, dass dies keine
gleichförmige Zeitwahrnehmung ist, da es Gelegenheiten gibt, wo die Zeit
einem erwarteten Ereignis entgegenzukriechen, von einem anderen, an das
man sich gerne erinnert, fortzueilen scheint.43
Kein Moment ist dann vollständig in sich geschlossen, oder, wie wir
sehen werden: Gegenwart bedeutet dann genau nicht Präsenz. Augustinus
formuliert in seinem 14. Kapitel:
„Wenn also die Gegenwart nur dadurch Zeit ist, daß sie in die Vergangenheit
übergeht, wie können wir von ihr sagen, sie sei, wo doch der Grund ihres Seins
der ist, daß sie nicht sein wird? So können wir in Wahrheit von der Zeit nur
sagen, sie sei, weil sie zum Nichtsein übergeht.“44
39
40
41
42
43
44
Bergson: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, S. 164.
Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. III, S. 34.
Augustinus: Bekenntnisse, S. 320.
Vgl. Alliez: Capital Times, S. 131.
Vgl. Flaherty: The Watched Pot.
Augustinus: Bekenntnisse, S. 314.
422 │ MIKE CRANG
Oder, um die Bedeutung des Gesagten zu bestätigen: „Der schwache Einfluss der Gegenwart auf die Wirklichkeit […] ist ihrer selbst beraubt durch
die sie umgebende gierige Nichtexistenz von Zukunft und Vergangenheit.“45 Die Erkenntnis der ausgedehnten Gegenwart wurde in einer Reihe
von ontologischen Theorien der Zeit(lichkeit) ausgeführt. In Husserls Phänomenologie ist jeder Moment durch Protention und Retention gekennzeichnet, indem er die Spuren der Vergangenheit und die Samen der Zukunft mit sich führt.
Diese Betrachtungsweise erreicht vielleicht ihren Höhepunkt mit
Martin Heidegger, der das zeitliche Sein als Sache von drei ekstases oder
Modi von Zeit ansieht: (1.) ein Mitsein, d.h. Gleichzeitigkeit, (2.) das Sein
zum Tode, das die Gewalt des Zeitpfeils für alle Menschen anerkennt, und
(3.) die „Geworfenheit“, das heißt, dass wir uns in der Welt in Situationen
geworfen finden, die weder durch unser Zutun noch durch unsere Wahl
zustande gekommen sind. Es kommt hinzu, dass die Tiefe und Form dieser
Modi durch unsere Anteilnahme und Sorge, die wir der Welt entgegenbringen, gebildet werden – anders gesagt: Der Zeitrahmen, den wir von der
Vergangenheit in die Zukunft sich erstrecken lassen, variiert in Übereinstimmung mit der Art von Aufgaben, die wir übernehmen. Die grundlegende Erkenntnis, zu der Heidegger dann gelangt, besteht in der
Einsicht, dass das Leben und das Subjekt zeitlich sind. Wir entwickeln
nicht zunächst eine Vorstellung vom menschlichen Subjekt und fügen
diese dann in das Raster von Raum und Zeit ein; vielmehr wird das
Subjekt durch die Strukturen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit geformt.
Diese Idee einer dreigeteilten Zeit, in der die Gegenwart dermaßen
substanzlos ist und immer vorübergleitet, soll nun mit dem vorherrschenden System abstrakter Zeit kontrastiert werden, in welchem man die
Gegenwart als definierbaren Zeitpunkt betrachtet.
Zeit als Raum (Teil 1)
Sehr oft wird der Begriff der Zeit so entwickelt, als ob es sich dabei um
eine Abfolge von Salamischeiben oder Perlen auf einer Schnur handeln
würde: eine Serie von Momenten, die einander sequentiell folgen. Das
Bezugsmodell dafür ist zweifelsohne das des abstrakten Raums, dem wir
zu unseren räumlichen Koordinaten die zeitlichen in einer unendlichen und
leeren Serie hinzufügen (t1, t2, t3, … tn). Wie Hall konstatiert, entspricht
dies der anglo-europäischen Vorannahme, dass „Zeit ein leeres Behältnis
[sei], das darauf wartet gefüllt zu werden“46.
45 Lloyd: Being in Time, S. 22 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone
Loleit].
46 Hall: The Dance of Life, S. 84 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone
Loleit].
ZEIT : RAUM │ 423
Das vielleicht klassische Beispiel für diese Diskussion von Zeit und Raum
als äußere Behältnisse ist die Zeit-Geographie. In dieser wird die Zeit als
zusätzliche Achse den herkömmlichen Karten hinzugefügt, um einen
Handlungsraum zu erzeugen, ein Behältnis von Möglichkeiten. Es entsteht
so ein eindrucksvolles Muster von Aktivitäts-Prismen (der Spielraum für
Bewegung zwischen festen Punkten in der Raumzeit), in denen sich
Stränge bilden (welche anzeigen, wie die Aktivitäten verschiedener Leute
ausgerichtet sein können); in einer feinen und faszinierenden Choreographie werden so die Wege der Leute durch die Raumzeit dargestellt. Obgleich der große Pionier der Zeitgeographie, Torsten Hågerstrand, durchaus mit etwas Zeitphänomenologie sympathisierte, konstatierte er dennoch
entschlossen, äußere und objektive Zeit seien die Grunddimensionen. In
dieser Vision mag es vorkommen, dass Menschen sich schneller oder
langsamer bewegen, aber was sie teilten, sei ein Grundbestand an ZeitRaum-Dimensionen. Was dies jedoch zur Konsequenz habe, behauptet
Grosz:
„Noch heute setzt die Gleichsetzung zeitlicher Beziehungen mit dem Kontinuum
der Zahlen voraus, dass Zeit dem Raum gleichförmig ist, und dass Raum und
Zeit als Kontinuum, als einheitliche Totalität existieren. Zeit kann nur repräsentiert werden, wenn man sie dem Raum und den Modellen des Raums unterordnet.“47
Doch indem genau die Konzeptionen des abstrakten Raums zur Darstellung der Zeit verwendet werden, wird nichts anderes als eine Abfolge von
Momenten dargeboten. Weil die zeitgeographische Darstellung die Wege
und Bahnen von Akteuren abzubilden beansprucht, könnte man sagen,
dass diese einer kinematographischen Illusion der Zeit unterliegt. Schon
bei Henri Bergson, dem Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts, ist
begründet, warum dieser Zugriff genau den Eindruck des Fließens der Zeit
verfehlt, da sie
„die Wahrnehmung der wirklichen Bewegung begleitet und verdeckt […]; die
aufeinanderfolgenden Stellungen sind im Grunde nur imaginäre Haltepunkte.
Man substituiert für den Gang den Weg, und da der Weg dem Gange unterspannt
ist, glaubt man, daß er mit ihm zusammenfalle. Aber wie soll ein Prozeß mit
einem Ding zusammenfallen, eine Bewegung mit einer Unbeweglichkeit?“48
Mit anderen Worten: Wir verlieren genau den Begriff von Erwartung und
Retention, bzw. den des Seins-in-die-Zukunft und der Geworfenheit. Oder,
um eine Idee von Gilles Deleuze aufzugreifen: Zeit und Raum sind quali47 Grosz: Space, Time and Perversion, S. 95 [in der Übers. v. Holger
Steinmann u. Simone Loleit].
48 Bergson: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, S. 196f.
424 │ MIKE CRANG
tativ und ontologisch verschieden, so dass, wenn man das eine benutzt, um
das andere zu beschreiben, nur ein zusammengewürfelter Begriff herauskommt, der inhärent chaotisch ist, denn:
„[D]ie Bewegung [geht] mit dem Raum, den sie durchläuft, keine Verbindung
ein. Der durchlaufene Raum ist vergangen, die Bewegung ist gegenwärtig, sie ist
der Akt des Durchlaufens. Der durchlaufene Raum ist teilbar, sogar unendlich
teilbar, wohingegen die Bewegung unteilbar ist oder sich nicht teilen läßt, ohne
sich bei der Teilung in ihrer Beschaffenheit zu verändern. Was bereits eine komplexere Idee voraussetzt: die durchlaufenen Räume gehören alle zu dem einen
homogenen Raum, während die Bewegungen heterogen sind und nicht aufeinander zurückgeführt werden können.“49
Bis hierhin bin ich mit dieser Analyse einverstanden. Zeit ist nicht reduzierbar auf diesen Raumbegriff. Vielmehr sind es Bewegungen, die die
Zeit als zitternde Differenz und den Raum als Wiederholung definieren,
indem die Zeit als Fluss – oder nach Bergson als durée – dem Raum als
Koordinatensystem entgegengesetzt wird. Dies ist eine bedeutende Kritik
einer beherrschenden Form von „universaler Zeit, [die] nicht mehr als eine
hypothetische Projektion zu sein scheint, eine Zeit von generalisierter
Gleichwertigkeit, einer ‚verflachten‘ kapitalistischen Zeit“50. Der wesentliche Punkt dieser Kritik ist eine Einschätzung der Zeit als etwas, das mit
Phasenverschiebungen zu tun hat, also mehr Verschiebungen der Art und
Weise als Bewegungen innerhalb einer zeitlichen Lokalisierung meint. Der
Begriff der Zeit, der lediglich von einer Serie von Momenten und Punkten
ausgeht, verleugnet diesen Eindruck qualitativer Differenz – und erzeugt
somit das, was Castoriadis die identitätslogische Zeit nennt, in der alle
Momente ontologisch identisch sind:
„In der identitätslogischen Zeit ist das identitätslogische Jetzt enthalten, während
umgekehrt die identitätslogische Zeit nur die Wiederholung unzähliger (aber
abzählbarer) identitätslogischer Augenblicke ist, die als solche stets identisch
und nur durch ihre ‚Stelle‘ voneinander verschieden sind.“51
Dies bereitet den Grund für das, was er „öffentliche Zeit“ nennt. Dieser
Begriff der Zeit ließe sich hier als Chrono-Zeit benennen, um die Prozession leerer Abfolgen zu bezeichnen. Weit davon entfernt, die wirkliche
Zeit oder objektive Zeit zu sein, sind – wenn Vergangenheit und Zukunft
einander implizieren – Momente keine diskreten Objekte, sondern haben
eine zeitliche Entfaltung. Dies ist eine nachträgliche Darstellung von
49 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 13.
50 Guattari: Chaosmosis, S. 15 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone
Loleit].
51 Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 341.
ZEIT : RAUM │ 425
Dauer.52 Unsere Geschichten sind kein fiktionales Trudeln im verfestigten
Gelände der Zeit. Es ist „die Wirklichkeit unserer zeitlichen Erfahrung
[...], dass sie organisiert und strukturiert ist; es ist die ‚reine Abfolge‘, die
sich als fiktiv erwiesen hat“53.
Wenn wir der Idee der Phasenverschiebung zwischen Vergangenheit,
Zukunft und Gegenwart als einer intensiven, nicht extensiven, Grenze
folgen, können wir sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft,
obgleich unzugänglich, als wirklich auffassen; diese Wirklichkeit ist
freilich mehr eine virtuelle als eine tatsächliche. Hiermit verfügen wir über
ein komplexeres Muster von Gegensätzen – das Virtuelle (das, was sein
kann) ist der Gegenbegriff zum Tatsächlichen (das, was ist), aber beide
sind ontologisch wirklich. Diese Verschiebung im Verständnis deutet
darauf hin, dass der Raum Elemente bewahrt, während die Zeit sie
verschlingt:
„Denn Dauer ist ununterbrochenes Fortschreiten der Vergangenheit, die an der
Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt. Wächst aber die Vergangenheit
unablässig, dann ist auch ihr Leben unbegrenzt. Gedächtnis […] ist nicht ein
Vermögen zur Klassifizierung von Erinnerungen in Fächern oder Eintragungen
in Listen. […] In ihrer Ganzheit sicherlich folgt sie [die Vergangenheit] uns
jeden Augenblick nach […]; hingesenkt zur Gegenwart, die ihm zuwächst,
angestemmt gegen das Tor des Bewußtseins, das es aussperren möchte.“54
Abb. 2: Die Fläche der Gegenwart und die Ausdehnung der Vergangenheit55
A
B
A’
B’
A’’
B’’
P
S
52 Vgl. Lloyd: Being in Time, S. 98.
53 Carr: Time, Narrative and History, S. 25 [in der Übers. v. Holger Steinmann
u. Simone Loleit].
54 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 11.
55 Nach Bergson: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, S. 162.
426 │ MIKE CRANG
Bergson erklärt hier, dass jeder Moment der Gegenwart eine immense
virtuelle Ordnung (vgl. Abb. 2) von Erinnerungen mit sich führt, die sich
aus unserer gegenwärtigen Handlung heraus erstrecken und durch unsere
Orientierung in der Welt hervorgerufen werden. Je nachdem, worauf wir
fokussiert sind, tritt ein unterschiedlicher Umfang dieser Erinnerungen
zutage. Gleichwohl durchdringen sie jeden einzelnen Moment. Bergson
argumentiert für die Wirklichkeit und Beständigkeit der Vergangenheit,
ohne ihr zuzusprechen, dass sie etwas Ähnliches wie der Raum sei.
Vergangenheit und Zukunft koexistieren in einer virtuellen Ordnung:
„Wenn wir so große Schwierigkeiten haben, uns ein Überleben des Vergangenen
in sich selbst vorzustellen, dann weil wir davon ausgehen, das Vergangene sei
nicht mehr, es hätte zu sein aufgehört. Wir verwechseln also das Sein mit dem
Gegenwärtig-Sein. Aber das Gegenwärtige ist nicht, es ist vielmehr reines Werden, das immer außer sich ist. Es ist nicht, sondern agiert. Sein eigentümliches
Element ist nicht das Sein, sondern das Aktive oder das Nützliche. Das Vergangene hingegen, so könnte man sich ausdrücken, hat zu agieren aufgehört und das
Nützlich-Sein verlassen. Aber es hat nicht aufgehört zu sein. Ohne Nutzen, inaktiv und ungerührt ist es in einem emphatischen Sinne des Wortes: Es fließt
ununterscheidbar mit dem Sein in sich zusammen.“56
Ganz umgekehrt zu sonstigen Vorstellungen von Zeit zieht sie sich nicht
zurück, sondern „begibt sich buchstäblich auf den Weg zur Gegenwart
hin“57 und übt Druck aus, hereingelassen zu werden.
Dies scheint ein wichtiger Schritt nach vorne zu sein, obwohl Bergsons
durée, die wohlgemerkt keine lineare Abfolge ist, immer noch den Eindruck einer sanft dahin fließenden Zeit vermittelt. Demgegenüber müssen
wir, wie Heidegger, den Begriff der auf die Welt gerichteten Aufmerksamkeit betonen, der das Erinnern der Erinnerungen wie auch die Erzeugung
möglicher Zukünfte arrangiert. Dieser Begriff der Zeit kann vielleicht am
besten als Gelegenheit zusammengefasst werden. Damit ist nicht nur eine
Handlung, sondern das Handeln zur rechten Zeit gemeint. Um diesem
Begriff einen Namen zu geben, können wir „das griechische kairos [benutzen]: worunter wir die zeitlichen Gelegenheiten des täglichen Lebens
begreifen können“58. Dies ist der Begriff der Einzigartigkeit jedes einzelnen Augenblicks, seiner besonderen und unwiederbringlichen Natur. Um
eine Analogie zu gebrauchen: „Wenn die chronologische Zeit wie eine
weltweite Vorstadt anmutet, dann ist die kairologische Zeit der genius loci,
der spezifische, besondere Geist dieses gewissen Augenblicks.“59
56 Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, S. 73f.; Hervorhebungen im Original.
57 Ebd., S. 92.
58 Maffesoli: „Presentism – or the Value of the Cycle“, S. 110 [in der Übers. v.
Holger Steinmann u. Simone Loleit].
59 Griffiths: Slow Motion, S. 31.
ZEIT : RAUM │ 427
Abb. 3: Ein Schema von Raum-Zeit-Typen
Zeit
Raum
Chronos
Kairos
Chora
Topos
Man könnte sich nun überlegen, ob es nicht nur einen genius loci für den
Ort, sondern auch einen genius tempori gibt. Diese zwei Arten von Zeit
gälte es zu durchdenken: die chronologische und die kairologische sowie
ihre Interaktion mit dem Raum als chora und topos (vgl. Abb. 3). Die Modelle des Zeit-Raums in der Zeitgeographie neigen dazu, chrono-choraisch
zu sein – das, was Deleuze als den „l’instant quelconque“60 benennt. Es
sind Modelle abstrakt-identischer Raum-Zeit-Einheiten. Zudem können
wir bergsonianische Einflüsse erkennen, wenn es um die Formulierung
einer kairo-choraischen Beziehung geht. Weniger häufig werden chronotopische und kairo-topische Begriffe der Raumzeit diskutiert.61 Ihnen
beiden soll im Folgenden das Interesse gelten.
Diese beiden zu unterscheidenden Begriffe der Zeit haben in den Künsten eine dialektische Beziehung zueinander. Im Jahr 1913 wurden vom
Eiffelturm die Stundensignale gesendet, die den französischen Lokalzeiten
ein Ende setzten; im gleichen Jahr erschien Prousts À la recherche du
temps perdu: „Und die Zeit, die einerseits noch nie so öffentlich, so
monolithisch gewesen war, war andererseits noch nie so privat, so einmalig, so ortsgebunden bis zur eigenen seelischen Ortszeit wie bei Proust“,
wo es „Madeleines und murmelnde Erinnerungen aus den Untiefen des
Bewußtseins“ gab.62 Weit von jeglicher Linearität entfernt, werden hier im
Roman die Sorge und Aufmerksamkeit des Bewusstseins reflektiert, wenn
einem Tag 287 Seiten gewidmet sind, wohingegen ein ganzes Jahr noch
nicht einmal Erwähnung verdient. Dies geht soweit, dass Proust seinen
gigantischen Bericht mit der Bemerkung schließt, dass die Menschheit nur
durch die Zeit ihren Platz besetzt: „Immerhin würde ich es zuallererst nicht
unterlassen, wenn die Kraft mir lange genug erhalten bliebe, um mein
Werk zu vollenden, darin die Menschen, auf die Gefahr hin, dass sie dann
60 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 19. [Anm. d. Übers.: Die deutsche
Übersetzung von Deleuze spricht bei „l’instant quelconques“ immer vom
„beliebigen Moment“: „Der beliebige Moment, das ist der Moment in gleicher Entfernung von einem anderen. Wir definieren also den Film als ein
System, das die Bewegung reproduziert, indem es sie auf den beliebigen
Moment bezieht.“]
61 Vgl. Rämö: „An Aristotelian Human Time-Space Manifold“.
62 Griffiths: Slow Motion, S. 28.
428 │ MIKE CRANG
monströsen Wesen glichen, als Figuren darzustellen, die neben dem so
beschränkten Platz, der ihnen im Raum reserviert ist, einen anderen, so
beträchtlichen, im Gegensatz zum ersten maßlos in die Länge gezogenen
Platz einnehmen, da sie ja, wie in die Tiefe der Jahre getauchte Riesen,
gleichzeitig so weit voneinander entfernte Epochen berühren, die sie
durchlebt haben und zwischen die sich so viele Tage geschoben haben –
einen Platz in der Zeit.“63 Dieser Begriff der Aufschwellung und Verbindung bedeutet auch, dass Proust es abstreiten musste, die literarische
Version von Bergsons Theorie, einen „romans bergsonien“64, verfasst zu
haben. Er setzt einen anderen Akzent als den auf Fluss und Erzählung, die
das Subjekt erweitern und vereinheitlichen. „Prousts ganzes Konzept des
Gedächtnisses war auf der Annahme gegründet, dass unser Selbst nicht
kontinuierlich, sondern völlig diskontinuierlich ist.“65 Wo die phänomenologischen Untersuchungen auf zwei gleiche Ströme von Zeit und Bewusstsein in vollkommener Parallelität verweisen, haben wir hier die das
Subjekt unterbrechende Zeit, in der „Ereignisse immer zu früh eintreten,
das Verständnis immer zu spät kommt.“66 Anstelle eines einfachen, weiter
und weiter expandierenden Erinnerungskegels gilt für Proust Folgendes:
„Die Ewigkeit, in welche Proust Aspekte eröffnet, ist die verschränkte,
nicht die grenzenlose Zeit. Sein wahrer Anteil gilt dem Zeitverlauf in
seiner realsten, das ist aber verschränkten Gestalt […].“67 Georges Poulet
schreibt: „Während Bergson die Verwandlung der Zeit in Raum aufdeckt
und verwirft, findet sich Proust damit nicht nur ab, sondern richtet sich in
ihr ein, treibt sie bis zum Äußersten und macht sie schließlich zu einem
der Prinzipien seiner Kunst.“68
Bei Proust ist der Raum in einer ganz anderen Weise gestaltet, indem
er einen Archipel von Ereignissen bindet und enthält, oder, wie Poulet sich
ausdrückt, indem er ein zerstreutes Arrangement von „Glas in einer
Vitrine“69 bildet, das vom Entzug des Lebens zurückgelassen wurde. Der
Raum ist weit davon entfernt, homogen oder träge zu sein.
Zeit als Raum (Teil 2)
Über Zeit lässt sich auch nachdenken, indem wir noch ganz andere Raumvorstellungen hinzuziehen. Was passiert, wenn Raum als topos gedacht
und dies als Modell auf die Zeit appliziert wird? Diesem Ansatz liegt
63
64
65
66
67
68
69
Proust: Die wiedergefundene Zeit, S. 527f.
Gross: „Bergson, Proust and the Revaluation of Memory“, S. 376.
Ebd., S. 378 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
Bielik-Robson: „Bad Timing“, S. 72.
Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, S. 320.
Poulet: Marcel Proust, S. 7f.
Ebd., S. 98.
ZEIT : RAUM │ 429
Barbara Adams Konzept von „Timescape“70 zugrunde. Dieser Begriff
nutzt bewusst die Vorstellung einer zeitlichen Landschaft, um darlegen zu
können, wie Ereignisse und Handlungen in der Zeit verortet sind. Die
Verwendung des Landschaftsbegriffs erlaubt Adam, die vielfältigen
Dimensionen von Zeit und die Art, wie sie im Zusammenspiel spezifische
Konstellationen ausbilden, zum Ausdruck zu bringen. Sie entwirft fünf
Zeitdimensionen (vgl. Abb. 4). Da ist erstens Zeitlichkeit als Dauer oder
Kürze, oder anders gesagt: wie lange ein bestimmtes Ereignis oder eine
Handlung dauert. Die zweite ist der Zeitrahmen, der danach fragt, wie
Handlungen aufeinander bezogen sind: ob sie gleichzeitig geschehen oder
nacheinander. Die dritte ist der Zeitpunkt, womit Adam auf die Häufigkeit
und Abfolge der Handlung selbst hinweist: Ist diese dazu gedacht, sich zu
wiederholen, zyklisch zu sein, und wenn ja, wie häufig? Die vierte ist das
Tempo, welche Auswirkungen und Verbindungen behandelt und dabei die
sich im Laufe der Zeit entwickelnden Kausalitäten und Konsequenzen
einbezieht. Die fünfte Dimension ist das Timing, die – wie die kairologische Zeit – die Fähigkeit von Menschen bezeichnet, Gelegenheiten
wahrzunehmen oder aber zu verpassen oder sie als ausgeschlossen zu
erkennen.
Abb. 4: Timescape-Elemente71
Timescape = Zeit, Raum und Materie
Zeitlichkeit
Vergangenheit
Dauer ↔ Unmittelbarkeit
Zeitrahmen
Gegenwart
Abfolge ↔ Gleichzeitigkeit
Zeitpunkt
Zukunft
Wiederholung ↔ Rhythmus ↔ Takt
Tempo
Ursache ↔ Wirkung ↔ Verzögerung
Timing
Grund ↔ Handlung ↔ Symptom
Die vielgestaltigen Aspekte jedes bestimmten Ereignisses erstrecken sich
also jenseits des einfachen Schemas von Zukunft-Gegenwart-Vergangenheit. Adam betont beispielsweise die Dimension der Synchronisierung von
Handlung – wobei sich alles in der richtigen Abfolge und miteinander
Schritt haltend abspielen muss – als eine andere Verstehensweise der zahlreichen Verkettungen von Ereignissen in der Zeit, die man weniger als
Folge oder linearen Verlauf begreifen sollte. Adam bemerkt, dass trotz der
70 Adam: Time and Social Theory; dies.: Das Diktat der Uhr.
71 Nach Adam: „Management in the Context of Globalized Time: Problems
and Creative Opportunities“.
430 │ MIKE CRANG
Vorherrschaft der abstrakten Uhrzeit diese anderen Wahrnehmungen von
Zeitlichkeit weiter bestehen, so dass beispielsweise „verkörperte Zeit neben, trotz und in Auseinandersetzung mit den kulturell gesetzten Zeitverhältnissen gelebt und erfahren wird“72. Sie behauptet, dass wir historische
Gesetzmäßigkeiten der fünf C’s erkennen können.
Die Gestaltung [creation] von Zeit nach menschlichem Entwurf (C1),
durch Techniken wie Uhren und Tagebücher, aber auch durch Romane
und Erzählungen; dann die Umwandlung [commodification] von Zeit
(C2), mit der sie zum Maß von Produktivität und Entlohnung wird; die
Zusammendrängung [compression] von Zeit (C3), weil wir zunehmend
Realzeit-Netzwerke betrachten, in denen Wirkungen in weiter Entfernung
(fast) gleichzeitig eintreten; daher rühren die Kontrolle [control] von Zeit
(C4) und schließlich die Kolonisierung [colonization] der Zeit (C5), beides
im Sinne einer Verstärkung von Routinen bis hin zu einer 24/7Gesellschaft73, aber auch unserer Fähigkeit, auf Kredit der Zukunft zu
leben. Die Verwendung von Timescape erlaubt uns zu registrieren, dass all
diese Elemente in wechselnden Mustern, mit Parteiungen und Konflikten
zwischen verschiedenen Elementen, vorliegen. Es ist eben zu oberflächlich, von der Vorherrschaft des Raums über die Zeit zu sprechen, wenn es
in der Tat viel komplexere Muster verschiedener Interaktionsformen von
Raum und Zeit gibt.
„Ursache und Wirkung, Linearität, Räumlichkeit, Unveränderlichkeit, Dauerhaftigkeit, Klarheit und Genauigkeit werden nicht ersetzt, sondern existieren neben
und überlagert von konträren zeitlichen Prinzipien, und zwar von solchen wie
Momenthaftigkeit, Gleichzeitigkeit, vernetzten Verbindungen, Vergänglichkeit,
Flüchtigkeit, Unbeständigkeit ebenso wie von zeitlicher Vielfalt und Komplexität. Zu Tage tretende alternative und widersprüchliche zeitliche Prinzipien
machen heute für eine bedeutende Anzahl von Menschen rund um den Globus
ihre gelebte Wirklichkeit aus.“74
Wir könnten hier auch an den Kairotopos denken oder an das, was leicht
verwirrend für die von mir verwendete Terminologie, Mikhail Bakhtin als
Chronotopos bezeichnet hat.75 Damit gemeint ist die Übereinstimmung
eines bestimmten Zeitgefühls mit einer bestimmten Art von Raum. Auf
72 Adam: „Reflexive Modernization Temporalized“, S. 61 [in der Übers. v.
Holger Steinmann u. Simone Loleit].
73 [Anm. d. Übers.: „24/7“ ist das angelsächsische Kürzel für die Vorstellung
einer „Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft“, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage
die Woche aktiv zu sein beansprucht. Befürworter dieses Lebensstils fordern
ununterbrochenen Zugang zu Dienstleistungen aller Art.]
74 Adam: „Reflexive Modernization Temporalized“, S. 74 [in der Übers. v.
Holger Steinmann u. Simone Loleit].
75 Vgl. Holquist: Dialogism; Holloway/Kneale: „Mikhail Bakhtin: Dialogics of
Space“.
ZEIT : RAUM │ 431
einen Schriftsteller muss an dieser Stelle eingegangen werden, der mit der
Beziehung von Raum und Zeit und ihrer Darstellung spielte: James Joyce
in seinem Roman Ulysses.
Dieser Text bleibt eines der großen Werke der Moderne und des
stream of consciousness-Stils. Scheinbar die Geschichte der Wanderungen
eines Annoncenakquisiteurs an einem einzigen Tag – so geschrieben, als
würde jeder Gedanke, jede Handlung und ihre Verbindungen untereinander verzeichnet – spielt der Text mit den Konventionen von Zeit, Raum
und Sprache. Es war ein schockierendes neues Werk, nicht allein wegen
der skatologischen und sexuellen Anspielungen, sondern wegen seiner
sprachlichen Neuerungen – angeblich enthält es den längsten interpunktionslosen Satz der englischen Literatur – während es zudem mit den Vorstellungen der Entwicklung von Handlung und Zeit spielt. Das Werk wird
strukturiert durch die Begegnungen Leopold Blooms im Laufe eines Tages
– vom Aufwachen bis zur späten und ziemlich trunkenen Schläfrigkeit.
Diese offen gestanden banalen Wanderungen sind in Abschnitte und
Kapitel unterteilt, die an Homers Odyssee angelehnt sind. Es werden
deutlich eine ganze Reihe von Parallelen gezogen, und für unsere Zwecke
können wir uns auf einzelne, von Umberto Eco hervorgehobene Aspekte
konzentrieren – wobei er die Meinung vertritt, Joyce präsentiere eine
„chaosmography“76. Eco betont das Paradoxon von Ordnung und Chaos
und erläutert, dass die geordnete Kosmologie der Odyssee bewusst gegen
den chaotischen Strom der modernen Großstadt gesetzt wird. Demgemäß
zeigt das Buch durch eine Reihe von Inversionen und Paradoxien sowohl
Kontinuitäten wie Brüche auf. Der Text verweist sehr offensichtlich auf
eine mythische Zeit, setzt aber dann den heldenhaften Odysseus – einen
der ersten human narrative heroes, der darum kämpft, sein eigenes
Schicksal zu formen – der ins Komische abdriftenden Figur Blooms
entgegen, die sich abmüht, sich in der modernen Gesellschaft über Wasser
zu halten. Es ist niemals vollständig klar, „ob diese parallele [Homerische]
Handlung eine ironische, spöttische Erinnerung an die heroische
vergangene Welt ist, welche die Leere des modernen Lebens unterstreicht,
oder ob sie eine Quelle der Bereicherung, ein Versprechen von künftiger
Ganzheit und Versöhnung bereithält“ und wie wir diese Spannung „von
unwiederbringlicher Vergangenheit und paralysierter Gegenwart“ lösen.77
Die erste dargestellte Zeitlichkeit ist demnach die des Unbewegten und
des Ewigen, das zeitgenössische Erzählungen umschließt und verschlingt.
Die Zeit der ursprünglichen Odyssee ist gleichwohl die einer Lebensreise,
die darin besteht, die Heimat zu verlassen und sich durch Mühen und Reisen in einer über 20 Jahre ausgedehnten Raumgeschichte zu behaupten.
76 Eco: The Middle Ages of James Joyce.
77 Rickard: Joyce’s Book of Memory, S. 14, 82 [in der Übers. v. Holger
Steinmann u. Simone Loleit].
432 │ MIKE CRANG
Bloom in Ulysses nimmt Abschied von zu Hause – wenngleich an dieser
Stelle auf die drei verlorenen trojanischen Geschichten angespielt wird –,
und weit entfernt von der Beständigkeit verkörpernden Ehefrau, die das
männliche Heim bewahrt, schildert der Roman, wie dem Helden vor allem
Unbeständigkeit und Unsicherheit widerfährt. Der Text verdichtet auch
alle Wanderungen und die magischen, weit entlegenen Schauplätze zu
einem einzigen Tag in der Großstadt, was einer wirklichen Zeit-RaumVerdichtung [time-space compression] entspricht. Er kennzeichnet diesen
hyper-intensiven Tag durch eine Flut intertextueller Verweise, denen
Bloom begegnet – durch Nachrichtenplakate und Zeitungen, die die Welt
zu ihm bringen. Die Wirkung ist chaotisch, nicht nur durch das Hineindrängen räumlich entfernter Ereignisse in die Stadt, sondern auch durch
die Auflösung der Idee vom Entwurf eines erzählten Lebens – eines einheitlichen Selbst, das aus Vergangenheit und Zukunft besteht. Das Buch
scheint so eher Zeit in Gleichzeitigkeiten zerfallen zu lassen als eine zeitliche Entwicklung darzustellen.78 Der einzelne Tag könnte jeder Tag in einem Zyklus von Wiederholungen sein, er ist unveränderlich und einmalig.
Es gibt keine Lösung, und Joyce lässt uns mit einem unvollendeten, nicht
zu einem erzählerischen Ganzen gefügten Ereignis zurück.79 Daraus ergibt
sich einerseits Zersplitterung und andererseits doch ein überspannendes
Verweisungsgerüst. Die intertextuellen Einflüsse gehen über den Homerischen Hintergrund hinaus, da Joyce’ Kompositionsmethode ein endloses
Durchforsten von Zeitungsberichten und -schnipseln über Stadt und
Gesellschaft einbegreift und der endgültige Text nahezu eine Collage aus
nicht nachgewiesenen Zitaten und Quellen ist. Die Wirkung ist Dezentrierung des Subjekts wie der Gegenwart, die dann nicht als ein für sich
gegenwärtiger Moment gesehen wird, sondern als etwas, das unaufhörlich
das Gepäck der Geschichte zu schultern hat – wenn etwa Joyce den angloirischen Konflikt in den Worten des Engländers Haines resümieren lässt:
„Die Geschichte ist schuld daran, scheint es.“80 Das legt hinsichtlich der
Bedeutung des Ricœurschen „gegenwärtigen Jetzt“ nahe, es handele sich
dabei nicht um private Geschichte, sondern um einen Dialog mit der Welt,
der widerspiegelt,
„daß jeder, der hereinkommt, sich einbildet, er sei der erste, der hereinkommt,
während er doch immer der letzte einer vorangegangenen Reihe ist, selbst wenn
er der erste einer nachfolgenden ist, insofern als sich jeder einbildet, der erste,
letzte, einzige und alleinige zu sein, während er doch weder der erste noch der
letzte noch der einzige und alleinige ist in einer Reihe, die im Unendlichen beginnt und ins Unendliche sich fortsetzt.“81
78
79
80
81
Vgl. Tschumi: „Diasync“, S. 170.
Vgl. Schleiffer: Modernism and Time, S. 78.
Joyce: Ulysses, S. 31.
Ebd., S. 930.
ZEIT : RAUM │ 433
Das fragmentierte Selbst wird durch einen städtischen Raum ausgedrückt,
in dem Stephen Daedalus und Leopold Bloom „nicht, wie Prousts Marcel,
auf der Suche nach verlorener Zeit umhergehen: Die Erinnerung ist
deckungsgleich mit ihren Wahrnehmungen und manifestiert sich selbst in
tausend schwer erfassbaren Formen.“82 Die Stadt trägt die proleptische
Kraft der Erinnerung (in sich) genau wie jeder Akteur, und sie schiebt
unfreiwillige Erinnerungen dazwischen. Somit zieht das Individuum nicht
seine Bahn entlang der Zeit, vielmehr macht die Stadt Einwürfe und unterbricht die Trajektorie. Hier „fungiert Raum in der Fiktion durch und als
Zeitlichkeit, als ein erzählerisches Ereignis bzw. Ereignisse“83, wo er ein
Netzwerk von Beziehungen darstellt, seien diese offen dargelegt oder
nicht. Raymond Williams drückt es so aus: „Die Handlungskräfte wurden
internalisiert, es existiert gewissermaßen keine Stadt mehr, es gibt nur
einen Mann“, der nicht durch die Geschichte der Stadt, „sondern durch den
Verlust von Stadt“ wandert.84 Die Vergangenheit bahnt sich ihren Weg in
die Zeiten der Protagonisten nicht im Sinne von Bergsons Aufmerksamkeitsstrukturen oder Heideggers Sorge, sondern durch die Räume und Einrichtung der Stadt. Die minuziöse Rekonstruktion der Stadt im Text dient
dabei nicht einer totalisierenden Aussicht auf die urbane Szene. Obwohl
also Joyce an seinen Literaturagenten Frank Budgen schreibt, dass „ich ein
so vollständiges Bild von Dublin vermitteln will, dass die Stadt, würde sie
eines Tages plötzlich vom Erdboden verschwinden, anhand meines Buches
wiedererrichtet werden könnte“85, präsentiert er eine in Fragmenten
hervortretende und weder nach historischer noch räumlicher Ordnung
vorgestellte Stadt:
„Andere Romanciers […] eignen sich viel besser dafür, die Stadt in rekonstruierbarer Form darzustellen. Joyce liefert keine Informationen zur Architektur,
sondern nur Orte, an denen man sich die Ellbogen stoßen oder auf die man sich
lehnen kann, die man aus dem Augenwinkel betrachten kann, die man an ihrem
vertrauten Geruch erkennt. Die Stadt schimmert in Augenblicken auf, nicht in
Massen.“86
82 Shiv Kumar, zitiert nach Rickard: Joyce’s Book of Memory, S. 129 [in der
Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
83 Johnson: „Literary Geography“, S. 199 [in der Übers. v. Holger Steinmann
u. Simone Loleit].
84 Raymond Williams, zitiert nach ebd., S. 200 [Originalstelle: „The forces of
the action have become internal and in a way there is no longer a city, there
is only a man walking through it. [...] The history is not in this city but in the
loss of a city [...]“; in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
85 Johnson: „Literary Geography“, S. 199 [in der Übers. v. Holger Steinmann
u. Simone Loleit].
86 Richard Ellmann, zitiert nach Rickard: Joyce’s Book of Memory, S. 142 [in
der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
434 │ MIKE CRANG
Dieser urbane Schauplatz funktioniert also dadurch, dass eine Vielfalt von
Räumen und Zeiten zueinander in eine paradoxe Beziehung gebracht
werden.
Abschließende Bemerkungen
Das Verhältnis von Zeit und Raum wird durch eine Reihe von Faktoren
verkompliziert. Erstens hat genau die allgemein unterstellte Faktizität der
beiden häufig bedeutet, dass sie nicht untersucht wurden. Das zweite
Problem liegt darin, dass sie gleichwohl oft in Form binärer Entgegensetzungen voneinander abgeleitet wurden. Drittens habe ich zu zeigen
versucht, dass diese Oppositionspaare in der Entgegensetzung einer
bestimmten Zeit- und einer bestimmten Raumkategorie bestehen. Ein
erster Schritt, um die Binäropposition aufzubrechen, besteht demnach in
der Erkenntnis der Formvielfalt von sowohl Raum als auch Zeit. Ich habe
anhand der letzten beiden Beispiele nahezulegen versucht, wie einige
wenig gebräuchliche Kombinationen von Raum- und Zeitvorstellungen
ungewöhnliche Einsichten hervorrufen können. An späterer Stelle in seiner
berühmten und vielzitierten Passage über die Epoche des Raums sagt
Foucault auch: „Der Raum selber hat in der abendländischen Erfahrung
eine Geschichte, und es ist unmöglich, diese schicksalhafte Kreuzung der
Zeit mit dem Raum zu verkennen.“87
Diese letzten beiden Beispiele machen deutlich, was Heidegger folgendermaßen ausgedrückt hat: „Zeit ist kein Ding“88. Es geht nicht einfach um
Ausmaß oder Dauer der sich innerhalb von Zeit abspielenden Ereignisse,
sondern um das Umreißen des zeitlichen Rahmens, in dem diese sich
abspielen. Außerdem kann unser Verständnis von Zeit nicht außerhalb von
Zeit und Raum stehen. Wie Derrida andeutet, „ist es in gewissem Sinne
immer zu spät, um über Zeit zu sprechen“89, weil wir und unsere Ideen
immer in ihrem Fluss sind. Wir könnten uns Jamesons Vermutung
anschließen, dass wir vielleicht immer am falschen Ort sind, um von Raum
zu sprechen. Was in vielen Theorien zu passieren scheint, ist, dass eine
Theorie des Raums oder der Zeit konstant aufrechterhalten wird, woraus
dann eher verzerrte Wahrnehmungen von Zeit-Raum entstehen. Wenn also
Zeit als Differenz begriffen wird, dann zumeist auf der Folie des als Wiederholung des Gleichen gedachten Raums. Wenn der Raum als Bewahrer
vergangener Handlungen erscheint, dann ist Zeit zerstörerisch.
Mein Beitrag hatte vier Ziele: Grundsätzlich sollte (1.) dargestellt werden, dass der Begriff – und möglicherweise auch die Substanz – von Zeit
87 Foucault: „Andere Räume“, S. 34.
88 Heidegger: „Zeit und Sein“, S. 3. Vgl. auch Schleiffer: Modernism and Time.
89 Jacques Derrida, zitiert nach Jameson: „The End of Temporality“, S. 697 [in
der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].
ZEIT : RAUM │ 435
wie Raum vielfältig sind. (2.) tendieren in Folge dessen alle Entgegensetzungen dazu, die Charakteristika einer bestimmten Definition von Zeit
oder Raum zu verwenden, gegen die dann der je andere Begriff abgrenzend in Stellung gebracht wird. Das hat zur Folge dass jede Definition von
Raum oder Zeit hoffnungslos überdeterminiert ist. (3.) sind die beiden
Begriffe überhaupt nicht sinnvoll zu trennen, da sich Handlung immer in
Zeit-Räumen ereignet. Und schließlich (4.) geht es in Anbetracht dieser
Untrennbarkeit nicht nur darum, zwei begrifflich geschiedene Teile aneinanderzupflocken. Vielmehr gehört ihre Untrennbarkeit zur Begrifflichkeit
selbst. Vielleicht ist bereits die Unterscheidung in nur zwei Begriffe
verunklarend.
Ich habe zu veranschaulichen versucht, wie die Geographie Zeit und
Raum über die heuristischen Raster chronos/kairos und chora/topos, unter
besonderer Betonung des Chrono-Choraischen, in Beziehung gesetzt hat.
Es ist klar, dass einfache Entgegensetzungen von Zeit und Raum nicht
tragfähig sind, sondern vielmehr weitere Unterteilungen entfalten und hervorbringen. Bei einer erneuten Beschäftigung mit Raum und Ort können
wir Zeitlichkeit meiner Einschätzung nach nicht einfach mehr ignorieren
oder später hinzufügen. Insbesondere Geographen müssen verschiedenartige Zeit-Räume gewärtigen und welchen Einfluss diese auf ihre Arbeit
haben.
Aus dem Englischen übersetzt von Holger Steinmann und Simone Loleit
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