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Tragischer Liberalismus

2024, Campus

Leonie Hunter Tragischer Liberalismus Tragischer Liberalismus Leonie Hunter vertritt die Professur für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main. Sie war Postdoc Fellow am Istituto Svizzero in Rom und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig. Leonie Hunter Tragischer Liberalismus Campus Verlag Frankfurt/New York Die Open-Access-Version dieser Publikation wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Siegelziffer D.30 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Der Text dieser Publikation wird unter der Lizenz »Creative Commons Namensnennung 4.0 International« (CC BY 4.0) veröffentlicht. Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de Verwertung, die den Rahmen der CC BY 4.0 Lizenz überschreitet, ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Quellenangabe/Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. ISBN 978-3-593-51787-2 Print ISBN 978-3-593-45531-0 E-Book (PDF) DOI 10.12907/978-3-593-45531-0 Copyright © 2024 Leonie Hunter. Publikation: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Umschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH Satz: le-tex xerif Gesetzt aus der Alegreya Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Beltz Grafische Betriebe ist ein klimaneutrales Unternehmen (ID 15985–2104-1001). Printed in Germany www.campus.de Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Hegels politische Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Marx’ Aktualisierung der politischen Gattungslehre . . . . . . . . . . 14 1.3 Die Poetik der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.4 Die Tragödie des revolutionären Selbstmissverständnisses . . . . 23 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus . . . . 27 2.1 Hegels Bestimmung der tragischen Handlungsordnung . . . . . . 28 2.2 Die liberale Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.3 Hegels Kritik der bürgerlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.4 Die zwei Ebenen bürgerlicher Selbstregierung . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.5 Die tragische Revolutionsvergessenheit des politischen Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Die Farce der politischen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1 Marx’ Farce von 1848–1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.2 Warum die Farce »so zu sagen« notwendig ist . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.3 Die neoliberale Radikalisierung des politischen Liberalismus . . 85 3.4 Autoritärer Libertarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.5 Lernen aus der Farce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6 Inhalt 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.1 Hegels Komödie und Marx’ Zukunftspoesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.2 Die strukturell komische Handlungsordnung der »wahren Demokratie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.3 Perspektiven einer komischen Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4.4 Zwischen revolutionärem Sprung und komischer Politisierung 156 4.5 Ein komischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Vorwort Die Argumentation dieses Buches basiert in ihren Grundzügen auf meiner 2022 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main abgeschlossenen Dissertation Das Drama im Politischen: Zur tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus und der demokratietheoretischen Perspektive seiner komischen Überwindung. Dank einer grosszügigen Förderung des Schweizerischen Nationalfonds war es mir möglich, den umfangreichen Gedankengang der Dissertation in einem philosophisch begründenden Buch zu Hegel und in der vorliegenden, historisch argumentierenden Studie zum politischen Liberalismus zu publizieren. Der erste, begriffstheoretische Teil zur politischen Philosophie der hegelschen Dramentheorie ist 2023 bei Konstanz University Press unter dem Titel Das Drama im Politischen: Hegels Ästhetik als demokratietheoretischer Traktat erschienen. Darin untersuche und systematisiere ich die These einer strukturellen Homologie von ästhetischer Gattungslehre und politischer Ordnungsbildung durch eine radikaldemokratische Aktualisierung des philosophischen Systems Hegels. Die dabei entwickelte Begründung des Verhältnisses von Poetik und Politik dient als methodologisches Fundament der folgenden Ausführungen, die sich einer historischen Konkretisierung von Tragödie und Komödie als paradigmatische Ordnungsmodelle der politischen Moderne widmen. 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit Die Geschichte des politischen Liberalismus liest sich als Tragödie: Eine Krise löst die nächste ab, während die scheinbar ewige Gerechtigkeit der globalen Märkte waltet. Die allgemeine Übereinkunft, dass es nun mal nicht anders gehe – there is no alternative –, besiegelt das Scheitern politischer Transformationsbegehren, die sich dem ubiquitären Anspruch der kapitalistischen Verwertungslogik entgegenstellen. Angesichts sich aneinanderreihender Finanz- und Schuldenkrisen, rasant zunehmender Ungleichheit und dem globalen Erstarken rechtsnationaler Bewegungen scheint das Versprechen der gleichen Teilhabe aller, auf der das normative Selbstverständnis liberaler Demokratien gründet, zu einem Relikt verkommen zu sein, auf das sich nicht einmal mehr berufen wird. Spätestens seit Francis Fukuyama 2017 seine These vom »Ende der Geschichte« als Siegeszug des politischen Liberalismus revidieren und das Scheitern seiner Prognose einer globalen Durchsetzung der liberalen Demokratie eingestehen musste, ist die sogenannte ›Rückkehr der Geschichte‹ in aller Munde. Vorbei ist die lange vorherrschende Überlegenheit des liberalen Selbstverständnisses westlicher Demokratien, abgelöst in mindestens dreifachem Sinne: durch den abnehmenden geopolitischen Einfluss des Westens, ein sich ausbreitendes Krisenbewusstsein und zunehmend hegemoniale Gegenbewegungen, die sich libertären und autoritären Widerstandsnarrativen verschreiben. Die damit einhergehende Rückkehr einer radikalen Unsicherheit über die politische Zukunft, in der Freiheits- und Teilhaberechte nicht länger als garantiert vorausgesetzt werden können, macht eine Erklärung der Tragödie erforderlich, als die sich der politische Liberalismus entpuppt hat. Dass Fukuyama sich in seiner 1989 erstmals aufgestellten These vom »Ende der Geschichte« auf Hegel bezog, ist kein Zufall. »Hegel«, so heißt es 10 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit bereits bei Habermas, »hat den politischen Diskurs der Moderne eröffnet« (1985: 65). Als erster Philosoph hat er »einen klaren Begriff der Moderne« (1985: 13) entwickelt, deren Einsatz er auf die »Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« (PhG 17) während der Französischen Revolution datiert. Diese ist durch das Auseinandertreten des Versprechens subjektiver Freiheit von der Herrschaft der objektiven Ordnung gekennzeichnet, die fortan in Widerspruch und Entsprechung zueinander stehen. Das selbsterklärte Ziel der hegelschen Grundlinien der Philosophie des Rechts (Rph) besteht darin, diese Entzweiung ausgehend von seinem geistphilosophischen Programm einer geschichtlichen Entwicklung hin zu immer mehr Selbstreflexivität zu konkretisieren, indem er sie historisch als Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat ausdeutet (vgl. Gerstenberger 2006: 13). Um dem geschichtsphilosophischen Anspruch seines Systems Rechnung zu tragen, versucht er die diagnostizierte Zerrissenheit moderner Ordnungsbildung, die zu sozialen Exzessen der Verelendung, Vereinzelung und Ohnmacht führt, durch die Kombination einer Unterweisung protestantischer Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft und eines ihr gegenübertretenden autoritären Staats auszusöhnen. Schenkt man den letzten Passagen der Grundlinien Glauben, soll die Geschichte der politischen Moderne mit dem preußischen Staat an ihr Ende gekommen sein. So unbestritten die Aktualität der hegelschen Beschreibung moderner Ordnungsbildung ist, so einig ist sich die Rezeption über die Unzulänglichkeit seiner Lösung. Demgemäß argumentiert auch Fukuyama: Statt wie Hegel das diagnostizierte Auseinandertreten von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung in der bürgerlichen Gesellschaft und im liberalen Staat als Grund sozialer Krisen zu problematisieren, erklärt er ihre Entzweiung kurzerhand zum demokratischen Ideal der politischen Moderne. Für Fukuyama steht die liberale Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber einem zurückhaltenden Staat nicht länger für Entsittlichung, zunehmende Ungleichheit und Chaos, sondern für eine auf demokratischer Teilhabe und individueller Freiheit basierende Prosperität. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass es trotz zahlreicher Defizite in der historischen Umsetzung kein überzeugenderes Modell politischer Ordnungsbildung gäbe als die Freisetzung einer bürgerlichen Gesellschaft durch einen liberalen Staat, die Hegel als Urszene moderner Zerrissenheit beschrieben hatte – »the ideal of liberal democracy could not be improved on« (Fukuyama 1992: xi). Es überrascht daher nicht, dass Fukuyama die 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit 11 Geschichte der politischen Moderne nicht in Preußen, sondern unter der amerikanischen Hegemonie der Ära Bush an ihr Ende gekommen sah. Die Permanenz sozialer Exzesse und politischer Krisen in den letzten drei Jahrzehnten bezeugt nicht nur die naive Überheblichkeit dieser Annahme (vgl. Deneen 2018). Sie reaktualisiert auch Hegels Befürchtung, dass das emanzipatorische Projekt der politischen Moderne an einer Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft zerbrechen könnte. Ausgehend von Hegels Diagnose einer in sich entzweiten Moderne und ihrer Aktualisierung durch Marx, widmet sich dieses Buch einer systematischen Rekonstruktion des liberalen Ordnungsmodells und einer darauf aufbauenden Begründung seines gegenwärtigen Verfalls. Statt der Liste möglicher Endszenarien bloß ein weiteres hinzuzufügen, aktualisiere ich Hegels Problemdiagnose moderner Entzweiung, die als solche sämtlichen Versuchen ihrer Harmonisierung vorausgeht. Im Durchgang durch neuere Positionen der politischen Philosophie, die sich im Namen der modernen Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe gegen das Modell liberaler Ordnungsbildung aussprechen, dechiffriere ich die sich verschärfende Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft als systemisch bedingte Krise des politischen Liberalismus. Statt mit vorschnellen Versuchen seiner Verteidigung auf die jüngste »Rückkehr der Geschichte« zu reagieren, gilt es, die Logik moderner Ordnungsbildung aus ihrer Latenz zu holen und zum Gegenstand einer Entscheidung darüber zu machen, wie die moderne Entzweiung subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung politisch verwirklicht werden soll. 1.1 Hegels politische Poetik Die Rede von der Tragödie des politischen Liberalismus ist mehr als eine Metapher. Der Rückgriff auf die – nur auf den ersten Blick gegenstandsfremde – Architektur der poetischen Gattungslehre verleiht dem politischen Projekt der Moderne eine kohärente philosophische Struktur, die es nicht nur erlaubt, die Ordnungsbildung des politischen Liberalismus einer begrifflichen Kritik zu unterziehen, sondern auch Kriterien anzugeben, wie die politische Moderne geordnet werden sollte. Aus der Warte philosophischer Abstraktion betrachtet, verhandelt das antike Drama denselben Konflikt zwischen der subjektiven Freiheit (der widerständigen Held:in) und der objektiven Ordnung (gegen die sie rebelliert), der auch das von Hegel diagnostizierte Auseinandertreten von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat bestimmt. 12 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zitiert Hegel Napoleon, der zu Goethe gesagt haben soll, dass sich die moderne von der alten Tragödie, wesentlich dadurch unterscheide, dass wir kein Schicksal mehr hätten, dem die Menschen unterlägen, und dass an die Stelle des alten Fatums die Politik getreten sei. Diese müsse somit als das neuere Schicksal für die Tragödie gebraucht werden, als die unwiderstehliche Gewalt der Umstände, der die Individualität sich zu beugen habe. (VG 339) Im Unterschied zur Antike wird die Moderne nicht länger von der Erfahrung eines transzendentalen Schicksals getragen, sondern durch das Fatum der Politik, dem die Einzelnen unterliegen. Mit dieser Beschreibung hat Hegel – ohne sich selbst über die Tragweite des darin aufgestellten Bezugs im Klaren zu sein – die begrifflichen Grundsteine für eine demokratietheoretische Analyse der Entzweiung moderner Ordnungsbildung jenseits ihrer preußischen Versöhnung gelegt: In seiner Theorie der dramatischen Gattungen, Tragödie und Komödie, konzeptualisiert Hegel zwei politische Modelle ebenjener Entzweiung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung, über die er auch den Einsatz der Moderne kennzeichnet.1 Folglich ermöglicht der Bezug der gattungstheoretischen Unterscheidung zwischen unterschiedlichen dramatischen Vollzugsmodi auftretender Konflikte auf die Frage moderner politischer Ordnungsbildung es nicht nur, die tragische Erfahrung des Scheiterns liberaler Demokratien begrifflich zu fassen. Im Rückgriff auf die Komödie, die Hegel als höchste aller poetischen Gattungen, als »Gipfel« (ÄIII 527) seiner Ästhetik ausweist, scheint über die Kritik tragischer Politik hinaus die Möglichkeit einer besser geordneten Moderne auf. Hegels innerdramatische Differenzierung von Tragödie und Komödie zeigt an, dass auch auf demokratieimmanenter Ebene zwischen zwei Modellen des geordneten Vollzugs der politischen Differenz zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung unterschieden werden muss: Zwischen der tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus der Gegenwart und der ausstehenden Komödie einer wahren Demokratie.2 1 Diese These habe ich in Das Drama im Politischen: Hegels Ästhetik als demokratietheoretischer Traktat (2023) auf Grundlage der hegelschen Philosophie systematisch begründet. Die darin entwickelte Strukturhomologie von ästhetischer Gattungslehre und politischer Ordnungsbildung dient als methodologisches Fundament dieser historisch konkreten Ausführung von Tragödie und Komödie als poetische Ordnungsmodelle der politischen Moderne. 2 Hindrichs (2022) hat in einer Kolumne mit dem Titel Tragischer Liberalismus die These formuliert, dass sich eine Kritik der tragischen Struktur des politischen Liberalismus von dessen vermeint- 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit 13 Dass Hegel das Drama als ästhetische Urszene moderner politischer Ordnungsbildung ausweist, ist kein Zufall. Denn anders als in den Gattungen, die dem Drama im Aufbau seiner Poetik vorausgehen – dem Epos als Ordnungsprinzip der Unterdrückung von Subjektivität und der Lyrik, die sich umgekehrt durch eine Entfesselung subjektiver Innerlichkeit auszeichnet -, wird das Auseinandertreten zwischen der objektiv herrschenden Ordnung und der Unordnung subjektiver Freiheit im Drama erstmals durch den offenen Vollzug daraus erwachsender Konflikte verhandelt. In Whites Deutung der Hegelschen Dramentheorie heißt es: Dramatic situations begin in the apprehension of a conflict between a world already formed and fashioned in both its material and social aspects (the world displayed immediately in Epic) and a consciousness differentiated from it and individuated as a self intent upon realizing its won aims, satisfying its needs and gratifying its desires (the interior world expressed in Lyric). But, instead of halting at the contemplation of this condition of severance, [drama] goes on to contemplate the modality of the conflicts. (2014: 95) Die begriffliche Verwandtschaft, in der die Verfasstheit moderner Ordnungsbildung und die poetische Gattungslehre in Hegels Philosophie zueinander stehen, offenbart sich auch in seiner Anwendung eines dramatischen Vokabulars auf nahezu sämtliche Bereiche der politischen Philosophie. So beschreibt Hegel die moderne Politik nicht nur als neue Tragödie, er erläutert auch seine reaktionäre Kritik an der Demokratie, indem er sie als schlechte Komödie diskreditiert. Der Begriff des Demos fällt in der Phänomenologie (PhG) genau einmal – dort wo Hegel die politische Dimension der Komödie ausführt (PhG 541; vgl. Hunter 2023: 53). Für Hegel sind Tragödie und Komödie zwei gleichermaßen dramatische Handlungsordnungen, weil sie die Entzweiung zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung affirmieren und in sich berechtigen. Sie unterscheiden sich jedoch im Vollzug daraus erwachsender Konflikte. In der Tragödie bricht der Konflikt erst offen aus, wird jedoch umgehend durch eine schicksalhafte »Versöhnung« (PhG 538) zugunsten der objektiven Ordnung der herrschenden »Oberwelt« (PhG 539) befriedet. So obsiegt gemäß Hegel lich schicksalhafter Ausweglosigkeit emanzipieren müsse, sofern er nicht als einzig mögliche Ordnung der politischen Moderne bestätigt werden soll. Statt sich, wie Hindrichs mit Brecht sagt, »über den Liberalismus anzutragöden«, gälte es »das in ihm geschriebene Leid aufzuheben« (2022: 61). Aufgabe einer Kritik des tragischen Liberalismus ist es, die Möglichkeit einer politischen Neuordnung der Moderne offenzulegen. In diesem Buch schlage ich dafür eine Ausrichtung an Hegels Begriff der Komödie vor. 14 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit in der Tragödie stets die »ewige Gerechtigkeit« der herrschenden Ordnung. Demgegenüber kommt es in der Komödie zu einer »Rückkehr alles Allgemeinen in die Gewißheit seiner selbst« (PhG 543), in der umgekehrt die freie Subjektivität »in ihrer unendlichen Sicherheit die Oberhand« (ÄIII 527) behält. Hegel begründet den höheren Stellenwert der Komödie, indem er darlegt, inwiefern die dramatisch kollidierenden Zwecke, die sich in der Tragödie bis zuletzt »feindselig gegenüberstehen«, im komisch geordneten Vollzug ihres Konflikts »als sich an ihnen selbst unmittelbar auflösend« (ÄIII 481) zeigen. Anders als in der tragischen Versöhnung, in der die widerständigen Haltungen, Interessen und Zwecke der Subjekte zwar in Erscheinung treten, von diesen allerdings, wenn überhaupt, stets nur um den Preis ihrer Selbstaufgabe realisiert werden können, handelt es sich bei der Komödie um eine Handlungsordnung, in der unterschiedliche Interessen auf eine Weise konfligieren können, die es den Subjekten ermöglicht, ihre Zwecke immer wieder aufzulösen und zu verändern, ohne dass dadurch ihre »Subjektivität als solche zugrunde« (ÄIII 530 f.) ginge. Dass Hegel, der vor allem als Denker des Tragischen bekannt ist, anders als in der Goethezeit üblich, nicht der Tragödie, sondern der Komödie den höchsten Stellenwert unter den poetischen Kunstformen eingeräumt hat, bleibt nicht ohne Folgen für seine These vom Fatum moderner Politik. 1.2 Marx’ Aktualisierung der politischen Gattungslehre An diese Intuition schließt Marx mit dem Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte an, in dem er Hegels Gattungsbegriffe auf die politische Geschichte der Moderne anwendet. Die 1862 veröffentlichte Schrift, die das Verhältnis zwischen der Französischen Revolution und der gescheiterten Revolution von 1848–1851 verhandelt, setzt mit der berühmten Behauptung ein, Hegel habe bemerkt, »daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce« (2007: 9).3 3 Bereits Burke beschreibt die Französische Revolution als »monstrous tragic-comic scene« (1969: 92). Seine Ausführungen fallen jedoch nicht nur aufgrund ihres Konservatismus, sondern auch wegen ihrer bloß metaphorischen Verknüpfung von Tragödie und Politik hinter die Verhältnisbestimmung von poetischer Gattungslehre und politischer Geschichte in Marx’ Achtzehntem Bru- 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit 15 Aufgrund der journalistischen Natur des marxschen Textes bleiben die Verweise auf Hegels Gattungslehre und der Versuch ihrer Ergänzung durch die Kategorie der Farce weitgehend assoziativ, was zu einer reichen Rezeptionsgeschichte ihrer Interpretation (vgl. u.a. Brunkhorst 2007; Hörmann 2007; Iber 2011; Löschenkohl 2018) und Aktualisierung (bspw. Žižek 2009) geführt hat. In diese Tradition trägt sich auch der folgende Versuch ein, die entzweite Struktur moderner Ordnungsbildung offenzulegen und die unterschiedlichen Möglichkeiten ihres Vollzugs ausgehend von der begrifflichen Unterscheidung in Tragödie, Farce und Komödie zu systematisieren. Im Achtzehnten Brumaire buchstabiert Marx die bei Hegel nur über Napoleon angedeutete These einer »Gegenwart« (Menke 2005) des Dramas in der politischen Moderne aus, indem er die verschiedenen Gattungsordnungen »inmitten der gesellschaftlichen Wirklichkeit« (Brunkhorst 2007: 143) verortet. Dadurch überführt er Hegels politische Deutungen der poetischen Gattungen, die mit Ausnahme einzelner Ausführungen auf abstrakter Ebene operieren, auf den historisch spezifischen Kontext der politischen Moderne: Die große geschichtliche Tragödie entspricht der Französischen Revolution von 1789, deren tragische Struktur sich in den darauffolgenden ruhigeren Dekaden der Reformationsepoche durch die Etablierung einer liberalen Handlungsordnung fortschreibt und festigt. »Nach Marx ist die Moderne nicht nur durch eine in der Wirklichkeit aufgeführte Tragödie in die Welt gesetzt worden, sondern […] in sich selbst tragisch verfasst« (Iber 2011: 281 f.). Gleichwohl ist Marx’ Behauptung der tragischen Verfasstheit der politischen Moderne – anders als die an Nietzsche anschließende Tradition eines »Pantragismus« (Menke 1996: 40), in der die politische Geschichte insgesamt zu einer niemals endenden Tragödie verklärt wird – nicht als Ausdruck einer defätistischen Geschichtsphilosophie zu deuten. Die Wiederholung »weltgeschichtlicher Tatsachen« beschreibt keinen ontologischen Wiederholungszwang, sondern die unvermeidbare Manifestation der tragisch in sich entzweiten Einheit von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat in einer Farce, die Marx am Scheitern der Revolutionserfahrung von 1848–1851 maire zurück, vgl. dazu Hörmann 2007: 122 f. Darin verweisen sie jedoch auf eine, auf Platon zurückgehende und bis heute fortgeführte, kulturhistorische Tradition der Erläuterung politischer Fragestellungen über ästhetische Motive, in der die Verbindung von Politik und Poetik ausgehend vom Aufbau der Theatersituation rekonstruiert wird (vgl. bspw. Egginton 2003; Rancière 2014). Im Unterschied dazu gründet das an Hegel und Marx anschließende Erkenntnisinteresse in der philosophischen Bestimmung der Gattungsbegriffe als unterschiedliche Modelle politischer Ordnungsbildung. 16 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit abliest. Was sich wiederholen muss, ist demensprechend nicht das Schicksal moderner Politik schlechthin, sondern die historisch konkrete Verkehrung der tragisch-liberalen Ordnung in die Farce ihrer Freiheitsversprechen. Marx’ Ausführungen zielen darauf, diese Verkehrung anhand poetischer Gattungsbegriffe als dialektisches Verwirklichungsverhältnis der politischen Moderne im Zeichen ihrer liberal entzweiten Ordnung zu bestimmen. Wie er an den Entwicklungen seiner Zeit zu zeigen versucht, muss eine politische Handlungsordnung, die subjektive Freiheit und objektive Ordnung dem hegelschen Modell der Tragödie entsprechend durch die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und liberalen Staat institutionalisiert, früher oder später in eine »lumpige Farce« (Marx 2007: 9) umschlagen. Mit dem Ziel einer selbstkritischen Analyse der gescheiterten Revolution von 1848–1851 und der Zurückweisung der bloß formal demokratischen Klientelpolitik der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich, radikalisiert Marx die bei Hegels bereits angelegte Kritik der Tragödie. Er legt offen, dass das tragische Versöhnungsmodell, das Hegel unter den Nenner »ewiger Gerechtigkeit« (ÄIII 526) gestellt hatte, regressive Gegenbewegungen hervorbringt, die sich im historischen Umschlag der normativen Ideale der Französischen Revolution zur Farce einer autoritären, vom »Hanswurst« (Marx 2007: 161) Louis Bonaparte regierten Klassenherrschaft manifestieren. Marx bleibt allerdings nicht bei der Kritik der liberalen Tragödie und der Erkenntnis ihres notwendigen Umschlags stehen. Um sich der Gefahr ihrer schicksalhaften Stilisierung zur einzig möglichen Ordnung der politischen Moderne zu widersetzen, ergänzt er seine Parallelisierung von poetischen Gattungen und politischen Ordnungen mit dem Modell einer »kommende[n] Komödie […], in der sich die historischen Beschränkungen der vorhergehenden Stufen auflösen würden« (Iber 2011: 287 f.). Diese skizziert er als Möglichkeit eines revolutionären Übergangs in eine historisch ausstehende Verwirklichung der gleichen subjektiven Freiheit aller. Im Anschluss an die Interpretation Brunkhorsts (2007: 194) lassen sich Marx’ Ausführungen als Blaupause einer gelingenden Demokratie nach dem Modell der hegelschen Komödie deuten, in der es den Subjekten möglich werden soll, ihre Zwecke immer wieder aufzulösen und zu verändern, ohne dass dadurch ihre »Subjektivität als solche zugrunde« (ÄIII 530 f.) ginge. Entsprechend kohärent schließt Marx mit seiner historisch konkreten Analyse der tragischen Struktur des politischen Liberalismus und der Perspektive ihrer komischen Überwindung an die philosophische Architektur der hegelschen Gattungslehre an. 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit 17 Indem Marx Hegels poetologische Stufenfolge über Tragödie und Komödie hinaus durch die Regressionsfigur der Farce ergänzt, zeigt er die Grenzen der implizit in der hegelschen Poetik verankerten Geschichtsphilosophie auf und eröffnet dadurch die Möglichkeit einer politischen Aktualisierung der Gattungslehre jenseits der Behauptung eines – bereits vollzogenen oder noch anstehenden – Endes der Geschichte. Im Unterschied zu Hegel, der den politischen Verwirklichungsanspruch dramatischer Konfliktvollzugsmodelle nur andeutet, legt Marx dar, unter welchen geschichtlichen Bedingungen sich verschiedene politische Ordnungen historisch hervorbringen konnten und wie sie gegebene Praktiken, Normen und Institutionen reproduzieren. Iber beschreibt Marx’ Anwendung poetischer Gattungsbegriffe zur Erschließung moderner Ordnungsbildung daher als »materialistische Variation Hegels« (2011: 288; eine ähnliche Deutung findet sich auch bei Smith 1993: 32). Ziel meiner Studie ist es, diesen materialistischen Zugriff auf die begriffliche Architektur der poetischen Gattungslehre zu systematisieren, indem Hegels Bestimmungen von Tragödie und Komödie politisch gedeutet und durch den Einschub der von Marx beschriebenen Farce historisch konkretisiert werden. Dafür wird in Kapitel 2 zunächst die Struktur des politischen Liberalismus im Ausgang seiner historischen Verbreitung seit dem 19. Jahrhundert anhand der hegelschen Bestimmung der tragischen Entzweiung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung rekonstruiert. Dabei zeigt sich, dass der politische Liberalismus von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, woraus jene Selbstverkehrung seiner Freiheitsversprechen resultiert, für die Marx’ Begriff der Farce steht. Nachdem die Zuspitzung dieser Selbstverkehrung ausgehend von Marx’ Beschreibung der gescheiterten Revolution von 1848–1851 als immanente Konsequenz des politischen Liberalismus bestimmt wurde, wird der Übergang vom fordistischen Liberalismus der Nachkriegszeit zum Neoliberalismus der Gegenwart in Kapitel 3 als historische Wiederholung der systemisch bedingten Farce liberaler Ordnungsbildung nachvollzogen. Die historisch konkrete Analyse der Krisenanfälligkeit liberaler Demokratien offenbart, dass der aktuelle Zuwachs libertärer und autoritärer Bewegungen nicht, wie diese selbst glauben, im Widerspruch zum politischen Liberalismus steht, sondern als Konsequenz seiner Ordnungsbildung zu verstehen ist. Statt die Struktur derselben gegen ihre Umschlagslogik zu verteidigen, setze ich sie, der Stoßrichtung von Hegel und Marx’ politischen Poetiken folgend, in ein kritisches Verhältnis zur ausstehenden Möglichkeit der Komödie. Dementsprechend wird die Entzweiung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, die den 18 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit modernen Einsatz des politischen Liberalismus begründet, in Kapitel 4 von ihrem tragischen Vollzug unterschieden, um die gegenwärtig vor allem als Bedrohung der Demokratie erfahrene »Rückkehr der Geschichte« ins Schlaglicht der Möglichkeit einer komischen Neuordnung der politischen Moderne zu rücken. Der Rückgriff auf die dramatische Gattungslehre bezeugt, dass die politische Moderne auch anders geordnet werden könnte, ohne dass die Entzweiung verleugnet wird, die ihren Begriff und ihre historische Verwirklichung auszeichnet. Anhand der Unterscheidung zwischen Tragödie, Farce und Komödie lässt sich nachvollziehen, wie unterschiedlich die moderne Entzweiung vollzogen werden kann: liberal, neoliberal, autoritärlibertär oder wahrhaft demokratisch. Im gleichen Zug lässt sich die liberale Behauptung eines Endes der Geschichte in ein begriffliches Verhältnis zur Erfahrung regressiver Geschichtslosigkeit als Farce und der Möglichkeit einer geschichtlichen Neuordnung der politischen Moderne im Zeichen der Komödie stellen. Durch diese Gliederung und Systematisierung der verschiedenen Vollzugsmodi moderner politischer Ordnungsbildung stellt sich die folgende Analyse einer Gleichsetzung von politischem Liberalismus und entzweiter Moderne ebenso entgegen wie der Utopie einer Harmonisierung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung und den daraus erwachsenden Konflikten. So erlaubt es die heuristische Ausrichtung an ästhetischen Begriffen, den Zusammenhang von politischem Liberalismus, Neoliberalismus und autoritärem Libertarismus zu systematisieren und den politischen Kampf um die ordnungstheoretische Ausdeutung der politischen Moderne unter dem Nenner der Komödie neu zu etablieren. 1.3 Die Poetik der Französischen Revolution Dass Hegel den Beginn der Moderne auf die Französische Revolution datiert, ist nicht nur von historischer Bedeutung. Denn die »Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« (PhG 17) war auch die Zeit, in der entschieden wurde, wie die Moderne politisch geordnet werden soll. Um das bis heute anhaltende Kontinuum dieser Entscheidung begreifbar zu machen, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Moderne als historisch spezifische Periode erschlossen wird, die zwar das prinzipielle Auseinandertreten subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung vorgibt, nicht aber den politisch konkreten Vollzugsmodus desselben. Denn die Institutionalisierung der moder- 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit 19 nen Entzweiung dieser Prinzipien im Modell des politischen Liberalismus ist weniger selbstverständlich als dies die liberale Theoriebildung suggeriert. Entsprechend wichtig ist es, im Vorfeld der begrifflichen Bestimmung und kritischen Analyse des politischen Liberalismus kurz die Bedingungen und Konditionen seiner historischen Entstehung im Zuge der Französischen Revolution zu rekonstruieren. Dass es sich beim revolutionären Einsatz der politischen Moderne um »das größte Emanzipationsprojekt in der Geschichte der Menschheit« handelt, ist weitgehend unbestritten. »Das Vermögen, selbstbestimmt zu handeln«, gilt nicht länger »als Privileg einiger weniger, sondern [als] universale[r] Anspruch« (Amlinger, Nachtwey 2022: 31). Weit weniger einsichtig ist, warum dieses Emanzipationsversprechen der gleichen Freiheit aller unmittelbar mit der spezifisch liberalen Vollzugsordnung moderner Entzweiung als Freisetzung einer bürgerlichen Gesellschaft durch einen sich politisch zurückhaltenden Staat gleichgesetzt wurde (vgl. Gerstenberger 2006: 518). Marx beschreibt diese ideengeschichtlich wie historisch kaum je infrage gestellte Gleichsetzung des politischen Liberalismus mit dem Projekt der politischen Moderne als das »Rätsel« (1970: 367) der Französischen Revolution. In der Französischen Revolution wurde dem vorausgehenden, jahrhundertelang vorherrschenden Ordnungsmodell des Feudalismus ein Ende gesetzt. Im Augenblick der Revolution wurde der »endlose Kreislauf der Ersetzung der einen Herrschaft durch die andere Herrschaft«, der die feudale Ordnung bestimmt hatte, unterbrochen und ein »ganz andere[r] Typ politischer Ordnung etabliert« (Menke 2011a: 15): eine moderne Handlungsordnung, in der subjektive Freiheit und objektive Ordnung im Namen der Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe auseinandertreten.4 Dieser Schritt von der Unterbrechung der feudalen Ordnung zur Etablierung einer liberalen Handlungsordnung erweist sich allerdings als »rätselhaft« (Marx 1970: 366; vgl. zu diesem Motiv Menke 2015: 7–13). Warum die Französische Revolution in eine große Tragödie führte, statt eine freie Komödie zu etablieren, erklärt sich nicht aus ihrem politischen Programm. Das von Marx ausgewiesene Rätsel des historischen Ereignisses der Französischen Revolution besteht entsprechend darin, dass das Versprechen freier und gleicher politischer Selbstbestimmung als solches nicht vorgibt, 4 Für eine liberalismuskritische Rekonstruktion der historischen Fundierung der normativen Prämisse der Gleichursprünglichkeit von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe, vgl. Balibar 2012; für eine Rekonstruktion im Kontext liberaler Theoriebildung, vgl. Özmen 2023: 80–86. 20 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit ob die Entzweiung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung in der Form einer tragisch liberalen oder in der Form einer strukturell komischen Handlungsordnung vollzogen werden soll, für die Marx an anderer Stelle den Begriff der »wahre[n] Demokratie« (1976b: 232) einführt.5 Historisch ist der Fall klar: Das revolutionäre Versprechen der gleichen Freiheit aller wurde in die bürgerlich-liberale Form gleicher subjektiver Rechte eingetragen. Es wurde als Berechtigung individueller bürgerlicher Freiheit und der Möglichkeit einer darauf aufbauenden, demokratischen Teilhabe ausgedeutet. Das Rätsel der Französischen Revolution ist faktisch zugunsten einer politisch liberal verfassten Handlungsordnung entschieden worden. Dass dieser Verwirklichung ein Rätsel vorausgegangen ist, als dessen historische Lösung die Etablierung des politischen Liberalismus zu verstehen ist, zeugt allerdings davon – und dies ist der entscheidende Punkt der marxschen Bemerkung –, dass das revolutionäre Versprechen der gleichen Freiheit aller auf einer anderen Ebene anzusiedeln ist als die politische Handlungsordnung, die in seinem Namen eingesetzt wurde. Anders formuliert lässt sich festhalten, dass die revolutionäre Forderung der gleichen Freiheit und Teilhabe aller »auf etwas Vorpolitischem begründet« (Menke 2011a: 15 f.) sein muss. Im ideengeschichtlichen Kontext der Französischen Revolution wurde die Natur des Menschen als Referenzrahmen für dieses vorpolitische Begründungserfordernis herangezogen. Um ihre politischen Versprechen legitimieren zu können, haben sich die französischen Revolutionär:innen auf die neuzeitliche Naturrechtstradition von Hobbes über Montesquieu bis Locke berufen, die behauptet, der Status gleicher Freiheit sei natürlich vorgegeben, aber gesellschaftlich verstellt worden. Bei Montesquieu heißt es: Im Naturzustand werden die Menschen zwar in der Gleichheit geboren, sie können aber nicht darin verharren. Die Gesellschaft lässt sie die Gleichheit verlieren, und nur durch die Gesetze werden sie wieder gleich. (1951: 159) 5 In Zur Judenfrage (1970) unterscheidet Marx die – strukturell tragische – Revolution von 1789 von einer noch ausstehenden – strukturell komischen – Neuordnung der politischen Moderne, indem er Erstere als politisch und Letztere als sozial charakterisiert. Der Begriff des Politischen, mit dem Marx dabei operiert, ist anders als der hier verwendete Begriff politischer Ordnungsbildung geprägt von der bürgerlichen Politik des 19. Jahrhunderts. Aus Marx’ Unterscheidung folgt daher nicht, dass die wahre Demokratie nicht politisch wäre, sondern dass sie auf einer selbstbestimmten Politisierung des Sozialen, d.h. der bürgerlichen Gesellschaft, gründet, vgl. Kap. 4.3. 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit 21 Im revolutionären Selbstverständnis bestand die politische Aufgabe darin, die Natur des Menschen, die im Zeichen der philosophischen Aufklärung als gleiche und freie erkannt wurde, zunächst revolutionär zu deklarieren, um sie in einem zweiten Schritt durch die Etablierung einer politischen Handlungsordnung subjektiver Schutz- und Teilhaberechte abzusichern. Dieses revolutionäre Selbstverständnis manifestiert sich besonders deutlich in der politischen Philosophie Lockes, der schreibt: »Though I have said […] That all Men by Nature are equal, I cannot be supposed to understand all sorts of Equality«. Weil sich die natürlichen Gleichheitsvoraussetzungen nicht unmittelbar in eine soziale Gleichheitspraxis übertragen lassen, muss das natürlich begründete Versprechen der gleichen Freiheit aller in die spezifische politische Form individueller Rechtsgleichheit übertragen werden – »that equal right, that every man hath, to his natural freedom, without being subjected to the will or authority of any other man […] in respect of Jurisdiction« (1988: 304).6 Habermas beschreibt das Selbstverständnis der Französischen Revolution dementsprechend als politische Deklaration der Positivierung von Naturrecht (vgl. 1971: 89). Die Französische Revolution wollte keine neue politische Normativität etablieren, sondern verstand sich als »bloße Explizitmachung des gegebenen Naturrechts« (Raimondi 2011: 98). Sie behauptete, dass der Mensch von Natur aus frei sei und dass sich diese Freiheit von nun an als individuelle verwirklichen können soll. Ziel der Etablierung eines liberalen Staates war es, diese Verwirklichung in die Form 6 Interessant ist diesbezüglich, dass der bis heute wirksame Ausschluss geschlechtlich diskriminierter und rassifizierter Subjekte im ideengeschichtlichen Kontext der liberalen Naturrechtslehre meist über deren angeblich defizitäre Natur begründet wurde, so bspw. bei Locke (vgl. 1988: 211). Aus zeitgenössischer Perspektive ist einfach nachzuweisen, dass diese biologistischen Zuschreibungen das normative Argument natürlicher Gleichheit untergraben und die Autor:innen, die auf sie verweisen, dementsprechend an ihrem eigenen Maßstab scheitern. Wie sich mit Marx nachvollziehen lässt, liegt das wesentlichere Problem allerdings in der Verortung dieses Maßstabs in der Natur selbst: Die ideengeschichtliche Verschiebung der Frage, wer sich zu den Freien und Gleichen zählen darf, von der Metaphysik in die Natur, ist eine Verschiebung, die von der naturrechtlichen Theoriebildung willentlich als solche vollzogen wurde. Dies ist insofern verhängnisvoll, als vermeintlich natürliche Bestimmungen immer wieder zur Einschränkung von Gleichheit herbeigezogen werden können, da sich die philosophische Frage der Natur »naturgemäß« immer neuen Interpretationen darüber öffnet, wer, wie und was in welcher Weise zu dieser Natur gehört. Die politische Geschichte lehrt, dass die Verortung der Gleichheit in der Natur häufiger dazu führte, dass Ungleichheiten naturalisiert wurden, als dass sie einen kritischen Diskurs über die immer schon politischen Ausdeutungen dieser Natur eröffnet hätte. 22 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit subjektiver Rechte zu bringen und sie dadurch vor politischen Eingriffen zu schützen. Gleichwohl vollzieht sich im revolutionären Akt der Deklaration bürgerlicher Freiheitsrechte, die sich auf ein »vorgängiges, natürliches Recht« beziehen, mehr als die bloße »Explizitmachung« desselben: Wie Raimondi offenlegt, schaffte die revolutionäre Erklärung der gleichen subjektiven Rechte aller aus dem natürlichen Recht etwas, »was es bis dahin nie gewesen ist, nämlich das Fundament einer politischen Ordnung« (2011: 96 f.). Der deklarative Akt der revolutionären Erklärung der gleichen rechtlichen Freiheit aller nahm nicht nur den Charakter einer Nachträglichkeit gegenüber dem philosophisch behaupteten Naturrecht an, »sondern zugleich auch die performative Struktur der Selbstbezüglichkeit: Er ist bereits selbst Vollzug jener politischen Selbstbestimmung«, die er als Prinzip der neuen liberalen Ordnung »auf Dauer stellt« (Raimondi 2011: 97). Die Französische Revolution legitimierte und sicherte ihr normatives Versprechen, indem sie es als Konsequenz einer Veränderung auswies, die sich vorpolitisch bereits vollzogen hat. »Genauer: Sie war die politische Befreiungstat einer Klasse, die von sich weiß und behauptet, dass sie sich vor ihrer politischen Befreiungstat bereits befreit hat« (Menke 2018: 69). Erst »im Schoße der alten« (Marx 1971: 9) Ordnung, in der – nicht zuletzt durch koloniale Enteignung, Unterdrückung und Versklavung (vgl. u.a. BuckMorss 2000; Ferreira da Silva 2022, 2017: 99–105; James 1989)7 – maßgebliche Fortschritte in der materiellen Produktion, Technik und Verwaltung erzielt wurden (vgl. u.a. Gerstenberger 2006; Meiksins Wood 2002; Milios 2018, Robinson 1983), war es möglich, die natürlich gleiche Freiheit aller als vorpolitische Erkenntnis auszuweisen und durch den revolutionären Akt ihrer politischen Deklarierung in eine neue Handlungsordnung zu überführen. Das revolutionäre Rätsel, heißt es daher bei Marx, »löst sich einfach« (1970: 367): Die Französische Revolution war von einer bürgerlichen Klasse getragen, die an einer Abschaffung feudaler Privilegien und einer Verallgemeinerung kapitalistischer Produktionsverhältnisse interessiert war. Dies erforderte eine politische Sicherung ökonomischer Wertabschöpfung in 7 In James’ Analyse der Haitianischen Revolution finden sich zahlreiche Verweise auf antike Tragödien, deren lose Bezüge zur Hegelschen Tragödientheorie Scott in Conscripts of Modernity: The Tragedy of Colonial Enlightenment (2004: v.a. 152–169) systematisiert. Zum legitimatorischen Verhältnis von philosophischer Naturrechtstradition und kolonialem Barbareidiskurs, vgl. Eberl 2021. 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit 23 der Form subjektiver (Eigentums- und Vertrags-)Rechte, die es durch ein politisch zurückhaltendes, staatliches Gewaltmonopol abzusichern galt.8 1.4 Die Tragödie des revolutionären Selbstmissverständnisses Aus der Tatsache, dass das revolutionäre Rätsel historisch einfach aufgelöst wurde, folgt allerdings nicht, dass sich das ontologische Rätsel moderner politischer Ordnungsbildung dadurch ebenfalls aufgelöst hätte. Denn der revolutionäre Einsatz der liberalen Handlungsordnung gründet auf einem revolutionären Selbstmissverständnis. Weil der revolutionäre Befreiungsakt nicht als revolutionär-politische Setzung von Freiheit und Gleichheit, sondern als bloße Explizitmachung einer bereits freien und gleichen Natur ausgegeben wurde, konnte er sich nur einmal ereignen. Dem liberalen Selbstverständnis zufolge bedurfte es nur eines revolutionären Ereignisses, weil die Idee der Naturrechte nur einmal aus der vorpolitischen Philosophie in die Politik getragen werden muss. Ist dieser Übergang einmal geebnet worden, steht der politischen Verwirklichung subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe nichts mehr im Weg. Es bedarf keiner revolutionären Politik mehr. An diesem Punkt setzt das Versprechen liberaler Ordnungsbildung an, sämtliche Konflikte in einen ordnungsimmanenten Wettbewerb um die Teilhabe an der Gestaltung des liberalen Staats einzutragen. Indem der politische Liberalismus verspricht, alle Konflikte, die in der Vergangenheit unterdrückt wurden oder zu revolutionären Umbrüchen geführt haben, fortan in den geordneten Bahnen demokratischer Ordnungsverhältnisse vollziehen und lösen zu können, glaubt er die revolutionär-»vorpolitische« Politik, die seine eigene Handlungsordnung etabliert hatte, ein für alle Male hinter sich lassen zu können. Nachdem im einmaligen Ereignis revolutionärer Politik erfolgreich deklariert worden ist, was politisch deklariert werden musste, um das liberale Ordnungsmodell politische Wirklichkeit werden zu lassen, kann es 8 Für eine ausführliche Diskussion der Frage, in welchen Hinsichten ökonomische Entwicklungen den revolutionären Umsturz bedingten, vgl. Gestenberger 2017. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die historische Voraussetzung einer Verallgemeinerung frühkapitalistischer Produktions- und Zirkulationsweisen nicht so verstanden werden kann, als würde sich die revolutionär etablierte liberale Handlungsordnung in einem bloß ideologischen Überbau erschöpfen. Die Verallgemeinerung des kapitalistischen Wertverhältnisses mag die subjektive Rechtsform erklären, in deren Form das revolutionäre Versprechen subjektiver Freiheit politisch positiviert wurde, nicht aber das Versprechen demokratischer Teilhabe, vgl. dazu Kap. 2. 24 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit nur noch darum gehen, diese Deklaration ordnungsimmanent, d.h. in positivem Recht, zu schützen und zu wahren. Wie Marx zeigt, bleibt das revolutionäre Versprechen der gleichen Freiheit aller damit eben das: eine rechtlich gesicherte Deklaration, keine wahrhaft demokratische Verwirklichung. Das Selbstmissverständnis der Französischen Revolution besteht in der Performativität ihrer naturrechtlichen Begründung. Diese macht unkenntlich, dass das Versprechen der gleichen Freiheit aller auch anders hätte realisiert werden können als durch eine staatliche Sicherung subjektiver Rechte. Die individuelle Freiheit der Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft ist kein Synonym des modernen Versprechens subjektiver Freiheit und ihrer Entzweiung von der objektiven Ordnung; sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine historische Ausdeutung und Praxis desselben. Das Problem des naturrechtlichen Selbstverständnisses der Französischen Revolution besteht entsprechend darin, dass sie das Rätsel der Revolution nicht als fortwirkendes Rätsel in Erscheinung bringt. Im politischen Liberalismus kommt die historisch vorübergehende Lösung des ontologischen Rätsels moderner Ordnungsbildung als direkte politische Konsequenz einer vorpolitischen Natur zur Darstellung, die sie nicht ist. Indem die Französische Revolution das Versprechen der gleichen Freiheit aller als natürlich vorgegeben begriff, verschleierte sie den revolutionären Charakter ihrer eigenen Setzung und schuf damit die performative Grundlage für das Selbstmissverständnis einer liberalen Handlungsordnung, die glaubt, ihre revolutionäre Genese dadurch überwinden zu können, dass sie sämtliche Konflikte in die ordnungsimmanent beschränkte Möglichkeit demokratischer Teilhabe einträgt. In Wirklichkeit bleibt Marx’ Rätsel auch dort bestehen, wo es durch die historische Etablierung einer liberalen Handlungsordnung vorübergehend gelöst wurde. Denn seine einfache Lösung ist eine, die auch anders ausfallen könnte. Es wäre prinzipiell jederzeit möglich, dass eine neue revolutionäre Politik entsteht, eine andere Klasse, Bewegung oder Subjektivität, die dem politischen Liberalismus ein Ende setzt und eine andere Lösung des revolutionären Rätsels der politischen Moderne etabliert. Gemäß Marx ließe sich das Rätsel politischer Ordnungsbildung, das sich in der Französischen Revolution erstmals als historisches Rätsel gestellt hat, wahrhaft erst durch die revolutionäre Etablierung einer strukturell komischen Demokratie lösen. Die Ordnungsbildung einer solchen Demokratie würde das ontologische Rätsel politischer Ordnungsbildung lösen, nicht weil sie behauptet, das moderne Auseinandertreten von subjektiver Freiheit und objektiver Ord- 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit 25 nung zu überwinden, sondern weil sie die Setzung der gleichen Freiheit und Teilhabe aller anders als in der liberalen Handlungsordnung »selbst nur als eine Bestimmung, und zwar die Selbstbestimmung des Volks« zur Darstellung brächte. Sie wäre, wie es in Marx’ berühmter Formulierung heißt, »das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen« (1976b: 231), weil sie bestehende Ordnungsverhältnisse als Resultate vergangener Konfliktvollzüge, d.h. als geschichtliche Erzeugnisse einer revolutionären Setzung, erkennen, ausweisen und auf dieser Grundlage für künftige, selbstbestimmt gestaltete Weiterentwicklungen öffnen könnte. Diese ontologische Auflösung käme zwar einer gelungeneren historischen Lösung, aber gleichwohl keiner historischen Auf lösung des Rätsels gleich: Weil sich die revolutionäre Politik normativer Setzungen als konstitutive, vorpolitische Voraussetzung sämtlicher politischer Ordnungsbildung erweist, kann sie als solche von keiner – auch von keiner zukünftigen – politischen Ordnung jemals abschließend überwunden werden. Der Unterschied zwischen der ontologischen Auflösung des revolutionären Rätsels in der strukturell komischen Demokratie gegenüber seiner liberalen Lösung besteht darin, dass die wahre Demokratie von sich selbst weiß, dass sie das Rätsel zwar historisch besser lösen kann, weil sie es als ontologisches zur Darstellung bringt, dass sie es aber gerade deshalb niemals gänzlich auflösen können wird. Die ontologische Auflösung des revolutionären Rätsels in der wahren Demokratie erweist sich insofern als zukunftsoffen, als sie die Unauflösbarkeit des Rätsels als historisches Rätsel bezeugt. Mit Marx steht die Komödie im Politischen für das Ende sämtlicher Fiktionen vom Ende der Geschichte. Marx’ Deutung der Französischen Revolution überzeugt, weil er trotz der Tragödie der historischen Auflösung ihres Rätsels im politischen Liberalismus, am emanzipatorischen Potenzial ihrer Setzung und der Möglichkeit einer komischen Wendung des darin aufgehobenen Versprechens der gleichen Freiheit aller festhält: »Die von Marx […] kritisierte Beschränktheit – oder auch Formalität –« der liberalen Handlungsordnung, die sich »eben darin zeigt, dass sie bloß eine Erklärung ist, wird […] im Sinne eines Vorgriffs umgedeutet, der auf künftige Kritik und politische Kämpfe ausgerichtet ist« (Raimondi 2011: 99). Marx zufolge hat die Französische Revolution einen bis heute wirkmächtigen Fehler gemacht, als sie ihr Versprechen der gleichen Freiheit aller durch die Positivierung vermeintlicher Naturrechte zu verwirklichen versuchte. Ihr Fehler besteht allerdings nicht in der Äußerlichkeit der »vorpolitischen« Begründung ihres Ordnungsmodells, sondern 26 1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit in der naturalisierenden Verklärung derselben. Richtig verstanden erweist sich die Äußerlichkeit der Hervorbringung demokratischer Politik als deren unüberwindbare Bedingtheit durch eine revolutionäre Setzung. Die damit verbundene Kritik lautet, dass die Französische Revolution nicht verstanden hat, was sie selbst getan hat: Sie hat die gleiche Freiheit aller durch eine revolutionäre Setzung auf die Welt gebracht, die als solche der permanenten Gefahr ihrer revolutionären Wider- und Entsetzung ausgeliefert bleibt.9 Diese Gefahr ist der Einsatzpunkt einer Neuordnung der Moderne, welche den Umgang mit dem Rätsel politischer Ordnungsbildung zum Gegenstand einer kollektiven Entscheidung macht. 9 Eine ähnliche Argumentationsfigur findet sich bei Hegel, der die Gleichheit der subjektiven Freiheit aller ebenfalls in ihrer historischen Verwirklichung untersucht. Anders als Marx sieht er sie allerdings nicht als politische durch die Französische Revolution in die Welt gebracht, sondern wie Theunissen nachvollzieht, durch die Verbreitung des Christentums: »Geschichte ante Christum natum geschieht in der Weise einer Suche nach dem christlichen Prinzip und in der Form der Annäherung an dieses; Geschichte post Christum natum hingegen ist die trotz allem letztlich doch fortschreitende Verwirklichung des christlichen Prinzips, das nach seiner Manifestation im Sohn Gottes nicht mehr gesucht, sondern ›nur‹ noch praktiziert zu werden braucht« (1970: 94). In Marx’ Modell eingetragen lautet Hegels These: Geschichte ante Französischer Revolution geschieht in der Weise einer Suche nach dem dramatisch-demokratischen Prinzip subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe an der objektiven Ordnungsbildung; Geschichte post Französischer Revolution hingegen ist die Verwirklichung dieses Prinzips, das nach seiner Manifestation auf den Pariser Straßen nicht mehr gesucht, sondern »nur« noch praktiziert zu werden braucht. Die Frage nach der ordnungstheoretischen Verschiedenheit dieser Praktizierung ist eine Frage, die Hegel als religiöse nicht mehr sinnvoll stellen kann. Wo sie demgegenüber als politische Frage gestellt wird, lässt sie sich über Marx’ Kritik der tragischen Struktur der liberalen Handlungsordnung und der Perspektive auf ihre selbstreflexive Überwindung (weitgehend) überzeugend beantworten, vgl. Kap. 4. 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus »It is at first sight surprising that so open and positive a movement as liberalism should ever have produced tragedy at all« (Williams 1966: 68). Untrennbar sind Tragödie und Liberalismus gemäß Williams’ kulturtheoretischer Analyse aufgrund des tragischen Schicksals moderner Entfremdung: Die Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat führt zu Vereinzelung, Verelendung und Ohnmacht.1 Entgegen dieser allgemeinen Interpretation der Tragödie als Resultat des Liberalismus lautet die spezifischere These des folgenden Kapitels, dass der politische Liberalismus nicht nur verschiedenste Tragödien gesellschaftlicher Entfremdung hervorbringt, sondern dass sich seine Handlungsordnung selbst als strukturell tragisch verfasst beschreiben lässt: Die liberale Ausdeutung und Institutionalisierung des revolutionär deklarierten Versprechens einer gleichen Freiheit aller, entspricht dem – von Hegel gattungstheoretisch angedeuteten und von Marx historisch ausgeführten – Modell einer tragischen Handlungsordnung im Politischen. Nach einer kurzen Erläuterung der gattungstheoretischen Bestimmung der Tragödie durch Hegel (Kap. 2.1) wird die Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat im liberalen Selbstverständnis rekonstruiert (Kap. 2.2), was es erlaubt, die tragische Struktur liberaler Subjektivierung nachzuzeichnen. Ausgehend von Hegels in den Grundlinien ausgeführter 1 Williams’ marxistischer Interpretationsversuch besteht darin, die Tragödie als Resultat der Entfremdung im bürgerlichen Alltag und damit als Produkt, nicht als Struktur des Liberalismus auszuweisen: »Thus I have known tragedy in the life of a man driven back to silence, in an unregarded working life. In his ordinary and private death, I saw a terrifying loss of connection between men, and even between father and son« (Williams 1966: 13). Eine ähnliche Tendenz der Diskussion moderner Tragödien in einer Rhetorik paternalistischen Kitschs findet sich bei Van den Brink (2000), dessen Verknüpfung von Tragödie und Liberalismus allerdings im Zeichen einer Verteidigung des Liberalismus steht. 28 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Kritik bürgerlicher Vergesellschaftung (Kap. 2.3) werden die zwei Ebenen bürgerlicher Selbstregierung, ihre objektive Gouvernementalität und die Normalisierung der Subjekte erläutert (Kap. 2.4). In deren Funktionsweise manifestiert sich die in der liberalen Ordnungsbildung angelegte, strukturell tragische Tendenz zu einer inneren Entpolitisierung, die sich auf ihre Revolutionsvergessenheit zurückführen lässt (Kap. 2.5). 2.1 Hegels Bestimmung der tragischen Handlungsordnung Hegels Diskussionen tragischer Kunstwerke der Antike, allen voran der Antigone von Sophokles, gehören zu den bekanntesten und meistrezipierten Stellen seines philosophischen Systems. Weniger bekannt ist seine poetologische Klassifizierung der Tragödie als dramatische Gattung, die er in der Ästhetik anhand von drei zentralen Merkmalen bestimmt: Der berechtigt auftretende Konflikt zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung endet in einer (1) tragischen Versöhnung durch (2) subjektive Resignation, die objektiv gesichert wird durch die (3) Naturalisierung bestehender Ordnungsverhältnisse.2 (1) Wie Hegel in der Ästhetik betont, sind tragische Konflikte nicht nur durch die anerkannte Ebenbürtigkeit der gegeneinander antretenden Mächte und die schuldvolle Unterdrückung der jeweils anderen Konfliktseite bestimmt, die das Drama grundsätzlich, d.h. auch die Komödie, auszeichnen (vgl. Kap. 1.1). Das Spezifikum der Tragödie liegt in ihrem Konfliktverlauf, der per definitionem in einer Versöhnung zugunsten der objektiven Ordnung mündet. Trotz der anfänglichen Berechtigung beider Konfliktparteien und Hegels Betonung der Unüberwindbarkeit ihrer Konfliktualität ist der tragische Ausgang ihrer Kollision vorbestimmt: Er entwickelt sich stets so, dass die selbstbestimmt handelnden Subjekte, die der Sphäre der subjektiven Freiheit des »unteren Rechts« zugeordnet sind, denjenigen Subjekten unterliegen, die sich die Sicherung der bestehenden Ordnungsverhältnisse des »oberen Rechts« zum Zweck ihrer Handlungen machen. Spezifisch tragisch enden dramatisch berechtigte Konflikte dort, wo die herrschenden 2 Diese Definition des tragischen Ordnungsmodells nach Hegel habe ich ausgeführt in Hunter 2023: 189–214. 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 29 Ordnungsverhältnisse subjektive Transformationsbegehren absorbieren, indem sie sich nur so weit anpassen, wie zur Sicherung ihres ungehinderten Fortbestands erforderlich.3 (2) Aufgrund der Vorgegebenheit dieser Versöhnungsstruktur ist selbstbestimmtes Handeln im tragischen Handlungsordnungsmodell von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Das widerständige Subjekt wird vor eine unmögliche Wahl gestellt: Entweder es steht, wie Antigone, kompromisslos für den eigenen Zweck ein und nimmt dadurch seinen Tod in Kauf oder es resigniert. In beiden Fällen handelt es sich um eine Aufhebung des Konflikts zugunsten der herrschenden Ordnungsverhältnisse, die dazu führt, dass das »Positive« – die Essenz dessen, was das widerständige Subjekt vermeintlich wirklich wollte – in einer »nicht mehr zwiespältigen, affirmativen Vermittlung« (ÄIII 527), d.h. wenn überhaupt in Form einer moderaten Reformentwicklung, erhalten bleibt. Wählt das widerständige Subjekt die erste Variante, die Hegel der klassischen Antike zuordnet, wird es im Verlauf des tragischen Konflikts in »Schranken zurück[gewiesen] und zertrümmert« (ÄIII 548). Wählt es die zweite Variante, kommt die tragische Versöhnung dadurch zustande, dass es den Konflikt auf die innere Szene seiner Subjektivität rückprojiziert. Als Beispiel führt Hegel Antigones Vater Ödipus auf Kolones an, dessen resignatives Handeln er als bereits zur Moderne hinstrebendes Verhalten beschreibt. Ödipus führt die tragische Versöhnung herbei, indem er »alle Zwiespälte in sich selbst auslöscht und sich in sich selbst reinigt« (ÄIII 551). Indem er den ordnungserhaltenden Zweck seiner Verbannung internalisiert, bringt er jene »affirmative Vermittlung« hervor, die für eine tragische Versöhnung erforderlich ist. So wird der dramatisch aufbrechende Konflikt zwischen dem selbstbestimmten Zweck des widerständigen Subjekts und den objektiv herrschenden Ordnungsverhältnissen auf die innere Szene des Subjekts verlagert, wodurch er nicht länger als äußerliche, d.h. politische, Auseinandersetzung im objektiven Geist der herrschenden Ordnungsverhältnisse ausgetragen werden muss. Um einer solchen Versöhnung im Modus subjektiver Resignation den Weg zu bereiten, werden die Subjekte in der tragischen Handlungsordnung dazu angehalten, ihre Zwecke stets auf deren grundsätzliche Kompatibili3 Darin unterscheidet sich die Argumentation von Hindrichs Bestimmung des tragischen Liberalismus (2022: 55), in der zwar die Notwendigkeit der Zerstörung anerkannt wird, der Ausgang der Kollision jedoch als ergebnisoffen ausgewiesen wird. 30 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus tät mit herrschenden Ordnungsverhältnissen zu prüfen, bevor sie in eine Transformationsforderung gegenüber bestehenden Regeln, Normen und Gesetzen überführt werden. Damit schleicht sich die Forderung nach einem vorzeitigen Gehorsam in Hegels Darstellung tragischer Versöhnung ein. Statt die Vorgegebenheit des tragischen Konfliktausgangs als problematische, inhaltliche Beschränkung dessen zu begreifen, was in der tragischen Handlungsordnung als berechtigter Zweck auftreten kann, verschiebt Hegel die Unterscheidung in tragisch berechtigte bzw. unberechtigte Zwecke auf die innere Szene des Subjekts. Das Zustandekommen solcher Versöhnungen sieht er dabei durch das »absolute Walten« einer »ewigen Gerechtigkeit« (ÄIII 526) gewährleistet, die das selbstbestimmt handelnde Subjekt gegen sich selbst aufruft, wo es die vorgelagerte Pflicht einer innerlichen Wahrhaftigkeitsüberprüfung seiner Zwecke missachtet. Diese Gerechtigkeit soll den aufgetretenen Konflikt als Widerspruch auflösen, indem sie die tragische Entscheidung zwischen Tod oder Resignation erzwingt (ÄIII 524). Dass Hegel immer wieder auf das vermeintliche Wirken einer übergeordneten Gerechtigkeit verweist, um den versöhnlichen Ausgang tragischer Konflikte zu plausibilisieren, ist darauf zurückzuführen, dass die tragische Handlungsordnung auf Voraussetzungen beruht, die sie selbst nicht hervorbringen kann. Weil es innerhalb der Tragödie aufgrund ihrer dramatischen Berechtigung subjektiver Freiheit keine Instanz gibt, welche die Versöhnung aus ihr hervorgehender Konflikte mit den gegebenen Ordnungsverhältnissen absichern könnte, wird auf ein vermeintlich übergeordnetes Walten »ewiger Gerechtigkeit« verwiesen. (3) Im Unterschied zum Epos ist die tragische Handlungsordnung gleichwohl nicht durch ihre politische Unveränderbarkeit, sondern durch eine Berechtigung gewisser ordnungsimmanenter Entwicklungen gekennzeichnet: Tradierte Normen, Regeln und Gesetze können moderat reformiert werden, solange die tragische Handlungsordnung und die zentralen Ordnungsverhältnisse, die ihre Hegemonie sichern und durchsetzen, nicht infrage gestellt werden. Transformationsbegehren, die aus selbstbestimmtem Handeln erwachsen, werden zwar berechtigt, ihre tragische Integration in bestehende Ordnungsverhältnisse besiegelt aber im gleichen Zug ihre inhaltliche Entschärfung: Der Konflikt zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung lässt sich tragisch nur lösen, indem die selbstbestimmte Handlung, die motiviert ist, ganz andere Verhältnisse einzurichten, zu einer 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 31 moderaten Reform zusammengestaucht wird, die innere Entwicklungen anregt, ohne die bestehenden Verhältnisse aufs Spiel zu setzen. Aus ordnungstheoretischer Perspektive dient die Figur »ewiger Gerechtigkeit« dazu, der Gefahr einer Radikalisierung von Transformationsbegehren vorzubeugen, woraus allerdings eine implizite Naturalisierung bestehender Ordnungsverhältnisse resultiert. Die tragische Handlungsordnung versucht ihren eigenen Erhalt dadurch zu garantieren, dass sie auftretende Konflikte auf die innere Szene der Subjekte projiziert, wodurch sie zentrale Institutionen ihrer Ordnungssicherung der Möglichkeit einer selbstbestimmten Gestaltung entzieht. Um die Gefahr ihrer revolutionären Absetzung durch eine andere politische Ordnung abzuwenden, bringt sie einen Satz an vermeintlich substanziellen, gehaltvollen Ordnungsverhältnissen hervor, der von der Möglichkeit einer selbstbestimmten ordnungsimmanenten Infragestellung ausgenommen ist. Das historisch konkrete Ordnungsmodell des politischen Liberalismus lässt sich dieser Argumentationsstruktur entsprechend anhand von drei Schritten erörtern: Die liberale Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft und die damit korrespondierende Etablierung eines demokratischen Wettbewerbs um die repräsentative Besetzung der Regierungsmacht bringt (1) strukturell tragische Versöhnungen politischer Konflikte durch eine (2) Kultur subjektiver Resignation hervor, die objektiv durch eine (3) gouvernementale Selbstregulierung der bürgerlichen Gesellschaft gesichert wird. Anders formuliert: Die »Ironie der tragischen Revolution [besteht darin], dass sie auf radikale Demokratie zielte und zum Ergebnis [einen] modernen Kapitalismus hatte« (Iber 2011: 289, siehe auch Brunkhorst 2007: 199), der durch eine strukturelle Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet ist. Die mit dieser Parallelisierung von Drama und politischer Ordnungsbildung verbundene Kritik des politischen Liberalismus verfolgt weder das Ziel einer Schwächung historisch erreichter Freiheitsgewinne noch wird der Anspruch einer vollständigen Rekonstruktion liberaler Diskurse erhoben.4 Es geht vielmehr darum, im Zeichen des revolutionären Versprechens der gleichen subjektiven Freiheit aller die »verborgenen tragischen, das heißt 4 Angesichts »how broad the liberal tent is« (Biebricher 2018a: 6; vgl. dazu auch Möllers 2020: 10; Özmen 2023: 43–46), erhebt die hier rekonstruierte naturrechtliche Herleitung keinen exklusiven Anspruch, sie ist lediglich als exemplarische Begründungsstrategie bürgerlicher Ordnungsbildung zu verstehen (vgl. Kap. 1.3) 32 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus selbstzerstörerischen Zwänge« (Iber 2011: 289) auf den Begriff zu bringen, die der politische Liberalismus aufgrund seiner Ausdeutung dieser Freiheit als bürgerlich-individuelle Rechtsfreiheit mithervorbringt. 2.2 Die liberale Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat Historisch durchgesetzt hat sich das Ordnungsmodell des politischen Liberalismus auch als Gegenbewegung zur Restauration. Statt auf Grundlage der Terreur im Nachgang der Französischen Revolution eine Rückkehr zur feudalen Ordnung zu fordern, wurde konstatiert, »dass die demokratische Selbstregierung des Volkes, um nicht erneut in Gewalt und Unterdrückung zu führen, nicht nur der Regulierung durch Verfahren, sondern der Begrenzung von außen bedarf« (Menke 2011b: 247). Dem liberalen Staat kommt dadurch eine doppelte Aufgabe zu: Er soll die gleichen individuellen Freiheitsrechte aller in der bürgerlichen Gesellschaft sichern und sein staatliches Regieren auf der Grundlage demokratischer Teilhabe konstituieren (vgl. Kap. 1.3). Constant zufolge verändert sich das Freiheitsverständnis damit grundsätzlich: Die »alte« politische Freiheit der demokratischen Teilnahme an der kollektiven Selbstregierung des Gemeinwesens wird ergänzt durch eine neue, subjektive Freiheit: Das Ziel der Alten war die Teilung der […] Macht unter alle Bürger desselben Vaterlandes: das nannten sie Freiheit. Das Ziel der Modernen ist die Sicherung in den privaten Genüssen, und Freiheit nennen sie den gesetzlichen Schutz dieser Genüsse. (1946: 40) Der politische Liberalismus beschreibt ein Ordnungsmodell, in dem diese zwei Freiheiten im Konflikt miteinander stehen: Die alte Freiheit der demokratischen Teilhabe soll nicht verlustig gehen, es müssen ihr aber gleichwohl Grenzen gezogen werden, da man »von den heutigen Völkern [nicht mehr verlangen kann], dass sie wie die früheren ihre gesamte persönliche Freiheit der politischen Freiheit opfern« (Constant 1946: 52, vgl. Hindrichs 2022: 55). Das Verhältnis dieser zwei Freiheitsfiguren lässt sich über die Bestimmung politischer Differenz im Kontext radikaler Demokratietheorien erschließen, dem u.a. die politischen Philosophien von Lefort und Gauchet, Rancière, Mouffe und Laclau zugerechnet werden (vgl. Marchart 2010). Das Politische wird dabei als transformative Kraft subjektiver Freiheit beschrie- 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 33 ben, die als ontologische Voraussetzung sämtlichen politischen Handelns in einer unüberbrückbaren und unversöhnlichen Differenz zur objektiven Ordnung der bestehenden Politik steht. In ein radikaldemokratisches Vokabular eingetragen zeichnet sich der politische Liberalismus dadurch aus, dass er die Differenz zwischen der subjektiven Freiheit des Politischen und der objektiven Ordnungsbildung der Politik affirmiert, aber zugleich eine Einheit dieser Differenz formiert, indem er sie institutionalisiert: als Differenz zwischen der bürgerlichen Gesellschaft (als Ort des Politischen), in der subjektive Freiheit als natürlich begründete, individuelle Freiheit realisiert wird, und dem liberalen Staat (als Politik), dessen Aufgabe es ist, diese individuelle Freiheit zu sichern und freie Subjekte durch ihre gleiche demokratische Teilhabe an der Gestaltung des Gemeinwesens teilhaben zu lassen. Anders formuliert: In der liberalen Handlungsordnung wird die politische Differenz über die staatliche Sicherung individueller Freiheitsrechte in der bürgerlichen Gesellschaft offengehalten. Diese spezifische – wie sich zeigen wird strukturell tragisch verfasste – Handlungsordnung, als die der politische Liberalismus die Einheit politischer Differenz als Einheit der Differenz von Staat und Gesellschaft hervorbringt, hat in ihren institutionellen Grundzügen seit der Französischen Revolution Bestand. Wie Marx festhält, haben die »verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn« (1973: 28). Trotz grundlegender Unterschiedlichkeiten und historischer Divergenzen zeichnen sich die im Nachgang der Französischen Revolution etablierten Demokratien allesamt durch das liberale Prinzip einer Einheitsbildung dieser Differenz aus, dem zufolge die aus der politischen Berechtigung subjektiver Freiheit erwachsenden »Gegensätze zwar durch den Staat in eine zivile Verlaufsform gebracht sind, ohne aber dadurch ihre Gegensätzlichkeit einzubüßen« (Iber 2011: 294). 2.2.1 Die demokratische Teilhabe am parlamentarischen Wettbewerb Mit Lefort ist die Französische Revolution als Beginn demokratischer Ordnungsbildung zu verstehen, weil sie die, wie es bei ihm heißt: konstitutive Leere des Orts der Macht historisch erstmals zur Darstellung bringt (vgl. 1990: 284). Die prinzipielle Kontingenz politischer Macht wird nicht länger durch metaphysische oder religiöse Ursprungserzählungen überblendet, 34 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus sondern in ihrer Veränderbarkeit zur Erscheinung gebracht. Ähnlich argumentiert Rawls, wo er eine prinzipielle normative Neutralität als Signum des Liberalismus ausweist, der insofern »freistehend« (1998: 77) operiert, als er sich durch eine Unabhängigkeit vom substanziellen Wahrheitsanspruch universalistischer Lehren auszeichnet. Leforts Argumentation zufolge ist es Aufgabe des liberalen Staates, die Verschiedenheit subjektiv freier Zwecke zu berechtigen, indem daraus hervorgehende Konflikte auf Grundlage allgemeiner Wahlen in demokratisch regulierte Prozeduren übertragen werden. An die Stelle einer zwischen feudalen Königen und Fürsten rotierenden Herrschaft tritt ein zukunftsoffener, demokratisch geregelter Wettkampf um die politische Macht der Regierung, in dem unterschiedliche Forderungen, Weltansichten und Transformationsbegehren auf einer staatlich eingerichteten »Bühne des Konflikts« gegeneinander antreten. Gemäß Lefort und Gauchet ist die auf dieser Bühne inszenierte »Veröffentlichung des Ergebnisses der Stimmauszählung« insofern konstitutiv demokratisch, als sie ein »bildliches Auftreten des Konflikts auf dem politischen Feld« (1990: 115) hervorbringt: Die jeweiligen Wahlsieger:innen treten nur als vorübergehende Besetzer:innen des Orts der Macht in Erscheinung. Die Machtausübung ist nun einem Verfahren unterworfen, das sie in regelmäßigen Abständen erneut ins Spiel bringt. Sie geht am Ende aus einem geregelten Wettstreit hervor, dessen Bedingungen dauerhaft festgeschrieben sind. (Lefort 1990: 293) Die im Zuge der Französischen Revolution erlangte Einsicht in die Unmöglichkeit einer abschließenden Legitimation politischer Herrschaft und die damit einhergehende Forderung demokratischer Selbstbestimmung werden dementsprechend durch das allgemeine Wahlrecht »als grundlegende Verfahrensordnung« (Willke 1996: 53) der repräsentativen Demokratie institutionalisiert. Damit war der Citoyen als staatsbürgerliches Subjekt geboren, das seine partikularen Zwecke zu verallgemeinern versucht, indem es am demokratischen Wettbewerb um eine repräsentative Besetzung der Regierungsmacht teilnimmt. Der Citoyen allein kann das Zustandekommen eines solchen Wettbewerbs aber weder begründen noch gewährleisten. Denn erst wo er sich zuvor als Bourgeois hervorgebracht hat, d.h. unter Voraussetzung seiner subjektiven Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft, kann er sich auf Grundlage unterschiedlicher subjektiver Zwecke in den demokratischen Gestaltungsprozess einbringen. In dieser Voraussetzung manifestiert sich die 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 35 zweite Aufgabe des liberalen Staats: die Sicherung individueller Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie soll garantieren, dass sich tatsächlich unterschiedliche Citoyens herausbilden, die in den geregelten Wettbewerb um die zeitlich stets begrenzte, repräsentative Herrschaft des politischen Gemeinwesens eintreten können. Diese Doppelung des modernen Subjekts in Bourgeois und Citoyen korrespondiert entsprechend mit der doppelten Aufgabe der Institutionalisierung eines demokratischen Wettbewerbs und der Freisetzung einer bürgerlichen Gesellschaft auf Ebene der liberalen Ordnungsbildung: Die Unterscheidung in das privatisierte, individuell freie Subjekt des Bourgeois und die demokratische Teilhabe des Citoyens gründet in der Art und Weise, wie die liberale Handlungsordnung durch die Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat eine politisch geordnete Einheit der Differenz zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung hervorbringt. 2.2.2 Die staatliche Sicherung individueller Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft Der liberale Staat versucht die demokratische Teilhabe auf Grundlage unterschiedlicher politischer Subjektpositionen dadurch zu garantieren, dass er ihr die individuelle Freiheit der Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft voraussetzt (vgl. Özmen 2023: 59). Das Axiom liberaler Theoriebildung besteht entsprechend in der Annahme eines vorgegebenen menschlichen Pluralismus, der in der bürgerlichen Gesellschaft seine freie Entfaltung finden soll. Es handelt sich dabei um eine begründungstheoretische Politisierung des naturrechtlichen Selbstverständnisses der Französischen Revolution. Die liberale Theoriebildung operiert politisch, nicht metaphysisch, wie es bei Rawls in Abgrenzung von Burke heißt, weil die Gleichheit, die dem liberalem Gerechtigkeitsverständnis vorausgeht, als Gleichheit der Abwesenheit von Prämissen über ein vermeintliches Wesen der Menschheit zu verstehen ist. So versucht sich das liberale Regieren bestmöglich von »kontroversen philosophischen und religiösen Lehren unabhängig« (Rawls 1992: 255) zu machen. Die damit verbundene Annahme lautet, dass die Menschen gerade in der Verschiedenheit ihres Menschseins natürlich gleich sind und es deshalb Aufgabe liberaler Politik ist, diese Gleichheit als gleiche Freiheit individueller Andersheit in der Form einer – gesellschaftlichen – Voraussetzung demokratischer Teilhabe zu sichern. 36 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Die »liberale Regierungskunst« ist daher »zuallererst ein kritisches Projekt. Ihr Grundverdacht: Es wird zu viel regiert« (Bröckling 2007: 78). Diesem Staatsverständnis liegt mit Berlin gesprochen die Ansicht zugrunde, daß es einen bestimmten persönlichen Freiraum geben [muss], der unter keinen Umständen verletzt werden [darf]; anderenfalls fehlt dem Individuum jenes Mindestmaß an Platz, das notwendig ist, um jene natürlichen Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihm überhaupt erst ermöglichen, die verschiedenen Zwecke, die Menschen für gut, richtig oder heilig halten, zu verfolgen oder auch nur zu erkennen. (2006: 203) Die Pluralität der Menschen, die in der Tradition ihrer naturrechtlichen Begründung als vorpolitisch gegeben vorausgesetzt wird, gilt es dem liberalen Selbstverständnis zufolge in der Form staatlich gesicherter, subjektiver Freiheitsrechte vor politischen Eingriffen zu schützen. Wie Habermas (1971) darlegt, ist es diese Form staatlich gesicherter, subjektiver Rechte, die die stets prekäre Einheit zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft in der liberalen Handlungsordnung herstellt. Indem der Schutz individueller Freiheit und die demokratische Teilhabe am politischen Wettbewerb in dieselbe Form subjektiver Rechte eingetragen werden, entsteht ein Rechtsverhältnis, dessen Aufgabe es ist, Gesellschaft und Staat vor dem Hintergrund ihrer politischen Trennung zusammenzuhalten. Dem Selbstverständnis des politischen Liberalismus zufolge ist die gleiche individuelle Freiheit etwas, was die Einzelnen zwar immer schon besitzen, was aber gleichwohl erst durch die subjektive Rechtsordnung im liberalen Staat und die dadurch vollzogene politische Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft praktisch realisiert wird (vgl. Özmen 2019: 46). Der gemeinsame Nenner der naturrechtlichen Freiheitsbegründung besteht gemäß Pippin in »the pre-eminence […] of the human individual«, aus dem unterschiedliche liberale Denker, von Hobbes über Locke bis Mill, einen ähnlichen Grundsatz an Ordnungsverhältnissen ableiten, die den Erhalt der liberalen Handlungsordnung grundsätzlich gewährleisten sollen: a limited and accountable state […], equality before the law, administrative transparency, constitutional protection of rights, and in most versions, one protection above all: significant and extensive property rights. (Pippin 2008: 211) Diese durch den liberalen Staat abgesicherten subjektiven Rechte fungieren als »prinzipielle Freiheitsrechte, weil sie alle Handlungen, die nicht explizit nach Kriterien äußeren Verhaltens verboten sind, freigeben müssen« (Habermas 1971: 91). Citoyen und Bourgeois stehen sich der naturrechtlichen Begründung zufolge nicht gleichberechtigt gegenüber: Der staatstragende Ci- 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 37 toyen wird durch den unpolitischen Bourgeois, »der die politische Macht zugunsten seiner privaten Freiheit begrenzt wissen möchte« (Raimondi 2011: 100), getragen und hervorgebracht. Er kann sich am demokratischen Wettbewerb nur unter der Voraussetzung beteiligen, dass er sich durch den liberalen Staat als unpolitischer Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft gesichert weiß. Dem liberalen Staat kommt dadurch eine paradoxe Aufgabe zu: Weil er sich die subjektive Freiheit der Einzelnen voraussetzt, muss er die Freiheit seiner politischen Regierung einschränken.5 Damit ist eine Aussage darüber getroffen, wie das Verspechen subjektiver Freiheit im politischen Liberalismus realisiert werden soll: Die individuelle Freiheit in der Form staatlich garantierter, bürgerlicher Rechte ist die Formbestimmung, die die liberale Handlungsordnung dem Versprechen subjektiver Freiheit gibt. Anders als das liberale Selbstverständnis suggeriert, handelt es sich dabei nicht um die einzig mögliche Praxis subjektiver Freiheit. Denn der Begriff subjektiver Freiheit beschreibt als solcher zunächst nur eine unbestimmte Potentialität (vgl. Plessner 1975), die praktisch so oder anders ausgedeutet werden kann: Die liberale Idee subjektiver Freiheit ist eine Auslegung, aber nicht deckungsgleich mit der einer freien Wahl des eigenen Lebens; sie ist daher nicht trivial und universal, sondern anspruchsvoll und ebenso historisch wie kulturell situiert. (Menke 2004: 230) Wie Menke an anderer Stelle ausführt, gestaltet der liberale Staat die individuelle Freiheit der Einzelnen zwar nicht inhaltlich, »aber er deutet oder bestimmt sie. Denn ein Recht auf Freiheit ›überhaupt‹ gibt es nicht« (2019: 184). Im Modell des politischen Liberalismus wird das strukturell dramatische Versprechen der Französischen Revolution, das in einer durch die politische Ordnung gesicherten Verwirklichung subjektiver Freiheit besteht, dadurch realisiert, dass die individuelle Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft durch den Staat vor politischen Eingriffen geschützt wird, damit rechtlich freie und gleiche Bürger:innen am politischen Wettbewerb um die repräsentative Besetzung der Regierungsmacht teilhaben können. Weil die individuelle Freiheit des Bourgeois damit zur Voraussetzung der demokratischen Teilhabe des Citoyens gemacht wird, kommt es zu einer 5 Dies entspricht dem von Schmitt (1928: 166; 175) als Verteilungsprinzip des politischen Liberalismus ausgearbeiteten Grundsatz, wonach die Freiheit der Einzelnen prinzipiell unbegrenzt und frei von einer Begründungspflicht ist, während die Befugnisse des Staates prinzipiell begrenzt und legitimationsbedürftig sind. 38 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Priorisierung einer der zwei Aufgaben des liberalen Staates: Die Sicherung individueller Freiheit wird der Freiheit der Teilhabe an der demokratischen Selbstregierung übergeordnet. Dieser Primat der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem liberalen Staat, der durch den liberalen Staat selbst gesichert und hervorgebracht wird, ist die zentrale Bestimmung der Handlungsordnung des politischen Liberalismus (vgl. Hindrichs 2022: 56). Das von Marx herausgestellte Rätsel der Französischen Revolution besteht entsprechend darin, dass dadurch ein als demokratisch ausgewiesener Staat eingesetzt wird, der über die gleiche Teilhabe aller legitimiert wird, dessen Macht aber einer bürgerlichen Gesellschaft unterstellt wird, an deren Grenze seine politische Regierungsbefugnis endet (vgl. Kap. 1.2). Die Einsicht, dass die Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat im Zuge der Französischen Revolution auf eine Weise institutionalisiert wurde, in der Letzterer die Integrität der Ersteren garantieren soll, darf allerdings nicht die Einheit ihrer Differenz überblenden, die durch die Handlungsordnung des politischen Liberalismus insgesamt hervorgebracht und erhalten wird: »Daß eine wechselseitige Ausschließung […] besteht, sollte uns nicht ihre wechselseitige Einschließung verschleiern« (Lefort, Gauchet 1990: 110). Das Zustandekommen dieser paradoxen, weil in sich entzweiten Einheit, welche die wechselseitige Einschließung von individueller Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft und demokratischer Teilhabe am liberalen Staat hervorbringt, gilt es in den folgenden Schritten nachzuvollziehen. 2.2.3 Böckenfördes Diktum und das liberale Kulturargument Der im politischen Liberalismus gesetzte Vorrang der negativen Freiheit des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der positiven Freiheit der demokratischen Teilhabe an der Regierungsmacht des liberalen Staats zeitigt eine Reihe demokratietheoretischer Konsequenzen, die sich auf Grundlage von Böckenfördes Diktum, dass der politische Liberalismus seine eigenen Voraussetzungen selbst nicht hervorbringen kann, erklären lassen. Ausgehend von der Rekonstruktion dieser Einsicht wird im Folgenden anhand unterschiedlicher, teils affirmativer, teils kritischer Positionierungen rekonstruiert, inwiefern der politische Liberalismus seinen eigenen Fortbestand gefährdet. 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 39 In der politischen Voraussetzung einer rechtlich abgesicherten bürgerlichen Freiheit steckt die Annahme, dass die geteilte Normativität der Bürger:innen, das gemeinsame Gute, im verantwortungsvollen Wollen einer gleichen Freiheit aller liegt, die es demokratisch hervorzubringen und zu schützen gilt. In Wellmers Formulierung: Als liberal können wir […] Positionen bezeichnen, die auf der Annahme basieren, dass erstens die liberalen und demokratischen Grundrechte intern mit einer – zumindest potentiell – solidaritätsstiftenden Konzeption eines gemeinsamen Guten verknüpft sind, und dass zweitens in modernen Gesellschaften keine darüber hinausgehende Konzeption des Guten zu einer für alle Gesellschaftsmitglieder verpflichtenden Grundlage der gesellschaftlichen »Vereinigung« gemacht werden darf. (1993: 57) Die normative Annahme lautet demnach, dass sich das freie Wollen der Einzelnen als Wollen der liberalen Handlungsordnung selbst und damit als Wollen der gleichen Freiheit aller realisiert. Zugleich beinhaltet die individuelle Freiheit der Einzelnen aber das explizite Recht »selbstsüchtig, verrückt, exzentrisch, unverantwortlich, provokativ, obsessiv, selbstdestruktiv, monomanisch etc. zu handeln« (Wellmer 1993: 39). Wahrhaft liberal kann die Freiheit der Einzelnen daher nur sein, wo der Bourgeois seine subjektiven Zwecke freiwillig einschränkt und sich trotz der prinzipiell gewährleisteten Berechtigung destruktiven Handelns einer solidarischen Praxis der demokratischen Sicherung der gleichen Freiheit aller verschreibt. Nur durch die Transformation bloß individueller, selbstsüchtiger und verrückter Freiheit in eine verantwortungsvolle, auf Gerechtigkeit ausgerichtete, solidarisch operierende Freiheit können normative Subjekte hervorgebracht werden, auf die sich die liberale Handlungsordnung stützen kann. Wie aber realisiert sich diese »Begrenzungsnotwendigkeit« (Özmen 2019: 51) individueller Freiheit? »[W]o – und vor allem wie – findet diese Subjektivierung, die politische Verwandlung der individuellen Freiheit statt? Wie wird der Bourgeois zum Citoyen?« (Menke 2019: 192).6 6 Die folgende Rekonstruktion, die mit Hegel und Foucault eine an Böckenfördes Analyse der Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft anschließende Kritik der kulturellen Überformung dieser Gesellschaft entwickelt, folgt den wesentlichen Argumentationsschritten der rechtsphilosophischen Bestimmung des Liberalismus durch Menke (v.a. 2019 sowie 2015). Über Menke hinaus wird offengelegt, inwiefern diese Vollzugsordnung subjektiver Freiheit mit Hegels Modell einer tragischen Konfliktordnung korrespondiert. Im Unterschied zu Menke, der die Konflikthaftigkeit der Moderne insgesamt als tragisch verfasst begreift, bezeugt die Beschreibung der tragischen Spezifizität des politischen Liberalismus als ein, nicht das politische Ordnungsmodell moderner Konflikthaftigkeit die Möglichkeit seiner Überwindung (vgl. Kap. 4). 40 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Der liberale Jurist Böckenförde führt diese notwendige Transformation des Bourgeois in den Citoyen – die Rawls schlicht als nicht weiter begründungsbedürftige, normative Voraussetzung liberaler Gerechtigkeit begreift – als zentrales Stabilitätsproblem des politischen Liberalismus aus. Ausgehend von seiner Analyse der Säkularisierung als Bedeutungsverlust christlicher Sittlichkeit im Zuge der Modernisierung westlicher Gesellschaften formuliert er die Grundfrage liberaler Ordnungssicherung schlechthin: »Wieweit können staatlich geeinte Völker allein aus der Gewährleistung der Freiheit des einzelnen leben ohne ein eigenes Band, das dieser Freiheit vorausliegt?« (1991: 111). Mit Blick auf Wellmers Definition des liberalen Selbstverständnisses lässt sich dieselbe Frage als Frage nach der Stabilität der angenommenen Solidaritätsstiftung in der liberalen Konzeption des gemeinsamen Guten stellen. Der dritte Pfeiler revolutionärer Normativität, die Solidarität (früher: Brüderlichkeit)7, erweist sich in diesem Zusammenhang als konzeptuelle Schwachstelle der neu etablierten Handlungsordnung. Böckenförde stellt die Herausforderung folgendermaßen dar: Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben. (1991: 112 f.) Wenn versucht wird, das »gemeinsame Gute«, das über die bloße Wahrung der gleichen Rechte aller hinaus Solidarität stiften soll, stattdessen als »verordnete Staatsideologie« (Böckenförde 1991: 113) zu verwirklichen, lässt sich die bürgerliche Gesellschaft nicht länger als politisch freigesetzte begreifen. Der Staat kann sich als liberaler nur erhalten, wenn er die Stiftung von Solidarität der bürgerlichen Gesellschaft überlässt. Böckenförde zieht daraus die folgerichtige Konsequenz, dass »[d]er freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist« (1991: 112). Anders formuliert: Die Frage, wie freie Individuen zu verantwortungsvollen 7 Solidarität ist hier als gesellschaftliche Praxis definiert, die – anders als durch kommunitaristische Debatten gefordert – keine neue Gemeinschaft implementiert, sondern, so die Definition von Celikates und Jaeggi »ohne eine starke bzw. substantielle gemeinschaftliche Unterfütterung auskommen muss und doch mehr ist als die punktuelle, stets instabile Kooperation eigeninteressierter Individuen« (2017: 38). 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 41 Bürger:innen werden, ist eine Frage, deren Beantwortung der liberale Staat der bürgerlichen Gesellschaft überlässt. Die liberale Antwort auf diese Frage lautet gemeinhin: In der und durch die Kultur wird der egoistische Bourgeois zum staatstragenden Citoyen. »Kultur« ist dabei als allgemeiner Überbegriff für Orte und Praktiken der Subjektivierung zu verstehen, für die der liberale Staat »mit seinen Mitteln, den Mitteln der individuellen Berechtigung, nichts tun kann, von denen er aber voraussetzen muss, dass sie sich immer schon und immer weiter gelingend vollziehen« (Menke 2019: 192). Besonders deutlich kommt die kulturelle Dimension dieser gesellschaftstheoretischen Argumentationslinie im liberalen Selbstverständnis der politischen Philosophie Rortys (1989) zum Ausdruck. Rorty verortet die Möglichkeit des solidarischen Erhalts einer demokratischen Handlungsordnung in der Verallgemeinerung reflektierter Selbstverhältnisse, die durch kulturelle Praktiken, wie bspw. die Lektüre pädagogisch wertvoller Romane, hervorgebracht werden sollen. Dieser kulturellen Ethik legt er die »liberal hope« (Rorty 1989: 74) zugrunde, dass eine allgemeine Zunahme der kulturell erlernbaren Fähigkeit zur Selbstdistanzierung zur Konsolidierung einer Akzeptanz abweichender Zwecke und einer daraus erwachsenden demokratischen Solidarität führen wird. Ähnlich argumentiert auch Rawls, der die notwendige Verwandlung des Bourgeois in den Citoyen in kantischer Tradition durch eine kulturell verankerte Vernunftethik der Selbstverantwortung erklärt, welche die solidarisch hervorzubringende Gerechtigkeit der liberalen Handlungsordnung verbürgen soll. Das Funktionieren des liberalen Staates wird dadurch an eine politische Ethik gebunden: Dieser kann die Freiheit der Einzelnen nur unter der Bedingung ihrer vernünftigen Einsicht in die Notwendigkeit des Zugeständnisses derselben Freiheit an alle anderen sichern (vgl. Rawls 1975: 606–621; für eine detaillierte Rekonstruktion Weithman 2010: 42–67) – unter der Bedingung also, dass die Einzelnen die liberale Handlungsordnung und den Grundsatz der gleichen Rechtsfreiheit freiwillig affirmieren und mittragen (vgl. Özmen 2015: 125). Dass sich der Staat erhalten kann, liegt, so Rawls, am »Vorrang« der aus einer Praxis der Selbstverantwortung erwachsenden Gerechtigkeit gegenüber den möglichen Auswüchsen individueller Freiheit. Subjektiv freie Zwecke sollen mit Blick auf die Hervorbringung politischer Gerechtigkeit gefiltert werden, wodurch der Bestand der liberalen Handlungsordnung – in der alle gleichermaßen leben können wollen – gesichert werden soll. Dies bedeutet, dass die »ethische Kategorie« 42 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus (Özmen 2015: 127) des Vorrangs der Gerechtigkeit nicht nur ein Vorrang »um der subjektiven Freiheit willen [ist], er ist zugleich auch einer vor der subjektiven Freiheit« (Menke 2004: 239; Hervorh. LH). Um den Erhalt der liberalen Handlungsordnung zu sichern, wird das Versprechen individueller – potenziell immer auch destruktiver – Freiheit dem ethischen Appel der freiwilligen Beschränkung dieser Freiheit zugunsten der Gerechtigkeit nachgestellt: Vor ihrer Realisierung erfordert die staatliche Sicherung individueller Freiheit deren freiwillige Einschränkung, wobei die »selbststabilisierende normative Kraft« dieser Einschränkungen »parasitär« (Özmen 2015: 129) aus der ethisch hervorzubringenden Bereitschaft der Einzelnen abgeschöpft werden muss. Zwar vermag es Rawls Gerechtigkeitstheorie, die Vernünftigkeit solcher Einschränkungen theoretisch zu begründen, sie stößt allerdings an Grenzen, wo sie mit dem praktischen Problem der Verweigerung ihres Vernunftsappells konfrontiert wird.8 Weil die Stabilität der Gerechtigkeit, die das Funktionieren der liberalen Handlungsordnung bedingt, auf einer ihr kulturell vorausgesetzten politischen Ethik basiert, kann deren Verweigerung nicht als politisch hervorgebrachtes Problem ausgeführt und verstanden werden. Sie lässt sich, wie bereits Rorty aufzeigt hatte, nur auf Grundlage einer liberalen Hoffnung auf »Vernünftigkeit« (Özmen 2023: 160) formulieren: Wir hoffen, daß sie [die Gerechtigkeit] zumindest durch einen, wie ich ihn nennen möchte, übergreifenden Konsens gestützt wird, das heißt einen Konsens, der alle die widerstreitenden philosophischen und religiösen Lehren einschließt, die mutmaßlich in einer mehr oder weniger gerechten konstitutionellen demokratischen Gesellschaft bestehen bleiben und Anhänger gewinnen werden. (Rawls 1992: 258) Rawls’ Anspruch, dass gesellschaftlich hervorgebrachte Unfreiheiten und Ungleichheiten »zum größten Vorteil der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft« (1992: 261) ausgestaltet werden, ist ein normativer Anspruch, auf dessen Realisierung nur gehofft werden kann, weil er durch die politische Handlungsordnung des Liberalismus weder hervorgebracht noch gesichert werden kann (vgl. Özmen 2023: 161–165). Dem liberalen Kul8 Ein zentrales methodisches Problem, das bereits auf dieser Begründungsebene greift, besteht in der angenommenen Transhistorizität der Einschränkungen individueller Freiheit: Die universell und formal entwickelten und begründeten normativen Ideale müssen nachträglich mit der geschichtlichen Realität politisch herrschender Ordnungen vermittelt werden, was zu erheblichen Spannungen im Theoriegebilde führt, vgl. dazu Honneth 2013: 15 f.; 119 f. 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 43 turargument wohnt die implizit geschichtsphilosophische These inne, dass die Menschen das Angebot einer solidarischen Praxis ihrer individuellen Freiheit aufgrund ihrer prinzipiellen Vernunftbegabung früher oder später in eindeutiger Mehrheit annehmen werden.9 Das von Böckenförde ausgewiesene Wagnis der liberalen Handlungsordnung besteht entsprechend darin, dass diese ihren eigenen Erhalt wesentlich davon abhängig macht, dass ein solcher Fortschritt eintritt und die von ihr freigesetzten Bourgeois tatsächlich in der Lage sind, dem Gerechten »den gebührenden Vorrang […] zuzugestehen und ihr Handeln dementsprechend zu orientieren« (Özmen 2015: 126). Wie sich gezeigt hat, besteht das im liberalen Selbstverständnis dargelegte Programm einer staatlichen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft darin, individuelle Freiheit und demokratische Teilhabe so zusammenzuhalten, dass die Freiheit der Teilhabe übergeordnet wird, ohne dass die Teilhabe daran zugrunde geht. Die mit dieser Beschreibung verbundene Einsicht lautet, dass der politische Liberalismus subjektive Freiheit und demokratische Teilhabe nicht in gleichberechtigter, sondern in asymmetrischer Weise hervorbringt: Am Anfang steht die subjektive Freiheit als Freiheit individueller Bedürfnisse und daraus erwachsender Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft. Die demokratische Teilhabe erscheint erst als diesem Freiheitsprinzip nachgelagerte Praxis der Eintragung ethisch vorgefilterter Zwecke in einen prozessual regulierten Wettbewerb um die politische Regierung des liberalen Staates. Die Gefahr, dass die demokratische Teilhabe trotz kultureller Vernunftappelle an dieser Unterordnung zugrunde gehen könnte, ist der Preis des Wagnisses, das mit der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft eingegangen wurde. 9 Dies macht deutlich, warum vernunftethische Begründungen kultureller Solidaritätsstiftung nicht geeignet sind, um politische Krisen des Liberalismus zu verstehen. Aufgrund ihrer transzendentalen Voraussetzung allgemeiner Vernünftigkeit können sie nicht erklären, warum die Erwartung, dass die Menschen »allmählich den Wunsch [entwickeln werden], eine bestimmte Art von Person zu sein und ein gemeinsames politisches Leben zu führen« (Özmen 2015: 116), auf breiter Basis enttäuscht wird. 44 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 2.2.4 Die tragische Struktur liberaler Subjektivierung In seiner zur Moderne hinstrebenden Bestimmung charakterisiert Hegel den Begriff der Tragödie anhand von drei zentralen Merkmalen: Der auftretende Konflikt endet in einer (1) tragischen Versöhnung durch (2) subjektive Resignation, die durch eine (3) Naturalisierung bestehender Ordnungsverhältnisse konsolidiert wird. Wie die Ausführung des liberalen Kulturarguments gezeigt hat, wird die Versöhnung auftretender Konflikte zwischen kollidierenden Zwecken auch in der liberalen Handlungsordnung durch eine ethisch vorgelagerte Zweckfilterung gesichert. Diese lässt sich, in Hegels poetologische Begriffsarchitektur eingetragen, als strukturell tragische Kultur (2) subjektiver Resignation beschreiben. Hegel begreift die tragische Resignation als Ausgleich subjektiver Art, weil die anfängliche »Einseitigkeit« (ÄIII 524) des widerständigen Zwecks nicht offen gewaltsam durch die objektiv herrschende Ordnungsmacht, sondern durch die handelnden Subjekte selbst abgestreift wird – »sie müssen resignierend das in sich aufnehmen, dem sie in substantieller Weise selbst sich entgegensetzten« (ÄIII 527). Die Versöhnung durch Resignation erfordert dementsprechend eine Internalisierung des dramatischen Konflikts: Wo das resignierende Subjekt die Kollision seines selbstbestimmt formierten Zwecks mit den objektiv geltenden Ordnungsverhältnissen auf die innere Szene seiner Subjektivität verlagert, muss diese Kollision nicht länger politisch ausgetragen werden (vgl. Kap. 2.1). Den modern tragischen Charakteren gleich finden sich liberale Subjekte »von Anfang an mitten in einer Breite zufälligerer Verhältnisse und Bedingungen« (ÄIII 560), d.h. im Kontext gesellschaftlicher Pluralität, wieder und werden mit der Aufgabe betraut, auf der inneren – ethischen – Szene ihrer Subjektivität »wahrhafte« von falschen Zwecken zu unterscheiden. Rawls nicht unähnlich, beschreibt Hegel die Aufgabe, die dem tragischen Subjekt zur Sicherung der Versöhnbarkeit berechtigt auftretender Konflikte zukommt, als verantwortungsvolle Filterung seiner individuellen Zwecke nach dem Maßstab einer übergeordneten, »ewigen Gerechtigkeit« – die Hegel nicht politisch, sondern metaphysisch begründet. Es schleicht sich dadurch die Forderung eines vorauseilenden Gehorsams in Hegels Bestimmung der Tragödie ein, die in einem Spannungsverhältnis zum dramatischen Prinzip einer Gleichberechtigung der kollidierenden Mächte steht (vgl. Kap. 2.1). Dieselbe Tendenz lässt sich in der liberalen Verschiebung von der Berechtigung subjektiver Freiheit zu einer kulturell begründeten, politischen 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 45 Ethik beobachten: So wie die dramatische Handlungsordnung der Tragödie in Hegels Beschreibung immer stärker an das ihr eigentlich entgegengesetzte epische Modell einer Tugendlehre von guten und schlechten Zwecken heranrückt, manifestiert sich im liberalen Kulturargument der immer verbindlichere Appell zu einer freiwilligen Einschränkung individueller Freiheit, die der liberale Staat selbst nicht zu machen bereit ist (vgl. dazu van den Brink 2000: 49–58). In beiden Fällen soll das Subjekt aus »einer Breite zufälliger Verhältnisse und Bedingungen« die wahrhaft gerechten, wahrhaft freien Zwecke herausfiltern: [In] der Tragödie [geht] das ewig Substantielle in versöhnender Weise siegend [hervor], indem es von der streitenden Individualität nur die falsche Einseitigkeit abstreift, das Positive aber, das sie gewollt, in seiner nicht mehr zwiespältigen, affirmativen Vermittlung als das zu Erhaltende darstellt […]. (ÄIII 527) Was Hegel hier als das »ewig Substantielle« der Tragödie beschreibt, entspricht der kulturellen Solidaritätsvoraussetzung liberaler Ordnungsbildung. Die »nicht mehr zwiespältige, [sondern] affirmative Vermittlung« subjektiv freier Zwecke soll freiwillig, aus vernünftiger Einsicht in die übergeordnete Gerechtigkeit der liberalen Handlungsordnung vollzogen werden. In der Konsequenz erweist sich die vorgelagerte Resignation »falsch einseitiger« Zwecke als Bedingung ihrer Überführung in demokratische Prozesse. Das liberale Subjekt ist zwar als Citoyen berechtigt und aufgefordert, selbstbestimmt zu handeln und seine Transformationsbegehren mit dem Ziel ihrer politischen Verallgemeinerung in den demokratischen Wettbewerb einzubringen. Dies gilt aber nur unter der Bedingung, dass es dieses Begehren bereits als Bourgeois entkräftet haben wird. Nur so lassen sich entstehende Konflikte in moderate Reformentwicklungen überführen, ohne die liberale Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft zu gefährden. Dem liberalen Subjekt kommt dadurch eine doppelte Aufgabe zu: Es muss einerseits für seine subjektiv freien, selbstbestimmt formierten Zwecke einstehen, um dem demokratischen Versprechen einer gleichen Teilhabe in der Form ordnungsimmanenter Entwicklungen zur Einlösung zu verhelfen. Andererseits muss es eine grundsätzliche Kompatibilität dieser Zwecke mit den bestehenden Ordnungsverhältnissen gewährleisten, die den Bestand der liberalen Handlungsordnung sichern. In der strukturell tragisch dramatisierten Wirklichkeit der Moderne wird das Auftreten politischer Konflikte zwar formal berechtigt, weil die demokratische Legitimation der liberalen Handlungsordnung auf einer explizit politischen 46 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Berechtigung subjektiver Freiheit beruht. Diese Berechtigung kommt aber keiner praktischen Gewährleistung demokratischer Teilhabe gleich, weil die aus subjektiver Freiheit erwachsenden Zwecke, die in solchen Konflikten kollidieren, privatisiert werden müssen, bevor sie im demokratischen Wettbewerb ausgetragen werden können. Das liberale Subjekt wird, dem tragischen Schicksal Ödipus’ entsprechend, passiviert: Bevor es sich aktiv in die demokratische Gestaltung der Regierungsmacht einbringen kann, muss eine passive Filterung seiner Zwecke auf der inneren Szene seiner Subjektivität durchlaufen worden sein. In dieser uneingestandenen Voraussetzungslogik kommt das konstitutiv »asymmetrische Tragödienmodell« (Schulte 1992: 70) Hegels zum Ausdruck, das dem Erhalt objektiver Ordnungsverhältnisse einen impliziten Primat gegenüber der stets betonten Berechtigung subjektiver Freiheit einräumt. Die mit dieser Beschreibung verbundene Einsicht lautet, dass die kulturelle Einschränkung subjektiver Freiheit im politischen Liberalismus in einer strukturell tragischen Verkehrung ihres behaupteten Primats gegenüber der objektiven Ordnung resultiert: Indem die Freiheit subjektiver Zwecke auf der der politischen Gestaltung willentlich entzogenen – im liberalen Selbstverständnis als kulturell beschriebenen, wie sich später zeigen wird, gouvernemental regierten – Ebene der bürgerlichen Gesellschaft eingeschränkt wird, kommt es zu einem uneingestandenen Primat der objektiv darin herrschenden, »substantiellen« Ordnungsverhältnisse, deren übergeordneter Erhalt vorgibt, was als »wahrhafter« Zweck in den Wettbewerb um die politische Regierung des liberalen Staates eingehen kann. Im politischen Liberalismus waltet die Macht objektiver Ordnung entsprechend nicht nur im stets verdächtigten Staat, sondern in der von ihm freigesetzten bürgerlichen Gesellschaft, deren Regierung weder als solche erkannt noch mit dem Anspruch einer selbstbestimmten kollektiven Gestaltung versehen wird. Daher hat die – auf die Ebene des Staates beschränkte – symbolische Austragung von Konflikten im liberaldemokratischen Wettbewerb, in dem »die Kandidaten vor den Augen der Wähler gegeneinander antreten«, gemäß Lefort und Gauchet eine »Verdunkelung des Wirklichen« (1990: 114) zur Folge. Das Wagnis des politischen Liberalismus besteht nicht darin, dass die demokratische Teilhabe an einer Übermacht subjektiver Freiheit scheitern könnte, sondern darin, dass mit der politischen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft ein im Dunkeln bleibender Mechanismus ihrer Selbstregierung freigesetzt wird, der einen verbindlichen Maßstab der eingeforderten Zweckfilterung – und damit nichts anderes als die objektiven 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 47 Rahmenbedingungen subjektiver Freiheit – vorgibt.10 Im politischen Liberalismus herrscht das Primat einer objektiven Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, die vorgibt, wie subjektive Freiheit in ihr praktiziert werden kann. 2.3 Hegels Kritik der bürgerlichen Gesellschaft Diese auf den ersten Blick mythisch anmutende These einer sich verdunkelnden Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, die eine im liberalen Selbstverständnis uneingestandene Übermacht gegenüber dem Staat gewinnt, findet sich bereits in Hegels Grundlinien angelegt.11 Seine Beschreibung der damals aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft, die zwischen die Entitäten der Familie und des Staates tritt, zeigt auf, dass die subjektive Freiheit, die darin berechtigt wird, an der Form individueller Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet ist. Dadurch gerät sie in Widerspruch zur liberalen Hoffnung auf eine solidarische Praxis der Selbstbeschränkung. Anders als gemeinhin erwartet, führt die zunehmende Abhängigkeit aller von allen 10 Dies steht konträr zu Groß’ Verständnis von Isaiah Berlins »tragischem Liberalismus«. Die liberale Tragik besteht nicht darin, dass sich »keine objektiv gültige Methode finden lässt, nach der sich die verschiedenen Werte in ihren Ansprüchen gegeneinander ausbalancieren ließen« (2002: 148), sondern darin, dass die tatsächliche Praxis solcher Ausbalancierung gesellschaftlichen Mächten überlassen wird, die jenseits des demokratischen Anspruchs selbstbestimmter politischer Gestaltung operieren. 11 Es gilt anzumerken, dass Hegel sich, wo er selbst vom Liberalismus spricht, nicht auf liberale Vertragstheorien bezieht, sondern den »post-1815 French liberalism« referiert, »which for some of its adherents drew on the principles of Jeremy Bentham’s utilitarianism« (Pinkard 2017: 135). In seiner Diskussion der »äussere[n] Ausbreitung« des Liberalismus, dem sich gemäß Hegel »fast alle modernen Staaten« geöffnet haben, nimmt er vor allem die Restaurationsphase der französischen Juli-Monarchie zwischen 1815 und 1830 in den Blick, die er interessanterweise als »fünfzehnjährige Farce« (VG 534) beschreibt. Eine Farce insofern, als die vordergründig liberale Charte Constitutionnelle, der sich die französische Regierung zum Zwecke ihrer Legitimation unterstellte, de facto aus der Feder einer von König Louis XVIII einberufenen Kommission stammte und mit dem Ziel verfasst wurde, »to create the fiction that the revolution of 1789 had never really happened and that the royal succession was continuing as if it had always been there« (Pinkard 2017: 136). Obwohl offenbleibt, ob Marx sich im Achtzehnten Brumaire an dieser Formulierung Hegels orientiert hat, um die Farce des vierzig Jahre – und drei Louis (XIX, Philippe I und für zwei Tage dessen Enkel Philippe II) – späteren Coups von Louis Bonaparte zu beschreiben, bezeugt die – zugegebenermaßen randständige und ohne Bezug zur poetologischen Stufenfolge auftretende – Nennung der Farce in Hegels Geschichtsphilosophie das strukturell regressive Moment des politischen Liberalismus, vgl. Kap. 3. 48 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus gemäß Hegel nicht zu einer kulturell verankerten Solidarität, sondern zu sich verschärfenden Exzessen der Ungleichheit, Verelendung, Vereinzelung und Ohnmacht, die den Fortbestand der liberalen Handlungsordnung bedrohen. Weil Hegel die bürgerliche Gesellschaft in den Grundlinien – trotz der Versöhnung mit dem preußischen Staat, in der er sie am Ende aufgehen lässt – stets in »Wahrung ihrer Differenz« zum liberalen Staat denkt, erreichen ihre Bestimmung gemäß Henrich »eine erstaunliche Modernität […]. In ihr sind die meisten Züge der marxistischen Gesellschaftskritik schon voll ausgebildet« (1971: 202 f., vgl. Kap. 4). Um den politischen Liberalismus als strukturell tragische Handlungsordnung begreifbar zu machen, gilt es, Hegels Tragödientheorie im Kontext seines – in der Rezeption häufig getrennt behandelten – rechtsphilosophischen Spätwerks auszuführen. Durch eine Engführung seiner tragödientheoretischen Argumentation mit den Grundlinien lässt sich ein differenzierteres Bild des Verhältnisses von Bourgeois und Citoyen entwickeln, das die Möglichkeiten und Grenzen politischer Handlungsfähigkeit in der liberalen Handlungsordnung offenlegt. Dementsprechend wird im Folgenden nachvollzogen, wie Hegel die Entstehung individueller Zwecke im »System der Bedürfnisse« der bürgerlichen Gesellschaft beschreibt und weshalb er daraus die Forderung eines religiös fundierten – nicht länger im zeitgenössischen Sinne liberalen – Staates zieht, die im letzten Schritt der Rekonstruktion als falsche Konsequenz aus einer richtigen Problembeschreibung zu kritisieren sein wird. In Hegels Rechtsphilosophie, so Willke, »trifft das Beste und Schlimmste staatstheoretischer Reflexion zusammen« (1996: 17).12 Zu Beginn seiner Ausführungen begreift er die Herausbildung politischer Ordnung in der Moderne – ganz im Sinne der liberalen Programmatik – als Ordnungsbildung, in der »das Besondere sich zur Form der Allgemeinheit erhebe, in dieser Form sein Bestehen suche und habe« (RPh § 186: 343). An späterer Stelle heißt es: 12 Willke (1996: 11–84) schreibt ebenfalls vom liberalen Staat als Tragödie: Er beschreibt dessen Depotenzierung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft allerdings nicht als Strukturmerkmal des politischen Liberalismus, sondern als historisch begründete Selbstaufhebung. Statt diese Entwicklung als notwendige Krise der liberalen Handlungsordnung auszuführen, versteht er sie als weitgehend abgeschlossenen Übergang von der Tragödie des alten liberalen Staates in die Ironie eines neuen, wesentlich schwächeren neoliberalen Staates, vgl. 1996: 11–84, v.a. 84. Für eine Kritik der dadurch implizierten These des Neoliberalismus als neuartige politische Ordnung, vgl. Kap. 3. 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 49 Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten. (RPh § 260: 407) Hegel bestimmt den modernen Staat ausgehend vom Prinzip subjektiver Freiheit. Pippin (vgl. 2008: 210) betont daher zu Recht, dass Hegels Verständnis moderner Staatlichkeit weit näher am liberalen Selbstverständnis operiert als häufig angenommen. Dass Hegel seine Überlegungen gleichwohl in einer illiberalen Apologie des preußischen Staates gipfeln lässt, ist kein bloßer Ausdruck konservativer Kurzsichtigkeit. Es ist der – falsche – Schluss aus einer konzise diagnostizierten, strukturell in der bürgerlichen Gesellschaft angelegten Exzessivität, deren Gefahr Hegel im Unterschied zur kontrafaktischen Hoffnung liberaler Theorien ernst nimmt. 2.3.1 Das »System der Bedürfnisse« und die Freiheitsform individueller Bedürfnisbefriedigung Hegel begründet das Auftreten der modernen Tragödie in der Phänomenologie und der Ästhetik, korrespondierend mit dem Übergang von der homogenen Sittlichkeit der Antike zur entzweiten Sittlichkeit der Moderne, durch die Erweiterung des Kreises möglicher subjektiver Zwecke. Dramatische Handlungsordnungen sind gemäß Hegel dadurch bestimmt, dass Momente subjektiver Freiheit nicht mehr unwillentlich – lyrisch – auftreten und sofort wieder – episch – unterdrückt werden, sondern von der Handlungsordnung selbst als äußerliche Effekte ihrer eigenen Ordnungsbildung affirmiert werden. Der liberale Staat entspricht diesem Modell insofern, als er die individuelle Freiheit subjektiver Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft durch die Form subjektiver Rechte sicherstellt. Die liberale Handlungsordnung realisiert das geistphilosophische Programm einer gelingenden, selbstreflexiven Ordnungsbildung, indem sie die ihr äußerlichen Effekte subjektiver Freiheit nicht länger unterdrückt, sondern ihnen einen berechtigten Ort innerhalb ihrer Handlungsordnung zuweist: in der vom liberalen Staat offen entzweiten bürgerlichen Gesellschaft. Die Zwecke bürgerlicher Individuen sind allerdings nicht ganz so frei, wie sie zunächst glauben machen. In den Grundlinien heißt es: »Die bürgerliche Gesellschaft ist vielmehr die ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sei und 50 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus vermittels ihrer tue« (RPh § 238: 386). In seiner Herleitung der bürgerlichen Gesellschaft legt Hegel dar, dass die vermeintlich freie Natur der Subjekte in der Form individueller Bedürfnisse keine natürlich gegebene Voraussetzung ist, sondern durch die moderne Vergesellschaftung im »System der Bedürfnisse« selbst hervorgebracht wird. Mit Blick auf frühere Ordnungsformationen, in denen widerständige Zwecke, wenn überhaupt, »unterirdisch« (PhG 538) in Erscheinung getreten sind, hält Hegel fest, dass sich der Kreis der Zwecke in der politischen Moderne tatsächlich erweitert hat – die Form subjektiver Freiheit aber nichtsdestotrotz beschränkt bleibt. Vor dem Hintergrund der strukturell episch geordneten Polis des alten Athens führt er aus, dass der Verlust der Einheit der antiken Sittlichkeit einen Verlust der normativen Kontexte verschiedener Zwecke anzeigt, die in die Bereiche der Familie und des Staates aufgeteilt waren. Im Zuge der Moderne werden die tradierten Sitten und Gebräuche, die den normativen Zusammenhang des Gemeinwesens bis dahin organisiert hatten, durch ein gesellschaftlich vermitteltes »System der Bedürfnisse« abgelöst, wodurch sich den Einzelnen zwar ein größerer, aber gleichwohl beschränkter Kreis möglicher Zwecke eröffnet. Gemäß Hegel können die Einzelnen – die das liberale Selbstverständnis schlicht als natürlich gegebene Individuen voraussetzt – erst in und durch ihre Abhängigkeit von anderen zu modernen Individuen werden. Denn die Mittel der Befriedigung ihrer Bedürfnisse, auf der ihr moderner Subjektstatus gründet, werden auf Grundlage einer gesellschaftlich vermittelten Arbeitsteilung hergestellt, die den Gesamtzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft konstituiert. Hegel begreift es als historische Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie den Einzelnen ihre »ursprünglichen, d.i. unmittelbaren Erwerbungsarten« (RPh § 217: 370) entzieht und sie in ein gesellschaftlich vermitteltes »System der Bedürfnisse« einträgt. Diese Eingliederung verspricht einerseits eine durch die Allgemeinheit vermittelte Befriedigung individueller Bedürfnisse, die Hegel als Voraussetzung der Entwicklung eines selbstbestimmten modernen Subjektstatus versteht. Wie Marx herausstellt, zwingt sie die von ihren ursprünglichen Erwerbungsarten Enteigneten aber andererseits dazu, zur Gewährleistung ihrer Subsistenz ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft setzt ein zu »Vagabunden gemachte[s] Landvolk« voraus, das durch »grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert« wurde. Nachdem ihnen die Möglichkeit der selbstbestimmten Subsistenz 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 51 genommen und deren Gewährleistung durch eine Verallgemeinerung gegenseitiger Abhängigkeit im »System der Bedürfnisse« durchgesetzt wurde, bedurfte die soziale Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft weit weniger unmittelbarer Gewalt. Seit es außerhalb dieser Gesellschaft keine Subsistenzsicherung mehr gibt, sorgt der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (Marx 1968: 765) dafür, dass die Einzelnen sich ins System bürgerlicher Vergesellschaftung eingliedern (vgl. Amlinger, Nachtwey 2022: 47). Obschon Hegel selbst keine explizite Kritik der politischen Ökonomie entwickelt hat, bezeugen seine Ausführungen der bürgerlichen Gesellschaft in den Grundlinien bereits die Grundstrukturen eines Systems allgemeiner arbeitsteiliger Abhängigkeit, in dem der Beitrag der Einzelnen zur Befriedigung der Bedürfnisse aller so erscheint, als wäre er ein bloßer Effekt des Strebens nach der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse (vgl. Smith 2015). In der bürgerlichen Gesellschaft werden soziale Beziehungen durch den Austausch von Waren vermittelt, da dieser Austausch nach dem Verlust vormoderner Praktiken der Subsistenzsicherung den Zugang zu den Existenzbedingungen individueller Bedürfnisbefriedigung reguliert (vgl. von Redecker 2020b: 41–57). Der marktförmige Umlauf dieser Waren bringt Standards und Anforderungen hervor, die die Produzent:innen erfüllen müssen, um zu überleben (vgl. Hirsch 1995: 17 f.). Um nicht mehr als die gesellschaftlich notwendige Zeit für die Produktion einer Ware aufzuwenden, sehen sie sich gezwungen, kompetitive Technologien und Organisationsformen zu übernehmen, die auf einer möglichst effizienten Ausbeutung der investierten Arbeitskraft gründen.13 Die Einzelnen können die Befriedigung ihrer individuellen Bedürfnisse entsprechend nur sichern, indem sie sich den ökonomischen Verhältnissen fügen. Mit anderen Worten: In der bürgerlichen Gesellschaft setzen die Bewegungsgesetze eines instabilen Marktes gemessen am Wert produzierter Waren die Bedingungen fest, unter denen die Einzelnen – nach Maßstab ihrer jeweiligen Rolle im Gesamtgefüge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – Zugang zur Befriedigung ihrer Be13 Da der autodynamische Verwertungsimperativ auf der Abschöpfung vom Mehrwert der investierten Arbeitskraft basiert, operiert er nur scheinbar selbstständig. Die soziale Vermittlung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Verwertung von Wert bedeutet daher nichts anderes als ihre Vermittlung durch abstrakte, am Maßstab ihrer möglichst effizienten Ausbeutung organisierte Arbeit, vgl. Postone 1993: 151. Zentral ist, dass der Verwertungsimperativ nicht nur die im strengen Sinne ökonomische Sphäre der Produktion organisiert, sondern indirekt auch sämtliche Bereiche ihrer sozialen Reproduktion prägt, von »households, neighborhoods, civil-society associations« bis zu »informal networks, and public institutions such as schools« (Fraser 2017a: 23). 52 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus dürfnisse erhalten (vgl. Heinrich 2014: 257 f.). Die daraus resultierende »Bereicherung des Kapitalisten« ist, wie Heinrich darlegt, »genauso wenig Zweck« der bürgerlichen Gesellschaft »wie die Reproduktion der Arbeitskräfte, beides ist nur Abfallprodukt der Verwertung« (2012: 29; vgl. dazu auch Osborne 2004: 27), welche die Bedürfnisbefriedigung organisiert. In der marxistischen Theoriebildung wird die Form sozialer Vermittlung und gesellschaftlicher Kohäsionsstiftung durch die Logik der Verwertung daher als abstrakte Herrschaft beschrieben, die das soziale Verhältnis einer allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den Menschen, das die bürgerliche Gesellschaft konstituiert, als sachliche Beziehung zwischen Menschen und Dingen zur Darstellung bringt (vgl. Adamczak 2017: 267 f.; Mau 2023: 185 f.; von Redecker 2020b: 55).14 Der liberalen Logik der Ausdeutung von subjektiver Freiheit als individuelle Bedürfnisbefriedigung zufolge schaut zu allen, wer zuerst für sich selbst schaut. In Hegels Formulierung: »In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse« soll die »subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um[schlagen]« (RPh § 199: 353). Dadurch wird die Freiheit der Subjekte bereits auf Ebene der Zweckfindung und -formierung eingeschränkt. Sie kann nur als Effekt des marktförmigen »Systems der Bedürfnisse« hervorgebracht werden, d.h. in der Form von Zwecken zur individuellen Bedürfnisbefriedigung, die gesellschaftlichen Rationalitätsstandards entsprechen müssen. Hegel zeigt, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht bloß natürlich vorgegebene Bedürfnisse vermittelt, sondern ein System aufeinander verwiesener Tätigkeiten etabliert, indem Bedürfnisse immer schon zerlegt, unterschieden, vervielfältigt worden sind (vgl. RPh § 190: 348), bevor sie von den Subjekten in die Form partikularisierter Zwecke gebracht werden können. Folgt man Hegels geistphilosophischer Argumentation, müssen die 14 Wie Habermas darlegt, handelt es sich bei der Erschließung der bürgerlichen Gesellschaft auf Grundlage der politischen Ökonomie nicht um eine argumentative Ablenkung von den Prämissen der liberalen Theoriebildung. Die liberale Naturrechtskonstruktion hat »selber die Politische Ökonomie als Probierstein ihrer Wahrheit betrachtet: Die Naturgesetze der Gesellschaft sollten die Versprechen der Naturrechte des Menschen einlösen. Wenn daher Marx jetzt der Politischen Ökonomie nachweisen konnte, daß der freie Verkehr der Privateigentümer untereinander einen chancengleichen Genuß der persönlichen Autonomie für alle Individuen notwendig ausschließt, so hatte er zugleich den Beweis geliefert, daß den formalen und generellen Gesetzen der bürgerlichen Privatrechtsordnung die prätendierte Gerechtigkeit ökonomisch versagt bleiben muß« (1971: 115). 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 53 Zwecke des Bourgeois als äußerliche Effekte der liberalen Ordnungsbildung verstanden werden, in die ihre praktische Verwirklichung eingetragen ist. Sie sind nicht gänzlich frei, sondern stehen als äußerliche Freiheitseffekte der liberalen Handlungsordnung immer in – teils auch negativem – Bezug zur marktförmigen Arbeitsteilung, die die bürgerliche Gesellschaft strukturiert. Obschon der liberale Staat die subjektive Freiheit der Einzelnen explizit als Voraussetzung und Grenze seiner Regierungsmacht begreift, ist es dieser liberale Staat, der der subjektiven Freiheit ihre bürgerlichindividuelle Form gibt: Denn wenn die Freiheit der Einzelnen einerseits die Voraussetzung des Staates ist, ist sie durch den Staat hervorgebracht: Es gibt sie nicht von selbst oder von Natur aus; die individuelle Freiheit ist ein politischer Effekt. (Menke 2019: 181)15 Die individuelle Freiheit der Einzelnen ist als äußerlicher Effekt staatlicher Ordnungsbildung zu verstehen, der sich in der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht; ein Effekt, den der liberale Staat zwar hervorbringt, aber inhaltlich nicht reguliert, weil er ihn durch die naturrechtliche Begründung der gleichen subjektiven Freiheit aller naturalisiert. Dass sich subjektive Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft als individuelle Freiheit verwirklicht, heißt nicht, wie das liberale Selbstverständnis behauptet, dass diese Freiheit gänzlich frei, weil vor politischen Eingriffen geschützt wäre, sondern dass sie im politischen Liberalismus willentlich einer impliziten, mit Lefort gesprochen: einer verdunkelten Regulierung durch die kapitalistisch vermittelte Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft überlassen wird. Hegels implizite Kritik am liberalen Selbstverständnis lautet, dass es sich blind macht für die konstitutive Rolle gesellschaftliche Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft und die daraus resultierende Begrenzung subjektiver Freiheit auf individuelle Bedürfnisbefriedigung. In der liberalen Theoriebildung wird der historische Formwandel des Mediums gesellschaftlicher Integration von einer tradierten, umgreifenden Sittlichkeit zum modernen, arbeitsteiligen »System der Bedürfnisse« nicht als politisch gewollte Hervorbringung einer staatlich abgesicherten kapitalistischen Ökonomie zur Darstellung gebracht. Er erscheint ausschließlich als Freiheitsgewinn auf nor- 15 Anders formuliert: Würde die bürgerliche Gesellschaft nicht explizit durch den liberalen Staat freigesetzt, könnte sie ihre marktförmige Vermittlung sozialer Beziehungen nicht erhalten: »Ohne die Form der subjektiven Rechte«, so das Programm von Menkes Kritik der Rechte »kein Kapitalismus« (2015: 311, vgl. dazu auch Pistor 2020: 327). 54 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus mativer Ebene, als überfällige Auflösung von sittlicher Unfreiheit in der vermeintlich natürlichen Freiheit individueller Bedürfnisse. In kritischer Ausführung desselben Arguments hält Marx fest: »Der Mensch, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist […] erscheint […] notwendig als der natürliche Mensch« (1970: 369). Das damit verbundene Problem liegt in der Fragwürdigkeit dieser Natürlichkeit. Anders als Berlin, der die individuellen Freiheitsrechte der bürgerlichen Gesellschaft dadurch begründet, dass die Freiheit der Einzelnen nicht durch äußere Zwänge beschnitten werden darf, verweisen Hegel und Marx auf die Gefahr innerer Zwänge, die die bürgerliche Vergesellschaftung aus sich selbst heraus hervorbringt. In diesem Sinne konstatiert Marx, dass die naturrechtlich legitimierte Französische Revolution […] das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf[löst], ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis. (1970: 369) Die Konsequenz, der von Hegel vorbereiteten und von Marx ausgeführten Kritik der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft, lautet nicht, dass es im politischen Liberalismus in Wirklichkeit keine subjektive Freiheit gäbe, dass das erhobene Versprechen bloß normative Ideologie sei und seine Funktionsweise stattdessen unmittelbar aus ökonomischen Strukturen abgeleitet werden sollte. Sie lautet bescheidener, dass die individuelle Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft immer schon beschnitten und durch die abstrakte Herrschaft marktförmiger Verwertungsimperative vorgeformt ist. Die Hervorbringung gesellschaftlich bedingter, aber individuell erscheinender Bedürfnisse wird durch die Naturalisierung menschlicher Pluralität, die dem liberalen Freiheitsversprechen zugrunde liegt, verdunkelt. Denn die liberale Theoriebildung versteht nicht, dass die arbeitsteilig hervorgebrachten, individuellen Bedürfnisse gleichzeitig in historisch bis dahin unbekanntem Maße frei und beschränkt sind. Sie übersieht, dass sich in der individuellen Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht die Form, sondern eine Form subjektiver Freiheit verwirklicht. 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 55 2.3.2 Die Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft Die Sorge, die Hegel im Zuge seiner Analysen der bürgerlichen Gesellschaft umtreibt, betrifft das destruktive Potenzial, das er in der liberalen Formbestimmung subjektiver Freiheit als individuelle Bedürfnisbefriedigung verortet. Dass die Zwecke der Einzelnen nur vermittelt durch die kapitalistische Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebracht werden können, führt gemäß Hegel zu einer Willkürfreiheit, die er als Grund für die systemisch bedingte Instabilität der liberalen Handlungsordnung begreift. Für Hegel ist klar, dass die liberale Freisetzung des »Systems der Bedürfnisse« in zunehmender Ungleichheit, Vereinzelung, Verelendung und Ohnmacht resultieren muss. Dies ist der Grund, warum Hegel die Grundlinien mit der Legitimierung eines christlich fundierten Staates abzuschließen versucht, dessen Aufhabe es ist, die Exzesse bürgerlicher Willkürfreiheit abzuwenden.16 Die liberale Handlungsordnung zeichnet sich gemäß Hegel dadurch aus, dass sich die Besonderheit individueller Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft in einer »nach allen Seiten auslassende[n] Befriedigung« individueller Bedürfnisse in »zufälliger Willkür und subjektive[m] Belieben« realisiert. In dieser bürgerlich »selbständigen Entwicklung der Besonderheit« kündigt sich Hegel zufolge der »letzte Grund des Untergangs« der liberalen Handlungsordnung an, weil die Form der Berechtigung subjektiver Freiheit als ausgelassene Befriedigung individueller Bedürfnisse den liberalen Staat früher oder später zu zerstören droht. Im Kontext der bürgerlichen Arbeitsteilung erweist sich die liberale Ausdeutung des revolutionären Versprechens der gleichen Freiheit aller in der Form einer gleichen Rechtsfreiheit als staatliche Stabilisierung eines Systems sozialer 16 Ein anderer, in Hegel verankerter Argumentationsstrang, auf den mit Blick auf die Problematik der Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft häufig verwiesen wird, ist die Konzeption sozialer Freiheit. Das Problem, das mit der Idee eines sittlich verankerten Rechts auf Freiheit (Honneth 2013) einhergeht, liegt Pippin folgend darin, dass die »Freiheitsversprechen der Moderne«, die dem »Individuum in all seinen legitimen Freiheiten zum Recht in der sozialen Ordnung […] verhelfen soll[en]« (Honneth 2013: 118), nicht in der Form von Rechtsansprüchen realisiert werden können – »they are the condition for the actuality of such claims« (Pippin 2008: 257). Anders formuliert: Eine soziale Verrechtlichung der Solidaritätspraktiken, durch die die liberale Handlungsordnung gesichert werden soll, kann ihrerseits nicht in der Form der liberalen Rechtsordnung durchgesetzt werden, weil diese Praktiken ihr, wie Böckenförde richtigerweise offenlegt, vorausgesetzt sind, vgl. Kap. 2.2.3. 56 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Ungleichheit. Aufgrund der ökonomischen Verwertungsimperative, die die sozialen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft vermitteln und formen, führt die liberale Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft, die diese Beziehungen vor politischen Eingriffen schützen soll, in ein »Schauspiel ebenso der Ausschweifung [wie] des Elends« (RPh § 185: 341). Wie Hegel zu einem historisch bemerkenswert frühen Zeitpunkt beobachtet, führt die »Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit« nicht wie erhofft dazu, dass »die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um[schlägt]« (RPh § 199: 353). Im Gegenteil: Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer […] auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt. (RPh § 243: 389) In seiner Beschreibung der Unfähigkeit des Genusses seitens der arbeitenden Bevölkerung zeigt Hegel, inwiefern die Arbeitsteilung im »System der Bedürfnisse« mit einer uneingestandenen Teilung der Bedürfnisberechtigung einhergeht, die den Arbeitnehmenden den Genuss geistiger wie materieller Güter entzieht. Er schildert die Organisation individueller Bedürfnisbefriedigung damit ähnlich wie später Marx: Ohne seine Kritik bürgerlicher Vergesellschaftung bereits in ein politökonomisches Vokabular einzutragen, begreift Hegel Not und Elend nicht als sozialontologisches Phänomen, sondern als Resultat der historischen Hervorbringung einer Klasse von Arbeiter:innen, die ihre Arbeit zu Marktkonditionen verkaufen müssen, um überleben zu können. Deren Armut wird nicht länger auf natürliche Umstände wie schlechte Ernten oder die Despotie gemeiner Fürsten zurückzuführen sein, sondern als systemische Konsequenz einer gemäß der liberalen Rechtsordnung gleichen und freien Arbeitsteilung zur Darstellung gebracht. Der weitgehende Verlust der unabhängigen Subsistenz im Zuge der Industrialisierung, die Marx unter den Nenner der ursprünglichen Akkumulation stellt, führt gemäß Hegel zu einem Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise […] – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen –, [was] die Erzeugung des Pöbels hervor[bringt], die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt. (RPh § 244: 389) 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 57 In dieser berühmten Passage, die Henrich zur Behauptung verleitet, dass Marx nicht nur »in seinem systematischen Problem, sondern auch in seinen konkreten Analysen […] ein Schüler Hegels gewesen« (1971: 203; vgl. dazu auch Ruda 2011: 23–35) sei, legt Hegel dar, welche sozialen Konsequenzen die liberale Freisetzung individueller Bedürfnisbefriedigung in der bürgerlichen Gesellschaft zeitigt. Aufgrund seiner gleichzeitigen politischen Freisetzung und rechtlichen Absicherung durch den liberalen Staat bringt das »System der Bedürfnisse« einen Zustand hervor, in dem einige wenige über die Subsistenzmittel vieler anderer verfügen und die rechtlich gleichgestellte Freiheit aller faktisch zur Unterdrückung der Freiheit der Besitzlosen führt. Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern. (RPh § 245: 390) In anderer Formulierung lautet Hegels These, dass die bürgerliche Gesellschaft keine Solidaritätspraxis hervorbringen kann, welche die soziale Einlösung des Versprechens der gleichen Freiheit aller garantieren könnte, indem sie die marktförmigen Imperative kapitalistischer Verwertung eindämmt und der Ausbeutung der arbeitenden Klasse dadurch Schranken setzt. Die Entwicklung eines »eigentümliche[n] Vermögen[s]« bürgerlicher Solidarität, von dem die liberale Theoriebildung hofft, dass sie durch kulturelle Bildung und eine freiwillige ethische Selbstbeschränkung hervorgebracht werde, wird durch ebenjene arbeitsteilige Organisation der bürgerlichen Gesellschaft verstellt, deren Exzesse sie abwenden soll. Denn die rechtliche Absicherung des bürgerlichen Diktums, dem zufolge die subjektive Selbstsucht der Einzelnen aufgrund ihrer gegenseitigen Abhängigkeit in einen Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller umschlägt, sichert im gleichen Zug die abstrakte Herrschaft jener marktförmig vermittelten Verwertungsimperative, die es den Einzelnen verunmöglichen, ihre Zwecke ethisch einzuschränken, ohne ihre Bedürfnisbefriedigung grundsätzlich zu gefährden. Gemäß Hegel führt ausgerechnet jene Form der staatlich gesicherten Rechtsgleichheit, die das normative Versprechen der Gleichheit und Freiheit im politischen Liberalismus verwirklicht, dazu, dass das kulturell verankerte »Gefühl des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre« verlustig geht. 58 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus In der marxistischen Theoriebildung wird diese Einsicht in die strukturell bedingte Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Krisentheorie der kapitalistischen Produktionsweise weiterentwickelt, die darlegt, warum die Instabilität der Verwertungslogik nicht in einen Kollaps der liberalen Handlungsordnung führt, sondern zu ihrer Stabilisierung beiträgt (vgl. Clarke 1993). Gemäß Mau muss die kapitalistische Produktionsweise in periodischen Abständen Krisen der Überproduktion hervorbringen, weil das individuelle Expansionsinteresse einzelner Kapitaleigentümer:innen im Widerspruch zum Selbsterhaltungsinteresse der Märkte steht, die nicht unendlich expandieren können: In the capitalist mode of production, the production of useful things is subordinated not only to the production of value, but to the valorisation of value, and the mute compulsion of competition forces individual capitals to produce without regard for the limits of the market, like a stuck gas pedal in a car heading towards a cliff. (2023: 307) In der Konsequenz kommt es zu regelmäßigen Wirtschaftskrisen, die durch eine Vernichtung von überschüssigem Kapital und einer Erhöhung des Lohndrucks sicherstellen, dass die Kapitalakkumulation effizient fortgeführt werden kann. Solche Wirtschaftskrisen führen entsprechend nicht automatisch zu einer politischen Infragestellung der liberalen Handlungsordnung, wie der junge Marx noch hoffte. Die darin zum Ausdruck kommende Exzessivität der bürgerlichen Vergesellschaftung ist ein notweniger Ausgleichsmechanismus des der Verwertungslogik inhärenten Widerspruchs zwischen Expansion und Selbsterhaltung, der genauso gut folgenlos bleiben oder gar zu einem Abbau sozialrechtlicher Regulationsmechanismen führen kann. Der späte Marx hält daher im dritten Band des Kapitals fest: »Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen« (1983: 259).17 Um der Gefahr, die sich aus der diagnostizierten Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft ergibt, etwas entgegenhalten zu können, entwirft Hegel in den Grundlinien das Modell eines christlich fundierten Staats, das er im protestantischen Preußen seiner Zeit gelingend realisiert sieht. Aufgabe dieses Staates ist es, die Gegensätze zwischen Besitzenden und Besitzlosen 17 Dass Krisen in diesem Sinne systemstabilisierend sind (vgl. Mau 2023: 317; O’Kane 2022), ist das, was akzelerationistische Ansätze übersehen, wenn sie behaupten: »the only way out of capitalism is through it« (bspw. Shaviro 2014, für eine Kritik, vgl. Alphin 2023: 111–118). 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 59 zu schlichten, indem der Besonderheit der Einzelnen durch das christliche Freiheitsversprechen eine Form gegeben wird, die zugleich ein Bewusstsein substanzieller Einheit hervorbringt (vgl. Bayer 2021: 87; Ruda 2011: 23; Yildiz 2008: 119). Im Unterschied zu liberalen Denker:innen konstatiert Hegel, dass die Konstitution bürgerlicher Solidarität einer Motivation bedarf, die sich nicht in der Abstraktion eines gerechten Staates erschöpfen kann, der aus vernünftigen Gründen nicht abgelehnt werden kann. [T]he additional motivation for giving allegiance to such an abstraction had to come from the appropriate religion as the realm of »feeling« or »passion« so that a workable conception of a wider, shared good could get a grip within the fragile psychologies of individual people. (Pinkard 2017: 164) Weil die subjektive Freiheit der Einzelnen durch ihre liberale Formgebung zu sozialen Exzessen führt, sieht Hegel die Aufgabe der fortgeschrittenen politischen Moderne darin, »die subjektive Freiheit auf die absolut objektive, auf die göttliche Subjektivität zurück[zuführen]« (Theunissen 1970: 409).18 Dadurch glaubt er eine christliche Solidaritätspraxis begründen zu können, die es vermag, die bürgerliche Gesellschaft nachhaltig zu stabilisieren. Gewährleistet wird diese Praxis durch einen Staat, der seine Regierungsmacht zugunsten einer substanziellen Sicherung und Stärkung protestantischer Sittlichkeit einsetzt. Wie Marx (1976b) in seiner Kritik der Grundlinien zeigt, scheitert dieses Modell an Hegels eigenem Programm eines modernen Staates, der es vermögen können soll, die subjektive Besonderheit der Einzelnen zu wahren und sie gleichsam in eine substanzielle Einheit zu fügen. Marx legt darin dar, dass das Vermögen zur selbstbestimmten Handlung, das Hegel als Grundlage einer durch subjektive Rechte vermittelten liberalen Handlungsordnung ausweist – Grund des Rechts ist das »Dasein des freien Willens« (RPh § 29; 79) –, gemäß Hegels eigener Definition subjektiver Freiheit nicht äußerlich, d.h. auch nicht durch ein staatlich verbürgtes Gleichheitsversprechen Christus’, an die bürgerliche Gesellschaft herangetragen werden kann.19 Indem Hegel, den »Himmel auf die Ebene weltlicher Herrschafts- 18 Diese Argumentationsfigur ist nicht so anachronistisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag: Mit Rosas Demokratie braucht Religion (2022) wurde sie jüngst wieder politisch aktualisiert, vgl. dazu Özmen 2023: 33 f. 19 Marx’ Kritik überzeugt insbesondere mit Blick auf Stellen, in denen Hegel zur Legitimation seiner Staatstheorie ein metaphysisches Naturverständnis heranzieht, das hinter seine geistphilosophischen Begriffsbestimmungen subjektiver Freiheit zurückfällt, so z.B. in RPh § 280 und 60 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus verhältnisse« (Theunissen 1970: 446) projiziert, verwechselt er nicht nur Sein und Sollen. Er redet einem »emanzipationsfeindlichen, reaktionären Staatskult« das Wort, der die von »Gott angebotene Versöhnung« mit einem, jeder politischen Begründung entbehrenden, »Versöhntsein bestehender Weltwirklichkeit« (1970: 447) gleichsetzt (vgl. dazu auch Avineri 1976; Habermas 1985: 52 f.). Mit Wallat gesprochen, besteht der »eigentliche Skandal der hegelschen Philosophie« darin, dass er die eigens diagnostizierte Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft in seiner Staatsphilosophie sogleich wieder »mit den höheren Weihen metaphysischen Glorienscheins« (2009: 71) zu verschleiern versucht.20 2.4 Die zwei Ebenen bürgerlicher Selbstregierung Hegel folgend wurde dargelegt, dass die liberale Formgebung subjektiver Freiheit als individuelle Bedürfnisbefriedigung nicht zu der erhofften gleichen demokratischen Teilhabe aller führt, sondern ein marktförmig vermitteltes »System der Bedürfnisse« hervorbringt, das sich einer selbstbestimmten politischen Gestaltung entzieht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der liberale Staat, indem er die individuelle Freiheit der Einzelnen voraussetzt, zugleich voraussetzen muss, »daß [diese] Freiheit sich reguliert oder sich selbst regiert« (Menke 2019: 190). Denn die Vorstellung, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht regiert würde, weil der liberale Staat willentlich davon absieht, sie politisch zu regieren, ist ein Fehlschluss: Sie wird nicht nicht regiert, sie wird anders regiert. Im liberalen Selbstverständnis soll diese Selbstregierung durch eine verantwortungsvolle Filterung individueller Zwecke seitens der Subjekte zustande kommen. Vor dem Hintergrund des bereits von Hegel beobachteten Scheiterns bürgerlicher Solidarität § 281: 449–454; vgl. dazu Wolff 2004. Marx hat allerdings die Tendenz, den liberalen Staat als bloße Folge der Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft darzustellen, wodurch die politische Rolle ihrer Freisetzung durch ebendiesen Staat verdunkelt wird. 20 Weil sich Hegels theologische »Begründung« seiner Staatstheorie als am wenigsten anschlussfähiger Teil seiner politischen Philosophie erwiesen hat, haben zahlreiche Autor:innen sich der Aufgabe der Formulierung einer demokratischen Sittlichkeit nach Hegel angenommen. Diese soll den geistigen Setzungscharakter präsent halten, den er in seiner Geistphilosophie begrifflich überzeugend ausgeführt, in seiner Staatstheorie aber zugunsten einer metaphysischen Argumentation aufgegeben hat, vgl. bspw. Khurana 2017: 474; Honneth 2013: 470–474; Wellmer 1993: 28. 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 61 angesichts der objektiven Verwertungsimperative kapitalistischer Arbeitsteilung, bedarf es einer anderen Beschreibung subjektiver Selbstregierung: Statt einer verantwortungsvollen und ausgeglichenen Bedürfnisbefriedigung führt das »System der Bedürfnisse« zu einer Übermacht abstrakter Herrschaftsverhältnisse aus der eine Kultur subjektiver Anpassung erwächst, welche die Exzesse der bürgerlichen Vergesellschaftung reguliert, indem es sie normalisiert. Die Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft greift dementsprechend auf zwei Ebenen, die in der folgenden Darstellung unterschieden werden, obwohl sie in der Praxis ineinandergreifen: die Selbstregierung bürgerlicher Institutionen und die korrespondierende Selbstregierung der Subjekte (vgl. Heller 2018: 336). In der zweitgenannten Form bezieht sich das Selbst bürgerlicher Selbstregierung auf das Selbst der Subjekte in der bürgerlichen Gesellschaft, in der erstgenannten auf das ordnungstheoretisch bestimmbare Selbst dieser Gesellschaft, das sich im »System der Bedürfnisse« reproduziert: Die bürgerliche Gesellschaft regiert sich als Ganze selbst. Im Folgenden wird das Verhältnis dieser beiden Ebenen in Rekurs auf Foucaults Kritik der Gouvernementalität ausgeführt, die die Verklammerung der objektiven Regierung des Gouvernements mit der Mentalität regierter Subjekte in den Blick nimmt (vgl. Saar 2011: 38 f.). Eine Orientierung an Foucault ermöglicht es, die bereits über Hegel und Marx erläuterte objektive Ebene bürgerlicher Selbstregierung durch eine Analyse kultureller Normalisierung zu ergänzen und das Verhältnis beider Ebenen als Verhältnis einer asymmetrischen gegenseitigen Voraussetzung zu bestimmen. Denn wie sich zeigen wird, manifestiert sich die spezifisch tragische Struktur liberaler Ordnungsbildung in der beidseitigen Voraussetzung subjektiver und objektiver Praktiken bürgerlicher Selbstregierung. Im Folgenden soll zunächst Foucaults Theorie der Gouvernementalität aufgegriffen werden, um die daraus erwachsenden Potenziale, ebenso wie ihre Beschränkungen für ein auf beiden Ebenen operierendes Verständnis bürgerlicher Selbstregierung herauszustellen (Kap. 2.4.1). Nachdem in einem ersten Schritt die politiktheoretische Implikation der objektiven Selbstregierung dargestellt (Kap. 2.4.2) und die daraus resultierende tragische Selbstvergessenheit des politischen Liberalismus rekapituliert wird (Kap. 2.4.3), wird in einem zweiten Schritt das Phänomen einer kulturell vermittelten Normalisierung in den Blick genommen. Dafür wird die subjektive Ebene bürgerlicher Selbstregierung Foucault folgend in Abgrenzung 62 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus von der affirmativen Überformung ihres Kulturcharakters in der liberalen Theoriebildung erschlossen (Kap. 2.4.4), was es erlaubt, die Erfahrung einer Ohnmacht gegenüber der vermeintlich natürlichen Gerechtigkeit bürgerlicher Vergesellschaftung in Referenz auf Hegels Verständnis tragischer Gerechtigkeit zu erläutern (Kap. 2.4.5), um dann im nächsten und letzten Schritt die übergreifend tragische Struktur liberaler Ordnungsbildung herauszuarbeiten (Kap. 2.5). 2.4.1 Foucaults Kritik der Gouvernementalität Mit Foucault lässt sich die politische Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft durch den liberalen Staat als Hervorbringung einer gouvernementalen Praxis ihrer Selbstregierung beschreiben. In seiner Analyse (neo)liberaler Regierungspraktiken führt er den Begriff des gouvernementalen Regierens dementsprechend als Gegenbegriff zum souveränen staatlichen Regieren ein. Anders als das souveräne Regieren, das auf der demokratisch legitimierten Bühne des Staates offen in Erscheinung tritt, vollzieht sich das gouvernementale Regieren unsichtbar in der politisch verdunkelten Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Im Unterschied zu Foucault, der die Gegenüberstellung von souveränem und gouvernementalen Regieren als Logik einer historischen Entwicklung vom Liberalismus zum Neoliberalismus begreift (vgl. Brown 2015: 52–88; Saar 2011), wurde in der vorausgehenden Rekonstruktion des politischen Liberalismus ausgehend von Hegel und Marx dargelegt, dass die uneingestandene Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft als Gegenseite staatlichen Regierens in der Struktur der liberalen Handlungsordnung angelegt ist.21 Foucault zufolge fasst Gouvernementalität [d]ie Gesamtheit, die von den Anweisungen, Verfahren, Analysen und Reflexionen, Kalkülen und Taktiken gebildet wird, die es erlauben, diese sehr spezifische und zugleich sehr komplexe Form der Macht auszuüben. (1978: 655) Aufschlussreich ist diese Bestimmung, weil Foucault im Unterschied zum liberalen Selbstverständnis nicht die individuellen Zwecke der Einzelnen als natürlichen Ausgangspunkt der inneren Regulierung der bürgerlichen 21 Der Neoliberalismus ist dementsprechend auch nicht als neue politische Ordnung, sondern als immanente Radikalisierung des Liberalismus zu verstehen (vgl. Kap. 3.3). 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 63 Gesellschaft begreift, sondern das Prinzip bürgerlicher Gouvernementalität dadurch bestimmt, dass sie »als ihren Effekt […] produzier[t], was sie als existierend beschreibt« (Lemke 1997: 171). Foucault legt dar, dass die bürgerliche Gesellschaft die individuellen Bedürfnisse, die sie nur zu schützen und zu befriedigen vorgibt, selbst hervorbringt.22 Er rekonstruiert die dem liberalen Individuum zugrundeliegende Vorstellung eines empirisch vorausgesetzten Interessensubjekts, dessen gewollte Zwecke als »zugleich unmittelbar und absolut subjektiv« (2004: 375) erscheinen. Tatsächlich werden diese Zwecke jedoch erst durch die »Kunst des liberalen Regierens« als Zwecke der individuellen Bedürfnisbefriedigung hervorgebracht, indem »an die Stelle einer äußerlichen Begrenzung […] eine interne Regulation« (Lemke 1997: 172; vgl. dazu auch Loick 2013: 308 f.) tritt. Foucault zeigt, dass die liberale Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft nicht mit der »Abwesenheit eines Koordinations- und Regulationsinteresses« einhergeht, sondern dass »das Element der Freiheit die Notwendigkeit ihrer Abstimmung und Steuerung« (Lemke 1997: 183) im Gegenteil verschärft. Dabei unterscheidet er die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft dadurch von früheren Regierungsformen, dass sie nicht länger auf offenen Zwang und direkte Gewaltausübung setzt. Gouvernemental ist eine Regierungspraxis allerdings nicht, weil sie auf offene Gewaltmittel verzichten würde, sondern weil sie sich nicht als Politik im demokratischen Sinne – der gleichen und freien Teilhabe aller in Form einer selbstbestimmten Gestaltung geteilter Praxis –, sondern als »unsichtbare […] Politik« (Möllers 2020: 115) verwirklicht. Nach Foucault können die Dispositive der bürgerlichen Gesellschaft – Erziehung, Wissenschaft, 22 Hegel beschreibt die innere Regulierung der bürgerlichen Gesellschaft in den Grundlinien in Referenz auf den Begriff der Polizei, den er von dem des Staates unterscheidet: »Die polizeiliche Aufsicht und Vorsorge hat den Zweck, das Individuum mit der allgemeinen Möglichkeit zu vermitteln, die zur Erreichung der individuellen Zwecke vorhanden ist« (RPh § 236: 385; vgl. dazu Menke 2019: 185). Damit geht nicht nur ein Problem terminologischer Art einher, weil Hegels Begriff der Polizei eine Verwechslungsgefahr innewohnt; nicht nur mit dem Alltagsverständnis von Polizei, sondern auch mit Foucaults Polizeiverständnis, das in Opposition zur liberalen Regierungskunst steht, sowie mit Rancières (2014) Konzeption der Polizei, die als begriffliches Gegenteil zur demokratischen Politik subjektiver Freiheit dient. Hegels Verständnis polizeilicher Tätigkeit ist problematisch, weil er sie als »über« den »verschiedenen Interessen der Produzenten und Konsumenten stehende, mit Bewusstsein vorgenommene Regulierung« (RPh § 236; 384) begreift. Demgegenüber behauptet die tragödientheoretische Deutung bürgerlicher Selbstregierung nach Hegel, dass diese Regulierung nicht »mit Bewusstsein« vorgenommen wird, sondern sich in struktureller Selbstvergessenheit vollzieht, vgl. Kap. 2.2.2. 64 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Kunst, Gesundheit, Familie, Sexualität, Verkehr, Umwelt etc. – als soziokulturelle Ordnungszusammenhänge nur bestehen und sich erhalten, weil sie durch objektiv wie subjektiv gouvernemental operierende Machtverhältnisse reproduziert werden, die sich dem Anspruch ihrer wissentlichen und willentlichen Gestaltung entziehen (vgl. Fraser 2017a). Obwohl sich mit Foucaults Konzept der Gouvernementalität ein theoretisches Modell gewinnen lässt, das es erlaubt, die Verklammerung der beiden Ebenen bürgerlicher Selbstregierung zu denken, wird durch seine Machtanalyse ein angemessenes Verständnis der objektiven Seite – die abstrakte Herrschaftslogik kapitalistischer Vergesellschaftung – verstellt. Aufgrund seiner induktiven Methode beschränkt sich Foucault auf Analysen der verschiedenen Dispositive, ohne eine gesellschaftstheoretische Bestimmung ihres systematischen Zusammenhangs vorzunehmen. Demgegenüber vermag es eine an Hegel und Marx anschließende Analyse des »Systems der Bedürfnisse«, die objektive Integrationskraft bürgerlicher Selbstregierung in den Blick zu nehmen, indem sie deren Vermittlung durch die Arbeitsteilung erklärt. Erst der Fokus auf diese Vermittlung macht verständlich, wie die bürgerliche Gesellschaft es schafft, ihr »gestörte[s] Gleichgewicht« (Marx 1983: 259) trotz immer neuer Krisen stets wieder zu retablieren.23 Hegels Argumentation zufolge gründet die innere Regierung der bürgerlichen Gesellschaft auf einer durch die Arbeitsteilung objektiv institutionalisierten – den von Foucault analysierten Dispositiven entsprechend übergeordneten – Abhängigkeit aller von allen, die durch die staatlich garantierte subjektive Rechtsform vor politischen Regierungseingriffen geschützt wird.24 Dabei legitimiert der politische Liberalismus durch seine 23 Foucaults Einwand, der theoretische Zugang über die Organisationsweise bürgerlicher Arbeitsteilung würde zu einer ökonomistischen Verkürzung sozialer Verhältnisse führen, ist zwar mit Blick auf die Theorietradition des orthodoxen Marxismus nicht unbegründet. Indem er jedoch die kapitalistische Verwertungslogik ebenso kategorisch aus seiner Analyse ausblendet wie die Rolle rechtlich garantierter Eigentumsverhältnisse, lässt er die zentrale Frage, wie die bürgerliche Gesellschaft sich trotz wiederkehrender Krisen immer wieder in ihrer Gesamtheit reproduzieren kann, unbeantwortet. »In his analysis of factory discipline, Foucault is […] unable to answer the question of why workers show up at the factory gates« (Mau 2023: 36). Gemäß Mau ist Foucault »incapable of identifying the underlying social logic of precisely those ›infinitesimal mechanisms‹ of power which he is so eager to place under the microscope. His preoccupation with the concrete turns out to be incredibly abstract because it isolates the micro level from its wider social context« (ebd.). 24 Auch die Bedeutung der durch subjektive Rechte vermittelten staatlichen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft für die gouvernemental in ihr operierenden Felder entgeht Foucault auf- 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 65 Referenz auf die Naturrechtsargumentation nicht nur die (vermeintliche) Freiheit der Einzelnen in der bürgerlicheren Gesellschaft, sondern durch die Form individueller Bedürfnisbefriedigung, in die er diese Freiheit einträgt, indirekt immer auch die von Marx herausgestellte wertförmige Vermittlung sozialer Beziehungen, die die bürgerliche Arbeitsteilung organisiert. Dies führt in eine umfassende und entsprechend objektive, aber gleichwohl »stumme« (Marx 1968: 765) Übermacht ökonomischer Verhältnisse: Die Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft ist eine Regierung, die sich »hinter dem Rücken« (Marx 1968: 59) der Einzelnen vollzieht. Foucaults Beobachtungen eines historischen Rückgangs von offenem Zwang und direkter Gewaltausübung können als Bestätigung dieser Einsicht gedeutet werden, auch wenn sich ein Begriff der abstrakten Herrschaft der objektiven Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft über Foucault weder herleiten noch begründen lässt. Das Herausstellungsmerkmal seiner Theoriebildung wird erst deutlich, wo die objektive Ebene bürgerlicher Selbstregierung in ein Verhältnis zur kulturell vermittelten Selbstregierung der Subjekte gestellt wird. Bevor jedoch Foucaults Theorie gouvernementaler Subjektivierung im Zeichen einer Normalisierung bürgerlicher Exzesse erläutert werden kann, sollen zunächst kurz die politiktheoretischen Konsequenzen der objektiven Ebene bürgerlicher Selbstregierung beleuchtet und deren tragische Struktur herausgearbeitet werden. 2.4.2 Die unsichtbare Politik bürgerlicher Selbstregierung In einer Politik, die nicht als demokratisch gestaltungsbedürftige Politik erkannt wird, gilt das Matthäus-Prinzip der kumulativen Bevorteilung: »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat« (Matthäus: 25, 26; vgl. Streeck 2015: 136; Amlinger, Nachtwey 2022: 74). In der bürgerlichen Gesellschaft setzt sich durch, wer bereits hat, wer schon ist. Wie argumentiert wurde, ist dies nicht – oder nicht hauptsächlich – auf Formen organisierter Klientelpolitik zurückzuführen, sondern auf die abstrakte Herrschaft einer sich am Maßstab der Verwertung ausrichtenden Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft. grund seiner Annahme, dass souveränes Regieren historisch durch gouvernementales Regieren abgelöst worden sei. 66 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Mit Blick auf das Selbstverständnis des politischen Liberalismus ausgeführt, erweist sich diese objektive Ebene bürgerlicher Selbstregierung als »innere[r] Ausnahmezustand« des zweiten Pfeilers »liberale[r] Normativität« (Menke 2019: 190): des Versprechens einer gleichen Teilhabe aller in Form der demokratischen Gestaltung gemeinsamer Praxis. In ein radikaldemokratisches Vokabular eingetragen lautet die Konsequenz dieser These, dass sich der politische Liberalismus die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft unwillentlich zu einer demokratisch nicht mehr politisierbaren Voraussetzung macht, die den Ort des Politischen faktisch besetzt. In der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert sich eine Logik der politischen Selbstverkehrung, die den Ort der Macht, der für die gleiche Teilhabe aller in Form der demokratischen Gestaltung gemeinsamer Praxis offengehalten werden soll, unsichtbaren Regierungspraktiken preisgibt. So verstanden zeugt Lefort und Gauchets Diagnose einer »Verdunkelung des Wirklichen« (1990: 114) davon, wie der politische Liberalismus sein demokratisches Teilhabeversprechen bricht: Der Ort der Macht ist nicht leer, er wird auf gouvernementale Weise vom Imperativ der Verwertung regiert. Als Kritik am liberalen Selbstverständnis ausgeführt lautet dieselbe These: Indem die liberale Handlungsordnung dem demokratischen Versprechen gleicher Teilhabe die rechtliche Form individueller Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft voraussetzt, bringt sie eine uneingestandene Praxis bürgerlicher Selbstregierung hervor, die den Ort des Politischen auf eine Weise besetzt, die sie selbst nicht als politische Besetzung begreifen kann. Gleichwohl kann die objektive Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft durch die allseitige Abhängigkeit von ökonomischen Verhältnissen den Fortbestand der liberalen Handlungsordnung nicht gänzlich aus sich selbst heraus sichern: Sie bleibt auf den liberalen Staat angewiesen. Um die exzessiven sozialen Konsequenzen kapitalistischer Verwertung einzudämmen, überschreitet der liberale Staat immer wieder sein sich selbst auferlegtes Gebot der politischen Zurückhaltung und greift in die bürgerliche Gesellschaft ein: entweder regulierend, indem er als Wohlfahrtsstaat versucht vertragsrechtlich gesicherte Asymmetrien durch die Etablierung sozialrechtlicher Gegengewichte abzumildern, oder indem er, wie in Kapitel 3.3.3 ausgeführt werden wird, als neoliberaler Schuldenstaat versucht, kollabierte Marktbedingungen wiederherzustellen. Dass sozialstaatliche Regulierungen ersterer Art kapitalistische Exzesse tatsächlich mäßigen und Perioden – vorübergehender – Solidarität befördern können, widerspricht 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 67 allerdings weder der hegelschen Analyse bürgerlicher Arbeitsteilung noch Foucaults Theorie gouvernementalen Regierens. Denn das Solidaritätspotenzial staatlicher Regulationen wird überschätzt, wo die Entwicklung des liberaldemokratischen Sozialstaates als abgeschlossene Emanzipation von der Naturrechtskonzeption verstanden wird, die die politische Freisetzung der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft begründet (vgl. bspw. Habermas 1971). Ihr naturrechtlich verbürgtes Primat wird auch dort fortgetragen, wo der Sozialstaat eine geringfügige Subsistenzsicherung gewährleistet. So muss eine regulativ eingreifende Sozialpolitik als liberale Politik stets »kompensatorisch und produktiv zugleich sein« (Menke 2015: 295) – kompensatorisch gegenüber den Exzessen bürgerlicher Vergesellschaftung, produktiv im Sinne ihrer Ausrichtung auf die Transformation von Arbeitslosen in Lohnarbeitende. Sie kann daher nicht anders, als jene Arbeitsteilung zu stabilisieren, deren destruktive Effekte sie zu bekämpfen sucht. Dementsprechend beschreibt Willke die paradoxe Anforderung an den sozialliberalen Staat, der die bürgerliche Gesellschaft vor zu viel politischer Regierung schützen, aber zugleich die durch sie hervorgebrachten Exzesse eindämmen soll, als einen »tragische[n] Double-Bind« (1996: 22; vgl. Kap. 3.3.1). 2.4.3 Eine liberale Lethe Die Analyse der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft hat gezeigt, dass der liberale Vorrang individueller Freiheit in einem vom liberalen Selbstverständnis uneingestandenen Verrat am erhobenen Versprechen demokratischer Teilhabe resultiert. In der objektiven Verkennung dieses Verrats spiegelt sich das Selbstmissverständnis, das die beschriebene Asymmetrie des hegelschen Tragödienmodells begründet. Wie in Kapitel 2.2.4 ausgeführt, bedarf die tragische Versöhnung einer subjektiven Resignation widerständiger Zwecke, weil sich die tragische Handlungsordnung nur erhalten kann, wo und indem sie der objektiven Ordnung substanzieller Herrschaftsverhältnisse einen impliziten Primat gegenüber ihrer – entsprechend bloß vordergründigen – Berechtigung subjektiver Freiheit einräumt. Im tragischen Selbstverständnis bleibt dieser Primat uneingestanden. Die Tragödie behauptet von sich selbst, eine dramatische Gattungsordnung zu sein, die die Mächte subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung gleichermaßen berechtigt. Dementsprechend begreift 68 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus auch die liberale Theoriebildung nicht, dass die Gleichberechtigung der konfligierenden Mächte subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung, zu deren politischer Verwirklichung der politische Liberalismus angetreten war, stets zugunsten einer Übermacht der objektiven Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft aufgelöst wird. Obwohl er auf »Demokratie zielte«, hatte er einen »modernen Kapitalismus« (Iber 2011: 289) zur Folge, der sich nicht politisch selbstbestimmt gestalten lässt. Die Einsicht in die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft zeigt, dass darin herrschende Normen, Regeln und Gesetze zwar durch minimale Eingriffe seitens des liberalen Staats reformiert werden können, aber nur in dem Maße, wie sie die grundlegende politische Freisetzung der kapitalistischen Arbeitsteilung nicht als solche infrage stellen. Vermittelt durch die subjektive Rechtsform sichert der liberale Staat einen Satz bürgerlicher Ordnungsstrukturen und -verhältnisse ab, die im demokratischen Wettbewerb weder auf Ebene ihrer politischen Freisetzung noch auf Ebene ihrer inhaltlichen Herrschaftssicherung (v.a. der vertragsrechtlichen Sicherung von Eigentumsverhältnissen) infrage gestellt werden können. Der vermeintlich ergebnisoffene Prozess liberaldemokratischer Regierung erweist sich daher, dem hegelschen Modell tragischer Konfliktvollzüge entsprechend, als abgekartetes Spiel mit prädestiniertem Ausgang. Hegel spricht im Zusammenhang mit der tragischen Versöhnung von der Lethe ihrer Selbstvergessenheit, die es ihr ermöglicht, sämtliche Konflikte stets zugunsten bestehender objektiver Ordnungsverhältnisse aufzulösen, aber zugleich zu behaupten, aus subjektiver Freiheit erwachsender Widerstand würde in gleichem Maße berechtigt: »Die Versöhnung des Gegensatzes mit sich ist die Lethe der Unterwelt im Tode, – oder die Lethe der Oberwelt, als Freisprechung […] vom Verbrechen, und seine sühnende Beruhigung« (PhG 538). Wie in Kapitel 2.2.4 nachvollzogen wurde, müssen Subjekte, die ihre Zwecke aus der bürgerlichen Unterwelt in die staatliche Oberwelt überführen wollen, im Modell einer zur Moderne ausgerichteten Tragödie zwar nicht mehr sterben, sie müssen ihre Zwecke aber auf eine Weise vorfiltern, die einer Resignation gleichkommt. Für die uneingestandene Notwendigkeit dieser Resignation steht liberale Lethe des Versprechens subjektiver Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Wichtiger mit Blick auf die hier diskutierte objektive Ebene gouvernementaler Selbstregierung ist allerdings die damit korrespondierende Lethe der Oberwelt, die Hegel als Freispruch von einem Verbrechen beschreibt. Auf die liberale Handlungsordnung angewandt, lässt sich dieses Verbrechen als 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 69 Verrat des liberalen Staats an seinem Versprechen gleicher Teilhabe deuten. Indem das liberale Selbstverständnis vorgibt, die gleiche Teilhabe aller durch einen demokratischen Wettbewerb an der staatlichen Regierungsmacht sicherzustellen, versucht es die Abtretung der tatsächlichen Regierungsmacht an die objektive Ordnung der bürgerlichen Selbstregierung zu sühnen. Das Selbstverständnis des politischen Liberalismus ist ein Selbstmissverständnis, das sich Hegel folgend als zweifache Lethe subjektiver Resignation und objektiver Sühne beschreiben lässt: »Beide sind die Vergessenheit, das Verschwundensein der Wirklichkeit und des Tuns der Mächte« (PhG 538). Es gilt daher auch für den politischen Liberalismus, was Hamacher für die Tragödie festhält: Die »höhere Sprache« der Tragödie [, die] zwar die des aufklärerischen Bewusstseins, der bewussten Erforschung von Gesetzen der Natur [ist], sie ist die Sprache der »Lichtseite« […]; aber sie ist zugleich und darin auch die Sprache der Verbergung, des […] bewusstlosen Handelns und der »im Hinterhalte« der Aufklärung »lauernden Macht« […]. (2000: 127) Die liberale Handlungsordnung kann, der Tragödie gleich, nicht anders, als zu vergessen und zu verdrängen, dass die Zwecke der Subjekte aufgrund der staatlich freigesetzten gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft nur in beschränkter Form in den formal demokratischen Wettbewerb um eine Regierungsmacht eingetragen werden können, die ihrerseits nicht berechtigt ist, über die tatsächlich Ordnungsverhältnisse zu entscheiden. 2.4.4 Die Normalisierung der Subjekte Weder die allgemeine Abhängigkeit von ökonomischen Verhältnissen noch sozialstaatliche Regulierungen können aus sich selbst heraus sicherstellen, dass die liberale Handlungsordnung nicht an den zerstörerischen Konsequenzen bürgerlicher Vergesellschaftung zugrunde geht. Dafür bedarf es der zusätzlichen, subjektiven Ebene einer kulturell vermittelten Selbstregierung, welche die bürgerliche Exzessivität stabilisiert, indem sie sie normalisiert. Um ihren Fortbestand zu gewährleisten, ist die liberale Handlungsordnung auf eine ethische Selbstregierung der Subjekte, auf eine »Übersetzung gesellschaftlicher Spannungen [auf] innere Kampfplätze« (Amlinger, Nachtwey 2022: 137) angewiesen. Adorno beschreibt diese Selbstregierung als »Kitt […] eines psychologischen Surplus über die objektive 70 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Ökonomie«, der notwendig ist, um die »Gesellschaft zu erhalten« (2003a: 292). Demnach bedarf der politische Liberalismus einer – in ihrem Erfordernis bereits von Böckenförde erkannten, jedoch als bürgerliche Solidarität missverstandenen – Kultur individueller »Zurichtung und Selbstmodellierung« (Bröckling 2007: 31). Indem die Subjekte sich selbst normalisieren, normalisieren sie auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie leben, und entlasten den liberalen Staat dadurch von der Notwendigkeit regulativer Eingriffe. Die Stärke der Theoriebildung Foucaults liegt in der Verhältnisbestimmung dieser subjektiven Ebene bürgerlicher Selbstregierung zur beschriebenen objektiven Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft, die er als gegenseitige, aber asymmetrische Verwirklichung begreift. Er beschreibt die Praxis subjektiver Normalisierung als Effekt der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft. Diese These lässt sich in zweierlei Hinsicht ausführen. Einerseits zeigt sich, dass die Subjekte ihre Zwecke praktisch kaum bewusst filtern müssen, weil diese in aller Regel schon in jener Form individueller Bedürfnisbefriedigung hervorgebracht werden, die die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft vorgibt. Andererseits manifestiert sich im ordnungstheoretischen Erfordernis einer Selbstregierung der Subjekte die Notwendigkeit einer bürgerlichen Kultur liberaler Subjektivierung. Im Unterschied zum liberalen Kulturargument wird jedoch nicht mehr auf die Entstehung einer Kultur gehofft, die es vermöchte, Exzesse der bürgerlichen Gesellschaft abzuwenden, bevor sie entstehen (vgl. Kap. 2.2.3). Die Analyse fokussiert auf die bestehende Kultur bürgerlicher Vergesellschaftung, die als gouvernemental regierte dazu beiträgt, bestehende und sich zunehmend verschärfende Exzesse zu normalisieren. Dies tut sie gemäß Foucault, indem sie sich als bürgerliche Kultur einer subjektiven Selbstnormalisierung hervorbringt. In Überwachen und Strafen (1992) beschreibt Foucault den Übergang von der offenen, gewaltvollen Strafe im Mittelalter zu einem zunehmend ausdifferenzierten, modernen Disziplinarsystem, das darauf angelegt ist, dass die Subjekte sich auf Grundlage der bloßen Androhung von Strafe selbst disziplinieren. Im Panoptikum, das Foucault zur Illustration dieser Disziplinierungslogik dient, sind die Gefangenen dem potenziellen Blick der Wärter:innen permanent ausgeliefert, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich beobachtet, beurteilt und gegebenenfalls bestraft werden. Dies führt zu einem neuen kulturell vermittelten Verhalten: zu einer durch die Subjekte selbst erwirkten Normalisierung im Rahmen der bürgerlichen Institutionen und 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 71 Milieus, in die sie eingebunden sind. Im Zuge der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft wird die »zu simple und zu sehr restringierende Form des Fremdzwanges […] durch flexiblere, dezentrale, ja bereichsspezifische Formen des Selbstzwanges« (Willke 1996: 61) ersetzt. Dies begründet, Foucault folgend, die Asymmetrie zwischen den zwei Formen bürgerlicher Selbstregierung: Der subjekttheoretisch erläuterte »Umbau des psychischen Habitus von Personen« in der Disziplinargesellschaft ist nicht als Ziel, sondern als Resultat der objektiven Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen. Eine »dezentrale Selbstorganisation und Selbststeuerung« der Subjekte erweist sich schlicht als effizienter als eine unvergleichbar aufwendigere Praxis »hierarchisch strukturierten Fremdzwangs« (Willke 1996: 61). Dementsprechend bringt die objektive Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft eine Kultur disziplinierter Normalisierung hervor, die die Art und Weise prägt, wie die Einzelnen sich in dieser Gesellschaft selbst regieren, in anderen Worten: wie sie sich subjektivieren. Anstelle der liberal erhofften Kultur bürgerlicher Solidarität entsteht eine Kultur normalisierten Gehorsams. Das Verhältnis zwischen der objektiven und subjektiven Ebene der Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft ist insofern als gegenseitiges Verwirklichungsverhältnis zu verstehen, als die kulturell vermittelte Selbstmodellierung der Einzelnen auf deren Abhängigkeit von der bürgerlichen Arbeitsteilung zurückzuführen ist. Diese Arbeitsteilung ist aber umgekehrt auf die Herausbildung einer Kultur subjektiver Normalisierung angewiesen, damit die von ihr freigesetzte Exzessivität nicht gegen sie in Anschlag gebracht wird. Asymmetrisch ist dieses beidseitige Verwirklichungsverhältnis, weil die Einzelnen sich den Systemzwängen des bürgerlichen Verwertungsimperativs nicht entziehen können, obwohl dessen Fortbestand auf ihre Normalisierung angewiesen ist. 2.4.5 Zur tragischen Ewigkeit liberaler Gerechtigkeit Die Gebundenheit der Einzelnen an bürgerliche Verwertungsimperative lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass diese ihnen als Ausdruck einer natürlich legitimierten Gerechtigkeit gegenübertreten, die in Hegels Tragödientheorie den Namen »ewige Gerechtigkeit« trägt: 72 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Über der bloßen Furcht und tragischen Sympathie steht deshalb das Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt, welche in ihrem absoluten Walten durch die relative Berechtigung einseitiger Zwecke und Leidenschaften hindurchgreift, weil sie nicht dulden kann, daß der Konflikt und Widerspruch […] in der wahrhaften Wirklichkeit sich siegreich durchsetze und Bestand erhalte. (ÄIII 526) Dass sich auftretende Konflikte in der Tragödie nicht endlos fortspinnen, sieht Hegel dadurch gewährleistet, dass die »relative Berechtigung« subjektiver Zwecke im tragischen Prozess ihrer eingeschränkten Überführung in objektive Ordnungsverhältnisse als Ausdruck des Waltens einer »ewigen Gerechtigkeit« in Erscheinung tritt, das die Versöhnungsbereitschaft der Einzelnen fördert.25 Im Unterschied zur antiken Tragödie wird das Walten dieser in der Einschränkung subjektiver Zwecke wirksamen Gerechtigkeit im politischen Liberalismus nicht mehr als göttliche, sondern als natürliche Gewalt erfahren. Aufgrund der naturrechtlichen Legitimation subjektiver Freiheit in der Form individueller Bedürfnisbefriedigung – und der daraus resultierenden Entwicklung einer bürgerlichen Arbeitsteilung –, deren Erhalt die Notwendigkeit einer Selbstbeschränkung subjektiver Zwecke erfordert, tritt das Erfordernis solcher Beschränkung den Einzelnen nicht als das gouvernemental konstituierte Erfordernis gegenüber, das es in Wirklichkeit ist, sondern als Ausdruck einer natürlich vorgegebenen Gerechtigkeit. Wie in der antiken Tragödie, setzt im politischen Liberalismus »sogleich die Forderung ein, daß sich auch die Individuen in sich selbst mit ihrem individuellen Schicksal versöhnt zeigen müßten« (ÄIII 565 f.). Der Unterschied zur tragischen Versöhnung in der Antike, in der diese Gewalt offen als göttlich legitimierte Schicksalsmacht in Erscheinung tritt, besteht darin, dass die nicht weniger umfassende Gewalt bürgerlicher Vergesellschaftung nicht mehr als Schicksalsmacht, sondern als Ausdruck natürlicher Gesetzmäßigkeiten zur Darstellung kommt. Die »ewige Gerechtigkeit« der liberalen Einschränkung subjektiver Freiheit ist von »kälterer, kriminalistischer Natur« (ÄIII 565) als ihre antike Vorgängerin, weil sie den normalisierten Subjekten nicht einmal 25 In Dialectical Social Theory and its Critics: From Hegel to Analytical Marxism and Postmodernism unternimmt Smith einen ähnlichen Versuch, die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft über die Figur tragischer Versöhnung zu deuten: »The point is simply that the social ontology of capitalism presented by Marx has the same structure as that presented in Hegel’s analysis of the religious drama found in Greek tragedy. In both cases the moment of universality confronts individuals as an alien necessity above them« (Smith 1993: 29). 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 73 mehr die Möglichkeit bietet, die erfahrene Einschränkung ihrer Zwecke als Resultat einer höheren Macht zum Ausdruck zu bringen. Dass die bürgerliche Vergesellschaftung im politischen Liberalismus als Ausdruck einer natürlichen und dementsprechend »ewigen Gerechtigkeit« erfahren wird, bezeugt, warum innerhalb der liberalen Handlungsordnung keine Praxis politischer Teilhabe entstehen kann, die sich den darin geltenden Verwertungsimperativen zu entziehen vermag. Bürgerlichen Exzessen kann nur durch jene kompensatorische »Rührung des nicht handelnden Mitleidens« (PhG 540; vgl. dazu Kohpeiß 2023: 193) begegnet werden, auf die die liberale Theoriebildung ihre kulturelle Hoffnung setzt. Auch Hegels Argumentation zufolge ist es möglich, dass vorübergehend kulturelle Praktiken der Solidarität, »des Almosens, der Stiftungen, wie des Lampenbrennens bei Heiligenbildern usf.« entstehen, die von der staatlichen Wohlfahrt »öffentliche[r] Armenanstalten« (RPh § 242: 388) ergänzt werden kann. Aufgrund der im politischen Liberalismus umfassend wirksamen Naturalisierung der bürgerlichen Gesellschaft ist es jedoch nicht möglich, deren gouvernementale Regierung durch ein selbstbestimmtes Handeln innerhalb liberaler Prozeduren zu politisieren, um jene Verwertungsimperative herauszufordern, aus denen die Notwendigkeit von Armenanstalten überhaupt erst entsteht. Wie gemäß Hegel bereits Napoleon erkannt hatte, ist »an die Stelle des alten Fatums die Politik […] als das neuere Schicksal für die Tragödie« getreten, in der eine ebenso »unwiderstehliche Gewalt der Umstände« (VG 339) zum Tragen kommt. Dass die Politik der Moderne den Menschen als »unwiderstehliche Gewalt« gegenübertritt, ist auf ihre liberale Form und damit auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie zwar vorgibt, eine demokratische Politik zu sein, faktisch aber der naturalisierten Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft untersteht, die sich einer selbstbestimmten politischen Gestaltung entzieht. So wie die dramatische Handlungsordnung der Tragödie in Hegels Beschreibung immer stärker an das ihr eigentlich entgegengestellte epische Modell einer Tugendlehre von guten und schlechten Zwecken heranrückt, manifestiert sich in der Kultur bürgerlicher Selbstregierung eine durch den Verweis auf die vermeintlich natürlich begründete Gerechtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft normalisierte Anpassung an eine zunehmend entpolitisierte Demokratie. 74 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 2.5 Die tragische Revolutionsvergessenheit des politischen Liberalismus Böckenfördes anfänglich erläuterte Einsicht in das Wagnis des liberalen Staates, der sich durch die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft Voraussetzungen schafft, die er selbst nicht hervorbringen kann, wird bei Menke affirmativ mit dem Motiv eines vermeintlich tragisch notwendigen Untergangs subjektiver Freiheit in Verbindung gebracht. Böckenfördes Diktum erfolgt, so Menke, aus dem Geist der dialektischen Tragödientheorie des deutschen Idealismus, die an dem tragischen Helden (vor allem des Sophokles) nicht der Untergang, sondern die Freiheit fasziniert hat: die Freiheit nicht nur, die zu ihrem Untergang führt, sondern die sie in ihrem Untergang bewahren, ja allererst erlangen. Freiheit im Untergang: das ist die Dialektik der Tragödie, die Böckenförde im liberalen Staat am Werk sieht. Der liberale Staat ist der freie Vollzug des Untergangs eines Staates, der sich aus sich selbst heraus setzen und erhalten zu können behauptete. (2019: 182) Menkes Deutung ist aus unterschiedlichen Gründen problematisch. Zunächst weil der prognostizierte Untergang des liberalen Staates nicht eintritt. Wie sich gezeigt hat, werden durch die staatliche Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft entpolitisierte, gouvernementale Mächte gestärkt, die den gesamthaften Erhalt der liberalen Handlungsordnung an Stelle des Staates – und teils auch in Kooperation mit ihm – gewährleisten (vgl. Kap. 2.3.2 sowie zum Motiv eines untergehenden Staates Kap. 4.3.2). Die grundlegendere Problematik der Deutung liegt allerdings darin, dass Menke die Verbindung der Berechtigung subjektiver Freiheit – die den deutschen Idealismus nicht nur an der Tragödie, sondern am Drama insgesamt fasziniert hatte – mit der Notwendigkeit ihrer tragischen Aussöhnung gleichsetzt: Nur im Moment seines Untergangs, in Tod oder Resignation, scheint das Subjekt seine Freiheit erfahren zu können. Was als historisch spezifische Diagnose des politischen Liberalismus zutrifft, sollte allerdings nicht auf die Gesamtheit der politischen Moderne projiziert werden (vgl. Toscano 2013: 26; Trautsch 2020: 196 f.). Denn in genau diesem Kurzschluss besteht das Selbstmissverständnis des politischen Liberalismus, auf das Marx in seiner Erläuterung des »Rätsels« der Französischen Revolution hingewiesen hatte: Die Verwirklichung subjektiver Freiheit muss nicht in tragischen Untergängen resultieren, sie ließe sich, in Fortführung der Anlehnung an die Stufenfolge der dramatischen Poetik Hegels, auch in 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 75 komischer Heiterkeit auflösen. Im Gegensatz zu Menke, der die liberale Freiheit der Subjekte durch die Affirmation ihrer tragischen Struktur zum einzig möglichen Modus praktischer Freiheitsverwirklichung erklärt, soll der Verweis auf die Dramentheorie des deutschen Idealismus im Folgenden dazu dienen, die ordnungstheoretischen Fluchtlinien einer strukturell komischen Neuordnung der politischen Moderne aufzuzeigen. Wie die Rekonstruktion der historischen Auflösung des revolutionären Rätsels im politischen Liberalismus gezeigt hat (vgl. Kap. 1.3), produziert dessen naturrechtliches Selbstverständnis eine spezifisch tragische Selbstvergessenheit. Indem die liberale Theoriebildung behauptet, der politische Liberalismus sei die einzige Möglichkeit einer politischen Verwirklichung der modernen Entzweiung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung, verleugnet sie den revolutionären Charakter seiner politischen Etablierung. Angesichts der prinzipiellen Zukunftsoffenheit der politischen Geschichte kann es sich dabei nur um ein Selbstmissverständnis handeln: Keine politische Ordnung der Welt kann ihre revolutionäre Bedingtheit abschließend überwinden. Dass es gleichwohl so scheint, als habe der politische Liberalismus seine revolutionäre Genese hinter sich gelassen, ist auf die zwei beschriebenen Selbstregierungsformen der bürgerlichen Gesellschaft zurückzuführen: ihre gouvernementale Selbstregierung durch marktförmige Verwertungsimperative und die kulturell vermittelte Selbstregierung normalisierter Subjekte. Die liberale Handlungsordnung immunisiert sich gegen die Gefahr ihrer revolutionären Infragestellung, indem sie die Imperative bürgerlicher Vergesellschaftung der demokratischen Gestaltung entzieht und die Legitimation dieser Entpolitisierung einer bürgerlichen Kultur der Selbstnormalisierung überantwortet. Für die einzelnen Subjekte bedeutet dies, dass die liberale Pflicht der Filterung und Normalisierung ihrer Zwecke einem uneingestandenen, quasirevolutionären Engagement für den Erhalt der liberalen Handlungsordnung gleichkommt. Indem sie zwischen verantwortungsvollen und leichtfertigen Zwecken unterscheiden und sich den Verwertungsimperativen entsprechend normalisieren, wiederholen sie den revolutionären Einsatz des politischen Liberalismus im »Tempus [einer] uneinholbaren Nachträglichkeit« (Menke 2018: 79, vgl. Kap. 4.5). Durch ihre Selbstregierung, die sie aufgrund ihrer naturrechtlichen Legitimation als bloßen Ausdruck einer natürlichen Gerechtigkeit erfahren, schirmen sie das liberale Ordnungsmodell vor der Möglichkeit revolutionärer Infragestellungen ab. 76 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus Die im liberalen Selbstverständnis stets betonte, vermeintlich ergebnisoffene Auflösung formal berechtigter Konflikte im Wettbewerb um die staatliche Regierungsmacht erweist sich daher, der Tragödie gleich, als immer schon zugunsten des Bestands bürgerlicher Ordnungsverhältnisse vorentschieden. Lefort und Gauchet beschreiben diese strukturelle Voreingenommenheit der liberalen Demokratie folgendermaßen: Während dieses System zwar auf der anfänglichen Geste beruht, die Teilung sich entfalten zu lassen, hält es sich nur aufrecht, indem es den absoluten Ausdruck der Teilung bannt, indem es dem Herrscher den Weg zur Behauptung seiner radikalen Andersheit verschließt und indem es dem Klassenantagonismus eine symbolische Form der Austragung bietet, die seine Gefahr vermindert. Eine Doppeldeutigkeit, die gleichsam mit ihrer eigenen Verschleierung schwanger geht. (1990: 110) Die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft durch den liberalen Staat kann nur aufrechterhalten werden, indem die Möglichkeit eines »absoluten Ausdruck[s] der Teilung«, der die liberale Handlungsordnung selbst infrage stellen würde, gebannt wird. Sie verunmöglicht es nicht nur dem vorübergehenden »Herrscher«, sondern auch allen anderen Subjekten, innerhalb der liberalen Handlungsordnung eine Position einzunehmen, die die politische Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft herausfordern könnte. Im politischen Liberalismus ist eine ordnungsimmanente demokratische Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine solche Politisierung grundsätzlich unmöglich wäre. Schließlich bezeugt das tragische Selbstmissverständnis des politischen Liberalismus, dass sich die prinzipielle Möglichkeit einer revolutionären Politik auch durch gouvernementale Selbstregierungspraktiken und Verweise auf das übergeordnete Walten einer »ewigen Gerechtigkeit« nicht abschließend unterbinden lässt. Die ubiquitären Krisen des gegenwärtigen politischen Liberalismus zeugen jedoch nicht von einer progressiven Infragestellung seines Ordnungsmodells aus der Forderung einer strukturell komischen Neuordnung der politischen Moderne. Die liberale Handlungsordnung sieht sich, im Gegenteil, durch eine zunehmende Hegemonie autoritär-libertärer Positionen herausgefordert, die auf eine immer radikalere Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft drängen. Bevor daher im letzten Kapitel die Fluchtlinien einer komischen Neuordnung der politischen Moderne skizziert werden können, die die revolutionären Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe neu zu vermitteln verspricht, gilt es im nächsten Kapitel zunächst die jüngere 2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus 77 Entwicklung des politischen Liberalismus in den Blick zu nehmen, die sich als Umschlag seiner tragischen Struktur in eine offene Farce beschreiben lässt. 3. Die Farce der politischen Gegenwart Im Achtzehnten Brumaire behauptet Marx, dass sich »große weltgeschichtliche Thatsachen […] so zu sagen zweimal ereignen, […] das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce« (2007: 9). Ordnungstheoretisch gedeutet, lässt sich dieses »so zu sagen« als immanente Konsequenz des politischen Liberalismus ausführen: Die Tragödie der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft gründet in ihrem strukturell bedingten Verrat an den ihr zugrundeliegenden Versprechen gleicher Teilhabe und subjektiver Freiheit. Wo diese Kehrseite ihrer Ordnungsbildung krisenhaft erfahrbar wird, tritt die Farce des politischen Liberalismus in Erscheinung.1 Auf gattungstheoretischer Ebene kommt es dadurch zu einer Verschiebung, die sich im Rahmen der hegelschen Poetik nicht mehr begreifen lässt: Die Wiederholung der Tragödie in der Farce beschreibt keine Etablierung einer neuen Ordnung.2 Sie ist Signum einer Krise, die in der Tragödie selbst angelegt ist. In der Farce des politischen Liberalismus, so die These, manifestiert sich die Wahrheit seiner krisenhaft verfassten Tragödie. 1 Vgl. für eine damit korrespondierende Deutung des Verhältnisses von Tragödie und Farce Clover 2017: 436 ff. Für eine widersprechende, gattungstheoretisch allerdings nicht ausgeführte Interpretation der Farce als Gegenteil der Tragödie des politischen Liberalismus, vgl. Hindrichs 2017: 387–390. Häufig wird auch darauf verwiesen, dass Marx’ Referenz auf Hegel sich nicht primär auf dessen poetologische Bestimmung der Tragödie, sondern auf die sozialontologische Einsicht beziehe, der zufolge historische Ereignisse einen Wiederholungscharakter aufweisen müssen, um Wirklichkeit zu erlangen und von einem bloß Zufälligen in ein »Bestätigte[s]« (VG 380) überführt werden zu können (vgl. bspw. Brunkhorst 2007: 209; Löschenkohl 2017: 41; Said 1976: 135–138). Demgegenüber erlaubt es eine poetologisch informierte Deutung der marxschen Verhältnisbestimmung, den Wiederholungscharakter von Tragödie und Farce in seiner ordnungstheoretischen Spezifizität auszuführen: Nicht jede Wiederholung historischer Ereignisse folgt der spezifischen Gesetzmäßigkeit, die Marx im Umschlag von Tragödie und Farce beobachtet. 2 Im Kontext der Poetik Hegels findet die Farce nur nebensächliche Erwähnung im Naturrechtsaufsatz (JS 489), vgl. dazu Donougho 2021: 189. 80 3. Die Farce der politischen Gegenwart Um diese These im Kontext moderner politischer Ordnungsbildung auszuführen und zu begründen, wird Marx’ Interpretation der politischen Geschichte Frankreichs von 1789 bis zum Aufstieg Louis Bonapartes zunächst als historische Konkretion der tragischen Struktur des politischen Liberalismus rekonstruiert. Daraus wird ein politischer Begriff der Farce extrahiert, der eine immanente Radikalisierungstendenz des Liberalismus beschreibt, die in einen Autoritarismus umschlägt. Die marxsche Engführung von Tragödie und Farce erlaubt es, autoritäre Entwicklungen als Ausdruck einer der liberalen Handlungsordnung selbst eingeschriebenen Exzessivität zu dechiffrieren. In einem zweiten Schritt wird die Notwendigkeit dieses Umschlags zur Erklärung der gegenwärtigen Krise des politischen Liberalismus im Zeichen seiner neoliberalen Intensivierung einerseits und libertärer Gegenbewegungen andererseits herangezogen, um deren ordnungstheoretisches Verhältnis zueinander zu erschließen. Denn wie bereits Marcuse mit Blick auf den Faschismus des 20. Jahrhundert festhält, antizipiert »Marx’ Analyse der Entwicklung der Revolution von 1848–51 zur autoritären Herrschaft des Louis Bonaparte […] die Dynamik der spätbürgerlichen Gesellschaft: die auf Grund ihrer eigenen Struktur sich vollziehende Liquidierung ihrer liberalen Periode« (1965: 143).3 Eine damit korrespondierende Liquidierung des politischen Liberalismus und seines normativen Selbstverständnisses lässt sich, so die These, auch in der gegenwärtigen Entwicklung seiner neoliberalen und zunehmend auch libertären Radikalisierung beobachten. 3.1 Marx’ Farce von 1848–1851 Der »lange Katzenjammer« (2007: 13), der Marx zufolge in Form einer liberalen Handlungsordnung auf die Französische Revolution und die anschließende Machtergreifung Napoleons I. folgt, erweist sich insofern als Tragödie im Politischen, als die revolutionäre Deklaration der gleichen subjektiven Freiheit und Teilhabe aller durch ihre Ausdeutung als bürgerliche Rechtsfrei- 3 Damit korrespondiert die im Kontext der Kritischen Theorie geläufige Erklärung des Nationalsozialismus als immanenter Umschlag der liberalen Handlungsordnung in einen illiberalen Autoritarismus, der durch eine totalitäre Mobilisierung der naturrechtlich legitimierten Naturalisierung der bürgerlichen Gesellschaft vollzogen wird (vgl. u.a. Marcuse 1968; Horkheimer 1980: 115; Menke 2011a: 17; Wilkinson 2021: 26–43). 3. Die Farce der politischen Gegenwart 81 heit im gleichen Zug realisiert und unterminiert wird. Marx begreift diese historische Entwicklung als tragisch verfasst, weil die Französische Revolution nicht offensichtlich scheitert, sondern der Anspruch einer radikalen Demokratie aufgrund der Erfahrung der nachrevolutionären Terreur in einen bürgerlichen Konstitutionalismus überführt wird, der als »Klotz am Bein der nachfolgenden Reformationsepoche« (Brunkhorst 2007: 196) über das erfahrene Scheitern hinwegtäuscht. Marx’ Kritik der bürgerlich-demokratischen Politik im Frankreich des 19. Jahrhunderts korrespondiert mit Hegels Erläuterung der politischen Moderne, in der die liberale Handlungsordnung durch ihre formale Anerkennung subjektiver Freiheit in der Form der Rechtsfreiheit individueller Bedürfnisbefriedigung und die damit einhergehenden Naturalisierung der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt wird (vgl. Kap. 2.3). Die zunehmende Dominanz marktförmig vermittelter Verwertungsimperative und die normativ damit korrespondierende Idee einer kompensatorischen Solidarität leisten einem liberalen Selbstverständnis Vorschub, dem zufolge die politische Geschichte der menschlichen Emanzipation mit der Französischen Revolution abgeschlossen worden sei und sämtliche fortan auftretenden Konflikte sich im ordnungsimmanenten Rahmen formal demokratischer Verfahren prozessieren und lösen lassen. Mit Blick auf die historischen Entwicklungen nach der gescheiterten Revolution von 1848–1851 hält Marx fest, dass der verbreitete Glaube, man habe »den Feind überwunden«, dazu führte, dass die bürgerlichen »Herren Demokraten […] ihre Lorbeerkronen auf Vorschuß ein[strichen]« (2007: 14). Wie die Farce der darauffolgenden Machtübernahme Louis Bonapartes zeigen würde, handelte es sich dabei um ein Selbstmissverständnis: Der liberale Vorrang der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der demokratischen Teilhabe führte nicht zu einer gelingenden Verwirklichung, sondern zu einem systematischen Verrat am revolutionären Versprechen der gleichen Freiheit aller. Marx’ Analyse zeigt, dass die naturalisierende Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer zunehmenden Verelendung und Vereinzelung führte. Dieser Entwicklung gegenüber nimmt seine Kritik insofern einen bemerkenswerten Standpunkt ein, als er die damals modernste, vorbehaltslos liberale Theorie der bürgerlichen Gesellschaft akzeptierte. Aber er konnte zugleich aus deren eigenen Prämissen entwickeln, wie diese Gesellschaft nicht nur die Widersprüche, die über sie hinaustreiben, sondern auch die autoritäre Herrschaft, die sie zwanghaft stillstellen (und zusammen mit den Liberalen unter sich begraben), aus sich selbst hervorzubringen imstande ist. (Brunkhorst 2007: 141). 82 3. Die Farce der politischen Gegenwart In entsprechend starkem Kontrast steht die aus der Tragödie des liberalen Selbstmissverständnisses resultierende Farce des Aufstiegs Louis Bonapartes in den Jahren 1848–1851 zur revolutionären Etablierung einer neuen politischen Handlungsordnung im Zuge der modernen Verfassungsrevolution von 1789 (vgl. Brunkhorst 2007: 211). Marx begreift den Aufstieg Bonapartes als Folge der gehaltvollen Niederschlagung der Juni-Aufstände von 1848. Marx zufolge gelingt es dem durch und durch unfähigen, »ernsthafte[n] Hanswurst« (2007: 161) nicht etwa, sich als Kaiser ausrufen zu lassen, weil im Nachgang der gescheiterten Revolution eine neue politische Ordnung installiert worden wäre, sondern weil er die Lächerlichkeit der bürgerlichen, nur vermeintlich demokratischen Politik der Restaurationsepoche offenlegte. Der Aufstieg Bonapartes demonstriert für Marx, dass die liberale Handlungsordnung, die im Zuge der Französischen Revolution eingesetzt wurde, anders als die demokratisch gesinnte Bourgeoisie meinte, das revolutionäre Versprechen einer gleichen und freien Teilhabe nicht verwirklicht hatte, wodurch sie der monarchischen Konterrevolution die Möglichkeit bot, das entstandene politische Vakuum für sich zu nutzen. Weil »[v]on Freiheit, Gleichheit […] nur noch die Namen geblieben« (Iber 2011: 291) sind, konnte »[d]er einfältigste Mann Frankreichs« die »vielfältigste Bedeutung« (Marx 1960: 45) erhalten, indem er der kollektiven Ernüchterung Ausdruck verlieh, die sich nach der gewaltvollen Niederschlagung der Aufstände auftat. Louis Bonaparte knüpfte offen an den liberalen Verrat am revolutionären Erbe von 1789 an, indem er das liberale Selbstverständnis der »Herren Demokraten«, dem zufolge sich im bürgerlichen Konstitutionalismus eine gelingende Demokratie nach dem Ideal der Französischen Revolution realisierte, über sich hinaustrieb. Indem er das liberale Selbstverständnis demokratischen Gelingens »platt als Komödie« (Marx 2007: 70) nahm, zeigte er auf, wie grundlegend die revolutionären Versprechen darin verfehlt wurden (vgl. Kap. 4.1 sowie Brunkhorst 2007: 214; Harries 1995: 42; Hunter 2020). Bonaparte gelang es, die politische Macht in einem Augenblick auf sich zu vereinen, wo die Bourgeoisie selbst die vollständigste Komödie spielte, aber in der ernsthaftesten Weise von der Welt, ohne irgendeine der pedantischsten Bedingungen der französischen dramatischen Etiquette zu verletzen. (2007: 69) Während die Bourgeoisie noch »halb geprellt, halb überzeugt von der Feierlichkeit ihrer eigenen Haupt- und Staatsaktionen« an der liberalen 3. Die Farce der politischen Gegenwart 83 Handlungsordnung des bürgerlichen Konstitutionalismus festhielt, behandelte Bonaparte die Weltgeschichte nach 1789 als platte Komödie und stellte dadurch die Lächerlichkeit ihres politischen Scheiterns zur Schau (vgl. 2007: 70; vgl. Kap. 4.1). Marx beschreibt Bonaparte als »ernsthafte[n] Hanswurst« (2007: 161), weil er den verratenen demokratischen Anspruch der liberalen Handlungsordnung in seiner kruden Kritik ernster nahm als deren nur mehr auf Etiketten und Verfahren versteiften bürgerlichen Vertreter:innen selbst. Mit Bonaparte wird die liberale Handlungsordnung offen als jene Farce erkennbar, die sie gemäß Marx uneingestanden schon als große Tragödie war. Der Fehler der bürgerlichen Demokrat:innen bestand entsprechend darin, dass sie glaubten, eine subjektiv freie und gleiche Teilhabe etabliert zu haben, obschon sie die Versprechen der Französischen Revolution strukturell verfehlten. Im Augenblick der Krise, in dem die liberale Tragödie in eine offene Farce umschlägt, wird deutlich, dass die liberale Handlungsordnung nie etwas anderes war als eine scheiternde Komödie. Tragedy must now itself be understood as farce. From this perspective, Louis Bonaparte is the most appropriate of performers upon the stage of bourgeois society, for he unintentionally unmasks [its] self-deception. (Stallybrass 2001: 19) Der Aufstieg Louis Bonapartes ließ die Lächerlichkeit des liberalen Zerrbilds offen zutage treten. Die Farce, für die er steht, ist entsprechend nicht als Farce seiner unfähigen Persönlichkeit zu verstehen, sondern als Farce einer politischen Handlungsordnung, die ihre eigenen Versprechen unterläuft. 3.2 Warum die Farce »so zu sagen« notwendig ist Indem Marx die Kategorie der Farce einführt, radikalisiert er die bereits in Hegels Kritik der Tragödie angelegte Einsicht in ihre entdramatisierende Tendenz (vgl. Kap. 2.2.4). Dies ermöglicht es, den politischen Liberalismus als Handlungsordnung begreifbar zu machen, die zwar ihrer Form nach dramatisch bzw. demokratisch ist, deren Ordnungsbildung aber durch eine inhärente Entdramatisierung gekennzeichnet ist, die sich in einer Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert. Marx weist den politischen Liberalismus als strukturell tragisch aus, weil dieser sich mit einer gelingenden demokratischen Handlungsordnung verwechselt – ohne selbst schon einen angemessenen Begriff derselben zu haben – und dadurch eine Reflexion seiner strukturellen Verfehlungen der revolutionären Ver- 84 3. Die Farce der politischen Gegenwart sprechen verstellt, die seine Etablierung legitimiert hatten (vgl. Kap. 2.5). Die historische Konkretion und Ergänzung der hegelschen Poetik, als die Marx’ Achtzehnter Brumaire hier ausgeführt wird, markiert demnach den Unterschied zwischen einer sich immanent entpolitisierenden Tragödie und einer ausstehenden, strukturell komisch geordneten Demokratie (vgl. Kap. 4). Nach Marx ist die Verkehrung der »großen Tragödie« in eine »lumpige Farce« Konsequenz einer Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft, die der strukturell tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus inhärent ist (vgl. Kap. 1.3; 2.3). Die Farce markiert den Augenblick, in dem deren Exzessivität so manifest wird, dass ihr demokratisches Selbstverständnis als Selbstmissverständnis erkennbar wird, wodurch regressive Gegenbewegungen auf den Plan gerufen werden. Die krisenhafte Manifestation dieser Exzessivität ist eine »so zu sagen« notwendige Konsequenz der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft, weil sich im Augenblick des Umschlags in die Farce nur zeigt, was der politische Liberalismus immer schon war: ein – historisch zwar partiell verwirklichtes, aber strukturell gleichwohl – gebrochenes Versprechen.4 Die These, die Marx’ Ausführungen im Achtzehnten Brumaire an Hegels politische Poetik heranführt, lautet daher, dass die Farce von 1848–1851 nicht als Reaktion auf ein einmaliges historisches Ereignis oder eine singuläre »Thatsache« zu begreifen ist, sondern als Ausdruck einer unabwendbaren Selbstverkehrungslogik der strukturell tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus. Marx radikalisiert die in Hegels Poetik angelegte Kritik, indem er offenlegt, dass es keine Tragödie jenseits ihres Umschlags geben kann: Aufgrund der Exzessivität der bürgerlichen Vergesellschaftung muss der politische Liberalismus früher oder später regressive Gegenbewegungen hervorbringen. An diese Beobachtung schließt eine Reihe historisch kleinteiliger Analysen unterschiedlicher Krisen des politischen Liberalismus an, denen die 4 Anders als Foucault (2004) und Lacoue-Labarthe, Nancy (1997: 128) nahelegen, wird die Exzessivität der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft nicht erst im Augenblick der Krise geboren oder als Reaktion auf diese Krise hervorgebracht. Die Krise zeichnet sich dadurch aus, dass das latente Wirken der gouvernementalen Selbstregulierung manifest wird – staatliches und gouvernementales Regieren erweisen sich demnach als zwei Seiten derselben Medaille: der strukturell tragischen, sich potenziell immer schon in eine Farce verkehrenden Handlungsordnung des politischen Liberalismus, die die Einheit ihrer Differenz bildet, vgl. dazu Kap. 2.4. 3. Die Farce der politischen Gegenwart 85 Geschehnisse im Nachgang der gescheiterten Revolution von 1848–1851 als Blaupause dienen.5 Diesen gegenüber liegt der methodische Fokus der folgenden Ausführungen nicht auf einer Beschreibung oder Aufzählung konkreter Ereignisse liberaler Selbstverkehrung, sondern auf dem Nachweis ihrer strukturellen Notwendigkeit vor dem historischen Hintergrund der neoliberalen Radikalisierung des politischen Liberalismus in den letzten fünf Jahrzehnten. Diese Radikalisierung gilt es, als immanente Entwicklungslogik des politischen Liberalismus zu rekonstruieren, weil sich der Neoliberalismus als historisches Phänomen nur im systematischen Rekurs auf die Wurzel der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft erklären lässt. 3.3 Die neoliberale Radikalisierung des politischen Liberalismus Anders als seine Terminologie suggeriert, ist der Neoliberalismus, der gemeinhin für die globale politische Entwicklung seit Mitte der 1970er-Jahre steht, nicht als historisch neuartige Ordnung eines anderen Liberalismus zu verstehen. Er steht vielmehr für eine immanent notwendige Radikalisierung der inhärent krisenhaft verfassten Ordnungsbildung des politischen Liberalismus. Der erste Schritt einer poetologisch informierten Einordnung neoliberaler Ordnungsbildung in den ordnungstheoretischen Kontext der politischen Moderne besteht entsprechend darin, ihn Biebricher folgend als »the crisis of liberalism« zu rekonstruieren: »Neoliberalism must be understood, first and foremost, as a response to this crisis based on a diagnosis of the factors that led to its decline« (Biebricher 2018a: 12).6 Im Unterschied zu Ansätzen, die den Neoliberalismus als eigenständige politische Ordnung ver- 5 Neben dem bereits genannten Beispiel Marcuses (1965), sei u.a. auf Blackledges (2002) an Marx orientierte Analyse der Ära Thatcher sowie auf Žižeks (2009) Versuch verwiesen, den Brumaire mit Blick auf 9/11 als große Tragödie und die Finanzkrise von 2008 als darauffolgende Farce zu aktualisieren. 6 Biebricher begreift die anhaltende Krise des politischen Liberalismus als historische Reaktion auf die Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts, die entgegen den Prognosen der klassischen liberalen Ökonomie gezeigt haben, dass sich auch illiberale Ökonomien nachhaltig reproduzieren können. Im Zuge dieser Erfahrung rückte der politische Liberalismus in eine Legitimationskrise, auf die seine Neoliberalisierung gemäß Biebricher reagiert: »What puts the ›neo‹ into neoliberalism is obviously this modernizing effort« (2018a: 22). 86 3. Die Farce der politischen Gegenwart stehen – so die Linie von Foucault7 über Bourdieu bis Fraser, Harvey, Dörre, Streeck und Vogl –, gilt es, die Kontinuität zwischen politischem Liberalismus und Neoliberalismus – im Anschluss an Biebricher, Brown, Lazzarato, O’Kane, Postone, von Redecker, Milios, Lapatsiorias und Sotiropoulos – als ordnungsimmanente Radikalisierung nachzuvollziehen. Vor dem Hintergrund der hegelschen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft sind die zunehmend extremen Krisen der politischen Gegenwart auf eine immer umfänglichere rechtliche und technologische Verallgemeinerung des marktförmig vermittelten »Systems der Bedürfnisse« zu verstehen, dessen staatliche Freisetzung das Grundprogramm liberaler Ordnungsbildung von Beginn an ausgezeichnet hat (vgl. Kap. 2.3). Die als neuartig empfundene Erfahrung einer nicht länger kontrollierbaren Exzessivität gründet entsprechend nicht auf einer politischen Neuordnung der Moderne, sondern auf einer Effizienzsteigerung bürgerlicher Verwertungsimperative, die durch ihre globale Ubiquität einen immer stärkeren Verpflichtungscharakter gegenüber demokratisch legitimierten Versuchen ihrer sozialrechtlichen Regulierung angenommen haben (vgl. Alphin 2021: 25; 107–118). Die Erfahrung sozialer Exzessivität ist eine Erfahrung stagnierender Beschleunigung: »In immer kürzeren Abständen wird aus der Negation des Alten Neues geschaffen, die Welt einer rastlosen Logik des Neuen unterworfen« (Löschenkohl 2017: 24), ohne dass die liberale Ordnungsbildung oder die Macht der durch sie freigesetzten Verwertungsimperative dadurch politisch infrage gestellt würden.8 Demnach ist die gegenwärtige Farce der neoliberalen Entpolitisierung und der libertären Herausforderung des politischen Liberalismus weder auf eine neuartige Ökonomisierung des Sozialen noch auf einen moralischen Verfall bürgerlicher Solidarität zurückzuführen, sondern auf die ordnungstheoretisch konsequente Radikalisierung der liberalen Freisetzung bürgerlicher Verge- 7 Gemäß Foucault löst ein neues ökonomisches Marktprinzip die ehemals soziale Logik der Gesellschaft im Zuge der 1970er-Jahre ab (vgl. Bröckling et al. 2000: 16). Demgegenüber wurde in Kap. 2.3.1 im Verweis auf Hegel dargelegt, dass die soziale Logik der bürgerlichen Gesellschaft seit ihrer Etablierung als »System der Bedürfnisse« durch Verwertungsimperative vermittelt wird, vgl. für eine ähnliche Kritik Lazzarato 2012: 92. Für eine ideengeschichtliche Rekonstruktion des Übergangs von Liberalismus zu Neoliberalismus bei Foucault, siehe Bröckling 2007: 76–107. 8 Zur Zeitlichkeit der gesellschaftlichen Verallgemeinerung ökonomischer Verwertungsimperative, vgl. Postone, der die beschriebene Entwicklung als »treadmill effect« (1993: 290 f.) begreift; zur politischen Dimension derselben vgl. Osborne 1995. 3. Die Farce der politischen Gegenwart 87 sellschaftung und die daraus resultierende Integration sämtlicher sozialer Existenzen in den immer effizienter organisierten Prozess kapitalistischer Arbeitsteilung. Marx’ Kontinuitätsthese, der zufolge der Umschlag von der Tragödie in die Farce »so zu sagen« notwendig ist, ergibt sich nicht aus geschichtsphilosophischen Prämissen, sondern aus der historischen Erfahrung der krisenhaften Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft. Während die prinzipielle Unüberwindbarkeit von Konflikten, die aus subjektiver Freiheit erwachsen, ontologisch konstatiert werden kann, wodurch anerkannt wird, dass ihre Differenz zur objektiven Ordnung sämtliche politische Ordnungsbildung bestimmt, erwachsen die Exzesse der bürgerlichen Gesellschaft einer historisch spezifischen, durch sie selbst hervorgebrachten und nur in ihr geltenden Logik ihrer politischen Freisetzung. Wie bereits in Kapitel 1.3 beschrieben, war die revolutionäre Etablierung des politischen Liberalismus sowie die Verallgemeinerung des darin angelegten Verwertungsimperativs historisch und politisch kontingent (vgl. Milios 2018: 67–69). Ist sie jedoch einmal eingesetzt und die Organisation sozialer Beziehungen durch eine inhärent auf Wertsteigerung ausgerichtete Produktion sowie den damit einhergehenden marktförmigen Tausch von Waren etabliert worden (vgl. Kap. 2.3.1), folgt die bürgerliche Vergesellschaftung, wie Postone darlegt, dem »immanent principle of development« (1993: 376) einer immer effizienteren Verwertungspraxis: The historical development of capitalist society […] is socially constituted, nonlinear and nonevolutionary. It is neither contingent and random, as historical change might be in other forms of societies, nor a transhistorical evolutionary […]; rather, it is a historically specific […] development that originates as a result of particular and contingent historical circumstances but then becomes abstractly universal and necessary. (1993: 377)9 Durch die immer schnellere technologische Vernetzung auf globaler Ebene wuchs auch die Verbindlichkeit des marktförmig vermittelten Verwertungsimperativs bürgerlicher Vergesellschaftung. Um nicht mehr als die globalgesellschaftlich notwendige Zeit für die Produktion einer Ware aufzuwenden, sehen sich Produzent:innen gezwungen, immer kompetitivere Organisati9 Wie Ritter darlegt, ist diese immanente Entwicklungslogik einer Verallgemeinerung kapitalistischer Verwertungsimperative bereits in Hegels Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft angelegt: »Die industrielle bürgerliche Klassengesellschaft ist […] durch ihr eigenes Gesetz dazu bestimmt, zur Weltgesellschaft zu werden« (1989: 57). Vgl. zur Kontextualisierung dieser These in den Grundlinien Ruda 2011: 44. 88 3. Die Farce der politischen Gegenwart onsformen zu übernehmen, die auf einer immer effizienteren Ausbeutung der investierten Arbeitskraft gründen. In der vollumfänglich verallgemeinerten, bürgerlichen Gesellschaft der Gegenwart sitzt der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (1968: 765) so tief, dass kein Kapital, außer ein selbstmörderisches, seine Tätigkeiten oder seinen Lebenslauf frei wählen oder gegenüber den Innovationen seiner Konkurrenten oder den Erfolgsparametern in einer Welt der Knappheit und Ungleichheit gleichgültig sein [kann]. (Brown 2015: 46) So entfalten die durch den liberalen Staat freigesetzten, gouvernemental regierenden Verwertungsimperative der bürgerlichen Gesellschaft eine der liberalen Handlungsordnung immanente, historisch spezifische, aber gleichwohl universell wirksame, sozial abstrakte Notwendigkeit (vgl. Prusik 2020). Wo sich ihre Durchsetzungskraft intensiviert, verkehrt sich der politische Liberalismus in eine neoliberale Farce, weil die daraus erwachsenden Exzesse sich in immer kürzeren Abständen in immer neuen Krisen verallgemeinern, ausbreiten und verstetigen: […] only its name and intensity have changed. Liberal governmentality is exercised by moving from economic crisis to climate crisis, to demographic crisis, to energy crisis, to food crisis, etc. Changing names merely changes the type of fear the crisis evokes. Crisis and fear constitute the inexorable features of neoliberal capitalist governmentality. We will not escape the crisis (at best it might change intensity) quite simply because crisis is the form of government of contemporary capitalism. (Lazzarato 2015: 10) Im Folgenden werden die letzten fünf Jahrzehnte einer globalen Verallgemeinerung bürgerlicher Verwertungsimperative zunächst kurz historisch kontextualisiert (vgl. Kap. 3.3.1), bevor ihre Konsequenzen anhand der zwei bereits für die Analyse des politischen Liberalismus erläuterten Ebenen gouvernementaler Selbstregierung nachvollzogen werden – auf der objektiven Ebene der gouvernementalen Selbstregierung der Institutionen und Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die liberale Handlungsordnung gegen revolutionäre Infragestellungen abzusichern, und auf der subjektiven Ebene der bürgerlichen Kultur, die die normative Ausrichtung der Subjekte bestimmt. Dabei lässt sich beobachten, dass die neoliberale Radikalisierung der liberalen Ordnungsbildung im Zeichen einer ubiquitären Schuld steht: Auf objektiver Ebene entstand in Reaktion auf eine zunehmende Finanzialisierung der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Kap. 3.3.2) eine staatlich abgesicherte Schuldenökonomie (vgl. Kap. 3.3.3). Damit korrespondiert eine Verschiebung auf Ebene der bürgerlichen Kultur subjektiver Selbstre- 3. Die Farce der politischen Gegenwart 89 gierung: Die im 19. Jahrhundert einsetzende, bis in den politischen Liberalismus der Nachkriegsjahre hineinreichende Normalisierung der Subjekte durch Disziplinierung wurde vom Kontrollprinzip einer Selbstoptimierung abgelöst (vgl. Kap. 3.3.4), deren Verschuldungslogik sich nicht länger als strukturell tragisch beschreiben lässt (vgl. Kap. 3.3.5). Zusammengenommen kulminieren diese Entwicklungen in der umfassenden Erfahrung jener Alternativlosigkeit, die die politische Gegenwart bestimmt (vgl. Kap. 3.3.6). 3.3.1 Zwei Missverständnisse neoliberaler Regierung Die neoliberalen Exzesse der politischen Gegenwart lassen sich vor dem Hintergrund der historischen Kontinuität der liberalen Ordnungsbildung weder als Resultate einer »Invasion« (Bourdieu 1998) oder »Landnahme« (Dörre 2009) der bürgerlichen Gesellschaft noch als »Revolution« (Harvey 2005) verstehen. Dass der Neoliberalismus gleichwohl häufig als neuartige politische Ordnung konzeptualisiert wird, ist auf seine Kontrastierung zu den trente glorieuses (1945–1975) der Nachkriegszeit zurückzuführen. Mit dem Begriff des Neoliberalismus ist in der Regel die historische Epoche seit Mitte der 1970er-Jahre gemeint, die im Zeichen einer Auflösung der sozialstaatlichen Absicherung einer bürgerlichen Solidaritätspraxis steht. An die Stelle des sozialliberalen Konsenses der Nachkriegsjahre, dem zufolge die Teilhabe am demokratischen Wettbewerb der staatlichen Garantie einer gewissen materiellen Gleichheit bedarf, rückte eine Ethik individualisierter Verantwortung, die theoretisch von Figuren wie Hayek, Friedman und Mises vorangetrieben und durch Thatcher und Reagan salonfähig gemacht, aber letztlich von New Labor und dem Dritten Weg politisch durchgesetzt wurde.10 So beobachtete etwa Balibar Anfang der 1990er-Jahre in den liberalen Demokratien des globalen Nordens eine Krise von massiven Phänomenen der Deindustrialisierung und der Erwerbslosigkeit, der Verschärfung der Ungleichheiten und der »Ausschließung«, der »neuen Armut« und des Rückgangs der gewerkschaftlichen Organisierung (1992: 198), 10 Für eine kurze Geschichte des Neoliberalismus in verschiedenen historischen Etappen, vgl. Harvey 2005; Davies et al. 2021; Wilkinson 2021; für eine historische Kontextualisierung des damit korrespondierenden Scheiterns des keynesianischen Sozialliberalismus, vgl. Hirsch, Roth 1986: 94–103; Brenner 2006: 97–236. 90 3. Die Farce der politischen Gegenwart die sich bis in die jüngste Gegenwart fortschreibt. Die letzten fünf Jahrzehnte waren gekennzeichnet von »abnehmende[m] Wachstum, zunehmende[r] Ungleichheit und steigende[r] Gesamtverschuldung« (Streeck 2015: 30). Die vorausgehenden Nachkriegsjahre des keynesianischen Sozialliberalismus, die in den westlichen Demokratien eine historisch verhältnismäßig ausgeglichene Verteilung von Vermögen – in der Form von Geld wie von Fähigkeiten – hervorbracht haben, werden dieser Entwicklung häufig als normativer Standard des klassischen politischen Liberalismus vorausgesetzt. So gründet der weit verbreitete Versuch, die liberal freigesetzte bürgerliche Gesellschaft ausgehend von einer solidarischen Praxis gegenseitiger Anerkennung zu konzeptualisieren (vgl. Honneth 2013: 317–470), auf der Annahme, dass es sich bei der neoliberalen Radikalisierung des politischen Liberalismus um eine Fehltendenz mit historischem Ausnahmecharakter handelt. Demgegenüber haben zahlreiche Autor:innen, wie Lazzarato (2015), Streeck (2015) und Vogl (2021), mit Blick auf die Geschichte des politischen Liberalismus seit dem 19. Jahrhundert aufgezeigt, dass nicht die Epoche seit Mitte der 1970er Jahre, sondern die trente glorieuses als Ausnahme zu begreifen sind. Streeck beschreibt die drei Nachkriegsjahrzehnte als Phase, in der die kapitalistische Marktwirtschaft […] als politische Konstruktion [galt], der nur so lange eine Existenzberechtigung eingeräumt wurde, wie sie im sicheren Griff einer durch die 1930er Jahre ernüchterten politischen bzw. in der staatszentrierten Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs angelernten technokratischen Elite war, die eines über alle Parteigrenzen hinweg gemeinsam hatte: tiefe, erfahrungsbegründete Zweifel an der Tragfähigkeit und Tragbarkeit freier kapitalistischer Märkte, also eben jener Wirtschaftsordnung, in die wir mit dem globalen Neoliberalismus unserer Tage wieder einzutreten im Begriff sind. (Streeck 2015: 16) Die Vorstellung, dass es sich beim Neoliberalismus um eine problematische Ausnahme handelt, die durch eine Rückkehr zum Modell eines keynesianischen Sozialliberalismus überwunden werden könnte, wird von zwei Missverständnissen der gouvernementalen Regierung der bürgerlichen Gesellschaft getragen: (1) der Vorstellung, dass neoliberale Exzesse darauf zurückzuführen sind, dass das produktive Kapital der »Realwirtschaft« durch ein parasitäres Finanzkapital ersetzt worden wäre und dass (2) der liberale Staat gegenüber der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft an Bedeutung verloren hätte. Vor dem Hintergrund der Kontinuitätsthese, die den Neoliberalismus als Manifestation der immanenten Krisenanfälligkeit des politischen Liberalismus versteht, lässt sich nachweisen, inwiefern beide dieser Annahmen fehlgehen und warum weder eine Schwächung 3. Die Farce der politischen Gegenwart 91 des Finanzsektors noch ein sozialrechtlich stärker eingreifender Staat die Exzessivität bürgerlicher Vergesellschaftung effektiv eindämmen könnten. 3.3.2 Bürgerliche Vergesellschaftung im Zeichen ihrer Finanzialisierung Der Übergang vom keynesianischen Sozialliberalismus der trente glorieuses zum gegenwärtigen Neoliberalismus ist von einer zunehmenden Bedeutung des Finanzkapitals gegenüber dem Industrie- und Kommerzkapital gekennzeichnet (vgl. Lazzarato 2015: 124). Zahlreiche Kritiker:innen, so etwa Duménil und Lévy (2011), Dörre (2009), Hudson (2012), Krippner (2011), Sassen (2014), aber auch Streeck (2015), gehen davon aus, dass sich die kapitalistischen Verwertungsimperative aufgrund der Dominanz globaler Finanzmärkte als solche transformiert hätten und die mannigfaltigen Krisen der letzten Jahrzehnte daher auf eine Übermacht des Finanzkapitals gegenüber produktiven Kapitalformen zurückführen seien. Demgegenüber zeigen Balibar (2020: 279 f.), Durand (2017), Lazzarato (2015), Lapatsiorias, Milios, Sotiropoulos (2013), Mau (2023: 135; 314), Nachtwey (2016) und Prusik (2020), dass die zentrale Vermittlungsrolle von Finanzmärkten keineswegs neu, sondern konstitutiver Teil einer auf kapitalistischer Arbeitsteilung basierten Vergesellschaftung ist.11 Anders als monopolkapitalistische Deutungen nahelegen, ist der Neoliberalismus nicht durch eine Abnahme ökonomischer Selbstregulierung aufgrund eines historischen Wegfalls an Konkurrenz gekennzeichnet, sondern durch eine immer effizientere Realisierung kapitalistischer Verwertungsimperative, die seit jeher jenseits einer liberal erhofften Wettbewerbsgerechtigkeit stehen (die partielle historische Realisierung solcher Gerechtigkeit während der trente glorieuses wurde schließlich nicht durch eine gesellschaftliche Selbstregierung, sondern durch Eingriffe seitens des Sozialstaates hervorgebracht).12 Wie Vogl (2010/2011: 95–98) ausführt, ist die zunehmende Dominanz globaler Finanzmärkte als Entwicklung zu 11 Für eine Rekonstruktion der historischen Entstehung der Finanzmärkte, vgl. Vogl 2017. 12 Der ordoliberalen Theoriebildung zufolge gründen die neoliberalen Exzesse der Gegenwart in einer Monopolbildung durch globale Großunternehmen wie Alphabet, Amazon, Apple und Meta (vgl. zur ökonomischen Plattformbildung der letzten Jahrzehnte, Vogl 2021: 60–85), die ihre Operationsbereiche aufgrund ihrer dominanten Marktstellung quasi alleine regulieren können. Dadurch entsteht ein Wettbewerbsmangel, analog zu demjenigen, der der ordoliberalen Erklärung zufolge den Aufstieg des Faschismus in den 1930er-Jahren verursacht hat, vgl. bspw. Böhm 92 3. Die Farce der politischen Gegenwart verstehen, die die kapitalistischen Verwertungsimperative nicht als solche verändert, den »stummen Zwang« ihres Vollzugs aber dadurch verstärkt, dass sie diesen immer effizienter organisieren, wodurch sich nicht nur der unmittelbare Druck auf Produzent:innen intensiviert, sondern auch die Konkurrenz unter den Arbeitnehmenden zunimmt, an die dieser Druck weitergegeben wird. Durch den Handel mit modernen Finanzderivaten lässt sich die Effizienz der Verwertung in unterschiedlichsten ökonomischen Subsystemen vergleichen, wodurch sich ihr übergreifender Wettbewerb verschärft. Forwards, Futures, Swaps und Options introduce a formative perspective on actual concrete risks, making them commensurate with each other and reducing their heterogeneity to a singularity. Their reality as values – the very fact that they are commodities with a price […] – makes possible the commensuration of heterogeneous concrete risks. In other words, their reality as commodities secures an abstraction from the real inequality of concrete risks, reducing them to expressions of a single social attribute: abstract risk. In this sense, they monitor and control the terms and the reproduction trajectories of the contemporary capitalist relation. (Lapatsiorias, Milios, Sotiropoulos 2013: 2 f.) Aufgrund der Warenförmigkeit von Finanzinstrumenten, d.h. aufgrund der Tatsache, dass mit dem Handel selbst gehandelt werden kann, werden die konkreten Risiken unterdurchschnittlicher Wertschöpfung in verschiedensten Produktionskontexten in einen allgemeinen, marktförmigen Wettbewerb zueinander eingetragen, wodurch eine weltweite Vergleichbarkeit ihrer Produktivität hergestellt wird. Der Handel mit abstraktem Risiko macht es möglich, die Gesundheitskosten eines neu geborenen Kindes mit denjenigen eines Amazon-Features abzugleichen und auf die Entwicklung ihres zukünftigen Wertverhältnisses zu wetten. Dabei sind die konkreten Risiken, auf die sich diese Finanzinstrumente beziehen, kaum je als solche erkennbar, da sie durch zahlreiche Prozesse ihrer Bündelung einen kognitiv nicht mehr einholbaren Abstraktionsgrad erreichen. Weil Finanzinstrumente gegenüber dem Gebrauchswert der Produkte, mit deren Risiken sie handeln, ebenso wie gegenüber der Arbeit ihrer Herstellung radikal indifferent sind – »all that is relevant to them is drawing from these various forms of production and labor a surplus expressed in abstract quantities of money« (Lazzarato 2015: 141) –, ist ihre Selbstverwertung effizienter als in allen anderen Kapitalformen. Dies bedeutet nicht, dass das 1966; für eine Kontextualisierung dieses Ansatzes, vgl. Biebricher 2018a: 38–41, Bonefeld 2017 sowie Brown 2019: 37–39; 76–82. 3. Die Farce der politischen Gegenwart 93 Finanzkapital jenseits von produktivem, d.h. industriellem oder kommerziellem, Kapital stünde, sondern dass es eine übergeordnete Vermittlungsrolle in der gesellschaftlichen Verallgemeinerung des kapitalistischen Verwertungsimperativs einnimmt, indem es sämtliche Kapitalformen »into a coherent whole« überführt: »It represents the purest and most general form of appropriation« (Lazzarato 2015: 139). Die globalen Finanzmärkte sind rein und allgemein, weil der darin erreichte Grad an marktwirtschaftlicher Effizienz »most appropriate to the concept of ›capital‹«, d.h. der Verwertung von Wert, ist. Die auf globalen Finanzmärkten gehandelten Kapitalanlagen sind dementsprechend nichts anderes als »structural representations of capitalist relations« (Lapatsiorias, Milios, Sotiropoulos 2013: 2), d.h. liberal freigesetzter, gouvernemental regierter Vergesellschaftungsprozesse. Es ist nicht möglich, den »realwirtschaftlichen« Produktionssektor von diesen Märkten zu trennen, weil die Risiken der Produktion, die darin in der Form abstrakten Risikos gehandelt werden, integraler Bestandteil ebenjener Produktionsprozesse sind. In anderen Worten: Die sogenannte Realwirtschaft ist auf Kapital angewiesen, das sie nur erhält, sofern ihre konkreten Risiken einer mangelhaften Wertschöpfung mit den Risiken anderer Kapitalformen mithalten können. Anders als populäre Formen der moralistischen Kapitalismuskritik nahelegen (vgl. bspw. Smith 2010), ist die zunehmende Dominanz globaler Finanzmärkte nicht auf die Gier oder Maßlosigkeit dreister Banker:innen zurückzuführen, sondern »inherent in the very logic of capital« (Lazzarato 2015: 136; vgl. Durand 2017). Was als Problem einer ausufernden Spekulation verhandelt wird, beschreibt nichts anderes als die radikale Realisierung des Prinzips einer durch Verwertung vermittelten bürgerlichen Arbeitsteilung »in conditions created by modern-day capitalist accumulation« (Lazzarato 2012: 20). Die erfahrbare Zunahme einer ökonomistischen Rationalität in sämtlichen Sphären der bürgerlichen Gesellschaft ist weder die Schuld einzelner Spekulant:innen noch ist sie auf das Handeln staatlicher Akteur:innen reduzierbar. Wie die in Kapitel 2.4 herausgearbeitete Analyse gouvernementaler Selbstregierung gezeigt hat, handelt es sich bei den kapitalistischen Verwertungsprozessen, die die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft organisieren, um eine uneingestandene Form der Politik, die jenseits des Anspruchs und der Möglichkeit ihrer selbstbestimmten Gestaltung waltet: In other words, contrary to what economists, journalists and other »experts« never tire of repeating, finance is not an excess of speculation that must be regulated, a simple capitalist function ensuring investment. Nor is it an expression of greed and rapaciousness of 94 3. Die Farce der politischen Gegenwart »human nature« which must be rationally mastered. It is, rather, a power relation. (Lazzarato 2012: 24) Die zunehmende Dominanz globaler Finanzmärkte bezeugt kein Ende gesellschaftlicher Selbstregulierung, sondern im Gegenteil die Kontinuität ihrer gouvernemental regierten politischen Macht, die durch die »naturalistische Selbstverrätselung« (Wallat 2010: 282) des politischen Liberalismus verdunkelt wird. Damit ist allerdings noch nicht erklärt, warum es zu einer solchen Effizienzsteigerung in der Realisierung des kapitalistischen Verwertungsimperativs kam. Verschiedene historische und sozialwissenschaftliche Studien, die hier nur kursorisch behandelt werden können, führen den Beginn dieser Steigerung seit Mitte der 1970er-Jahre auf eine Wachstumskrise westlicher Industrienationen (vgl. Nachtwey 2016: 47–63) und eine zunehmende globale Vernetzung zurück (vgl. Panitch, Gindin 2012). Durch den Aufbau einer weltweiten Logistik (vgl. Bernes 2013) und die Industrialisierung der Agrikultur (vgl. Mau 2023: 277; 287), die es der industriellen Produktion erlaubte, auf immer billigere Arbeitskraft zurückzugreifen, wird deren Abwanderung in den globalen Süden erklärt. Mit Blick auf jüngere Effizienzsteigerungen nimmt die transnationale Vereinheitlichung der rechtlichen und technologischen Rahmenbedingungen des globalen Handels ein besonderen Stellenwert ein: Die (a) weltweit zunehmende Durchsetzung des angelsächsischen Vertragsrechtssystems und die (b) Entstehung einer zunächst telefonisch, später über das Internet vermittelten globalen Echtzeit der Kommunikation haben dazu beigetragen, dass die Verwertung von Wert immer effizienter organisiert werden konnte. (a) Die rasant voranschreitende Globalisierung der Kapitalmärkte ist gemäß Pistor durch eine Proliferation des angelsächsischen Rechtssystems zu verstehen, das sich durch einen Vorrang von subjektiven Vertrags- und Eigentumsrechten gegenüber Sozialrechten auszeichnet (vgl. 2020: 433; Tzouvala 2018: 121–126).13 Auch Bröckling beobachtet eine damit korrespondie- 13 Dass diese Proliferation durch eine Rückkehr zum Sozialrecht der trente glorieuses nicht rückgängig gemacht werden kann und selbst wenn, die Probleme, die aus der Form der subjektiven Rechte selbst erwachsen, dadurch nicht behoben würden, zeigt Menkes Kritik der Rechte, v.a. die darin ausgeführte Kritik des bürgerlichen Sozialrechts, vgl. v.a. 2015: 281–307. Auch Pistor legt offen, dass der Versuch, politische »Ansprüche dadurch aufwerten zu wollen, dass man ihnen einen Rechtsschutz der Art zukommen lässt, wie ihn das Kapital seit Jahrhunderten genießt, das System nicht [verändert]; es reproduziert es« (2020: 358). 3. Die Farce der politischen Gegenwart 95 rende »Ausweitung und Pluralisierung von Vertragswelten« (2007: 129), die sich darin manifestiert, dass gesellschaftliche Beziehungen, die zuvor entweder sozialrechtlich oder gar nicht rechtlich geregelt waren, in vertragsrechtliche Formen eingetragen werden, was den Grundstein für die bis heute anhaltende, global wirksame politische Deregulierung gelegt hat.14 Ein einschlägiges Beispiel dafür findet sich bei Brown (2015: 180–208), die die zunehmende Attestierung von ehemals politischen Rechten wie der Redefreiheit an private Unternehmen beschreibt. Indem juristische Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen »auch Unternehmen Anteil an den Menschenrechten haben« (2015: 207), wird ihre ohnehin bröckelnde sozialrechtliche Regulierung weiter erschwert. Streeck hält daher mit Blick auf Europa fest, dass nicht etwa die Regierungen der EU-Mitgliedsländer, sondern der Europäische Gerichtshof Hauptakteur der ökonomischen »Integration durch supranationale Liberalisierung« (2015: 192) ist (vgl. dazu auch Biebricher 2018b: 110–115). (b) Das Aufkommen des »technologische[n] Paradigma[s] der Information und Kommunikation« (Reckwitz 2017: 228), das die Technikgeschichte seit etwa 1980 bestimmt und die Ablösung von industrieller durch digitale Technologie markiert, war die zweite Voraussetzung für den Aufstieg der globalen Finanzmärkte. Die technologische Globalisierung durch das Internet basiert auf einer praktisch uneingeschränkten Datenübertragung, die einen nahezu zeitgleichen Austausch von Informationen durch teilautonome Tradingprogramme ermöglicht, was den Handel mit abstraktem Risiko auf ein bisher ungekanntes Effizienzniveau gehoben hat (vgl. dazu Vogl 2021: 34–59). Obschon es sich bei neuronalen Netzwerken um eine jüngere technologische Innovation der letzten Jahre handelt, bestätigt die zunehmende Automatisierung des globalen Handels die aufgestellte Kontinuitätsthese: Trading-Algorithmen treffen keine normativen Entscheidungen über den konkreten Gebrauchswert oder die spezifische Herstellungsweise der Produkte, deren Risiken sie handeln. Sie beziehen ihre Informationen aus einer Unmenge abstrakter Daten vergangener Marktentwicklungen, auf deren Grundlage sie statistische Entscheidungen treffen. Der einzige Maßstab dieser Entscheidungen ist und war der dadurch erreichte Mehrwert. In sei- 14 Für eine detaillierte historische, durch unterschiedliche Stränge neoliberaler Theoriebildung kontextualisierte Rekonstruktion dieser Entwicklung, vgl. Slobodian 2018: 121–145; für eine Erläuterung ihrer ökologischen Dimension, vgl. Petersmann 2022: 40 f. 96 3. Die Farce der politischen Gegenwart ner immer schnelleren, immer effizienteren Abschöpfung besteht der »Bias« liberaler Kontinuität (vgl. dazu Vogl 2010/2011: 101–107). 3.3.3 Der neoliberale Schuldenstaat und seine intervenierende Krisenpolitik Mit der Kritik, dass das vermeintlich produktive Kapital der »Realwirtschaft« durch ein parasitäres Finanzkapital ersetzt worden wäre, geht nicht selten die Überzeugung einher, dass der liberale Staat an Bedeutung verloren hätte (vgl. bspw. Bourdieu 1998). Auch diese zweite Annahme einer »choice between state and market« (Graeber 2011: 384) ist falsch. Die zunehmende Dominanz globaler Finanzmärkte und die Proliferation des angelsächsischen Vertragsrechts hat sozialrechtliche Eingriffe und Regulierungen massiv erschwert, wenn nicht gänzlich unterbunden (vgl. Streeck 2015: 201 f. sowie Crouch 2004: 11–14). Weil Kapitaleigentümer:innen ihre Anlagen jederzeit ins Ausland verschieben oder zeitweise ganz aus dem Kreislauf ziehen können, kommt es zu einer faktischen »Immunisierung des Kapitalismus gegen massendemokratische Interventionen« (Streeck 2015: 138). Diese Entwicklung ist allerdings nicht als allgemeine Schwächung des Staates gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, sondern als Abbau des steuerbasierten keynesianischen Sozialstaats, der von einem mindestens so starken neoliberalen Schuldenstaat abgelöst wurde, der die heimischen Ökonomien durch die Absicherung ihres privaten Risikos vor der Gefahr ihrer Vernichtung als überschüssiges Kapital schützt (vgl. Kap. 2.3.2). Um die sozialen Verluste abzumildern, die mit einer immer effizienteren Verwertungsökonomie einhergehen, bedarf es einer massiven politischen Unterhaltung der globalen Märkte (vgl. Slobodian 2018). Das Paradox des neoliberalen Staates besteht entsprechend darin, dass er permanent in die bürgerliche Gesellschaft intervenieren muss, »um sie als einen Bereich zu erhalten, den er nicht zu regieren vermag« (Menke 2015: 322). Im Unterschied zur antizyklischen Regulierungspolitik des sozialliberalen Staats der trente glorieuses fokussiert die Politik des neoliberalen Schuldenstaates auf stabilisierende Marktinterventionen zugunsten der Kapitaleigentümer:innen (vgl. Bonefeld 2016; Brenner, Riley 2022: 6; Hirsch 1995: 106, 156 f.; Edgerton 2021: 42). Die neoliberale Forderung nach »weniger Staat und mehr Markt zielt ohne Ausnahme nicht auf den Staat als solchen, sondern allein auf seine sozialstaatlichen Komponenten« (Wallat 2009: 334). 3. Die Farce der politischen Gegenwart 97 Der liberale Staat war entsprechend nicht nur der historische »Geburtshelfer« (Marx 1968: 779) der Durchsetzung und Verallgemeinerung kapitalistischer Verwertungsimperative in der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Kap. 2.3.2). Deren Sicherung durch sein – regulierendes oder intervenierendes – Eingreifen ist eine bleibende, notwendige Bedingung ihrer Reproduktion (vgl. Polanyi 2001: 147; Wallat 2009: 285). Dass der Erhalt der gouvernementalen Selbstregulierung der bürgerlichen Gesellschaft auch nach dem Wegfall eines Großteils sozialrechtlicher Regulationen massiver staatlicher Steuerungsmaßnahmen bedarf, die von der neoliberalen Theoriebildung geleugnet werden, zeugt vom bereits erläuterten Selbstmissverständnis, das der »liberale[n] Fiktion« (vgl. Vogl 2021: 22) einer sich automatisch selbst regulierenden bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt (vgl. Lazzarato 2015: 165). Obschon staatliche Interventionen faktisch zugenommen haben, radikalisiert das neoliberale Selbstverständnis die liberale Annahme, die bürgerliche Gesellschaft sei aufgrund »ihrer anscheinenden Unpersönlichkeit und […] preistheoretischen Ausrechenbarkeit« noch »politikfrei[er]« als während ihrer sozialliberal regulierten Phase, endlich »›sauber‹ im Sinne von unpolitisch« (Streeck 2015: 139). Prinzip neoliberaler Interventionspolitik ist es gemäß Streeck (vgl. 2015: 57), Konflikte, die aus ökonomischen Verlusten entstehen, zeitlich hinauszuzögern, indem der Staat sich der Verschuldung als Mittel und Medium der Krisenabsicherung bedient: Erst mittels Inflation, dann durch Staatsverschuldung und schließlich durch die Expansion privater Kreditmärkte und den Ankauf von Staats- und Bankschulden durch die Zentralbanken. Spätestens im Zuge der Finanzkrise von 2008 hat sich dieser Mechanismus verstetigt. Neben der Rettung von Banken und der Überflutung der Wirtschaft mit billigem Geld haben die Regierungen der führenden Volkswirtschaften durch Austerität, Steuersenkungen, die Beseitigung rechtlicher Hindernisse für unsichere Arbeitsmärkte sowie den Verkauf öffentlichen Eigentums zu Tiefstpreisen private Verluste von Kapitaleigentümer:innen abgefedert (vgl. Mau 2023: 314). Dieser Zusammenhang von neoliberaler Regierung und Verschuldung hat in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit erfahren.15 Doch anders, als bspw. Graeber (2011) suggeriert, der ausgehend von Nietzsches Kritik des christlichen Schuldkultus eine umfassende Sozialontologie der Schuld 15 Für eine konzise Zusammenfassung und Kontextualisierung des Diskurses, vgl. Cavallero, Gago 2021: 11–13. 98 3. Die Farce der politischen Gegenwart entwickelt, ist die Verschuldung neoliberaler Gouvernementalität nicht als Ausdruck eines transhistorischen Prinzips, sondern als historisches Spezifikum des »immanent principle of development« (Postone 1993: 376) liberaler Ordnungsbildung zu verstehen. Sie entsteht, weil der neoliberale Staat die Kosten der exzessiven Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, deren Freisetzung von politischer Regulierung er zu radikalisieren versucht, übernehmen muss, um ihren Kollaps abzuwenden. Jedes Mal, wenn er eine aufflammende Krise eindämmt, indem er die private Schuldenlast marktrelevanter Großanleger übernimmt, macht er sich etwas abhängiger von diesen Anlegern, die, kaum sind sie staatlich gerettet worden, im Schulterschluss mit Ratingagenturen »ungeheuren Druck auf alle Regierungen ausüben«, die ihre Staatsverschuldung auf den »Kapitalmärkten refinanzieren« (Nachtwey 2016: 66) müssen. Die Staatsverschuldung liegt mittlerweile durchschnittlich mehrere tausend Prozent über dem Wert Anfang der 1970er-Jahre, in zahlreichen westlichen Demokratien übersteigt sie das Bruttoinlandsprodukt. Wie lange der staatliche Kauf von Zeit aufrechterhalten werden kann, ist entsprechend unklar. Aus »too big to fail« droht »too big to bail« zu werden. Der Übergang zum Neoliberalismus ist nicht als Bruch mit, sondern als krisenhaftes Kontinuum liberaler Staatlichkeit, als Radikalisierung ihrer ordnungstheoretischen Paradoxie zu verstehen. Wie die Verschiebung vom sozialliberalen Regulierungs- zum neoliberalen Interventionsstaat zeigt, ist die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe zur Sicherung der nur vermeintlich politisch nicht regierten bürgerlichen Gesellschaft ein konstitutiver Mechanismus liberaler Ordnungsbildung, der unterschiedlich vollzogen werden kann: durch die präventive Regulation globaler Märkte oder durch die nachgelagerte Abfederung ihrer immer exzessiveren Krisen. 3.3.4 Von der Disziplin zur Kontrolle Um die immense Wirksamkeit dieses Schuldzusammenhangs in der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft nachzuvollziehen, bedarf es einer Überführung der Analyse auf die Ebene bürgerlicher Subjektivierung. Erst im Rekurs auf die kulturelle Legitimation einer zunehmenden Selbstverschuldung wird deutlich, inwiefern die (moralische) Privatverschuldung der Einzelnen den neoliberalen Glauben an einen po- 3. Die Farce der politischen Gegenwart 99 litisch zurückhaltenden Staat aufrechterhält. Während der trente glorieuses wurden die Menschen noch von oben reglementiert und standardisiert, [die] sozialen Institutionen verurteilten das Individuum zwar nicht moralisch, pressten es aber über homogene Lebens- und Erwerbschancen in eine verwaltete Welt – und ließen es dadurch entfremdet und isoliert zurück. Wir leben heute in einer anderen Gesellschaft: Die Spätmoderne ist beschleunigt, flüchtig und auf permanente Differenzierung angelegt. (Amlinger, Nachtwey 2022: 45) In seinem Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (2012) macht Deleuze es sich zur Aufgabe, diese Verschiebung der subjektiven Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft im Zuge ihrer neoliberalen Radikalisierung seit den 1970er-Jahren nachzuvollziehen. Ausgehend von Foucaults Beschreibung der Disziplinierungsgesellschaft stellt er die Unterschiede neuerer Subjektivierungsprozeduren zur Normalisierungspraxis der sozialliberalen Epoche dar (vgl. Rölli 2020). Weil die bürgerlichen Milieus und Institutionen der trente glorieuses (von der Schule über die Fabrik bis zum Gefängnis), deren Aufgabe es war, die Subjekte durch Strafandrohungen zu einer Selbstnormalisierung zu drängen, im Zuge ihrer zunehmenden Freisetzung von sozialrechtlichen Regulierungen an Verbindlichkeit und Durchsetzungskraft verloren haben, wurden sie von einer internalisierten Kultur gänzlich subjektivierter Selbstkontrolle abgelöst. Heute sind es nicht länger die Fabriken und Schulen (Ausnahme ist das Gefängnis, vgl. Wilson Gilmore 2022), die mit Strafe drohen, sondern der Verwertungsimperativ der gouvernementalen Regierung der bürgerlichen Gesellschaft selbst, dessen Drohung darin besteht, aus den Fabriken und Schulen auszuschließen, wer im Wettbewerb um die effizienteste Selbstverwertung zurückfällt. In der neoliberalen Gegenwart wird Normalisierung zunehmend zur alleinigen Aufgabe des Subjekts, das sich zu einem »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) formieren soll, das seine Zwecke an der Optimierung seiner individuellen Wettbewerbsposition ausrichtet (vgl. Kohpeiß 2023: 163; Rebentisch 2014; 2022: 229; von Redecker 2020a: 57–59; Wagner 2014: 115–136). Die Einzelnen sind dazu angehalten, sich im Rahmen der bürgerlichen Effizienzimperative bestmöglich zu optimieren, um sich von den Abgehängten abzusetzen. Um mit der steigenden Effizienz kapitalistischer Verwertung mithalten zu können, müssen sie sich jedoch in steigendem Ausmaß privat verschulden, sei es um Ausbildungskosten zu tragen oder ihre Wohnsituation angesichts stetig steigender Mieten 100 3. Die Farce der politischen Gegenwart zu sichern: »Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch« (Deleuze 2015: 15). An die Stelle einer sozialliberalen Praxis des Austauschs von Interessen tritt der vereinzelte, »neoliberale Homo oeconomicus [in] seine[r] Gestalt als Humankapital« (Brown 2015: 35). Armut und Ausbeutung treten vor diesem Hintergrund nicht mehr als Resultate verlorener Verteilungskämpfe, sondern als Konsequenz eines mangelnden Arbeitsethos in Erscheinung. Krankheiten sind ein Ausdruck mangelnder Vorsorge, Übergewicht das Resultat fehlender Selbstdisziplin, Rückschläge im Job Ergebnis mangelnder Motivation, private Probleme zeugen von geringer sozialer Kompetenz, Zukunftsängste erscheinen als Unfähigkeit zu positivem Denken. Gesellschaftliche Probleme werden in individuelle transformiert. (Amlinger, Nachtwey 2022: 76) Wie Bröckling herausstellt, sind kontrollbasierte Subjektivierungsprozesse »ohne victim blaming nicht zu haben; die frohe Botschaft, jeder sei seines Glückes Schmied, bedeutet im Umkehrschluss: An seinem Unglück ist jeder selber schuld« (2000: 156). Mit der zunehmenden Privatverschuldung geht eine ethische Verschuldung an einem – stets drohenden oder bereits eingetretenen – persönlichen Scheitern einher. Denn die neoliberale »Anrufung der Selbstverantwortung« (Bröckling 2000: 156), sich als Alleinunternehmer:in zu begreifen, »means taking responsibility for poverty, unemployment, precariousness, welfare benefits, low wages, reduced pensions, etc., as if these were the individual’s ›resources‹ and ›investments‹ to manage as capital« (Lazzarato 2012: 51; vgl. auch Alphin 2021). Während die Disziplinargesellschaft westlicher Demokratien vom kulturellen Versprechen getragen wurde, dass es für alle, die sich dem Modell liberaler Gerechtigkeit entsprechend normalisieren, einen subsistenzsichernden Platz in der Fabrik geben würde, droht der Individualisierungsimperativ, der mit der Verschiebung von der Disziplin zur Kontrolle einhergeht, mit dem sinnbildlichen Ausschluss aus der Fabrik.16 Nur diejenigen, die sich 16 Dies zeigt sich bspw. am neoliberal radikalisierten Beispiel von Hartz IV, heute »Bürgergeld«, bei dem die sozialstaatliche »Förderung« mit der »Forderung« nach individueller Optimierung einhergeht (vgl. Amlinger, Nachtwey 2022: 128). Der uneingestandene politische Charakter der gouvernementalen Regierung der bürgerlichen Gesellschaft, die eine allgemeine Beschäftigung weder hervorbringen kann noch will (vgl. dazu Marx’ Ausführungen zur progressiven Produktion einer relativen Überbevölkerung 1968: 657–670 sowie Mau 2023: 296–318), wird durch die Fiktion einer möglichen Vollbeschäftigung überblendet. Die konstante Verfehlung dieses Ziels führt unmittelbar in die gegenwärtige Kultur subjektiver Selbstverschuldung. Obschon Sozialrechte in Deutschland – im Unterschied zu den USA und Großbritannien, wo subjektive Rechte dem So- 3. Die Farce der politischen Gegenwart 101 so weit optimieren und privat verschulden, dass sie sich ganz »individuell« gegen die weniger Optimierten absetzen können, entgehen dem Schicksal eines vermeintlich selbstverschuldeten Ausschlusses aus dem bürgerlichen »System der Bedürfnisse«, der den bestrafenden Einschluss im Disziplinarsystem abgelöst hat. 3.3.5 Die nicht mehr tragische Selbstverschuldung neoliberaler Subjekte Dass es sich dabei nicht um einen Bruch, sondern um eine Kontinuität normalisierender Subjektivierung handelt, zeigt Ewald anhand von Foucaults Analyse des politischen Liberalismus, in der das Prinzip individueller Verschuldung als Rückversicherung für die Gefahr scheiternder Solidarität in Erscheinung tritt: Der liberale Harmoniegedanke besteht darin, dass die Moral […] mit der Ökonomie harmoniert, dass die Leitprinzipien […] dieser Felder, statt einander zu widersprechen, aufeinander verweisen und sich wechselseitig bekräftigen. Der Begriff des Verschuldens hat die Aufgabe, diese Harmonie herzustellen. Sie hat einen universellen, sowohl ökonomischen wie juristischen, politischen und moralischen Wert. Sie ist ein Vermittlungsmechanismus: Sie ermöglicht, dass ein ökonomisches Verhalten zugleich moralisch sein […] kann. (1993: 81) Diese durch die neoliberale Kultur vermittelte kontrollbasierte »Moralisierungsstrategie« (Lemke 1997: 198) spricht die bürgerliche Gesellschaft dadurch von der Verantwortung für die hervorgebrachten Exzesse steigender Ungleichheit, Unterdrückung und Vereinzelung frei, dass sie das Scheitern von Solidaritätspraktiken nicht auf ihre politische Freisetzung, sondern auf eine vermeintlich immer mangelhaftere Persönlichkeitsstruktur der Subjekte zurückführt. Vor dem Hintergrund der internalisierten Konfliktlösung, die Hegel als Signum der modernen Struktur der tragischen Versöhnung bestimmt hatte, lässt sich diese neoliberale Radikalisierung der von Foucault skizzierten Normalisierungsprozesse als zunehmende Entdramatisierung der Tragödie, d.h. als Entpolitisierung des politischen Liberalismus, beschreiben. Wie Hegel in der Ästhetik betont, ist Schuld im tragischen Konflikt zialrecht durch die Verfassung vorgelagert sind – prinzipiell als Gegengewicht eingesetzt werden könnten, nimmt ihre Bedeutung gegenüber neoliberalen Kontrollmechanismen stetig ab, vgl. Pistor 2020: 433. 102 3. Die Farce der politischen Gegenwart unumgänglich: Aufgrund der anerkannten Ebenbürtigkeit der gegeneinander antretenden Mächte, muss die tragische Versöhnung in die schuldvolle Unterdrückung einer der beiden Konfliktseiten – de facto stets der Seite subjektiver Freiheit (vgl. Kap. 2.1) – münden. Die Leistung der Tragödie als dramatische Gattung besteht entsprechend darin, dass sie das konflikthafte Auseinandertreten von objektiver Ordnung und subjektiver Freiheit als unvermeidbar zur Darstellung bringt, indem sie die Unmöglichkeit eines schuldfreien Handelns aufzeigt (vgl. Hunter 2023: 193–195). Der Übergang vom Disziplinarsystem der Nachkriegsjahre zum Kontrollsystem der neoliberalen Gegenwart ist zugleich als Kontinuität und als Bruch mit diesem Schuldverständnis zu verstehen. Die Kontinuität der beiden Normalisierungsmodelle ist durch ihre Harmonisierungsleistung begründet, die als strukturell tragisch beschrieben werden kann, weil die Versöhnung auftretender Konflikte durch eine Internalisierung seitens der Subjekte gewährleistet wird. So wird sichergestellt, dass die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft nicht in einen offenen Konflikt mit dem untergrabenen Versprechen demokratischer Teilhabe gerät. Die neoliberale Verschuldung bricht allerdings auch mit dem tragischen Schuldverständnis. Obwohl Ewald (1993) überzeugend argumentiert, dass das Prinzip subjektiver Verschuldung bereits im politischen Liberalismus angelegt ist, nimmt die neoliberale Verschuldung der Subjekte eine neuartige Qualität an, die in zunehmend offenen Widerspruch zum dramatisch-demokratischen Selbstverständnis tragischliberaler Schuldhaftigkeit tritt. In der neoliberal radikalisierten Gegenwart beruht der ubiquitäre Schuldzusammenhang nicht mehr auf dem – formal zwar berechtigten, aber praktisch gleichwohl zum Scheitern verurteilten – Versuch, subjektiv freie Zwecke gegen die Zwecke der objektiven Ordnungssicherung durchzusetzen, sondern in einem selbstverschuldeten Scheitern an der Gouvernementalität kapitalistischer Verwertungsimperative. Das neoliberale Subjekt erweist sich als schuldig, weil es sich nicht effizient genug in die bürgerliche Arbeitsteilung einzutragen vermag, nicht weil es die Organisation dieser Arbeitsteilung, wie im liberalen Selbstverständnis vorgesehen, ordnungsimmanent kritisieren und dadurch in einen schuldbehafteten, politischen Wettbewerb mit anderen Zwecken treten würde. Die bereits im politischen Liberalismus beobachtbare Tendenz einer tragischen Asymmetrie der Mächte, welche aus der uneingestandenen Voraussetzungslogik der subjektiven Konfliktinternalisierung erwächst, die einen impliziten Primat 3. Die Farce der politischen Gegenwart 103 herrschender Ordnungsverhältnisse gegenüber der stets betonten Berechtigung subjektiver Freiheit installiert (vgl. Kap. 2.1), wird im neoliberalen Kontrollprinzip schuldhafter Selbstoptimierung endgültig manifest. Weil die neoliberale Selbstverschuldung gänzlich jenseits der demokratischen Möglichkeit gleicher Teilhabe und selbstbestimmten Handelns zu stehen kommt, erweist sie sich aus poetologischer Perspektive als entdramatisierte Schuld, aus politiktheoretischer Perspektive als entpolitisierte Schuld. Hegels Affirmation tragischer Schuldhaftigkeit erweist sich bereits mit Blick auf die Rolle subjektiver Resignation im politischen Liberalismus als problematisch: Indem sich der Ausgang demokratisch prozessierter Konflikte als immer schon zugunsten der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft entschieden erweist, vermischt sich die demokratisch legitimierte Schuld an der politischen Bekämpfung anderer Zwecke mit der Schuld an der erfahrenen Unmöglichkeit ihrer demokratischen Politisierung. Das heroische Bild einer demokratisch notwendigen Verschuldung an anderen Zwecken überblendet die strukturelle Vorbestimmtheit des tragischen Konfliktausgangs. Demgegenüber wird in der neoliberalen Selbstverschuldung offenkundig, dass die – bereits in der tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus angelegte – Schuld der Subjekte nicht in der unhintergehbaren Schuld der demokratischen Unterdrückung anderer Zwecke besteht, sondern in der Schuld an einer scheiternden Normalisierung des eigenen Selbst innerhalb der bürgerlichen Arbeitsteilung. Die Radikalisierung tragischer Schuldhaftigkeit im Übergang von der Disziplin- zur Kontrollgesellschaft hat es ermöglicht, offen mit dem – faktisch schon im politischen Liberalismus verratenen, aber normativ weiter reproduzierten – Versprechen gleicher Teilhabe zu brechen. Neuartig ist dementsprechend nicht, dass die gouvernementale Unterminierung gleicher Teilhabe einer immer radikaleren demokratischen Entpolitisierung des politischen Liberalismus zuarbeitet, sondern dass die neoliberale Verschiebung des imaginierten Orts subjektiv notwendiger Verschuldung vom demokratischen Wettbewerb in die bürgerliche Arbeitsteilung dazu führt, dass selbst der Anspruch einer demokratischen Gestaltbarkeit dieser Gesellschaft seine legitimatorische Bedeutung für die Begründung der herrschenden politischen Ordnung verliert. Zur Legitimation dieser kulturellen Verschiebung wird stattdessen das Argument der Berechtigung subjektiver Freiheit neu aufgerüstet. Indem das Sozialrecht als illiberales Element verabschiedet wird, weil die in- 104 3. Die Farce der politischen Gegenwart stitutionalisierten Prozesse staatlich vermittelter Normalisierung durch Disziplinierung das subjektive Freiheitsversprechen in der Form der individuellen Rechtsfreiheit beschneiden, lässt sich der Zerfall bürgerlicher Disziplinarinstitutionen als Befreiung zur Darstellung bringen.17 Die neoliberale Radikalisierung bürgerlicher Subjektivierung kommt einer sozialen Entkleidung subjektiver Freiheit gleich: Während diese im sozialliberalen Verständnis der trente glorieuses noch mit kulturell vermittelten Praktiken und Institutionen der Bildung und Mündigkeit verknüpft wurde, auf denen die liberale Hoffnung ihrer globalen Durchsetzung basierte (vgl. Kap. 1.1; 2.2.3), wurde sie in den letzten fünf Jahrzehnten von dem damit einhergehenden sozialen Anspruch befreit. So wurde die sozialdemokratisch politisierte »Massenkultur« (Reckwitz 2017: 100) des Keynesianismus der Nachkriegsjahre von einer neoliberalen »Hyperkultur […] kompetitiver Singularitäten (Reckwitz 2017: 108; 102) abgelöst, in der die Freiheit der Einzelnen nicht länger als kulturell vermittelte in Erscheinung tritt. Was im Selbstverständnis des politischen Liberalismus als kulturelle Solidaritätsbedingung einer gelingenden Freiheitspraxis galt, wurde im Zuge seiner neoliberalen Radikalisierung als bürgerlicher Disziplinierungsballast abgeworfen, wodurch das Versprechen der gleichen Teilhabe aller auf das normative Minimum einer individuellen Rechtsgleichheit reduziert wurde. Indem das neoliberale Selbstverständnis vorgibt, durch die Erosion des Sozialrechts ein Mehr an individueller Freiheit hervorgebracht zu haben, sichert sich die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft durch eine immer schärfere, immer effizientere Selbstkontrolle zunehmend flexibilisierter und formbarer Subjekte ab.18 17 Diese Kritik wird auch aus progressiver Warte formuliert: Die »Künstlerkritik« (2012: 30), so Boltanski und Chiapellos Klassifizierung dieses Ansatzes ausgehend von den Studierendenprotesten von 1968, kritisiert die disziplinierende Normalisierung sozialrechtlich regulierter Institutionen der Nachkriegszeit aufgrund ihrer normierenden Einschränkung subjektiver Freiheit. Dies resultiert allerdings nicht in einer Affirmation des Übergangs zur Kontrollgesellschaft, in der »Autonomie und Authentizität« nicht mehr »als Ergebnisse einer anderen, besseren Gesellschaft betrachtet« werden, sondern nur noch »als Resultat der Selbstoptimierung innerhalb der bestehenden Ordnung« (Amlinger, Nachtwey 2022: 126). 18 Trotz der globalen Dimension dieser Entwicklung ist anzumerken, dass der Aufstieg neoliberaler Kontrollmechanismen nicht zu in einer grundsätzlichen Überwindung von Disziplinarherrschaft geführt hat. Nicht nur in den Fabriken und informellen Produktionsstätten des globalen Südens, auch im westlichen Niedriglohnsektor steht despotisches und autoritäres Management weiterhin an der Tagesordnung (vgl. Davis 2006: 174–198; Mau 2023: 230). 3. Die Farce der politischen Gegenwart 105 3.3.6 Radikale Entpolitisierung Im Übergang von der Disziplin zur Kontrolle bestätigt sich das bereits mit Blick auf den politischen Liberalismus konstatierte asymmetrische Verwirklichungsverhältnis der zwei Ebenen liberaler Selbstregierung (vgl. 2.4.3): Die vermeintlich freie Praxis subjektiver Selbstregierung ist der Politik nicht vorgelagert, sondern ein politischer Effekt der objektiven gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft, für deren Stabilisierung sich eine selbstverschuldende Kontrollkultur schlicht als effizienter erweist als eine Disziplinierungskultur, die auf vergleichsweise schwerfälligere und unflexible Institutionen angewiesen ist. Die historische Entwicklung des neoliberalen Schuldenstaats geht mit einer korrespondierenden Verschiebung der Stabilisierung globaler Märkte von der antizyklischen Nachfragepolitik des keynesianischen Sozialstaats zu einer konsumorientierten Förderung der Privatverschuldung – insbesondere durch Immobilienfinanzierung – einher, die sich als privatisierter Keynesianismus beschreiben lässt (vgl. Young 2009).19 Die Milderung sozialer Exzesse wird dabei nicht länger als Aufgabe eines sozialrechtlich regulierenden Staates verstanden, sondern als Verantwortung selbstoptimierender Subjekte, die sich, um mit der steigenden Effizienz kapitalistischer Verwertung mithalten zu können, privat verschulden müssen. Zwar sind sie losgelöst von standardisierten Lebenslaufmustern, doch gleichzeitig können sie auf dem volatilen Markt, auf dem sie sich behaupten müssen, nur selten wirklich selbstbestimmt agieren. Sie sind abhängig von Entwicklungen, die sie nicht kontrollieren können. (Amlinger, Nachtwey 2022: 93) Die neoliberale Radikalisierung subjektiver Normalisierungsprozesse durch Kontrollmechanismen hat es der liberalen Handlungsordnung ermöglicht, mehr Zeit zu kaufen, indem die Schuldenlast des permanent intervenierenden Staates durch eine zunehmende Privatverschuldung abgefedert wird. Die Kontrollkultur neoliberaler Subjektivierung erklärt und legitimiert diese Verschuldung, die nicht nur den Großteil der Kosten der Exzesse bürgerlicher Vergesellschaftung übernimmt, sondern auch das bürgerliche Missverständnis der Möglichkeit einer staatlichen Schuldenfreiheit aufrechterhält. 19 Young erklärt die Finanzkrise von 2008 als Folge der Entwicklung des privaten Immobilienmarkts zum »funktionalen Äquivalent« (2009: 144) der neoliberal überkommenen, keynesianischen Nachfragepolitik. 106 3. Die Farce der politischen Gegenwart Für den Einzelnen ergibt sich eine paradoxe Situation: Einerseits ist er den Kräften des Marktes ausgeliefert wie einer Naturgewalt, andererseits kann er seinen Erfolg wie sein Scheitern niemandem zuschreiben als sich selbst. (Bröckling 2000: 163 f.) Die neoliberale Mobilisierung subjektiver Freiheit in der normativ minimalen Form individueller Rechtsfreiheit hat zu einer immer radikaleren Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft geführt. Neoliberalismus »bedeutet hier also, keine echten Alternativen zu haben, gleichzeitig aber zu viele Optionen« (Amlinger, Nachtwey 2022: 101). Im Zuge der Überwindung normalisierender Disziplinarinstitutionen und sozialrechtlicher Regulationsmechanismen ist es zur einer Vollendung der schon weit vorangekommenen Entpolitisierung der politischen Ökonomie [gekommen], zementiert in reorganisierten Nationalstaaten unter der Kontrolle internationaler, gegen demokratische Beteiligung isolierter Regierungs- und Finanzdiplomatie, mit einer Bevölkerung, die in langen Jahren hegemonialer Umerziehung gelernt haben müsste, die Verteilungsergebnisse sich selbst überlassener Märkte für gerecht [und] alternativlos zu halten. (Streeck 2015: 120) Wie ausgehend von Hegel herausstellt wurde, wird die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft bereits im liberalen Ordnungsmodell von der »unwiderstehliche[n] Gewalt der Umstände« (VG 339) getragen. Die neoliberale Kombination der Ablösung sozialrechtlicher Regulierung durch einen permanent intervenierenden Schuldenstaat mit der kulturell vermittelten »Responsabilisierung des Subjekts« (Brown 2015: 81) hat die Erfahrung dieser politischen Ohnmacht jedoch in einer bis vor wenigen Jahrzehnten undenkbaren Deutlichkeit zutage gebracht. In der neoliberalen Gegenwart wird manifest, was für das Bestehen der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich gilt: Der Staat als intervenierender ist »notwendig, die Demokratie nicht« (Kostede 1980: 160). Im Zuge des Neoliberalismus ist die Erfahrung der Möglichkeit einer partiellen sozialrechtlichen Regulierung der bürgerlichen Gesellschaft, die das liberale Versprechen demokratischer Selbstbestimmung durch die trente glorieuses getragen hatte, endgültig verlustig gegangen. Mittlerweile reproduzieren sich die gouvernementalen Herrschaftsverhältnisse, die den Lauf der politischen Geschichte bestimmen, nicht mehr indirekt, sondern offen unter dem modernen Nenner »ewiger Gerechtigkeit«: TINA – there is no alternative (vgl. dazu Brown 2019: 64 sowie Streeck 2017: 253). 3. Die Farce der politischen Gegenwart 107 3.4 Autoritärer Libertarismus Im Augenblick des Umschlags der liberalen Handlungsordnung in eine offene Farce zeigt sich Marx zufolge, was sie immer schon war: ein gebrochenes Versprechen gleicher demokratischer Teilhabe und subjektiver Freiheit. Die historisch neuartige Offensichtlichkeit dieses Bruchs, die die politische Gegenwart seit mehreren Jahren prägt, motiviert nicht nur progressive Liberalismuskritiken, die an die Versprechen seiner revolutionären Einsetzung erinnern. Sie ruft auch autoritäre Gegenbewegungen auf den Plan, die der Diskrepanz des liberalen Versprechens individueller Freiheit und Selbstbestimmung zur tatsächlichen Abhängigkeit der Einzelnen von Entwicklungen, die sich ihrer Kontrolle wesentlich entziehen, durch libertäre Forderungen einer noch radikaleren Individualisierung entgegentreten (vgl. Hindrichs 2022: 59 f.). Spätestens seit der Finanzkrise von 2008 hat sich weltweit eine neue, autoritäre Rechte etabliert, die sich als libertäre Gegenbewegung gegen einen politischen Liberalismus sozialdemokratischer Ausprägung begreift. Die kategorische Ablehnung staatlicher Interventionspolitik in Kombination mit rassistischen und sexistischen Ressentiments hat eine unter dem Nenner eines autoritären Libertarismus fassbare Allianz zwischen so unterschiedlichen Bewegungen wie den Maßnahmengegner:innen mit Neonazis und ihren antisemitischen Verschwörungstheorien, der Alt-Right mit unterschiedlichen Ausprägungen des Trumpism und neoreaktionären Technodystopien hervorgebracht. Die gouvernemental verdunkelte Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft, die »den Menschen« nicht nur »chaotisch und unverständlich erscheint«, sondern ihnen auch »feindlich begegnet […,] produziert nicht [mehr] nur Massen, die sich passiv ihrem Schicksal fügen, sondern mobilisiert [zunehmend auch] eine zerstörerische Aktivität, die sich gegen [die erfahrene] Bedrohung wendet« (Amlinger, Nachtwey 2022: 56). Das historische Erstarken dieser Bewegungen spiegelt sich auch in der kritischen Theoriebildung: Während sich die Kritik des politischen Liberalismus im demokratietheoretischen Diskurs – in weit rezipierten Analysen seines »postdemokratischen« (Crouch 2004) »soft totalitarism« (Lacou-Labarthe, Nancy 1997: 128) und »nihilistischen Zeitalter[s]« (Rancière 2014: 132) – bis vor wenigen Jahren hauptsächlich mit dem Phänomen seiner immanenten Tendenz zur Entpolitisierung auseinandergesetzt hat, ist es in jüngerer Zeit zu einer Fokussierung auf regressive Gegenbewegungen gekom- 108 3. Die Farce der politischen Gegenwart men (vgl. insbesondere Amlinger, Nachtwey 2022; Brown 2019; Fraser 2017b, Henkelmann et al. 2020). Einig sind sich verschiedene Gegenwartsdiagnosen darin, dass solche Bewegungen an Einfluss gewonnen haben, weil die etablierten politischen Mächte – und mit ihnen auch die Gewerkschaften als traditionell linke Gegenkräfte – im Zuge ihres intervenierenden Krisenmanagements an Legitimität verloren haben. Sie können nicht mehr glaubhaft vermitteln, dass sie die Bedürfnisbefriedigung der Einzelnen politisch sicherstellen können (vgl. Amlinger, Nachtwey 2022: 16). Damit reagiert die neue Rechte auf das tatsächlich gebrochene liberale Versprechen einer durch die staatliche Sicherung subjektiver Rechte gewährleisteten individuellen Selbstbestimmung (vgl. Rensmann 2020: 47). Der autoritäre Libertarismus ist nicht »als irrationale Bewegung gegen, sondern als Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften« (Amlinger, Nachtwey 2022: 13) zu begreifen. Denn obwohl sich der in ihm zum Ausdruck kommende Protest gegen den politischen Liberalismus richtet, rebelliert er im Namen einer seiner zwei zentralen Werte: subjektiver Freiheit. Darin zeigt sich auch, was der autoritäre Libertarismus nicht sein will: eine Politik demokratischer Teilhabe. Bereits in seinem klassischen theoretischen Selbstverständnis wird der Libertarismus als Radikalisierung der neoliberalen Position eingeführt, da sämtliche Marktinterventionen und damit auch das gegenwärtig ubiquitäre Prinzip der Staatsverschuldung abgelehnt werden (vgl. u.a. Friedman 1970; Hoppe 2015; Nozick 1974: 113–119; Rand, zitiert nach Toffler 1997, dazu Craib 2022: 27–29; Rothbard 2006). Auf der Grundlage eines Verständnisses subjektiver Freiheit, das diese in Kontinuität zur naturrechtlichen Konzeption des politischen Liberalismus begreift, d.h. nicht als gesellschaftliche Errungenschaft, sondern als natürlich vorausgesetzter persönlicher Besitzstand, der politisch nicht hergestellt, sondern nur verteidigt werden muss (vgl. Marcuse 1968: 12; von Redecker 2020a: 55), soll der Staat auf ein absolutes Minimum reduziert werden – »police, armed services and the law courts to settle disputes amongst men« (Rand, zitiert nach Toffler 1997: 245 f.; Rothbard 2000). Es handelt sich dabei um eine weitere Radikalisierung der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft: Libertäre Bewegungen reagieren auf den erfahrenen Verrat am Versprechen subjektiver Freiheit nicht, indem sie ihn dem kapitalistischen Verwertungsimperativ anlasten, dessen gouvernementale Regierung in eine immer stärker verschuldete Kontrollgesellschaft führt, sondern indem sie die neoliberale Interventionspolitik kritisieren, die mehr schlecht als recht versucht, 3. Die Farce der politischen Gegenwart 109 die daraus erwachsenden Exzesse abzumildern. Interessant ist, dass dieser theoretische Anspruch praktisch kaum je eingelöst wird. In Staaten, in denen autoritär-libertäre Figuren an der Regierungsmacht sind, wird die neoliberale Interventionspolitik in der Regel fortgeführt, wovon medienwirksame Intensivierungen staatlicher Diskriminierung ablenken. Die Farce autoritär-libertärer Regierung manifestiert sich entsprechend darin, dass durch den Versuch einer weiteren Radikalisierung der neoliberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft auch die darauf reagierende staatliche Krisenpolitik verstärkt wird, durch deren vermeintliche Überwindung sie sich politisch legitimiert. Dass es die geteilte Kritik neoliberaler Interventionspolitik ist, die es vermag, eine (vorübergehende) Kohärenz unter autoritären Bewegungen zu erzeugen, zeigt sich auch daran, dass Phasen libertärer Politisierung häufig verzögert in Reaktion auf die Erfahrung staatlicher Eingriffe auftreten. Obwohl die ökonomische oder soziale Deprivation der Einzelnen, gegen die sich ihre destruktive Rebellion richtet, in der Regel bereits länger anhält, gewinnen autoritär-libertäre Bewegungen ihr Momentum meist durch politische Ereignisse wie die Wirtschaftskrise 2008, die Fluchtbewegungen 2015 oder die COVID-19-Krise 2020 (Amligner, Nachtwey 2022: 309). Dies ist auch der Grund, weshalb die konkreten Programme politischer Gruppierungen, die sich unter dem Nenner des autoritären Liberalismus zusammenfassen lassen, in ihren über die Kritik staatlicher Interventionspolitik hinausgehenden Programmen teils stark voneinander abweichen können. Autoritär-libertäre Bewegungen lassen sich mit Fraser (vgl. 2017a: 33; 2017b: 78 f.) als regressive Kritik an einem progressiven Neoliberalismus verstehen. Um die neoliberale Agenda staatlicher Deregulierung politisch durchzusetzen und zu legitimieren, kam es in den 1990-Jahren unter New Labor und dem Dritten Weg zu einem historischen Bündnis mit sozialen Bewegungen und identitätspolitischen Begehren (vgl. Giddens 1999). Im Kontext des autoritären Libertarismus wird das Leiden an den immer erbarmungsloseren Effizienzimperativen der neoliberalen Vergesellschaftung auf diese politische Integration von historischen Minderheiten projiziert (vgl. von Redecker 2020a: 39). Im Unterschied zur marxistischen Tradition der Kritik bürgerlicher Vergesellschaftung werden soziale Exzesse nicht länger durch Klassenunterschiede erklärt, sondern durch die Beschwörung der Metapher eines Gesellschaftskörpers, dessen »harmonious relation between brain and limbs, that is, between employers and employees«, in 110 3. Die Farce der politischen Gegenwart der Form von Migrant:innen und Jüd:innen ein »external or parasitical element« gegenübertritt, »which feeds on the social body« (Teixeira Pinto 2019: 19, vgl. dazu auch Marcuse 1968).20 Infolgedessen wird der Allianz zwischen neoliberaler Deregulierung und progressiver Identitätspolitik das Versprechen einer Stärkung subjektiver Freiheit durch sexistische, rassistische und antisemitische Nationalismen entgegengestellt, die stabile, häufig wertekonservative Identitäten – jenseits der nicht mehr glaubwürdigen Zusicherung einer bürgerlichen Solidaritätskultur – anbieten (vgl. Brown 2019: 5; 13). Autoritär ist dieser Libertarismus nicht nur, weil der erfahrene Verlust subjektiver Freiheit auf dem Ressentiment einer imaginierten Bedrohung durch historische Minderheiten gründet, sondern vor allem, weil er offen einen Kapitalismus ohne Demokratie, d.h. ohne Anspruch einer kollektiven Gestaltung geteilter Praxis, proklamiert (vgl. Hoppe 2001, dazu Amlinger, Nachtwey 2022: 50; Bonefeld 2016; Slobodian 2023).21 Er befördert eine Form der »Anti-Politik« (Amlinger, Nachtwey 2022: 326; vgl. Texeira Pinto 2019: 7), denn die Führungsfiguren der neuen Rechten werden nicht gewählt, um die bürgerliche Gesellschaft anders, besser zu gestalten, sondern um von 20 Der durch Ohnmachtserfahrungen motivierten Rebellion des autoritären Libertarismus fehlt eine theoretische Grundlage, »wie es beispielsweise der Marxismus für die Arbeiter- oder der Feminismus für die Frauenbewegung war. Statt Theorie gibt es nur noch Sound- und Argument-Bites, die erratisch zusammengefügt werden; auf argumentative Stringenz [wird] wenig Wert [gelegt]« (Amlinger, Nachtwey 2022: 296). Wie Texeira Pinto im Anschluss an Jameson (vgl. 1991: 3) festhält, lässt sich die damit zusammenhängende Konjunktur von Verschwörungstheorien daher als »the poor person’s Marxism, a degraded version of Ideologiekritik« dechiffrieren. Diese lassen sich als »a Herculean attempt« verstehen, »to come to grips with the fact that power is not located where it is said to be – using tools ill-suited to the task. In a way, the whole alt-right Weltanschauung could be construed as a backhanded compliment to Marx« (2019: 6). 21 Dies widerspricht dem häufig plebiszitären Selbstverständnis dieser Bewegungen nur oberflächlich: Wie Amlinger und Nachtwey in ihrer soziologischen Studie der Querdenker:innenszene zeigen, beruht deren Anspruch einer basisdemokratischen Selbstermächtigung auf einer äußerst »dünne[n] Rahmenerzählung« kollektiven Handelns: »Man ist dagegen – gegen das Establishment, gegen die Macht. […] Dieser Impuls mündet häufig in einem Wunsch nach Dis-Intermediatisierung, also der Ausschaltung aller organisatorischen oder repräsentativen Instanzen, die Interessen und Einsprüche bündeln sowie Kompromisse herstellen können« (2022: 120). Am anderen Rand des autoritär-libertären Spektrums tritt die Forderung einer Abschaffung demokratischer Prozesse sogar offen zutage: Während die in der amerikanischen Technologiebranche populäre Lehre des Longtermism ihre eugenischen Prämissen noch mehr oder weniger bedeckt hält, spricht sich die Bewegung des »Dark Enlightenment« ungeniert dafür aus, Technomonarchien unter der Führung einer »transhuman super-race« (Texeira Pinto 2019: 19) von Silicon Valley CEOs zu installieren (vgl. Burrows; Smith 2021: 149). 3. Die Farce der politischen Gegenwart 111 der Politik endlich in Ruhe gelassen zu werden. Dies steht zwar im Widerspruch zum politischen Selbstverständnis der Französischen Revolution (vgl. Kap. 1.3), nicht jedoch zur (neo)liberalen Theoriebildung insgesamt. Wie Texeira Pinto darlegt, ist democratic self-governance […] not a necessary part of a liberal social order. On the contrary, classical [neoliberalism; LH] does not support the idea of inalienable rights [of participation; LH] – Hayek famously said he favoured a »liberal dictatorship« when professing his support for Pinochet’s coup in Chile – but this ideological affinity between fascism and libertarianism, however substantial, was obscured by geopolitical alignments and revisionist history. (2019: 17) Die Unterminierung demokratischer Teilhabe ist aufgrund seines Primats subjektiver Freiheit in der Form individueller Rechte in die Architektur des politischen Liberalismus eingeschrieben (vgl. Kap. 2.2.2). Bereits in der Diskussion seiner neoliberalen Radikalisierung wurde deutlich, dass es in einer Handlungsordnung, in der der kapitalistische Verwertungsimperativ der historischen Ausnahme seiner sozialliberalen Regulierung entledigt wurde und infolgedessen den immer alternativloseren Raum des politisch Möglichen absteckt, keine Demokratie mehr braucht. Im Zuge dessen wurde die ursprünglich in gleichem Maße über demokratische Teilhabe wie über subjektive Freiheit begründete Legitimation dieser Ordnung durch das immer einseitigere Versprechen individueller – vermeintlich nicht länger politischen – Selbstbestimmung ersetzt. Marcuses mit Blick auf den europäischen Faschismus des 20. Jahrhunderts festgehaltene Beobachtung hat daher nichts an Aktualität verloren: »Since the social order intended by liberalism is left largely intact, it is no wonder that the ideological interpretation of this social order exhibits a significant agreement between liberalism and antiliberalism« (1968: 7). Autoritär-libertäre Bewegungen radikalisieren die liberale Position, indem sie das Versprechen demokratischer Teilhabe an der staatlichen Regierungsmacht nicht mehr nur missachten, sondern zugunsten weiterer politischer Deregulierungen der bürgerlichen Gesellschaft offen ablehnen. Sie radikalisieren die neoliberale Position, indem sie deren historisches Bündnis mit sozialen Bewegungen und identitätspolitischen Begehren aufbrechen und durch eine entgegengesetzte Intensivierung politischer Diskriminierung ersetzen, die von ihrem Scheitern an der proklamierten Überwindung staatlicher Interventionspolitik ablenkt. Der autoritäre Libertarismus ist eine regressive Radikalisierung der neoliberalen Radika- 112 3. Die Farce der politischen Gegenwart lisierung des politischen Liberalismus. Wo das liberale Selbstverständnis einer solidarisch kooperierenden bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr nur durch die neoliberale Behauptung eines losen Nebeneinanders atomisierter Individuen, sondern zusätzlich durch eine Intensivierung politischer Diskriminierung abgelöst wird, verliert das revolutionäre Versprechen gleicher demokratischer Teilhabe die letzten Überreste seines legitimatorischen Sinns. 3.4.1 Kulturen bürgerlicher Lächerlichkeit Das Gros der autoritär-libertären Führungsfiguren, die in den letzten Jahren die Regierungen westlicher Demokratien übernommen haben, zeichnet sich durch eine neue Lächerlichkeit aus. Darin manifestiert sich der Umschlag der liberalen Tragödie in eine Farce, die Marx als schlechte Komödie beschrieben hatte. An Hegels Gattungsbestimmungen anschließend lässt sich das Verhältnis von Farce und Komödie als Unterscheidung zwischen einer lächerlich missratenen und einer gelingenden Komödie rekonstruieren. Beide Modelle reagieren auf das tragische Scheitern der liberalen Handlungsordnung, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise: einmal, indem der Anspruch gleicher Teilhabe ostentativ fallengelassen wird, das andere Mal, indem die politische Moderne einer Neuordnung unterzogen wird, die eine selbstbestimmte Praxis gleicher Teilhabe und subjektiver Freiheit etabliert. Indem zwischen der gelingenden Komödie einer wahren Demokratie und der bloß lächerlichen Farce der politischen Gegenwart unterschieden wird, lässt sich nachvollziehen, worin die Art und Weise, wie der autoritäre Libertarismus den gebrochenen Versprechen des politischen Liberalismus begegnet, fehlgeht und was daraus für das Projekt einer progressiven Liberalismuskritik folgt. Hegel differenziert in der Ästhetik zwischen scheiternden und gelingenden Komödien, indem er Erstere als bloße Lächerlichkeit ohne gesellschaftlichen Ordnungsanspruch beschreibt, während er Zweitere als eine dramatische Handlungsordnung eigenen Rechts begreift, die auf politiktheoretischer Ebene mit dem Anspruch einer Neuordnung der Moderne einhergeht (vgl. Hunter 2023: 215–242). Im Unterschied zur gelingenden Komödie, für die Hegel eine Reihe an Bedingungen formuliert (vgl. Kap. 4.1), ist lächerlich bereits »jeder Kontrast des Wesentlichen und seiner Erscheinung […], ein Widerspruch, durch den […] der Zweck in seiner Realisation sich selbst 3. Die Farce der politischen Gegenwart 113 um sein Ziel bringt« (ÄIII 527). Folgt man dieser Unterscheidung, lässt sich keine politisch gelingende Praxis der Lächerlichkeit skizzieren. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sämtliche Praktiken komödiantischer Distanznahme von den bestehenden (neo)liberalen Ordnungsverhältnissen notwendigerweise dem im Folgenden kritisierten Strukturkonservatismus bürgerlicher Lächerlichkeitskulturen zum Opfer fallen müssten. Es handelt sich primär um eine begriffliche Verschiebung: Im Kontext meiner politischen Lektüre der Komödientheorie Hegels sind progressive Praktiken des Lächerlichmachens, die Rebentisch nicht als bloße »Umkehrung der Positionen« (2020: 54), sondern als Verweis auf die Möglichkeit einer anderen sozialen Praxis begreift, als Antizipation einer strukturell komischen Neuordnung zu verstehen, wie sie in Kapitel 4 ausgeführt wird. Gleichwohl ist Adorno zuzustimmen: »Je gründlicher die Gesellschaft« eine solche Neuordnung schuldig bleibt, »um so unwiderstehlicher wird Komik in den Orkus gerissen, Lachen, einst Bild von Humanität, zum Rückfall in die Unmenschlichkeit« (Adorno 1975: 603). Je hegemonialer die regressive Lächerlichkeit autoritär-libertärer Bewegungen, desto schwerer haben es subversiv operierende Antizipationen einer komischen Neuordnung der politischen Moderne. Marx’ Deutung Louis Bonapartes, dessen Aufstieg er als Ausdruck der lächerlichen Komödie liberaler Ordnungsbildung beschreibt, korrespondiert mit dieser Definition Hegels: Indem Bonaparte die Praxis bürgerlicher Klientelpolitik »platt als Komödie« (2007: 70) nahm, zeigte er gemäß Marx auf, wie die liberale Ordnungsbildung an ihrem eigenen Maßstab scheitert. In demselben Sinne erweist sich auch eine bürgerliche Kultur, die gouvernementale Mechanismen der Selbstverschuldung und politisch alternativlose Zustände fördert, aber gleichzeitig mit dem Appell an die Einzelnen herantritt, durch Solidarität jene Voraussetzungen einer pluralen Vergesellschaftung herzustellen, die der Staat nicht hervorzubringen vermag, als lächerlicher »Widerspruch« zwischen dem »Wesentlichen« liberaler Ordnungsbildung und seiner »Erscheinung«. Autoritäre Versuche, liberale Handlungsordnungen zu überwinden, mobilisieren diese Lächerlichkeit als politische Strategie. Das Phänomen einer kulturell verankerten bürgerlichen Lächerlichkeit, die Forderungen einer Neuordnung der politischen Moderne unterminiert, ist dementsprechend nicht neu. Es äußert sich nur unterschiedlich: als passive, neoliberale Kultur eines elitären Zynismus oder als aktive Strategie libertärer Meme Wars. In beiden Ausprägungen schirmen Praktiken der Lächerlichkeit die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft und die darin 114 3. Die Farce der politischen Gegenwart wirksamen Verwertungsimperative vor der Gefahr einer, auf das strukturell komische Ordnungsmodell einer wahren Demokratie ausgerichteten, revolutionären Infragestellung der liberalen Handlungsordnung ab. Der entpolitisierende Effekt der Distanznahme, der beiden Phänomenen bürgerlicher Lächerlichkeit gleichermaßen zugrunde liegt, lässt sich bereits an Hegels problematischer Lektüre der antiken Komödien Aristophanes’ nachvollziehen, die hinter seinen Begriff komischen Gelingens zurückfällt. Bevor der Unterschied des neoliberalen Zynismus zur autoritären Strategie der Lächerlichkeit im Kontext libertärer Bewegungen diskutiert wird, gilt es daher ausgehend von Hegel kurz das grundlegende Problem eines lächerlichen Strukturkonservatismus zu rekapitulieren. 3.4.2 Das Aristophanes-Problem Wie schnell das komische Versprechen emanzipativer Befreiung und kollektiver Selbstbestimmung in eine lächerliche Herrschaftsstabilisierung kippen kann, zeigt sich bereits beim antiken Komödiendichter Aristophanes, über den Hegel schreibt: »Ohne ihn gelesen zu haben, läßt sich kaum wissen, wie dem Menschen sauwohl sein kann« (ÄIII 553). Denn die genauere Betrachtung der komödiantischen Verkehrungen Aristophanes’ zeigt, dass diese keineswegs zu einer »frei in sich selbst sich geistig bewegende[n] absolute[n] Subjektivität« führen, die »sich nicht mehr mit dem Objektiven« (ÄIII 527) einigen muss. Ganz im Gegenteil lässt Aristophanes den Widerstand selbstbestimmt rebellierender Subjekte scheitern, indem er ihn als lächerlichen Kontrast zum vermeintlich substanziellen Wesen bestehender Herrschaftsstrukturen zur Darstellung bringt. Aristophanes’ Werke scheitern an Hegels Definition der Komödie, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die komisch verkehrt werden, nicht für ihre Veränderung öffnen, sondern durch den Gestus einer Distanznahme im Gegenteil stabilisieren. Hegel selbst ist die Tragweite dieser Verfehlung verborgen geblieben, was sich daran zeigt, dass sich seine affirmative Diskussion der aristophanischen Werke im Rekurs auf seine eigene Kritik der kompensatorischen Lächerlichkeit scheiternder Komödien dekonstruieren lässt (vgl. Hunter 2023: 228–238). Besonders deutlich tritt der Strukturkonservatismus Aristophanes’ im Beispiel der Frauen in der Volksversammlung (Eκκλησιάζουσαι) zutage. Durch List, Intrige und Verkleidung schaffen sich die Frauen* Athens illegalen Zugang zu der den »als vollständig unfähig karikierte[n]« Männern vorbehal- 3. Die Farce der politischen Gegenwart 115 tenen Volksversammlung. Dort übernehmen sie die Macht von überrumpelten Politikern, deren kriegslustiger und habsüchtiger Herrschaft sie ein Ende setzen, indem sie einen »egalitären Sklavenhalterkommunismus« (Wallat 2015) einführen. Sie überschreiben sämtliches Privateigentum an die Polis und erklären Promiskuität zur neuen gesellschaftlichen Norm, ohne jedoch die antike Sklaverei infrage zu stellen. Begründet wird dieser Umbruch, Wallats überzeugender Deutung des Stücks zufolge, durch eine erstaunlich moderne Kritik der gesellschaftlichen Organisation der Reproduktionsarbeit: Die bekannteste und durch ihren ernsten Scharfsinn beeindruckendste [der Rebellinnen] ist Lysistrate (»die das Heer Auflösende«). Mit einer verwegenen politischen Idee vereint die Wortgewaltige die Frauen Griechenlands: mit einem – bei Aristophanes erfolgreichen – Sexstreik, der die unsäglichen Kriege der Männer beenden soll. Lysistrate pocht auf die herausragende Bedeutung der Frauen für das Gemeinwesen, die in der elementaren Reproduktion bestehe: »Am Gemeinwohl habe ich Anteil, denn ich liefere ihm Männer«. (Wallat 2015) Es ist die gesellschaftlich hervorgebrachte und vermittelte Verpflichtung zur Reproduktionsarbeit, die die Frauen an den Oikos fesselt und ihnen dadurch die Bedingungen einer freien und gleichen Teilhabe an der politischen Praxis verunmöglicht. Was auf den ersten Blick wie eine progressive Adressierung der Voraussetzungen einer selbstbestimmten politischen Praxis der gleichen Teilhabe aller klingt, dient Aristophanes allerdings dazu, die bestehenden Verhältnisse gendernormierter Stereotypen und die Herrschaft jener männlichen Elite zu festigen, welche die athenische Bevölkerung dem nicht enden wollenden Elend des Peloponnesischen Krieges aussetzte. Indem der weibliche Widerstand als irrational, verdorben und ordnungsunfähig zur Darstellung gebracht wird, verkehrt sich die dargestellte Kritik an den gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnissen in eine »Persiflage, die die Unmöglichkeit radikaler sozialer Transformationen nur umso eindringlicher vorführt« (Wallat 2015).22 So schlägt Lysistrates radikale Kritik, die sie überzeugend und kohärent vorträgt, in das »Lächerlichmachen von (weiblicher) Kritik an patriar- 22 Dem entspricht auch Adornos vernichtendes Urteil, das nichtsdestotrotz noch zu optimistisch ausfällt: »Was gar an den […] Komödien des Aristophanes komisch sein soll, ist zum Rätsel geworden, die Gleichsetzung des Derben mit dem Komischen nur noch in der Provinz nachzufühlen« (1975a: 603). Wie spätestens die neue Proliferation bürgerlicher Lächerlichkeit im libertären Meme War aufgezeigt hat (vgl. Kap. 3.4.4), handelt es sich bei der Annahme, dass eine solche Gleichsetzung nur noch in der Provinz nachgefühlt würde, um Wunschdenken. 116 3. Die Farce der politischen Gegenwart chaler Herrschaft« (Wallat 2015) um. Indem die Verkehrung der Verhältnisse auf eine Weise zur Darstellung gebracht wird, die nicht diese Verhältnisse, sondern deren Verkehrung der Lächerlichkeit preisgibt, kann alles bleiben, wie es war. Mit Blick auf Hegels reaktionäres Modell christlicher Sittlichkeit (vgl. Kap. 2.3.2) und sein essentialistisches Geschlechterverständnis, überrascht nicht, dass es ihm gefällt, wie Aristophanes widerständige Frauen ins Lächerliche zieht, ohne sich »[ü]ber das wahrhaft Sittliche im athenischen Volksleben, über die echte Philosophie, den wahren Götterglauben, die gediegene Kunst« (ÄIII 530) lustig zu machen (vgl. hierzu Newinger 1996: 332 und Murray 1986: 215). Hegel schätzt Aristophanes dafür, dass er die Auswüchse […] der Demokratie, aus welcher der alte Glaube und die alte Sitte verschwunden sind, die Sophisterei, die Weinerlichkeit und Kläglichkeit der Tragödie, die flatterhafte Geschwätzigkeit, die Streitsucht usf., [als] dies bare Gegenteil einer wahrhaften Wirklichkeit des Staats, der Religion und Kunst ist es, [als sich] selbst auflösende Torheit vor Augen stellt. (ÄIII 530) Er schätzt ihn also für ebenjene vulgäre Darstellung subjektiven Widerstands als »substanzlose[s] Handeln«, von der er selbst behauptet hatte, dass sie nicht »schon um dieser Nichtigkeit willen komisch« ist, sondern als lächerliche Bestätigung des Gegebenen »mit dem eigentlich Komischen« nur »verwechselt« (ÄIII 527) würde. Es ist bemerkenswert, wie offensichtlich Hegel durch sein Lob Aristophanes’ seinen eigenen Begriff der Komödie unterwandert und dessen emanzipatorischen Ordnungsanspruch preisgibt.23 Hegels Schwärmerei für Aristophanes, der, wie es auch in den Vorlesungen 23 Eine weitere Unschärfe, die aus Hegels affirmativer Deutung der Komödien Aristophanes’ und ihrer Spannung zu seinem eigenen Begriff komischen Gelingens erwächst, liegt in der dadurch untergrabenen Gattungsdifferenz zwischen Komödie und antiker Satire. Im Unterschied zur Komödie definiert Hegel die Satire als eine untergeordnete Kunstform, die durch eine rein körperliche Erfahrung jenseits geistiger Reflexivität bestimmt bleibt. Als Beispiel nennt Hebing die römischen Saturnalien, die als »regelmäßig wiederkehrende Kollektivveranstaltung[en] zur lachenden Entlastung von sozialem Druck [dienten], ohne dass dabei höhere oder zumindest überlieferungswerte ästhetische Gestaltungen entstehen würden […]. Im Unterschied zur Festkultur der Komödie als das Zelebrieren des modernen Bewusstseins des freien Demos […] bleibt die karnevaleske Festkultur der Römer in […] ihrer Widersprüchlichkeit gefangen und dringt im Äußersten zu dieser ganz formalen und temporären Befreiung des Bürgers oder Bauern durch Lachen fort, das immer eine körperliche Erfahrung bleibt und bewusstlos« (2015: 244 f.). Mit Blick auf die Erfahrung sittlicher Substanz in den antiken Komödien des Aristophanes bleibt unklar, worin die vermeintlich höhere Geistigkeit eines als komische Sauwohligkeit erfahrbaren Demos gegenüber der körperlich erfahrenen Versöhnung in der Satire begründet sein soll. 3. Die Farce der politischen Gegenwart 117 über die Philosophie der Geschichte heißt, »für das Wohl des Vaterlandes geschrieben und gedichtet hat« (VG 318), steht nicht nur in Spannung zu seiner ordnungstheoretischen Definition einer selbstbestimmten Gestaltbarkeit geteilter Praxis in der gelingenden Komödie, sie zeugt darüber hinaus von einer grundsätzlichen Scheu gegenüber der von ihm selbst eröffneten Radikalität der geistphilosophischen Prämissen seiner politischen Philosophie, deren Konsequenzen er nicht zu tragen bereit war (vgl. Kap. 2.3.2). Statt auf Grundlage seines selbstreflexiven Begriffs gelingender Ordnungsbildung die politische Etablierung einer strukturell komischen Handlungsordnung einzufordern, bedient Hegel sich Aristophanes’ Komödien, um tradierte Herrschaftsverhältnisse zu besiegeln, indem er diese zur »ewigen« – strukturell eigentlich tragischen – Gerechtigkeit eines übergeordneten Schicksals verklärt, ihnen dabei aber einen subversiven Anstrich verleiht. In den Kontext der Moderne übertragen, bringt Menke den strukturkonservativen Effekt dieser Lächerlichkeit anhand von Tiecks romantischer Komödie des Gestiefelten Katers auf den Begriff: Ja, selbst in der eigenen Darstellung der Komödie bleibt das darin dargestellte Publikum der Komödie durch die Komödie unverändert: Die Selbstgefälligen, Großsprecher und Spießer, aus denen sich das Publikum im Gestiefelten Kater zusammensetzt, sind dies nach wie vor; zwar ist in der Komödie alles anders, aber nichts hat sich durch die Komödie geändert. (2005: 138)24 Darin, dass alles bleiben kann, wie es war, nachdem der Versuch etwas zu ändern, verlacht wurde, manifestiert sich der grundlegend konservative Kompensationsmechanismus einer auf ostentativer Distanznahme beruhenden, bürgerlichen Lächerlichkeitskultur. 24 Obwohl sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Deutschland des 19. Jahrhunderts nicht unmittelbar mit dem antiken Griechenland vergleichen lassen, steht die Grundoperation einer wesentlich einverstandenen Distanznahme in der deutschen Romantik – über die Hegel in Auseinandersetzung mit dem der Komödie und der Lächerlichkeit verwandten Begriff der Ironie ein vernichtendes Urteil fällt (vgl. Hunter 2023: 75–82) – in »unübersehbarer Nähe« (Hebing 2014: 130) zum Strukturkonservatismus Aristophanes’, den Hegel gegen Ende der Ästhetik so enthusiastisch lobt. 118 3. Die Farce der politischen Gegenwart 3.4.3 Elitärer Zynismus als bürgerliche Lächerlichkeitskultur Im Nachgang der trente glorieuses prägte eine Kultur der passiven Akzeptanz politischer Ohnmacht die bürgerliche Gesellschaft. Unter dem Nenner einer »zynischen Vernunft« zeichnet Sloterdijk nach, wie das postmoderne Selbstverständnis der privilegierten »Schlüsselstellungen der Gesellschaft in Vorständen, Parlamenten, Aufsichtsräten, Betriebsführungen, Lektoraten, Praxen, Fakultäten, Kanzleien und Redaktionen« mit einer »gewisse[n] schicke[n] Bitterkeit« (1983: 37) untermalt wurde. Deren kulturelle Verankerung ermöglichte es, die Exzesse und Einschränkungen liberaler Vergesellschaftung in »schmatzend einverstandene[m] Behagen« (Adorno 1975a: 603) hinzunehmen. Žižek definiert das dabei greifende Prinzip einer zynisch entlastenden Distanznahme folgendermaßen: Cynical reason […] is a paradox of an enlightened false consciousness: one knows the falsehood very well, one is well aware of a particular interest hidden behind an ideological universality, but still one does not renounce it. (1989: 25 f.) Im Zuge der neoliberalen Radikalisierung der liberalen Ordnungsbildung wird diese zynische Vernunft zunehmend »part of the game. The ruling ideology is not meant to be taken seriously or literally« (1989: 24).25 Dieses nachlässige go along postmoderner Bürgerlichkeit, welche die zunehmende Exzessivität ihrer kapitalistischen Vergesellschaftung erkennt, ohne sie politisch zurückzuweisen, steht zwar im Kontrast zur »anti-cynical philosophy« (Saarinen 2013) der liberalen Hoffnung auf eine Zunahme bürgerlicher Solidarität (vgl. Kap. 2.2.3). Beide gründen allerdings auf derselben Prämisse: Eine politische Neuordnung wird kategorisch ausgeschlossen, weil sie begrifflich mit einem Rückfall in undemokratische Ordnungen gleichgesetzt wird. Infolgedessen wird die Perspektive auf eine andere demokratische Ordnungsbildung als naiver Wunschtraum diskreditiert und der politische Liberalismus als beste aller schlechten Ordnungen affirmiert. The attitude of ironic distance proper to postmodern capitalism is supposed to immunize us against the seductions of fanaticism. Lowering our expectations, we are told, is a small price to pay for being protected from terror and totalitarianism. (Fisher 2009: 5) 25 Für die politische Gegenwart aktualisiert wird diese Position im Akzelerationismus, vgl. exemplarisch Shaviro 2014: 40; für eine Kritik dieser Position Alphin 2021: 124; 118. 3. Die Farce der politischen Gegenwart 119 Auch auf poetologischer Ebene korrespondiert die zynische Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit mit dem liberalen Kulturargument der Hoffnung auf eine Zunahme bürgerlicher Solidarität. Im Zuge der zunehmenden Manifestierung liberaler Ordnungsbildung als neoliberale Farce bürgerlicher Exzesse wird deren tragische Verklärung als bloß vorübergehende Ausdrücke der »ewigen Gerechtigkeit« der globalen Märkte durch die zynische Entwertung sämtlicher Versuche ihrer Politisierung abgelöst. [D]ie militanten Tragiker, die zwar kämpfen, aber sich keinen wünschenswerten Zustand dieser Welt vorstellen können, [sind] die Zwillinge jener politisch abstinenten Postmodernen, die meinen, dass es auf der Welt nichts gibt, wofür es sich ernsthaft zu kämpfen lohnt. (Pfaller 2005: 112) Im Unterschied zum liberalen Kulturargument werden die Exzesse, die aus der politischen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft resultieren, nicht mehr in der Hoffnung auf eine wachsende Solidarität verteidigt, sondern mit der Geste eines defätistischen Schulterzuckens als notwendiges Übel hingenommen – »a detached spectatorialism […] replaces engagement and involvement« (Fisher 2009: 6). Pfaller ist zuzustimmen, dass diese »postmoderne Spaßkultur, die alles ins Lächerliche […] ziehen will, keineswegs, wie sie oft glaubhaft machen möchte, eine Verbündete der Komödie ist« (2005: 113). Indem sie Versuche der Veränderung gegebener Verhältnisse ins Lächerliche zieht, bringt sie diese als Unveränderbare in Erscheinung und bestätigt dadurch die neoliberale Erfahrung ihrer politischen Alternativlosigkeit. Der emanzipatorische Anspruch der Komödie, in der eine »frei in sich selbst sich geistig bewegende absolute Subjektivität […] sich nicht mehr mit dem Objektiven« (ÄIII 527) einigen muss, wird dadurch nicht nur diametral verfehlt, sondern selbst der Lächerlichkeit preisgegeben. Weil die zynische Vernunft die Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft, die sie vorantreibt, nicht offen affirmiert, sondern durch ihre Distanznahme den Anspruch einer kritischen Haltung aufrechterhält, erweist sie sich als »Hauptgegnerin des Materialismus, den die Komödie behauptet« (Pfaller 2005: 113, vgl. Kap. 4.1). 3.4.4 Die neue Lächerlichkeit der Meme-Kultur In den letzten Jahren ist eine neue Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit entstanden, in der die humoristische Entlastung nicht länger im Zeichen einer 120 3. Die Farce der politischen Gegenwart passiven Akzeptanz neoliberaler Alternativlosigkeit steht, sondern aktiv als Strategie eines autoritär-libertären Widerstands eingesetzt wird. Inwiefern diese neue Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit zu einer weiteren Radikalisierung der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft beiträgt, lässt sich exemplarisch an der libertären Meme-Kultur nachvollziehen, die in den letzten Jahren durch die immer stärker internetbasierte Öffentlichkeit enorm an bürgerlicher Integrationskraft gewonnen hat (vgl. Reckwitz 2017: 234; Burrows, Smith 2021: 145). Auf Ebene ihrer Bildsprache entsprechen die verschiedenen politischen Bewegungen, die hier unter dem Nenner des autoritären Libertarismus zusammengefasst werden, einander stärker, als ihre inhaltlichen Divergenzen nahelegen würden. Sie alle befördern die neue Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit – einen »trendy fascism« (Lütticken 2019: 74) –, indem sie sich in der einen oder anderen Weise an Meme-Formaten bedienen, um affektive Ressentiments zu adressieren und in neue Milieus vorzudringen. Aufgrund der subversiven Kodierung dieser Formate und des darin aufgehobenen Versprechens subjektiver Freiheit ermöglicht ihre Proliferation autoritär-libertären Positionen eine »easy passage into social spheres not traditionally aligned with, or sympathetic to, the farright« (Texeira Pinto 2019: 11). Entsprechend zentral ist ihre Rolle für das autoritäre Projekt einer kulturellen Hegemonisierung libertären Widerstands: [The Meme-Culture] has now become central to our political processes, spreading through the mainstream to become one of the most important forms of political participation and activism today, employed by politicians, political commentators and the public alike. (Merrin 2019: 201) Digitale Kommunikationsformen sind ein wesentlicher Bestandteil bürgerlicher Kultur geworden, weil sie durch die Vermittlung von Weltbezügen und Positionierungen »transformieren, was es heißt, ein Subjekt zu sein« (Reckwitz 2017: 244). Memes, die mittlerweile einen Großteil der sozialen Kommunikation im digitalen Raum ausmachen, sind definiert als Träger humoristisch kodierter Information, die sich zugleich durch ihre Flexibilität wie durch ihre Resilienz im digitalen Kopiervorgang auszeichnen (vgl. Dawkins 2007: 321). Darin ermöglicht das Meme-Format dem Subjekt eine Distanznahme, die zugleich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Adressierten bestärkt. Dass die Meme-Kultur in den letzten Jahren so stark vom autoritär-libertären Milieu mobilisiert werden konnte, ist gemäß Merrin Ausdruck einer 3. Die Farce der politischen Gegenwart 121 libertären Radikalisierung des im Medium des Memes aufgehobenen Versprechens subjektiver Freiheit: Online trolling, I would argue, is the contemporary expression of an older attitude: of a historical spirit of disruption, disorder, challenge, play and humour that takes as its target the entire profane realm of everyday life, the structures and values built on it and the authorities that defend it. (Merrin 2019: 203) Lange waren es die Transformationsbegehren der neuen Linken, die sich dem kulturellen Tugendkatalog der Nachkriegszeit und der damit einhergehenden Disziplinierung widersetzten, indem sie sich Strategien der Distanznahme und Subversion bedienten, um eine Stärkung subjektiver Freiheit einzufordern – »[t]he left […] obviously flirted with this chaotic spirit, being drawn to its play, humour, disruption and dissent« (Merrin 2019: 203). Teixeira Pinto legt diesem traditionell linken Selbstverständnis gegenüber dar, dass es sich bei subversiven Praktiken dieser Art stets um eine Form der »Anti-Politik« handelt, weil ihre Referenz auf eine radikal subjektive Freiheit keinen politischen Gehalt generiert. Sie sind weder genuin progressiv noch inhärent regressiv, weil sie ihre politische Konkretion immer erst durch die bestimmte Konfrontation mit der gegebenen, historisch spezifischen Politik gewinnen, gegen die sie sich richten: »[The] conflict with the social order which defines the counterculture, the desire to subvert or transgress moral codes [is] contingent to the current consensus« (2019: 12). In diesem Sinne hält auch Merrin fest, dass die libertäre Aneignung subversiver Strategien nur möglich war, weil das unbestimmte Chaos, auf dessen radikal subjektive Freiheit die Meme-Kultur sich beruft, als »an essentially anti-political force« (2019: 203) verstanden werden muss, wodurch sich der Konsens, den sie zu unterwandern suchen, als alles bestimmenden Kategorie ihrer politischen Ausrichtung entpuppt. Dies ist entscheidend, weil sich der gesamtgesellschaftliche Konsens im Zuge des Übergangs von der Disziplinargesellschaft der Nachkriegsjahre zur Kontrollgesellschaft der neoliberalen Gegenwart maßgeblich verändert hat: Während die trente glorieuses von strikten normativen Vorstellungen und Erwartungshaltungen geprägt waren, die mit der hegemonialen Ablehnung eines radikalen Anspruchs subjektiver Freiheit einhergingen, wurde dieser Anspruch im Zuge der neoliberalen Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse kulturell absorbiert und ins Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft eingetragen. Seither wird die ehemals linke Forderung nach einer normativ selbstbe- 122 3. Die Farce der politischen Gegenwart stimmten Lebensführung nicht länger durch Disziplinierungsansprüche unterdrückt, sondern in der Form einer kontrollierten Selbstoptimierung offen affirmiert. Dies hat dazu geführt, dass die Mobilisierung der antipolitischen Negativität subjektiver Freiheit meist nicht mehr dem Ziel der »Öffnung einer Situation hin zu einer Neubestimmung [dient], sondern [der] Verfestigung des Überlegenheitsgefühls derjenigen, die [den] Inside Joke verstehen, mit der eine Degradierung aller anderen einhergeht« (Kosok 2020: 72). Weil der progressive Neoliberalismus einen bis vor wenigen Jahrzehnten undenkbarer Grad an normativer Freiheit in der persönlichen Lebensführung als gesellschaftlichen Konsens etablieren konnte, wurde die Strategie der Subversion dieses Konsens im Namen subjektiver Freiheit von libertären Bewegungen »weaponised and deployed against so-called political correctness and ›social justice warriors‹« (Teixeira Pinto 2019: 12).26 Der Austausch neurechter Memes, der die digitale Öffentlichkeit bis weit in liberale Milieus hinein beeinflusst, hat insofern zur Hegemonisierung einer zunehmend autoritären Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit beigetragen, als die Proliferation eines libertären »troll-humour[s]« dazu geführt hat, dass die sexistische und rassistische Degradierung sozialrechtlicher und (identitäts)politischer Transformationsbestrebungen normalisiert wurde und infolgedessen auf immer breitere gesellschaftliche Akzeptanz stößt. Dass die kritische Theoriebildung in vielen Fällen noch immer von einem »underlying belief in the liberating, anti-totalitarian force of laughter, of ironic distance« (Žižek 1989: 24) geprägt ist, erschwert die Analyse dieser historischen Entwicklung. 26 Zur kulturellen Hegemonisierung der autoritären Demokratiekritik, die auf dieser libertären »Anti-Politik« fusst, tragen auch populäre Serienformate wie Vikings (2013–2021), The Last Kingdom (2015–2022) und insbesondere Game of Thrones (2011–2019) bei, wo mittelalterliche Clankämpfe in Form eines »Wagnerian melodrama of family and tribe and nation« inszeniert werden: »If the show’s reluctance to offer ethical through-lines is part of the cold eye it casts on the ongoing failure and breakup of liberal ethics in the sharkish world of financial capitalism and its voracious ascendancy over human lives – it is also part of its failure to imagine otherwise« (Livingston 2020). Die Serie wird von aufwendigen digitalen Effekten getragen, die dazu dienen, »autoritäre Fantasien von Aufstand und Aufstandsbekämpfung« in eine fiktionalisierte, aber gleichwohl »immer realistischere Bildsprache zu kleiden und damit den Horizont anderen politischen Handelns zu verstellen« (Staab, Wildt 2022: 129, zum legitimatorischen Zusammenhang von Mittelalterglorifizierung und libertärer Theoriebildung, vgl. Slobodian 2023: 123–138). Dem steht der postmoderne Zynismus von ebenfalls ausgesprochen populären Serien wie Succession (2018–2023), White Lotus (seit 2021) und Industry (seit 2020) gegenüber, deren Inszenierung der Dysfunktionalität der Superreichen ein defätistisches, sozialliberales Publikum adressiert. 3. Die Farce der politischen Gegenwart 123 Die libertäre Meme-Kultur steht allerdings nicht in direktem Widerspruch, sondern in einem verstärkenden Ergänzungsverhältnis zu der ihr vorausgehenden, zynischen Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit: Indem sämtliche Versuche einer politischen Überwindung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse der Lächerlichkeit preisgegeben werden, wird deren gouvernementale Selbstregierung abgesichert. Doch im Unterschied zum schicksalsgetragenen Zynismus der Postmoderne, der sich durch seine Weltabwendung reibungslos in die liberale Tragödie einfügte, während diese sich in eine immer offensichtlichere Farce verkehrte, reagiert die neurechte Lächerlichkeitskultur autoritär-libertärer Bewegungen auf dieses nicht länger verkennbare Scheitern, indem sie die Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft im Zeichen ihrer Verteidigung subjektiver Freiheit offen affirmiert. So stärkt der autoritäre Libertarismus die Kultur liberaler Alternativlosigkeit, deren Ohnmacht er vordergründig zu bekämpfen behauptet. 3.5 Lernen aus der Farce Ausgehend von dieser Analyse der »Rückkehr der Geschichte« als libertäre Radikalisierung der neoliberal bereits radikalisierten Ordnungsbildung des politischen Liberalismus stellt sich die Frage, wie eine an den Versprechen gleicher Teilhabe und subjektiver Freiheit festhaltende Kritik der politischen Moderne auf die Farce einer fast gänzlich entpolitisierten Gegenwart reagieren kann. Die kritische politische Theoriebildung, die sich mit dieser Frage auseinandersetzt, lässt sich im Wesentlichen in zwei Lager unterscheiden: Das erste setzt auf die (a) Verteidigung und Rückkehr zur sozialliberalen Regulierungspolitik der trente glorieuses; das zweite hofft auf einen (b) Erkenntniseffekt der sich zuspitzenden Krise des politischen Liberalismus, der seine revolutionäre Ablösung durch eine neue politische Handlungsordnung erleichtern soll. Im Folgenden wird kurz nachvollzogen, worin der Versuch einer (a) liberalen Selbstverteidigung scheitern muss und weshalb sich die angestrebte (b) Etablierung einer neuen politischen Handlungsordnung als unvergleichbar schwierige, aber gleichwohl notwendige Reaktion auf die regressive Gegenwart einer autoritär-libertären Radikalisierung bürgerlicher Vergesellschaftung erweist. 124 3. Die Farce der politischen Gegenwart (a) Die – teils offen proklamierte, teils indirekt sich ergebende – Verteidigung des politischen Liberalismus verfolgt eine defensive Reaktionsstrategie, die ausgehend von der Prämisse einer Gleichsetzung von Liberalismus und Demokratie darauf zielt, den neoliberalen Schuldenstaat wieder durch einen keynesianischen Sozialstaat zu ersetzen und die erodierte Kultur bürgerlicher Solidarität zu revitalisieren (vgl. u.a. Amlinger, Nachtwey 2022: 351–355; Bourdieu 1988; Herzog 2014; Honneth 2013, 2023; Möllers 2020; Müller 2019; Nida-Rümelin 2020; Özmen 2023; Reckwitz 2019; Sassen 2014; Streeck 2015: 267–298; 2017). Getragen wird der Versuch, die neoliberale Radikalisierung des politischen Liberalismus im Namen einer – vom radikalisierten Versprechen subjektiver Freiheit vermeintlich bloß verstellten – sozialen Freiheit zu kritisieren, weil die trente glorieuses als Normalfall liberaler Vergesellschaftung verstanden werden. Demgegenüber hat die erläuterte systematische Kontinuität der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft gezeigt, dass weder die krisenhafte Farce des Neoliberalismus noch die darauf reagierenden autoritär-libertären Gegenbewegungen als Ausnahmen liberaler Ordnungsbildung – oder gar als deren Ablösung durch eine andere politische Handlungsordnung – zu verstehen sind, die entsprechend nur wieder rückgängig gemacht werden müssten. Weil die zunehmende Effizienzsteigerung der globalen Märkte und die daraus erwachsende Exzesse in jenem Verwertungsimperativ angelegt sind, der die gesellschaftliche Kohäsion organisiert, lassen sie sich nicht bändigen, sofern die politische Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft nicht als solche infrage gestellt wird.27 27 Selbst wenn eine solche Rückkehr möglich wäre, wäre sie nicht wünschenswert: Auch wenn sich während der trente glorieuses vorübergehend eine sozialrechtlich abgesicherte bürgerliche Solidaritätskultur mit mehr oder weniger funktionierenden Anerkennungspraktiken herausgebildet haben mag, ändert dies nichts daran, dass deren Grundlage einer sozialrechtlichen Regulation der bürgerlichen Gesellschaft stets mit einer implizit mitvollzogenen staatlichen Legitimierung der gouvernemental hervorgebrachten Herrschaftsverhältnisse einhergeht, auf die sich die sozialrechtliche Regulierung richtet: Indem der liberale Staat ausgebeuteten Arbeiter:innen Zuschüsse ausbezahlt, statt ihrer Ausbeutung ein politisches Ende zu setzen, schafft er das Fundament für deren Fortführung, vgl. Kap. 2.4.2, Hirsch 1995: 88; 115 f. sowie Edgerton 2021: 38–42 mit Blick auf das Beispiel Großbritanniens. Dazu trägt auch bei, dass die sozialstaatlichen Unterstützungsleistungen in westlichen Ländern wesentlich auf steuerlich erhobenen Profiten aus ausländischen Direktinvestitionen basierten, die globale Ungleichheiten intensivierten, vgl. Fraser 2017a: 31, sowie weiterführend daraus Köhler, Tausch 2001. 3. Die Farce der politischen Gegenwart 125 (b) Anders als die sozialliberale Verteidigung des politischen Liberalismus beruft sich die Hoffnung auf ein ordnungstheoretisches Lernen aus der Farce auf ein epistemisches Potenzial, das aus der Erfahrung seines Scheiterns erwachsen soll. Weil im Augenblick, in dem seine inhärente Exzessivität manifest wird und regressive Gegenbewegungen auf den Plan ruft, mit dem tragisch strukturierten »Erfahrungsverlust« gebrochen wird, der die »Rationalität des Immergleichen« (Adorno 1977a: 760) geprägt hatte, wird die Wahrheit liberaler Ordnungsbildung erfahrbar. In der Farce zeigt sich, was der politische Liberalismus immer schon war: [Eine] Ordnung, die voller Widersprüche und Verleugnungen steckt, indem sie Märkte strukturiert, von denen sie behauptet, dass sie sie von Strukturen befreit, mit Nachdruck Subjekte regiert, von denen sie behauptet, dass sie sie vom Regiertwerden befreit, Staaten stärkt und mit neuen Aufgaben versieht, von denen sie behauptet, dass sie ihnen entsagt. (Brown 2015: 53) Die Farce steht für den Augenblick, in dem die Exzesse der gouvernementalen Vergesellschaftung so manifest werden, dass sich das liberale Selbstverständnis demokratischer Teilhabe und bürgerlicher Solidarität endgültig als Selbstmissverständnis entpuppt (vgl. Lütticken 2019: 75). Bereits Marx (2007) lässt seine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Moment ihrer historischen Regression während des Coups Louis Bonapartes in eins fallen: Der Augenblick der Krise erscheint als Augenblick möglicher Erkenntnis. An diese Hoffnung auf ein epistemisches Potenzial, das aus der Krisenerfahrung erwachsen soll, schließt Žižek an: Wenn eine Ordnung herrscht, werden die Schrecken und Krankheitserscheinungen normalisiert, im Prozess des Übergangs jedoch, wenn die alte Ordnung vergeht und die neue noch nicht da ist, werden die Schrecken als solche sichtbar, sie werden denormalisiert, und in solchen Momenten der Hoffnung werden große Taten möglich. (2017: 309) Žižek scheint zu glauben, dass die liberale Hoffnung auf eine bürgerliche Solidaritätskultur im Augenblick der nicht mehr übersehbaren Krise (neo)liberaler Ordnungsbildung von einer revolutionären Hoffnung abgelöst wird. Doch wie die Rebellion des autoritären Libertarismus zeigt, bringt die Erfahrung der Krise aus sich selbst heraus weder eine überzeugende Kritik des politischen Liberalismus – und erst recht keine »große Taten« – hervor noch zeigt sie an, wie eine bessere politische Handlungsordnung ausgestaltet werden müsste. Dafür bedarf es einer Revitalisierung des von Marx herausgestellten revolutionären »Rätsel[s]« (1970: 367). Denn der alles entscheidende Un- 126 3. Die Farce der politischen Gegenwart terschied zwischen den libertären Forderungen autoritärer Bewegungen und denjenigen einer emanzipatorischen Neuordnung der politischen Moderne spiegelt sich in ihrem Bezug zu den Versprechen der Französischen Revolution. Der autoritäre Libertarismus fordert eine Freiheit ohne Gleichheit. Demgegenüber verlangt die emanzipatorische Kritik liberaler Vergesellschaftung, dass die subjektive Freiheit aus ihrer bürgerlich freigesetzten individuellen Rechtsform enthoben wird, um sie in ein neues Verwirklichungsverhältnis zum demokratischen Versprechen gleicher Teilhabe zu stellen. Das nächste und letzte Kapitel geht daher der Frage nach, ob und wie in der Farce der politischen Gegenwart eine demokratische Handlungsordnung anderer Art antizipiert werden kann. 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie Um die Farce der politischen Gegenwart zu überwinden, bedarf es einer grundlegenden Neuordnung der politischen Moderne, die die Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe einlöst, indem sie sie auf neue Weise vermittelt. Skizzieren lassen sich die Fluchtlinien einer solchen Neuordnung durch eine am hegelschen Begriff der Komödie ausgerichteten Deutung von Marx’ Beschreibungen der revolutionären Etablierung einer neuen politischen Handlungsordnung. Marx’ Modell einer »wahre[n] Demokratie« (1976b: 232, vgl. Kap. 4.2) gründet auf einer Politisierung der Gesellschaft durch eine kollektive selbstbestimmte Gestaltung der Arbeitsteilung (vgl. Kap. 4.3.1), die im Untergang des liberalen Staates resultieren würde. Dieser verlöre seine an den politischen Liberalismus gekoppelte Funktion, die Einheit seiner Differenz zur entpolitisierten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft sicherzustellen (vgl. Kap. 4.3.2). Mit einer solchen Politisierung ginge jedoch die Gefahr einer Überlastung der Subjekte einher, die sich mit der omnipräsenten Aufforderung konfrontiert sähen, soziale Praktiken, Regeln und Normen permanent infrage zu stellen und aktiv umzugestalten. Die These lautet daher, dass die Eröffnung einer an Marx anschließenden Perspektive auf eine Neuordnung der politischen Moderne sich überzeugend nur im Rückgriff auf Hegels Bestimmung der Berechtigung subjektiver Passivität in einer strukturell komischen Handlungsordnung formulieren lässt (vgl. Kap. 4.3.3). Wie jeder Entwurf einer ausstehenden politischen Neuordnung sieht sich auch dieser Versuch einer Ausformulierung der strukturell komischen Handlungsordnung der wahren Demokratie mit der von Hegel herausgestellten Einsicht konfrontiert, dass politische Neuordnungen durch die Philosophie weder prognostiziert werden können noch sollten. »[U]m ihrer Reinheit willen« erlässt Hegel »ein Dekret, das der philosophischen 128 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie Theorie […] äußerste Zurückhaltung gegenüber der Zukunft auferlegt« (Theunissen 1970: 415 f.). Gleichwohl wird auch Hegels Philosophie von der leisen Hintergrundmusik der Forderung einer vernünftig geordneten Zukunft begleitet: Indem er sie durch das »geschichtlich konkrete Interesse« der politischen Moderne motiviert, bindet er sie indirekt an eine damit »vermittelte Zukunft« (1970: 439). Theunissens Deutung zufolge käme »die Leidenschaftslosigkeit der nur denkenden und nicht auch handelnden Erkenntnis« einer »Interesselosigkeit im Sinne eines bewußten Verzichts auf reale Veränderung« (1970: 439) gleich, die im Widerspruch zu Hegels methodischer Verknüpfung von philosophischem Begriff und geschichtlicher Wirklichkeit stünde. Mit Blick auf seine poetische Gattungslehre manifestiert sich das daraus erwachsende emanzipatorische Erfordernis in der von Khurana treffend formulierten Schwierigkeit, zu begreifen, wie es sein kann, dass in dieser sozialen Welt, in der wir längst leben, ebenjene Freiheit des Geistes, die bisher in zahllosen Formen daran gescheitert war, Wirklichkeit zu erlangen, bereits sinnliches Dasein hat. (2017: 468) Dass geistiges Gelingen gemäß Hegel in den Künsten erfahren werden kann, nicht aber in der sozialen Wirklichkeit politischer Ordnungsbildung, bestätigt die uneingestandene Notwendigkeit einer Neuordnung dieser Wirklichkeit. Zumindest hat Hegel, indem er das höchste sinnliche Dasein geistiger Freiheit auf den philosophischen Begriff der Komödie bringt, die »Möglichkeit geschaffen, das Problem der Emanzipation zu stellen und auszutragen« (Ritter 1989: 63; vgl. Hunter 2023: 129–158; 215–256). Die von Hegel ausgehende Frage lautet daher, inwiefern sich die Antizipation einer politischen Neuordnung der Moderne über den geistphilosophischen Gelingensbegriff der Komödie als höchste poetische Gattungsordnung einholen lässt. Auch Marx problematisiert das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Gegenwart und Zukunft. Im Achtzehnten Brumaire schließt er dafür an die Vorrede der Grundlinien an, in der Hegel seinem Selbstverständnis folgend festhält, dass die philosophische Schrift »am entferntesten davon sein« müsse, eine Ordnung zu konstruieren »wie, [sie] sein soll«. Aufgabe der Philosophie sei nicht die Anleitung zur Emanzipation, sondern die Erkenntnis der 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 129 Wirklichkeit. In Anlehnung an die Fabel Aesops – »Hic Rhodus, hic saltus«1 – beschreibt Hegel den Menschen als Kind seiner Zeit, weshalb auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt [ist]. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. (RPh 25) Wenig verändert, schreibt Hegel, würde die Redensart lauten: »Hier ist die Rose, hier tanze« (RPh 25). Die Umdeutung von Rhodus in die Rose gilt ihm als Zeichen einer bereits gegebenen geistigen Vernunft, die es »im Kreuze der Gegenwart zu erkennen« und sich ihrer zu erfreuen gilt. Demnach steht die Rose gleichermaßen für die historische Situiertheit philosophischer Theoriebildung wie für den konservativen Appell zur »Versöhnung mit der Wirklichkeit« (RPh 26).2 Hatte der junge Marx in den Thesen über Feuerbach (1969) noch versucht, Hegel dadurch vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem er dessen bloß erkennende Interpretation der Welt durch ihre praktische Veränderung abzulösen suchte, differenziert sich sein Bezug auf Hegels skeptische Beschränkung der Philosophie auf theoretische Kontemplation im Achtzehnten Brumaire: Die Erfahrung der gescheiterten Revolution von 1848–1851 hat wachsende Zweifel am emanzipatorischen Potenzial der Philosophie bestätigt. Gleichwohl an der Notwendigkeit einer Neuordnung festhaltend, beschränkt Marx ihre Bestimmung infolgedessen darauf, die soziale Wirklichkeit so zu kritisieren, dass deren politische Überwindung in den Raum des Möglichen treten kann. Im Unterschied zu Hegel deutet er die Fabel des Aesop als Zeugnis davon, dass zwar »nichts übersprungen werden kann«, aber gleichwohl »gesprungen werden muss« (Löschenkohl 2018: 60). Wäh- 1 Die Fabel des Aesop handelt von einem gescheiterten Fünfkämpfer, der trotz seines evidenten Unvermögens damit prahlt, über eine unvergleichliche Sprungkraft zu verfügen: »Ein Fünfkämpfer, der wegen seiner Schlappheit von seinen Mitbürgern verspottet wurde, reiste einmal ins Ausland und kehrte nach einiger Zeit wieder in die Vaterstadt zurück. Nun prahlte er mächtig: er habe in vielen Städten Hervorragendes geleistet, vor allem aber in Rhodos einen Sprung getan, wie ihn noch kein Olympionike vollführt habe. Bezeugen, sagte er, könnten das die Leute, die zugegen waren, wenn sie einmal hierherkämen. Da entgegnete einer der Umherstehenden: ›Höre du, wenn das wahr ist, braucht es keine Zeugen. Denn hier ist Rhodos, und hier ist auch die Gelegenheit zum Sprung!‹« (Hausrath 1940: 97; vgl. dazu Hindrichs 2006). 2 Dass Hegel die Rose als Signum verwirklichter Vernunft heranzieht, ist als Referenz auf die Lutherrose zu deuten. Deren »um den Stamm des Kreuzes gewachsene Blüte gleicht der im Gekräusel des Zufälligen wachsenden Vernunft, die der philosophische Begriff zu erfassen strebt« (Hindrichs 2006: 143). 130 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie rend Hegel die Aufforderung, aus Rhodus herauszuspringen, aufgrund der vermeintlichen Unmöglichkeit eines solchen Sprunges in den durch die Rose symbolisierten Beweis einer bereits vernünftig verfassten Wirklichkeit umdeutet, hält Marx fest, dass gesprungen werden muss, obschon ein Sprung unmöglich scheint. Anders als Hegel weist Marx die der liberalen Handlungsordnung inhärenten Widersprüche als historisch konkrete »Ursache für die Entzweiung des Lebens in reinen Begriff« und »unvernünftige Wirklichkeit« (Henrich 1971: 200) aus und beschreibt die Möglichkeit einer politischen Neuordnung als Erfordernis eines revolutionären Sprungs in eine Politisierung der Gesellschaft (vgl. Kap. 4.4). Dass er damit für die prinzipielle Möglichkeit einer politischen Überwindung unvernünftiger Wirklichkeit eintritt, bedeutet allerdings weder, dass es notwendigerweise zu einer solchen Neuordnung kommen muss, noch, dass sie zu der »wahren Demokratie« (Marx 1976b: 232) führen muss, die ihm vor Augen steht.3 Statt sich damit aufzuhalten, die Wahrscheinlichkeit eines revolutionären Übergangs in die »Poesie« einer komischen »Zukunft« (Marx 2007: 12) ermitteln zu wollen, soll im Folgenden – bescheidener und in wechselseitiger methodischer Übereinkunft mit Hegel und Marx – die ordnungstheoretische Ausrichtung eines solchen Übergangs herausgearbeitet werden. 4.1 Hegels Komödie und Marx’ Zukunftspoesie Im Achtzehnten Brumaire stellt Marx der lumpigen Farce des Louis Bonaparte die Perspektive auf eine noch ausstehende politische Neuordnung gegenüber, die er als proletarische Revolution begreift. Eine solche Revolution kann »ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft« (2007: 12). Anders als die Französische Revolution, die gemäß Marx auf eine heroische Reinszenierung der Römerzeit angewiesen war, um über ihre tragische Ausdeutung der revolutionären Versprechen hinwegzutäuschen, sprengt die ausstehende Revolution das Paradigma bürgerlicher Verfassungsrevolutionen. In einer berühmten Passage unterscheidet Marx 3 So argumentieren bspw. funktionalistische Revolutionstheorien, die davon ausgehen, dass auf der Grundlage ökonomischer und/oder technologischer Entwicklungen Schlüsse über die historische Wahrscheinlichkeit politischer Umbrüche gezogen werden könnten, vgl. bspw. die akzelerationistischen Standpunkte in Avanessian, Mackay (2014) oder der kollapsologische Ansatz von Servigne, Stevens (2020). 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 131 die proletarische dadurch von der bürgerlichen Revolution, dass sie, einmal sprunghaft angefangen, die gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder neu politisiert, bis diese eines Tages selbst nach ihrer unendlichen Umgestaltung verlangen: Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rasch von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Extase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen […] kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von Neuem zurück von der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze! (Marx 2007: 13 f.) Um sich beständig selbst kritisieren und die Schwächen der ersten Versuche verhöhnen zu können, bedarf es eines sprunghaften Versuchs der revolutionären Etablierung einer neuen politischen Ordnung – Hic Rhodus, hic salta! –, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst nach ihrer immer neuen selbstbestimmten Gestaltung verlangen – Hier ist die Rose, hier tanze! Denn gesellschaftliche Verhältnisse können eigenmächtig erst zum Tanz ihrer Politisierung aufrufen, wo sie als vernünftig verfassbare adressiert werden können, weil der revolutionäre Sprung aus Rhodus bereits gewagt worden sein wird. Indem Marx behauptet, dass die ausstehende Revolution ihre Poesie aus der Zukunft schöpft, bestimmt er ihre ordnungstheoretische Ausrichtung: Nur indem sie sich an der – in der politischen Vergangenheit und Gegenwart noch nicht verwirklichten – Poesie einer beständig neu ansetzenden Ordnungsbildung ausrichtet, wird sie sich als emanzipativer Sprung in politisch vernünftig gestaltbare Verhältnisse erweisen können. Die These lautet, dass sich diese zukunftspoetische Ausrichtung der ausstehenden Revolution als Referenz auf Hegels Begriff der Komödie verstehen lässt. Bevor daher auf Marx’ Verweis auf die Komödie im Kontext des Achtzehnen Brumai- 132 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie res eingegangen wird, soll im Folgenden kurz Hegels ordnungstheoretischer Begriff der Komödie rekonstruiert werden.4 In Hegels Poetik steht die Komödie der Tragödie als Handlungsordnung gegenüber, die auftretende Konflikte zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung nicht länger dadurch auflöst, dass widerständige Zwecke durch die herrschenden Ordnungsverhältnisse absorbiert werden (vgl. Kap. 2.1), sondern indem eine Subjektivität hervorgebracht wird, die es vermag, solche Konflikte in Heiterkeit aufgehen zu lassen. In der Komödie geht nicht länger »das ewig Substantielle in versöhnender Weise siegend« hervor, es ist »die Subjektivität, welche in ihrer unendlichen Sicherheit die Oberhand behält« (ÄIII 527). Die Aufgabe einer politischen Deutung der Komödie besteht entsprechend darin, sie als Ordnungsbildungsmodell zu erschließen, das eine solche Subjektivität hervorzubringen vermag. Im Unterschied zu subjektivistischen Deutungen der Komödie, die darauf zielen, das Komische als ethische Haltung gegenüber einer vorgegebenen, von ihr unabhängigen Ordnung fruchtbar zu machen, ist sie ihrerseits als eine politisch ausdeutbare Gattungsordnung zu verstehen, die die Macht subjektiver Freiheit anerkennt, berechtigt und in ein sich gegenseitig verwirklichendes Verhältnis zur gleichen Teilhabe aller stellt. Denn wie Hegel – in Kontrast zum politischen Konservatismus der Grundlinien – zu Beginn seiner Ausführungen der poetischen Gattungen in der Phänomenologie festhält, beruht das Gelingen einer Handlungsordnung »auf dem unmittelbaren Anteil, den alle, des Unterschiedes von Ständen unerachtet, an den Entschlüssen und Handlungen der Regierung nehmen« (PhG 529). Nur vor dem Hintergrund dieses Versprechens gleicher Teilhabe lässt sich aus der begrifflichen Bestimmung der Komödie ein demokratietheoretisches Modell selbstreflexiver Ordnungsbildung extrahieren, in dem Normen, Regeln und Gesetze für ihre stetige Veränderung offengehalten werden. Diese Aufgabe scheint zunächst paradox: Die Komödie soll sich gerade dadurch als objektiv verbindliche Handlungsordnung etablieren und erhalten können, dass sie der Subjektivität die Oberhand überlässt. Um die Plausibilität dieses ordnungstheoretischen Programms auszuführen, wird sie hier Hegel folgend anhand von drei zentralen Merkmalen bestimmt: Die (1) heitere Auflösung auftretender Konflikte realisiert sich in (2) einem freien Spiel der Subjekte mit immer neuen Zwecken, dessen Freiheit durch 4 Die folgende Definition des komischen Ordnungsmodells beruht auf meiner politischen Bestimmung derselben in Hunter 2023: 215–256. 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 133 die gleichzeitige Berechtigung der gleichen Teilhabe und der Verweigerung solcher Teilhabe seitens der komischen Handlungsordnung gesichert wird, indem sie (3) ihre äußerlichen Voraussetzungen weltlicher Wirklichkeit in sich selbst reflektiert und nachvollzieht. (1) In der Komödie lösen sich Konflikte entweder, indem die infrage gestellten Ordnungsverhältnisse tatsächlich verändert, suspendiert und neu gesetzt werden. Oder sie lösen sich, weil die komischen Subjekte ihre Zwecke selbst einstellen, aufgeben oder neu konfigurieren, ohne jedoch dadurch ihrer freien handlungsfähigen Subjektivität verlustig zu gehen. Anders als in der tragischen Handlungsordnung zeigt die heitere Auflösbarkeit auftretender Konflikte, dass der freie Subjektstatus der Einzelnen auf eine Weise gesichert wird, die nicht länger einer kompromisslosen Durchsetzung ihrer jeweiligen Zwecke bedarf: Konflikte können auch aufgelöst werden, wo alles beim Gleichen bleibt. Nicht die Resultate der heiteren Auflösung von Konflikten zeichnen die Komödie im Politischen aus, sondern der Prozess ihres strukturell komisch geordneten Vollzugs. Daher gilt: »[R]adical politics in the formative sense must take the shape of a comical action« (Moder 2014: 9). (2) Analog zur Tragödie bestimmt Hegel das komische Subjekt mit Blick auf das Darstellungsverhältnis des subjektiven im objektiven Geist, d.h. auf sein Spiel mit sich als Selbst und Person, als Schauspieler:in mit der Maske seiner Zwecke. Während das tragische Subjekt die Maske einer einheitlichen Repräsentation seines Zweckes aufsetzen muss, die sich entweder auf die Seite der objektiven Ordnungssicherung oder auf diejenige eines subjektiven Widerstands schlägt, muss die komische Schauspieler:in nicht länger versuchen, ihr Selbst der Identität einer substanziellen Maske, eines einzelnen Zweckes zu unterstellen. Sie spielt ein freies Spiel mit der endlosen Vielfalt der möglichen Zwecke ihres Selbst – ein Spiel, das die konstitutive Potentialität unterschiedlichster Maskierungen und Personifizierungen offenlegt, wodurch es zu einem Spiel mit der Maskier- und Personifizierbarkeit selbst wird. (3) Auf objektiver Ebene ermöglicht die komische Handlungsordnung ein solches Spiel, indem sie sich gegen Verhältnisse richtet, die sich als natürlich oder göttlich substanzialisierte behaupten und dadurch ihre politische Konstitution verleugnen. Deren gesetzter Charakter bleibt in der komischen Handlungsordnung selbstreflexiv erfahrbar, indem sie als historisch gewachsene in Erscheinung treten, wodurch sie sich verändern und politisieren lassen, ohne jederzeit verändert und politisiert werden zu 134 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie müssen. Dass die Subjekte geteilte Normen, Regeln und Gesetze tatsächlich auf solche Weise (um)gestalten können, setzt allerdings eine Wirklichkeit voraus, in der sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auch tatsächlich verändern lassen: Der allgemeine Boden für die Komödie ist daher eine Welt, in welcher sich der Mensch als Subjekt zum vollständigen Meister alles dessen gemacht hat, was ihm sonst als der wesentliche Gehalt seines Wissens und Vollbringens gilt. (ÄIII 527) Gemäß Hegel muss eine komödienkompatible Welt nicht nur die Verwiesenheit der Subjekte auf eine ihnen äußerliche Wesentlichkeit ihres Wissens und Vollbringens, sondern auch die tragische Notwendigkeit »ewiger Gerechtigkeit« hinter sich gelassen haben, weil gegebene Normen, Regeln und Gesetze nur verändert werden können, wo sie nicht länger als natürlich oder gottgewollt erscheinen. Schlechte Komödien – für die die Farce Louis Bonapartes hier nur exemplarisch steht – sind demnach als zum Scheitern verdammte Versuche komischer Konfliktlösungen in einer komödieninkompatiblen Welt zu verstehen (vgl. Kap. 3.4.1). Für Hegel ist klar, dass »der eigentliche Kern der Komik [fehlt], wo einerseits die Peinlichkeit der Verhältnisse, andererseits der bloße Spott und die Schadenfreude noch Raum behalten« (ÄIII 529). Demzufolge lässt sich eine komödienkompatible Wirklichkeit dadurch definieren, dass die in ihr herrschenden Verhältnisse nicht länger peinlich sind. Im Unterschied zu den Kategorien der Schadenfreude und des Spotts, die auf ein moralisches Fehlverhalten verweisen, eignet sich der Begriff der Peinlichkeit für eine materialistische Deutung der weltlichen Voraussetzungen komischer Konfliktlösungen, da er nicht nur die Scham über die objektive Unzulänglichkeit der komödieninkompatiblen Gegenwart, sondern auch die damit verbundene Pein evoziert. Der Schmerz an der Unvernünftigkeit der Wirklichkeit verbindet sich mit der Scham darüber, dass diese nicht anders geordnet wird. Mit Zupančič gesprochen setzt diese materialistische Deutung der Komödie eine ihr äußerliche »Verwirklichung (eine bereits vollbrachte Metamorphose)« gesellschaftlicher Verhältnisse »voraus und besteht nicht einfach aus vergeblichen und endlosen Versuchen, sie zu vollbringen« (2014: 183). Die komische Subjektivität, die Hegel hier beschreibt, bedarf des von Marx skizzierten revolutionären Sprungs, weil sie sich politisch nur vor dem Hintergrund einer objektiv bereits errungenen Entnaturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse etablieren kann. 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 135 Beim folgenden Versuch, Marx’ Verweis auf die aus der Zukunft zu schöpfende Poesie der ausstehenden revolutionären Neuordnung durch das Hegelsche Modell der Komödie auszudeuten, handelt es sich um eine heuristische Rekonstruktion. Der Achtzehnte Brumaire ist zwar von unzähligen mehr oder weniger losen Verweisen auf die Hegelsche Gattungslehre durchzogen, deren methodischer Stellenwert bleibt allerdings ungeklärt. Während Marx das Verhältnis von Tragödie und Farce noch einigermaßen konsequent als der liberalen Handlungsordnung immanent notwendiges Verkehrungsverhältnis herausarbeitet (vgl. Kap. 3.2), fällt der Begriff der Komödie nur ein einziges Mal: Indem Louis Bonaparte das liberale Selbstverständnis »platt als Komödie« (Marx 2007: 70, vgl. Kap. 3.1 sowie 3.4.1) nahm, evozierte er die Farce der liberalen Verfehlung subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe. Diese Aussage hat zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen des Status der Komödie im marxschen Brumaire geführt. Leonard schlägt beispielsweise vor, Farce und Komödie schlicht synonym zu lesen und behauptet: In Marx’s figuration, comedy clearly occupies a lower status than tragedy […] In reaffirming tragedy’s capacity for greatness, in a sense Marx reverses the Hegelian hierarchy of genres and goes back to a more conventional evaluation. (2015: 31 f.) Demgegenüber begreifen Brunkhorst, Löschenkohl und White (vgl. 2014: 328) die zukunftspoetische Ausrichtung der von Marx beschriebenen revolutionären Neuordnung in ihren jeweiligen Kommentaren zum Achtzehnten Brumaire als strukturell komisch verfasst. Während Löschenkohl (2018) eine radikaldemokratische Lektüre vorschlägt, die zwar den komischen Konfliktvollzug der immer wieder neu einsetzenden Politisierung herausarbeitet, den revolutionären Sprung zwischen der krisenhaft tragischen Gegenwart in eine komisch verfasste Zukunft jedoch jenseits von Hegels Poetik verortet, vertritt Brunkhorst (2007) die Auffassung, dass Marx sich durch seine strukturell komische Beschreibung der ausstehenden Neuordnung erneut ins Hegelsche Stufenmodell einträgt, aus dem er durch die Einführung der Farce vorübergehend ausgebrochen war. Für diese Deutung spricht, dass Marx sich der Stellung des Komödienbegriffs in der hegelschen Poetik bewusst war, was sich an einem späteren, an den Wortlaut im Achtzehnten Brumaire anklingenden Hinweis zeigt: »Hegel hat schon bemerkt, daß in der Tat die Komödie über der Tragödie steht« (1972: 553). Die These lautet daher, dass die selbstreflexive Ordnungsbildung im hegelschen Modell der Komödie als jene Zukunftspoesie verstanden werden kann, durch die Marx 136 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie die politische Ausrichtung der ausstehenden revolutionären Neuordnung zu begründen versucht. Doch anders als Brunkhorsts Lektüre suggeriert, handelt es sich bei Marx’ dadurch vollzogener Wiedereingliederung seiner Argumentation in die ordnungstheoretische Logik der poetologischen Stufenfolge Hegels nicht um eine Rückwendung auf dessen teleologische Geschichtsphilosophie. Wie Wallat offenlegt, ist es Marx’ oft unterschlagene »wissenschaftliche Redlichkeit«, dass er die Möglichkeit einer politischen Neuordnung »nicht als Resultat eherner Geschichtsgesetze konzipiert«, sondern ihr im Achtzehnten Brumaire jenen unvorhersehbaren revolutionären Sprung voraussetzt, der insgeheim bereits Hegels Komödienverständnis bedingt. Zu Recht begreift Marx die Möglichkeit einer an der Zukunftspoesie der Komödie ausgerichteten Neuordnung als eine »Tat der freien politischen Praxis der sich selbst Befreienden«, die als solche notwendigerweise »der irreduziblen Kontingenz des menschlichen Handelns unterworfen bleibt« (2009: 359). Der im Folgenden unternommene Versuch, Marx’ Skizze einer revolutionären Neuordnung auf Grundlage des Ordnungsmodells der hegelschen Komödie auszuführen, behauptet eine Kontinuität zwischen dem poetologischen Denken Hegels und der politischen Philosophie Marx’. Nachvollzogen werden soll, wie Marx das von Hegel nur angedeutete politische Potenzial des Begriffs der Komödie durch eine historische Konkretion ihres Ordnungsmodells als Quelle einer revolutionären Zukunftspoesie ausweist. 4.2 Die strukturell komische Handlungsordnung der »wahren Demokratie« In seiner Kritik der hegelschen Grundlinien umreißt Marx ein politisches Ordnungsmodell, das mit der zukunftspoetischen Ausrichtung der im Brumaire geforderten Neuordnung an Hegels Begriff der Komödie korrespondiert. Im Medium immanenter Kritik zeigt Marx auf, inwiefern Hegels Entwurf protestantischer Sittlichkeit im preußischen Staat hinter die revolutionären Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe zurückfällt und infolgedessen daran scheitert, die diagnostizierte Exzessivität der 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 137 bürgerlichen Gesellschaft abzumildern (vgl. Kap. 2.3.2).5 Darauf reagierend skizziert er die Fluchtlinien eines alternativen Modells politischer Ordnung, der »wahre[n] Demokratie«, die er deshalb als wahr bezeichnet, weil sie nur »aus sich selbst begriffen werden kann« (1976b: 232). Die Ordnungsbildung einer wahren Demokratie würde »selbst nur als eine Bestimmung, und zwar die Selbstbestimmung des Volks«, in Erscheinung treten und käme damit jenseits der metaphysisch fundierten Rechtsphilosophie Hegels zu stehen. Für Marx erweist sie sich, wie es in einer berühmten Formulierung heißt, als »das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen« (1976b: 231), weil sie gesellschaftliche Verhältnisse selbstreflexiv als Resultate vergangener Konfliktvollzüge, d.h., als geschichtliche Erzeugnisse ihrer eigenen Ordnungsbildung, erkennen und ausweisen kann. Ihre rätselauflösende Wirkung steht entsprechend nicht für den Wunschtraum einer konfliktfreien Zukunft, sondern für die Überwindung naturalisierender Konfliktbegründungen, die den Vollzug auftretender Konflikte in die »ewige Gerechtigkeit« eines entpolitisierten Jenseits abschieben (vgl. Brunkhorst 2007: 164). Marx’ Modell einer wahren Demokratie ist selbstreflexiv, es kann aus sich selbst heraus begriffen werden, weil es verspricht, »nichts anderes als die Einsicht zu realisieren, dass die Regelung des politischen Prozesses, ja, überhaupt alles, was im Politischen Verbindlichkeit beanspruchen können soll, seinen Grund allein im politischen Prozess selbst hat« (Menke 2011b: 251). Marx kann nur behaupten, die wahre Demokratie sei »das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen«, weil er in ihrem Begriff das Verhältnis der revolutionären Versprechen von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe neu konzipiert, indem er aus der Behauptung der Gleichberechtigung ihrer Prinzipien den Anspruch einer politischen Herstellung der gleichen Freiheit aller ableitet, die im Unterschied zum liberalen Demokratieverständnis nicht länger als natürlich gegebene vorausgesetzt wird. Wie in Kapitel 2 nachvollzogen wurde, garantiert der liberale Staat die gleiche Teilhabe so, dass er ihr die subjektive Freiheit der Einzelnen in der Form der individuellen Rechtsfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft voraussetzt. Demgegenüber richtet 5 Es sei an dieser Stelle auf die interessante Deutung Theunissens hingewiesen, der bereits Hegels Modell christlicher Sittlichkeit als Antizipation einer ausstehenden Neuordnung im Sinne Marx’ beschreibt: »Die Analyse des Hegelschen Reich-Gottes-Gedankens hat ergeben, daß [Hegel] die vom Christentum verkündete Gleichheit aller Menschen nahezu radikal-sozialistisch als die reelle Freiheit jedes Einzelnen auslegt, wie sie gleichfalls erst in einer zukünftigen Gesellschaftsordnung realisiert werden könnte« (1970: 407 f.). 138 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie sich die Forderung einer wahren Demokratie auf die politische Herstellung und Verwirklichung gleicher Teilhabe. Dabei wird Marx häufig so verstanden, als würde er das asymmetrische Verwirklichungsverhältnis von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe im Zuge seiner Kritik des politischen Liberalismus nur verkehren wollen: Statt die subjektive Freiheit als Voraussetzung der gleichen Teilhabe zu verstehen, wird die gleiche Teilhabe aller der subjektiven Freiheit der Einzelnen vorausgesetzt, was in einer umgekehrten Unterdrückung solcher Freiheit durch den politischen Prozess der Verallgemeinerung resultieren müsste, der die gleiche Teilhabe auszeichnet. Wie Menke ausführt, kann Marx’ Bestimmung demokratischer Ordnungsbildung so nicht verstanden werden. Denn wenn Marx behauptet, dass in der wahren Demokratie »die Einzelnen als Alle« (1976b: 322) urteilen, folgt daraus keine Unterdrückung subjektiver Freiheit, weil es sich nicht um Urteile im Sinne einer abschließenden »Bestimmung eines Zustands der Allgemeinheit (oder des Allgemeinseins), sondern [um] eine[n] Prozess der Verallgemeinerung des Besonderen« (Menke 2015: 360) handelt. Wie in der liberalen Handlungsordnung beginnt die gleiche Teilhabe mit der subjektiven Freiheit der Einzelnen, mit ihren besonderen Bedürfnissen, Empfindungen und Erfahrungen, die in selbstbestimmte Handlungen überführt und im politischen Prozess zu einem gleichen Teil des Allgemeinen gemacht werden. Die Verschiedenheit in der Berechtigung subjektiver Freiheit besteht darin, dass die Praxis subjektiver Freiheit im politischen Liberalismus durch eine natürlich vorausgesetzte Pluralität begründet wird, die auf der nicht weiter explizierten Prämisse einer unendlichen, menschlichen Potentialität beruht (vgl. Plessner 1975). Diese Potentialität ist aufgrund ihrer konstitutiven Unbestimmtheit gänzlich unpraktisch. Daher erweist sich die im liberalen Selbstverständnis vorherrschende Annahme, eine plurale Praxis subjektiver Freiheit würde automatisch und entsprechend unpolitisch aus solcher Potentialität erwachsen können, als Blindheit gegenüber ihrer nur mehr verdeckt politischen Hervorbringung durch gouvernementale Mächte (vgl. Kap. 2.4.2). Die damit verbundene Kritik lautet, dass der politische Liberalismus Potentialität mit Praxis verwechselt und es infolgedessen verpasst, sich der Frage nach den Möglichkeiten der selbstbestimmten politischen Hervorbringung einer Praxis subjektiver Freiheit zuzuwenden. Die wahre Demokratie unterscheidet sich folglich nicht dadurch von der liberalen Berechtigung subjektiver Freiheit, dass sie die Potentialität subjektiver Freiheit verleugnen würde, sondern indem sie ihr einen anderen 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 139 Ort zuweist: Sie begreift Potentialität nicht als bereits gelingende Praxis subjektiver Freiheit, sondern als Voraussetzung einer solchen Praxis, die der politischen Verwirklichung bedarf. In der wahren Demokratie wird subjektive Freiheit durch eine innere Politisierung der Gesellschaft, durch die gleiche Teilhabe an der Selbstregierung sozialer Praktiken hervorgebracht (vgl. Menke 2015: 434). Um sich von der liberalen Beschränkung des Versprechens gleicher Teilhabe zu emanzipieren, ohne dadurch umgekehrt die subjektive Freiheit der Einzelnen zu unterminieren, versucht Marx ein soziales Verständnis gleicher Teilhabe jenseits des Ideals absoluter Gleichheit zu entwickeln: eine »Welt der sich unterscheidenden Menschheit, deren Ungleichheit nichts anders ist als die Farbenbrechung der Gleichheit« (Marx 1976c: 115). Auf ähnliche Weise reformuliert auch Adorno die angestrebte Verknüpfung von Freiheit und Gleichheit als Versuch, weder eine »ungeschiedene Einheit« noch eine »feindselige Antithetik« herzustellen, sondern eine »Kommunikation des Unterschiedenen«, das »teilhat aneinander« (1977b: 743; vgl. Schwarte 2023: 35). Eine solche Kommunikation lässt sich nicht durch einen auf absolute Gleichheit getrimmten »Einheitsstaat« forcieren. Wie es in den Minima Moralia heißt, bedarf sie einer »Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge« müsste gegenüber der »schlechte[n] Gleichheit heute […] den besseren Zustand […] denken als den, in den man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno 2003b: 116). Gleichheit zu denken als Abwesenheit der Angst, verschieden zu sein, bedeutet, das Verhältnis von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe im Unterschied zum politischen Liberalismus nicht als einseitiges, sondern als gegenseitiges Voraussetzungsverhältnis zu verstehen: Nicht nur die subjektive Freiheit der Einzelnen ist Voraussetzung für die Verwirklichung der gleichen Teilhabe an der Regierungsmacht. Auch die Teilhabe an der Regierungsmacht muss auf subjektive Freiheit zielen, weil diese der politischen Herstellung bedarf. Marx hält dementsprechend fest, dass in der wahrhaft demokratischen Handlungsordnung eine Politik der »freie[n] Entwicklung eines jeden [als] Bedingung für die freie Entwicklung aller« (1999: 43) in Erscheinung tritt. Wo der Anspruch gleicher Teilhabe in diesem Sinne, wie es in einer Formulierung Adornos heißt, als »verschüttete Utopie des Besonderen« (1966: 312; vgl. dazu Wallat 2009: 137) zur Darstellung kommt, lässt sich Marx’ Kritik am politischen Liberalismus als Kritik im Namen einer anderen Verknüpfung der revolutionären Versprechen subjektiver Freiheit 140 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie und gleicher Teilhabe dechiffrieren, die auf ordnungstheoretischer Ebene jener Verknüpfung entspricht, die Hegel anhand des Begriffs der Komödie entwickelt hatte. Hegels Begriff der Komödie erweist sich insofern als Antizipation der wahren Demokratie, als auch sie die Etablierung einer Praxis subjektiver Freiheit vorsieht, die in einer, durch die gleiche Teilhabe aller immer wieder aufs Neue hervorgebrachten, »unendlichen Sicherheit die Oberhand behält« (ÄIII 527). Anders als in der strukturell tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus behält die subjektive Freiheit in der komischen Handlungsordnung der wahren Demokratie die praktische Oberhand, weil diese in ihr wissentlich und willentlich durch eine explizit politische Praxis hervorgebracht wird. Genauer: Die komische Sicherung subjektiver Freiheit beruht auf der politischen Praxis ihrer gesellschaftlichen Hervorbringung, d.h. auf einer Politik geteilter Teilhabe, die auf die Herstellung gleicher subjektiver Freiheit zielt. Wie in der kurzen Rekonstruktion dargelegt, bestimmt Hegel die Lösung auftretender Konflikte in der komischen Handlungsordnung dadurch, dass sie nach ihrer beständigen Wiederholung verlangt: Heiter werden die Subjekte nicht, weil keine Konflikte mehr auftreten würden, sondern weil sie, mit Marx gesprochen, immer neue Konflikte anzetteln, sich beständig selbst kritisieren, sich fortwährend unterbrechen, weil sie die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche verhöhnen und stets von Neuem zurückschrecken können. Heiter sind sie, weil ihre politische Praxis sicherstellt, dass sie ohne Angst verschieden sein können. Der Hegelinterpretation Roches folgend, vollzieht sich diese komische Wiederholung gesellschaftlicher Verhältnisse als Praxis immanenter Kritik, die sich gegen die »self-contradictory and thus self-cancelling position« (1998: 139) jener Verhältnisse richtet, die ihre eigene politische Hervorbringung abblenden. Kritisiert wird dementsprechend nicht das unvermeidbare Auftreten von Konflikten, sondern die durch Hegel auf den Punkt gebrachte »Peinlichkeit« (ÄIII 529) von Verhältnissen, die ihre selbstbestimmte Gestaltung und Veränderung verunmöglichen. Der Versuch, Marx’ wahre Demokratie nach dem hegelschen Modell der Komödie zu lesen, spricht keiner vorschnell heiteren Versöhnung das Wort. Denn wahrhaft aufgelöst – nicht nur vorübergehend stillgestellt – wäre das Rätsel politischer Ordnungsbildung, das sich mit der Französischen Revolution erstmals als historisches Rätsel gestellt hat, erst im Zuge der ihrerseits revolutionären Etablierung einer bis heute ausstehenden Demokratie, deren politische 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 141 Ordnung sich am Modell einer strukturell komischen Verknüpfung subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe orientiert. 4.3 Perspektiven einer komischen Politisierung Die Stärke ebenso wie das evidente Problem eines über Hegels Komödienbegriff entwickelten Ordnungsmodells wahrer Demokratie liegt in den scheinbar unermesslichen Voraussetzungen einer komödienkompatiblen Welt, in der alleine heitere Konfliktvollzüge zu gelingen versprechen. Was kann es schon bedeuten, die Peinlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse zu überwinden? Anders als Hegel, der sich von der Aufgabe einer konsequenten Ausformulierung seines geistphilosophisch begründeten Anspruchs an die Voraussetzungen vernünftiger Ordnungsbildung freispricht, nimmt Marx sich dieser immer wieder an. Daher ist es auf Grundlage einer Engführung seiner Bestimmung der wahren Demokratie mit den Ausführungen im Achtzehnten Brumaire, die im Werk Marx’ den Umschlag von der emanzipatorischen Ausrichtung seines Frühwerks zur Kritik der politischen Ökonomie im Spätwerk markiert, möglich, seine Forderung einer revolutionären Neuordnung der politischen Moderne als Überwindung der liberalen Institutionalisierung der Entzweiung von subjektiver Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft und gleicher Teilhabe an der Regierungsmacht des liberalen Staates zu konkretisieren. Wie Marx im Achtzehnten Brumaire darlegt, erfordert die Verwirklichung eines wahrhaft demokratischen Verhältnisses von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe einen revolutionären Sprung und eine Politisierung der Gesellschaft, genauer: Sie erfordert einen ereignishaften Sprung in eine unendliche Politisierung der Gesellschaft. Bevor an späterer Stelle erörtert wird, wie dieser Sprung zu verstehen ist und warum Marx ihn trotz seiner Schwierigkeit einfordern muss, gilt es zunächst, die von ihm beschriebenen Versuche, immer wieder von Neuem anzufangen, sich beständig selbst zu kritisieren und fortwährend im eigenen Lauf zu unterbrechen, als komisch geordnete Prozesse einer unendlichen Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft zu deuten, von der Marx’ Bezeichnung der ausstehenden Neuordnung als soziale Revolution (1970) zeugt (vgl. Kap. 1.3). Weil er um die methodische Prekarität seines Versuchs der Skizzierung einer historisch ausstehenden Handlungsordnung weiß, begreift Marx seine 142 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie Definition gesellschaftlicher Politisierung nicht als Prognose in die inhaltliche Verfasstheit der antizipierten Neuordnung, sondern als politische Ausrichtung am philosophischen Maßstab der bestimmten Negation bestehender Verhältnisse. Er beschränkt sein Unterfangen auf die Bestimmung ihres selbstreflexiven Vollzugs, der sich, wie es in einer berühmten Formulierung des jungen Marx heißt, einzig daran orientieren kann, dass es »alle Verhältnisse umzuwerfen [gilt], in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (1976a: 385). Statt ein inhaltliches Ideal verwirklichter Gleichheit und Freiheit auszumalen, das nach der Etablierung einer wahrhaft demokratischen Handlungsordnung ein für alle Male vorausgesetzt werden könnte, konzentriert sich Marx auf die nur negativ bestimmbare Operation eines selbstbestimmten politischen Gestaltungsprozesses. Durch die bestimmte Negation gesellschaftlicher Ungleichheit und Unfreiheit versucht er die Fluchtlinien einer subjektiven Freiheitspraxis gleicher Teilhabe anzuzeigen. Dieser methodischen Bestimmung zufolge kann eine Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse nur gelingen, wo sie die Notwendigkeit, immer wieder neu anzusetzen, nicht als Scheitern, sondern als konstitutiven Teil ihrer eigenen Hervorbringung begreift. In der Einsicht, dass immer wieder neu anfangen und auf das scheinbar Vollbrachte zurückkommen muss, wer gesellschaftliche Verhältnisse politisch selbstbestimmt gestalten will, spiegelt sich auch das dramatische Bewusstsein um die Unüberwindbarkeit auftretender Konflikte, das Segal mit Blick auf die Komödie, der höchsten Form des Dramas, auf den Begriff bringt: »The [comic] drama will have no happy ending. Indeed, it will have no ending at all« (2001: 452). Doch indem Marx die Gesellschaft als Ort der politischen Hervorbringung einer Praxis gleicher subjektiver Freiheit und Teilhabe ausweist, geht er zugleich einen Schritt über eine bloß formale Definition demokratischer Selbstbestimmung hinaus. Im Achtzehnten Brumaire konkretisiert er sein Verständnis wahrhaft demokratischer Ordnungsbildung als Prozess einer Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft, deren naturalisierende Freisetzung durch den liberalen Staat überwunden werden soll. Wenn Marx schreibt, dass sich das liberale, bloß formelle Moment subjektiver Freiheit in ein materielles Moment subjektiver Freiheit transformieren muss (vgl. 1972: 231 f.), richtet sich diese Forderung geradewegs gegen die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft, welche die soziale Hervorbringung subjektiver Freiheit der politischen Selbstbestimmung entzieht. Statt die praktische Pluralität subjektiver Freiheit wie im politischen 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 143 Liberalismus schlicht als naturrechtlich hergeleitete Gegebenheit zu begreifen, versteht er die Vielfalt einer in sich unterschiedenen Menschheit als politische Aufgabe ihrer gesellschaftspolitischen Hervorbringung. Indem Marx die Möglichkeit einer revolutionären Neuordnung auf der bestimmten Negation der tragischen Struktur liberaler Ordnungsbildung gründet, gewinnt seine Perspektive auf eine Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse an Kontur: Angesichts der Farce liberaler Ordnungsbildung muss sich der emanzipatorische Anspruch ihrer Ablösung durch eine strukturell komische Handlungsordnung zugleich gegen die (a) politische Ökonomie gouvernemental regierender Verwertungsimperative und gegen die (b) regulierende respektive intervenierende Rolle richten, die der (neo)liberale Staat ihr gegenüber einnimmt (vgl. Kap. 2.4.2; 3.3.3). Fernab des Anspruchs auf eine vollständige Wiedergabe der ausdifferenzierten Diskurse, die sich Marx’ Kritik der politischen Ökonomie und seinem Staatsverständnis gewidmet haben, soll im Folgenden kurz rekonstruiert werden, wogegen sich die bestimmte Negation des marxschen Politisierungsanspruch vor dem Hintergrund der liberalen Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat richtet. 4.3.1 Die Politisierung der Arbeit Die zentrale Forderung einer Politisierung der Gesellschaft nach Marx verlangt nach einer anderen Organisation gesellschaftlicher Arbeit. Genauer: nach einer politischen Überwindung kapitalistisch organisierter Arbeit als Quelle gesellschaftlichen Reichtums. Wie bereits Hegel herausgestellt hatte, wird die Kohäsion der bürgerlichen Gesellschaft im politischen Liberalismus über die Arbeitsteilung hergestellt, die eine umfassende, gegenseitige Abhängigkeit generiert (vgl. Kap. 2.3.1). Deren Ausrichtung am Maßstab kapitalistischer Verwertung führt dazu, dass immer effizientere Standards und Anforderungen entstehen, an denen sich die Einzelkapitale messen müssen, wodurch nicht nur regelmäßige Krisen der Überproduktion entstehen, sondern auch der Druck auf die Lohnabhängigen stetig zunimmt. Eine Praxis gleicher subjektiver Freiheit und Teilhabe lässt sich daher nur etablieren, wenn die gesellschaftlich vermittelte Bedürfnisbefriedigung der Einzelnen nicht länger durch die Imperative kapitalistischer Verwertung organisiert wird. 144 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie Marx skizziert die Hervorbringung einer solchen Praxis als »universelle Entwicklung« der Einzelnen, die auf der »Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens« (Marx 1974: 91) gründet. Ein gesellschaftliches Vermögen dieser Art würde sich von kapitalistischem Reichtum unterscheiden, der als »ungeheure Warensammlung« (Marx 1968: 49) in Erscheinung tritt, weil es sich statt an der Verwertungslogik des Kapitals an der subjektiven Freiheit der Einzelnen misst. In den Grundrissen beschreibt Marx die Möglichkeit einer Ablösung der Form kapitalistischen Reichtums folgendermaßen: In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder […] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion. […] Der wirkliche Reichtum manifestiert sich vielmehr – und dies enthüllt die große Industrie – im ungeheuren Missverhältnis zwischen der angewandten Arbeitszeit und ihrem Produkt wie ebenso im qualitativen Missverhältnis zwischen der auf eine reine Abstraktion reduzierten Arbeit und der Gewalt des Produktionsprozesses, den sie bewacht. Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozess eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozess selbst verhält. (1974: 592) Marx zufolge trägt der technologische Fortschritt dazu bei, dass die Angewiesenheit der kapitalistischen Verwertung auf die Arbeit in einen immer deutlicheren Widerspruch zur gesellschaftlichen Produktivität tritt, wodurch die Möglichkeit einer anderen Arbeitsteilung aufscheint, in der der Mensch nicht mehr dem stummen Zwang des Verwertungsimperativs unterstellt wäre, sondern sich das gesellschaftlich erarbeitete Vermögen unterordnen würde, indem er dessen gemeinschaftliche Produktion als »Wächter und Regulator« selbst organisiert und gestaltet. Die historische Entwicklung einer technologisierten »großen Industrie«, auf die Marx hier verweist, ist allerdings nicht als Grund dafür zu verstehen, dass die Möglichkeit einer anderen Arbeitsteilung zutage tritt. Wie Marx wenige Zeilen später ausführt, fungiert sie als bloßer Katalysator des grundlegenden, »prozessierende[n] Widerspruch[s]« des kapitalistischen Verwertungsprozesses, der einerseits »die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren sucht, während [er] andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt« (1974: 593). Postones Interpretation folgend zeigt sich dar- 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 145 an nicht nur, dass die Verwertung von Arbeitskraft nicht die einzig mögliche Quelle von Reichtum ist,6 sondern auch, dass die kapitalistische Produktionsweise das Potenzial ihrer Überwindung stets schon in sich trägt (vgl. 1993: 25–27). Der prinzipielle Selbstwiderspruch des Kapitals, das einerseits auf eine Überwindung seiner Abhängigkeit von Arbeit zielt, sich von dieser aber andererseits – solange die gesellschaftliche Arbeitsteilung durch den marktförmigen Tausch von Waren organisiert wird, deren Wert sich an der investierten Arbeit misst – unmöglich emanzipieren kann, schafft die Grundlage für eine andere Arbeitsteilung, die zu etablieren kapitalistische Gesellschaften aber nicht fähig sind, weil dies der Überwindung des Verwertungsimperativs als soziales Kohäsionsprinzip und damit ihrer eigenen Abschaffung gleichkäme: On the one hand, by inducing an enormous increase in productivity, the social forms of value and capital give rise to the possibility of a new social formation in which direct human labor would no longer be the primary social source of wealth. On the other hand, these social forms are such that direct human labor remains necessary to the mode of production and becomes increasingly fragmented and atomized. (Postone 1993: 197) Der Übergang in eine andere Organisation der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, in der sämtliche Tätigkeiten, die »einem sozial verallgemeinerbaren Zweck dienen« (Honneth 2023: 258), unabhängig davon ob sie in der bürgerlichen Arbeitsteilung alimentiert wurden oder nicht, Gegenstand einer kollektiven Gestaltung würden, kann dementsprechend nicht als funktionaler Automatismus einer durch die kapitalistische Verwertung vorangetriebenen Technologisierung verstanden werden (vgl. Heinrich 2013: 207–212). Denn innerhalb des kapitalistischen Systems spricht nichts dagegen, dass seine selbstwidersprüchliche Tendenz durch die krisenhafte Vernichtung von überschüssigem Kapital immer wieder aufgefangen und aufs Neue reproduziert wird (vgl. Kap. 2.3.2). Die Verwirklichung des von Postone beschriebenen Potentials bedarf einer dem kapitalistischen System äußerlichen selbstbestimmten Gestaltung, einer aktiven Politisierung der Art und Weise, wie die gesellschaftliche Arbeitsteilung organisiert wird. 6 Die historische Spezifizität kapitalistischen Reichtums zeigt sich gemäß Postone nicht nur im Aufscheinen der Möglichkeit einer anderen Arbeitsteilung, sondern auch im Unterschied zur vorkapitalistischen Arbeitsteilung, die durch offene, unmittelbare Machtverhältnisse organisiert wurde: »[W]here [material wealth] is the dominant social form of wealth, it is ›evaluated‹ and distributed by overt social relations – traditional social ties, relations of power, conscious decisions, considerations of needs, and so forth« (1993: 188). 146 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie Was dann noch, »bei radikal verkürzter Arbeitszeit, an Arbeitsteilung übrigbliebe«, heißt es bei Adorno, »verlöre den Schrecken, die Einzelwesen durch und durch zu formen« (1966: 275). Die Perspektive auf eine Politisierung der Arbeitsteilung richtet sich nicht gegen die von Hegel konstatierte allgemeine Abhängigkeit in der modernen Gesellschaft, sondern auf eine selbstbestimmte politische Gestaltung derselben. Marx’ Modell einer politischen Neuordnung erweist sich als wahrhaft demokratisch, weil er die gouvernementale Macht des kapitalistischen Verwertungsimperativs nicht durch ein anderes ökonomisches Prinzip zu ersetzen beabsichtigt, sondern durch einen kollektiven Prozess gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Die kapitalistische Verwertungslogik zu überwinden, hieße, die allgemeine Abhängigkeit von gesellschaftlicher Arbeit als politisch gestaltungsbedürftige ernst zu nehmen. Als Maßstab ihrer Organisation gälte dem beschriebenen gegenseitigen Voraussetzungsverhältnis von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe entsprechend die »universelle Entwicklung« der Einzelnen: »[K]einer darf weniger bekommen als das Äquivalent der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeit« (Adorno 2003a: 292). Als strukturell komisch geordnet ließe sich ein solcher Prozess der Politisierung verstehen, weil die gesellschaftliche Organisation der Arbeitsteilung darin nicht mehr als Ausdruck einer »ewigen Gerechtigkeit«, sondern als Resultat vergangener, politischer Konfliktvollzüge in Erscheinung träte. The […] claim underlying the labor theory of value is the same as that in Greek comedy: we are not subjected to an alien universal essence other than that of our own making. In comedy we realize that the gods supposedly ruling over us with an alien necessity rest on nothing more than the act of putting on the masks that brings them into existence. We are free to take these masks off, thereby revealing that there is no »inner essence« ultimately separate from our self-consciousness. In a parallel manner the labor theory of value holds that the social forms appearing to rule over the economy with an alien necessity, that is, the commodity, money, and capital forms, ultimately rest on the act of creating surplus labor. The alien power of commodity, money, and capital is an illusion. It stems from the fact that under capitalism each individual worker confronts the product of the sum total of social labor in isolation. Through their self-association these individuals may come to realize that commodities, money, and capital are nothing more thang objectified forms of their own collective labor. This is a comic moment in Hegel’s sense. (Smith 1993: 31) Die selbstbestimmte Assoziation einer solchen strukturell komischen Politisierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wäre inhaltlich nicht präformiert, »sondern in der Art, wie die Einzelnen sich einbringen, offen, 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 147 elastisch, modifizierbar« (Schwarte 2023: 35).7 Marx’ Argumentation folgend lässt sich das Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe politisch nur unter der Voraussetzung einlösen, dass die gesellschaftliche Kohäsion selbstbestimmt gestaltet wird, was wiederum bedeutet, dass sie nicht länger durch die gouvernemental regierte Verwertung von Arbeit organisiert würde. 4.3.2 Der untergehende Staat Im Unterschied zur Kritik der politischen Ökonomie, der Marx sein Spätwerk gewidmet hat, ist die bestimmte Negation des liberalen Staates, der die bürgerliche Gesellschaft politisch freisetzt, ein von ihm weitgehend unbearbeitetes Themenfeld geblieben. Entsprechend häufig wurde er dafür kritisiert, »eine[r] ökonomistisch verkürzte[n] Interpretation der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften« (Habermas 1981: 504) zugearbeitet und die politische Dimension seiner Forderung einer selbstbestimmten Gestaltung geteilter Praxis aus den Augen verloren zu haben. Dies ist allerdings nicht darauf zurückzuführen, dass Marx den liberalen Staat zu einem bloß ideologischen Überbau der politischen Ökonomie degradiert hätte. Er war verstorben, bevor er den im Rahmen des Kapitals geplanten Band zum Staat überhaupt erst anfangen konnte (vgl. Wallat 2009: 263). Es wird daher nicht selten übersehen, dass Marx den liberalen Staat nicht nur als politische Voraussetzung der historischen Etablierung der kapitalistischen Arbeitsteilung, sondern aufgrund seiner repressiven, 7 Als »proletarisch« bestimmt Marx diese Assoziation im Sinne einer angestrebten Selbstabschaffung des Proletariats, weil sich ihr Programm gegen eine Arbeitsteilung richtet, die aufgrund ihrer Ausrichtung am kapitalistischen Verwertungsimperativ proletarische Existenzen hervorbringt. Im gleichen Zug, in dem diese Verwertungslogik proletarische Existenzen hervorbringt, schreibt sie allerdings auch die vergeschlechtlichten und rassifizierten Existenzen fort, die die soziale Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft sicherstellen, vgl. dazu u.a. Arruzza (2013), Bhattacharya (2017), Chen (2013) und Endnotes (2013). Diese würden durch eine revolutionäre Ablösung der kapitalistischen Verwertungslogik keinesfalls automatisch mitüberwunden, eine Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse würde es jedoch ermöglichen, sie neu herauszufordern und dadurch zur Möglichkeit ihrer Abschaffung beizutragen. Mit Blick auf den gegenwärtigen Diskurs folgt daraus eine doppelt kritische Perspektive: gegen eine liberale Identitätspolitik, die antirassistische und feministische Befreiungskämpfe von der Frage der kapitalistischen Arbeitsteilung entkoppelt und gegen einen Klassenzentrismus, der diese Befreiungskämpfe zu bloßen Nebenwidersprüchen deklassiert. 148 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie gewaltförmigen Absicherung von Eigentumsverhältnissen auch als konstitutiven Bestandteil ihrer politischen Reproduktion angesehen hat (vgl. Loick 2016: 79–84). In den wenigen Passagen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Modell wahrer Demokratie der Rolle des Staates zuwenden, zieht er daraus die Konsequenz, dass dieser im Zuge einer selbstbestimmten Politisierung der Gesellschaft untergehen würde: In der Demokratie ist der Staat als Besonderes nur Besonderes, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem anderen Inhalt. Die neueren Franzosen haben dies so aufgefaßt, dass in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht mehr für das ganze gilt. (Marx 1976b: 232, vgl. dazu Menke 2015: 339) Gemäß Marx gilt der liberale Staat für das Ganze, weil er das politische Projekt der Moderne einlöst, indem er durch die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft eine geordnete Einheit ihrer Differenz zu sich herstellt, wodurch er die revolutionär deklarierte Differenz von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung institutionalisiert (vgl. Kap. 1.3). Wo diese Freisetzung durch eine interne Politisierung aufgehoben würde, obläge es dementsprechend nicht länger dem Staat, eine ordnungsbildende Einheit zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung herzustellen. Marx’ Argumentation zufolge würde er zum Besonderen als Besonderes, weil seine bisherige Aufgabe – die rechtliche Absicherung der politischen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft – gegenüber einer demokratisch politisierten Gesellschaft an Bedeutung verlöre. Wo das, was als politische Regierung erkannt und gestaltet wird, nicht länger auf den Staat, d.h. auf sein regulierendes bzw. intervenierendes Regierungssystem, beschränkt bliebe, sondern auf die gegenwärtig gouvernemental organisierte Regierung der bürgerlichen Gesellschaft ausgeweitet würde, verwandelte sich der Staat in ein dieser Gesellschaft gegenüber »untergeordnetes Organ« (1973: 27).8 So würde paradoxerweise eingelöst, was bereits der politische Liberalismus ge- 8 In seiner Kritik des Gothaer Programms, aus der die zitierten Passagen stammen, spricht der junge Marx sich noch für eine »revolutionäre Diktatur des Proletariats« (1973: 28, für eine Kontextualisierung dieses Motivs über Lenin, vgl. Bayer 2021: 121–133; Elbe 2010: 386; Hindrichs 2017: 120–125) aus, die er als Sprung in eine wahre Demokratie begreift (vgl. Kap. 4.4, für eine postfundamentalistische Ausführung seines Modells einer demokratischen Politisierung »gegen den Staat«, vgl. Abensour 2012). Demgegenüber ist es Zweck dieser sehr kurzen Erläuterung, die ordnungstheoretische Kompatibilität seiner frühen Staatskritik mit dem späteren Projekt seiner Kritik der politischen Ökonomie darzulegen, vgl. dazu Hirsch et al. 2008. 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 149 fordert, durch sein Selbstmissverständnis aber faktisch unterminiert hatte: Ein Primat subjektiver Freiheit gegenüber der Macht objektiver Ordnung (vgl. Kap. 2.2.2; 2.5). Interessant ist Marx’ Bestimmung des untergehenden Staates auch, weil darin die ursprünglich liberale, später neoliberal und immer häufiger libertär radikalisierte Forderung eines möglichst schwachen Staates widerhallt (vgl. Kap. 3.4). Im Unterschied zum Kontinuum der in ihrem Grundsatz liberalen Kritik staatlicher Regierung zielt Marx’ Staatskritik allerdings nicht länger auf die Sicherung politischer Passivität in der bürgerlichen Gesellschaft. Der im Modell einer wahren Demokratie durch die bestimmte Negation der liberalen Exklusivität politischer Regierung auf Ebene des Staates herbeigeführte Untergang desselben wäre im Gegenteil als konsequente Folge jener offenen und allumfänglichen Politisierung der Gesellschaft zu verstehen, welche die liberale Staatskritik zu verhindern sucht. Die staatliche Regierung, die im neoliberal radikalisierten Liberalismus auf einen in seiner politischen Schwäche stilisierten, aber faktisch permanent intervenierenden Staatsapparat begrenzt bleibt (vgl. Kap. 3.3.3), würde einem kollektiven Gestaltungsprozess unterworfen und auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft ausgeweitet, wodurch der Staat seine Funktion als von dieser Gesellschaft differenzierter Ort politischer Regierung verlöre. Dem entspricht Adornos Bestimmung des Ziels politischer Praxis als Aufgabe »ihre[r] eigene[n] Abschaffung« (1977a: 769): Weil sich die gegenwärtige politische Praxis ihrer Form nach auf die demokratische Teilhabe am liberalen Staat beschränkt, muss sie abgeschafft und zugunsten einer selbstbestimmten Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse überwunden werden, woraus der Untergang des Staates als Ort der politischen Regierungsmacht resultieren würde. 4.3.3 Subjektive Passivität Anders als oft angenommen besteht die größte Herausforderung der wahren Demokratie nicht darin, dass eine selbstbestimmt organisierte Arbeitsteilung ein passives »Erschlaffen der Menschheit im Wohlleben« (Adorno 2003b: 178) befördern würde, sondern in der umgekehrten Gefahr einer aktivistischen Überlastung der Subjekte (vgl. Lafargue 2011). Zwar würden die Subjekte in der wahren Demokratie vom liberalen Appell zur individuellen, solidarischen Kompensation bürgerlicher Exzesse entlastet, allerdings nur, 150 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie um sich der nicht minder schwerwiegenden Aufgabe einer unendlichen Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft zuwenden zu können. Die damit einhergehende Überlastungsgefahr nimmt Adorno in seinem berühmten Aphorismus Sur l’eau in den Blick, in dem er darlegt, wie »das Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen«, das zahlreichen »positiven Entwürfe[n] des Sozialismus« zugrunde liegt – gegen die sich allerdings bereits »Marx […] sträubte« –, jene Überfrachtung der Einzelnen fortträgt, die »in der bürgerlichen Gesellschaft« des politischen Liberalismus »Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen mit sich führt« (2003b: 178). Dem eigenen Selbstverständnis zufolge setzt sich die wahre Demokratie dadurch vom politischen Liberalismus ab, dass das Versprechen gleicher Teilhabe auf den gesamten Bereich der bürgerlichen Gesellschaft ausgeweitet wird. Die Einzelne sieht sich damit der Aufforderung ausgesetzt, sich permanent in die Politisierungsprozesse gesellschaftlicher Verhältnisse einzubringen, um ihre Teilhabe an deren Gestaltung zu erhalten. Die der Beschreibung einer immer wieder von Neuem beginnenden Politisierung naheliegende »Vorstellung vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb« (Adorno 2003b: 178) droht damit in eine andere Form der Unfreiheit umzuschlagen: An die Stelle des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an gouvernementale Mächte tritt eine Hyperaktivität rastloser Selbstkritik, die sich kaum von neoliberal flexibilisierten Kontrollmechanismen unterscheiden lässt (vgl. Kap. 3.3.4). Adornos Kritik zufolge ist keine »vorgebliche Gleichmacherei […] zu fürchten, sondern die wüste Erweiterung des […] Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens« (2003b: 178). Die wahre Demokratie läuft Gefahr, in eine erneute Terreur abzugleiten (vgl. Kap. 2.2). In der Konsequenz legt Adorno dar, dass die Überwindung peinlicher Verhältnisse durch eine Politisierung der Arbeitsteilung zwar »notwendige, aber nicht […] zureichende Bedingung einer befreiten Gesellschaft« (2003a: 292) wäre. Denn nur wo es möglich ist, die eigene Teilhabe an politischen Gestaltungsprozessen auch immer wieder auszusetzen, eine Weile nichts Neues anzufangen, sich nicht beständig zu kritisieren, lässt sich gleiche Teilhabe als subjektiv freie praktizieren. »Rien faire comme une bête«, wie Adorno schreibt, »auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen« (2003b: 179), müsste konstitutiver Bestandteil einer befreiten Gesellschaft sein. Als philosophischen Begriff schlägt Adorno dafür Kants »ewigen Frie- 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 151 den« vor. Dies vermag nicht zu überzeugen, weil die regulative Idee des »ewigen Friedens« ein potentielles Jenseits auftretender Konflikte evoziert, das sich nicht mit der modernen Einsicht in die prinzipielle Unüberwindbarkeit politischer Konflikte zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung vereinbaren lässt (vgl. Kap. 1). Nicht so in Hegels Komödie, in der die von Adorno eingeforderte Berechtigung subjektiver Passivität auf den Begriff eines selbstreflexiv gelingenden Ordnungsmodells gebracht wird. Die konstitutive Bedeutung von Momenten subjektiver Passivität für das Gelingen einer geteilten Praxis gleicher Teilhabe lässt sich über Hegels poetologische Bestimmung der dramatischen Struktur selbstbestimmten Handelns rekonstruieren, in der er darlegt, wie sich die aktive Handlung aus der passiven Erfahrung der Unruhe lyrischer Innerlichkeit heraus formiert (vgl. Hunter 2023: 89–92). Nur wo die Einzelnen sinnlich affiziert werden, ist es ihnen möglich, Zwecke zu formieren, die sich in Handlungen überführen lassen. Die Erfahrung passiver Affektion ist demnach als Bedingung jener subjektiven Freiheit zu begreifen, die Marx den Prozessen eines kollektiven politischen Urteilens voraussetzt: Um produktiv an der Politisierung der Gesellschaft teilhaben zu können, bedarf es Subjekte, die aufgrund von Erfahrungen einer innerlichen Distanz zu den herrschenden Verhältnissen vorschlagen können, wie diese neu, anders, besser, richtig gestaltet werden sollten. Die Subjekte müssen die Macht der gegebenen Verhältnisse passiv erlitten haben, bevor sie in Distanz zu ihnen treten und sich aktiv handelnd für ihre Veränderung zusammenschließen können. Daher ist die Bejahung einer vorübergehenden und wiederkehrenden Passivität der poetologischen Argumentation Hegels folgend Voraussetzung eines jeden selbstbestimmten Handelns: Nichtteilhabe ist die »innere Bedingung« (Menke 2015: 282) der Teilhabe. Auf Ebene der dramatischen Handlungsordnung folgt daraus, dass die Einzelne in der einen oder anderen Form von der Bürde politischer Verantwortung entlastet werden muss. Im Selbstverständnis des politischen Liberalismus wird die Voraussetzung subjektiver Passivität dadurch eingelöst, dass das Subjekt als passiver Bourgeois von den politischen Pflichten des Citoyens entlastet wird (vgl. Kap. 2.2.2). Aber weil die bürgerliche Gesellschaft dadurch insgesamt vom Anspruch einer aktiven politischen Gestaltung befreit wird, übernehmen gouvernementale Mächte ihre Regierung, woraus eine umso schwerwiegendere ökonomische Überlastung der Einzelnen resultiert. In der Konsequenz erweist sich die liberal berechtigte Passivität der Subjekte als ohnmächtige Anpassung an bestehende Herrschaftsverhältnisse (vgl. Kap. 2.4.4). In Ab- 152 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie grenzung von diesem Verständnis einer Berechtigung subjektiver Passivität durch die politische Freisetzung der gesamten bürgerlichen Gesellschaft entwirft Hegel in seiner Bestimmung der komischen Berechtigung subjektiver Passivität ein Verständnis phasenweiser Entlastung, das sich nicht als Preisgabe an äußerlich vorgegebene Verhältnisse realisiert, sondern als Preisgabe, die die Subjekte gegenüber ihrer eigenen Innerlichkeit vollziehen. Politisch ausgeführt bedeutet dies, dass Passivität nicht länger positivistisch mit der Gegebenheit der bürgerlichen Gesellschaft gleichgesetzt, sondern als vorübergehendes und wiedergehendes Moment der »Kraft, Unruhe oder Negativität« (Menke 2015: 381) verstanden wird, das in einem dialektischen Verwirklichungsverhältnis zur selbstbestimmten Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse steht. Das Subjekt würde nicht länger im Zeichen der »in Wahrheit historische[n] Kategorie« (Adorno 1966: 262) eines (arbeits)rechtlich kodierten Individuums adressiert, sondern als unbestimmbares Selbst, das sich immer wieder neu zusammensetzt – nicht, weil es zur permanenten Selbstoptimierung gezwungen wäre, sondern weil es frei ist, sich in ein passives Spiel mit den eigenen Bedürfnissen, Erfahrungen und Interessen einzulassen, aus dem unterschiedlichste Selbstverständnisse und politische Forderungen erwachsen können. Hegel begreift die Komödie als höchste Form des Dramas, weil sie die passiv-aktivierende Formierung selbstbestimmter Handlung nicht länger in der strukturell tragischen Form eines Tugendkatalogs einfordert, der einer entpolitisierten Gesellschaft gegenübergestellt wird (vgl. Kap. 2.2.4), sondern die Konstitutionsweise solcher Handlung auf der objektiven Ebene ihrer Ordnungsbildung reflektiert. Anders als in der Handlungsordnung des politischen Liberalismus wird das einzelne Subjekt nicht länger mit kulturellen Appellen dieser oder jener Selbsteinschränkung überfrachtet. In der strukturell komischen Handlungsordnung wird die Etablierung einer auf vorübergehenden Momenten der Nichtteilhabe basierenden Teilhabe als Prozess einer Subjektivierung ausgewiesen, die ihrerseits politisch hervorgebracht werden muss. Gemäß Hegel ist die komische Handlungsordnung dadurch definiert, dass sie die »reale Gegenwart des Substantiellen«, die vermeintliche Natürlichkeit gegebener Verhältnisse objektiv zum Verschwinden bringt und die Subjekte »dieser Auflösung Meister« werden lässt. So bringt sie die »durchgängige Verkehrtheit« gesellschaftlicher Verhältnisse als Resultat ihrer vergangenen politischen Gestaltung zum Ausdruck. Dies bedeutet, dass die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse in der komischen Handlungsordnung so verfasst sind, dass ihre »eigentliche Sache«, 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 153 d.h. ihre naturalistische oder göttliche Legitimation, »schon von Hause aus nicht mehr vorhanden ist, so daß [diese Sache] dem ungeheuchelten Spiele der Subjektivität offen kann bloßgegeben werden« (ÄIII 554 f.). Den komischen Subjekten kann es daher nur möglich sein, »unangefochten und wohlgemut« (ÄIII 531) in ihrer Passivität zu verbleiben, ohne sich dadurch übergeordneten Mächten auszuliefern, weil sie die gegebenen Verhältnisse als veränderbare erfahren haben werden. Die Perspektive einer komisch politisierten Gesellschaft wäre daher eine, in der die partielle Ohnmacht der Einzelnen so geschützt würde, dass diese ihrer subjektiven »Entfaltung« gefahrlos »überdrüssig« werden und »aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt« lassen können, »anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen« (Adorno 2003b: 179). In dieser Beschreibung spiegelt sich die Gegenseitigkeit des von Marx nur angekündigten Voraussetzungsverhältnisses von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung: Die subjektive Freiheitserfahrung eines Verschwindens vermeintlicher Substantialität gründet auf der praktischen Erfahrung einer objektiv garantierten Teilhabe an der kollektiven selbstbestimmten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse (vgl. Menke 2015: 341). Nur wo die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst so verfasst sind, dass sie tanzend nach ihrer Veränderung verlangen, ist es nicht länger gouvernementalen Mächten, sondern dem freien Spiel der Subjekte überlassen, immer wieder aufs Neue zu bestimmen, was ihre vorübergehend geltende Funktion sein soll. Eine passive Teilhabeverweigerung kann entsprechend nur unter der Voraussetzung gelingen, dass dem Vollzug auftretender Konflikte keine uneingestandene Bedrohung des Entzugs künftiger Teilhabe mehr innewohnt. In Adornos Formulierung lautet dieselbe These, dass mit »der äußeren Repression […,] wahrscheinlich nach langen Fristen und unter der permanenten Drohung des Rückfalls, die innere« verschwände. Erst wo die Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse objektiv gesichert wäre, würde eine »angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen [möglich]: in einem Ganzen, welches die Teilnahme nicht mehr institutionell verhärtet, worin sie aber reale Folgen hätte« (1966: 261). Die Einzelnen können »die Auflösung ihrer Zwecke und Realisationen« nur in »Seligkeit und Wohligkeit« ertragen und »durchaus erhaben über [ihren] eigenen Widerspruch und nicht etwa bitter und unglücklich darin« (ÄIII 528) sein, wo sie die objektiven Verhältnisse, in denen sie leben, als selbstbestimmt gestaltete und selbstbestimmt gestaltbare erfahren. Dass sie nicht bitter werden, ist entsprechend nicht auf ihre ethische Haltung zurückzuführen, son- 154 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie dern darauf, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie leben, bereits politisiert worden sind.9 Erst die Erfahrung einer auf objektiver Ebene der Handlungsordnung garantierten politischen Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, die den Subjekten die Sicherheit vermittelt, dass sie auch nach vorübergehenden Phasen der Abstinenz wieder teilhaben können, ermöglicht das Hervortreten einer neuen, strukturell komischen Praxis subjektiver Passivität, die sich von der ubiquitären Ohnmacht der politischen Gegenwart abhebt. 4.3.4 Komische Rechte Doch was kann es bedeuten, die Erfahrung gleicher Teilhabe objektiv auf Ebene der politischen Handlungsordnung sicherzustellen? Wie sich gezeigt hat, wird der objektive Zusammenhalt zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat im politischen Liberalismus durch die Form subjektiver Rechte sichergestellt (vgl. Kap. 2.2.2). Dementsprechend wäre auch eine wahrhaft demokratische Garantie gleicher Teilhabe und subjektiver Passivität in Form von Rechten zu gewährleisten, deren Rolle und Praxis sich durch eine Politisierung der Gesellschaft allerdings wesentlich verändert würde: Marx’ These vom Untergang des liberalen Staates zufolge würde die Funktion des Rechts als vom Staat ausgehende ordnungsbildende Vermittlung von Staat und Gesellschaft durch eine umgekehrt von der politisierten Gesellschaft ausgehende Berechtigungspraxis abgelöst.10 Mit Menke gesprochen untersteht die strukturell komische Handlungsordnung der wahren Demokratie »einem strikten, unbedingt herrschenden Grundgesetz: dem Gesetz, daß sie zugleich alle als Urteilsmächtige beteiligen und jeden als Ohnmächtigen berücksichtigen muß« (2015: 400). Wie Menke in seiner Kritik der Rechte ausführt, wäre die Etablierung dieses Grundgesetzes dahingehend als Fortführung der liberalen Rechtspraxis zu verstehen, als die Form moderner Rechte dadurch gekennzeichnet ist, 9 Ansätze, die das emanzipatorische Potenzial der Komödie, anders als Hegel, nicht auf Ebene der Handlungsordnung diskutieren, sondern für die individualisierte Ethik eines subjektiven Widerstands gehen objektive Herrschaftsverhältnisse zu mobilisieren suchen (vgl. u.a. Critchley 1999; Dolar 2017; Donougho 2016; Lee 2016; Mascat 2019; Pfaller 2005; White 2014), drohen denn auch im defätistischen Reformismus bürgerlicher Lächerlichkeit aufzugehen (vgl. Kap. 3.4.3). 10 Vgl. für eine konzeptuelle Ausführung des an Marx’ Anspruch demokratischer Selbstregierung gemessenen Emanzipationspotentials des Rechts, Buckel 2007: 309–322. 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 155 dass sie die Berücksichtigung jener garantiert, die nicht an der politischen Praxis teilnehmen: »Die Rechte sind, als Rechte moderner Form, die Rechte – nur – des Ohnmächtigen« (2015: 385). Doch im Unterschied zur liberalen Sicherstellung subjektiver Rechte würde in der wahren Demokratie nicht länger die Ohnmacht einer entpolitisierten Gesellschaft gegenüber der politischen Regierungsmacht des Staates geschützt, sondern die Ohnmacht einer vorübergehenden und wiederkehrenden subjektiven Passivität durch und innerhalb einer sich fortwährend politisierenden Gesellschaft. »Berücksichtigung und damit Rechte braucht« in diesem Modell nicht die bürgerliche Gesellschaft als gesonderte Sphäre, sondern das einzelne Subjekt, das momentweise nicht an der selbstbestimmten kollektiven Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse »teilnehmen kann« (Menke 2015: 385). Die ordnungsbildende Einheit zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung würde damit nicht mehr durch die umfassende politische Freisetzung des Subjekts in einer entpolitisierten Gesellschaft, sondern durch die bloß vorübergehende Freisetzung des Subjekts von einer politisierten Gesellschaft gegen diese politisierte Gesellschaft hergestellt. Damit würde die komische Handlungsordnung einlösen, was bereits der politische Liberalismus gefordert hatte: ein Primat subjektiver Freiheit. Allerdings nicht in der scheiternden, weil gouvernementalen Mächten ausgelieferten Form der positivistischen Voraussetzung einer bürgerlichen Gesellschaft, sondern in der Form einer bloß momenthaften Passivität, die als innere Voraussetzung einer politisch selbstbestimmten gesellschaftlichen Praxis gleicher Teilhabe bejaht wird. Subjektive Passivität würde in der komischen Handlungsordnung der wahren Demokratie als das Unordentliche in der objektiven Ordnung, als Moment im Prozess ihrer politischen Gestaltung berücksichtigt, ohne dass sie dadurch zu einer tragisch entkoppelten, entpolitisierten Gegebenheit vor dieser Ordnung naturalisiert würde (vgl. Menke 2015: 395). Um dieses Modell einer phasenweisen Berechtigung subjektiver Passivität einlösen zu können, muss sich die Komödie, wie es bei Hamacher heißt, auf die gebrochenen Versprechen der ihr vorausgehenden Tragödie beziehen. Wahrhaft komisch ist sie nur, sofern sie die Komödie der Tragödie aufführt. Komödie ist sie nur in der Weise, dass sie den Betrug […] der Tragödie […] exponiert und an die Selbstvergessenheit erinnert, aus der dieser Betrug resultiert und in der er gesühnt wird. (2000: 139) 156 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie Politisch ausgeführt bedeutet dies, dass die strukturell komische Handlungsordnung der wahren Demokratie der tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus darin ähnlich bleibt, dass sie subjektive Freiheit nicht nur positiv als subjektive Freiheit zur gleichen Teilhabe, sondern auch negativ als subjektive Freiheit von der gleichen Teilhabe berechtigt (vgl. Bayer 2021: 157). Dies tut sie allerdings ganz anders als der politische Liberalismus: Statt subjektive Freiheit in der unpolitischen, nur vermeintlich freien Passivität der bürgerlichen Gesellschaft durch staatlich garantierte Rechte sicherstellen zu wollen, zeigt sie den liberalen Betrug am Versprechen subjektiver Freiheit auf, indem sie eine objektiv abgesicherte Subjektivierungskultur hervorbringt, die unter der gegenseitigen Voraussetzung subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe an einem anderen Ort – der politisierten Gesellschaft – operiert. An die Stelle ökonomisch permanent aktivierter (neo)liberaler Subjekte, die selbst die alleinige Verantwortung für ihre individuelle Stellung in der gesellschaftlich vermittelten Arbeitsteilung übernehmen müssen, treten komische Subjekte, die sich ohne Angst vor einem Verlust ihrer Teilhabe von der aktiven politischen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zurückziehen können. 4.4 Zwischen revolutionärem Sprung und komischer Politisierung Obschon im Zuge einer solchen strukturell komischen Politisierung alles »nur um ein Geringes anders [wäre,] als es ist«, lässt sich, um erneut Adorno zu zitieren, gleichwohl »nicht das Geringste […] so […] vorstellen, wie es dann wäre« (1966: 294). Dass sich trotz der ausgeführten philosophisch bestimmbaren Fluchtlinien einer Neuordnung der politischen Moderne kaum ausmalen lässt, wie es in der wahren Demokratie wäre, gründet in der tiefgreifenden Naturalisierung der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft, die keine Grundlage für die Erfahrung ihrer politischen Gestaltbarkeit bietet. Wie Schulte festhält, fehlt der »Hintergrund, vor dem die Komödie in ihrem affirmativen Sinne spielen kann« (1992: 272). Es fehlt an ebenjener komödienkompatiblen nicht länger peinlichen Welt, die bereits Hegel als Voraussetzung für ein – wahrhaft demokratisches – Gelingen komischer Konfliktvollzüge ausgewiesen hatte (vgl. Kap. 4.1). 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 157 Aus diesem Grund setzt Marx seiner Forderung einer Politisierung der Gesellschaft einen revolutionären Sprung voraus, der die gesellschaftlichen Verhältnisse für ihre selbstbestimmte Gestaltung öffnen soll. Seine Beschreibung der ausstehenden Revolution im Achtzehnten Brumaire ist nicht als Darstellung des Ordnungsmodells der wahren Demokratie zu verstehen, sondern als Bestimmung des Versuchs eines ihr vorausgesetzten revolutionären Sprungs, der darauf zielt, die Situation der wahren Demokratie überhaupt erst herzustellen (vgl. Menke 2022: 579). Anders als Brecht in seiner Diskussion der Komödie behauptet, ist es nicht Hegel, sondern Marx, der sich für das »Sprunghafte« interessiert, dafür wie »alles ganz ruhig und pomadig vorgeht und plötzlich kommt der Krach« (1967: 1460). Eine Begründung der Notwendigkeit eines solchen Sprungs findet sich, messianisch gedeutet, in Benjamins Marx-Lektüre. Darin heißt es: Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert. Und das war gut so. Das Unheil setzt damit ein, daß die Sozialdemokratie diese Vorstellung zum »Ideal« erhob. Das Ideal wurde in der neukantischen Lehre als eine »unendliche Aufgabe« definiert. Und diese Lehre war die Schulphilosophie der sozialdemokratischen Partei […]. War die klassenlose Gesellschaft erst einmal als unendliche Aufgabe definiert, so verwandelte sich die leere und homogene Zeit sozusagen in ein Vorzimmer, in dem man mit mehr oder weniger Gelassenheit auf den Eintritt der revolutionären Situation warten konnte. (1974: 1231) Benjamin zeigt auf, wogegen sich Marx’ Insistieren auf einen revolutionären Sprung richtet: Nicht die Bestimmung und Ausrichtung an der wahren Demokratie ist falsch, sondern ihre liberale – in diesem Fall genauer: sozialdemokratische – Stilisierung zu einem Ideal, die auf der Fehlannahme beruht, dass die bestehenden Verhältnisse bereits für ihre selbstbestimmte Gestaltung geöffnet seien, woraus die gleichermaßen falsche Überzeugung rührt, dass eine Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft innerhalb der Handlungsordnung des politischen Liberalismus möglich wäre, wenn sie nur geduldig genug abgewartet wird. Benjamin hält demgegenüber fest, dass es nicht einen Augenblick [gibt], der s e i n e revolutionäre Chance nicht mit sich führte – sie will nur als eine spezifische definiert sein, nämlich als Chance einer ganz neuen Lösung im Angesicht einer ganz neuen Aufgabe. Dem revolutionären Denker bestätigt sich die eigentümliche revolutionäre Chance jedes geschichtlichen Augenblicks aus der politischen Situation heraus. (1974: 1231) Wie Löschenkohl darlegt, handelt es sich um bei diesem Sprung um einen »hypothetischen Moment, an dem die alte Ordnung tatsächlich überwunden 158 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie wird [; um] eine plötzliche und unkontrollierte Bewegung« (2018: 60). Die von Marx antizipierte Neuordnung der politischen Moderne kann nicht von heute auf morgen geschehen – allerdings kann sie sich ebenso wenig evolutionär entwickeln und aus einer kontinuierlichen Schrittfolge ergeben, denn sie soll mit der bisherigen Kontinuität im Geschichtsverlauf brechen. (2018: 61) Der Vorschlag lautet, das Verhältnis dieses revolutionären Sprungs zur Möglichkeit einer selbstbestimmten Politisierung der Gesellschaft nach dem Modell der wahren Demokratie mit Balibar als Voraussetzung einer unkalkulierbaren und unprognostizierbaren »Insurrektion, eine[s] ›aufständischen‹ Akt[s]« zu verstehen, genau in dem Sinne, wie ein Aufstand (der mehr ist als eine Revolte und etwas ganz anderes als Rebellion) sich der Stabilität einer Verfassung entgegenstellt und sie dennoch zugleich begründet und vorbereitet. (1992: 219). Es handelt sich nicht um einen undefinierbaren Sprung in ein Chaos permanenter Insurrektion, sondern um einen zielgerichteten Sprung in eine anders geordnete Zukunft, um einen Sprung, der sich der (neo)liberalen Ordnung der politischen Gegenwart in bestimmter Negation entgegenstellt und ihre Ablösung an der Zukunftspoesie der Komödie ausrichtet. Im Unterschied zu diesem revolutionären Sprung, der die gouvernementale Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse in der politischen Gegenwart auf einen Schlag zu überwinden suchte, würden Veränderungen innerhalb einer einmal etablierten strukturell komischen Handlungsordnung durch die beständige Wiederholung sozialer Praktiken implementiert. Diese ordnungsimmanente Praxis der gesellschaftlichen Politisierung muss sich in zweierlei Hinsicht auf den ihr vorausgesetzten revolutionären Sprung beziehen: Einerseits grenzt sie sich von seiner ungeordneten, ereignishaften Kontingenz ab, anderseits affirmiert sie diese Kontingenz als innere Voraussetzung ihrer eigenen Ordnungsbildung, indem sie die Potentialität subjektiver Freiheit in Form des strukturell komischen Vollzugs auftretender Konflikte berechtigt (vgl. Menke 2022: 530–538). Auf der einen Seite steht der revolutionäre Sprung in einem unversöhnlichen Verhältnis der Äußerlichkeit gegenüber der auf Allgemeinheit zielenden Politisierung der Gesellschaft in der wahren Demokratie, die nicht auf eine prinzipielle Überwindung sozial verbindlicher Normen, Regeln und Gesetze, sondern auf deren selbstbestimmte Befragung und Umgestaltung zielt. Zugleich wird die Potentialität subjektiver Freiheit, die den revolutionären Sprung 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 159 motiviert und seine Kontingenz auszeichnet, in der wahren Demokratie offen anerkannt, indem sie in die Form eines objektiv gesicherten, freien Spiels der Subjekte mit immer neuen Zwecken überführt wird. Die strukturell komische Handlungsordnung der wahren Demokratie unterscheidet sich dadurch von der tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus, dass sie es zugleich vermag, sich von ihrer revolutionären Voraussetzung abzusetzen und diese als ihre unabdingbare Voraussetzung zu bejahen. Wie Marx darlegt, bedurfte bereits die historische Etablierung des politischen Liberalismus im Zuge der Französischen Revolution eines Sprunges, der zwar retrospektiv erklärt werden kann, präskriptiv aber weder kalkulier- noch absehbar war (vgl. Kap. 1.3). Anders als das liberale Selbstverständnis, das diesen Sprung zur »bloße[n] Explizitmachung« eines vermeintlich »gegebenen Naturrechts« (Raimondi 2011: 98) verklärt, bleibe sich die strukturell komische Handlungsordnung der wahren Demokratie der revolutionären Bedingtheit ihrer Etablierung bewusst. Ihr Selbstverständnis würde sich, mit Balibar gesprochen, durch das Bewusstsein auszeichnen, dass sie nur durch einen revolutionären Sprung ins Leben gerufen worden sein konnte, der den bis dahin bestehenden, liberalen »Bereich der bloßen Organisation« verlassen und dadurch die grundsätzlichen »Bedingungen der Möglichkeit« unterschiedlicher Modelle politischer Ordnung offengelegt hat. Damit geht die Einsicht einher, dass revolutionäre Sprünge stets auch die »bestimmte wesentliche Begrenztheit zum Ausdruck« bringen, die jede politische Ordnung – auch die der wahren Demokratie – »kennzeichnet (und die gesamte Schwierigkeit ihrer Institutionalisierung ausmacht)« (1992: 203). Was die wahre Demokratie von sich selbst weiß, ist, dass sie durch einen revolutionären Sprung etabliert wurde, der sich jederzeit wiederholen könnte, um sie durch eine andere politische Ordnung zu ersetzen. »Die Aporie oder zumindest die Schwierigkeit« liegt, mit einer weiteren Formulierung Balibars gesprochen, »darin, daß auf gewagte Weise die Macht ins Spiel gebracht wird, die verfassungsmäßige Ordnungen hervorbringt oder auch auflöst« (1992: 219). Anders als Marx suggeriert, wenn er im Achtzehnten Brumaire behauptet, dass im Zuge der ausstehenden Revolution eine »Situation« geschaffen würde, die »jede Umkehr unmöglich« macht, könnte auch eine wahre Demokratie ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht abschließend garantieren (vgl. Kap. 2.2.3). Im Unterschied zum liberalen Staat, der seine Voraussetzungen nicht garantieren kann, weil er sie der Selbstregierung durch gouvernementale Mächte überlässt, bestünde die von der Gesell- 160 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie schaft ausgehende Gefährdung der komischen Handlungsordnung in einer revolutionären Radikalisierung ihrer Politisierung. In komischer Wendung bestünde das von Böckenförde herausgestellte politische Wagnis nicht länger im Ausbleiben einer liberal erhofften Solidaritätskultur (vgl. Kap. 2.2.3), sondern in der Gefahr eines erneuten revolutionären Sprungs, der sich regressiv gegen die wahre Demokratie richten würde, indem er eine politische Ordnung retabliert, die hinter den strukturell komischen Anspruch einer subjektiv freien Praxis gleicher Teilhabe zurückfällt. Der Unterschied zum politischen Liberalismus und seinem krisenhaften Umschlag in die Farce bestünde entsprechend nicht darin, dass keine Gefährdung der politischen Ordnung seitens der Gesellschaft mehr ausginge, sondern darin, dass diese Gesellschaft als potentiell revolutionäre erkannt würde. Auf die Erkenntnis dieser Gefahr reagiert die wahre Demokratie, indem sie den revolutionären Sprung innerhalb ihrer Handlungsordnung dadurch affirmiert und berechtigt, dass sie ihn in der Form komischer Konfliktvollzüge auf eine entschärfte und geordnete Weise wiederholt, die nicht mehr revolutionär ist in ihrer »äußeren Gestalt«, sondern »in ihrem Gehalt und Antrieb« (Menke 2004: 297). Die strukturell komische Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse spaltet sich in selbst: »in eine Tat, die gegenwärtig frei vollzogen wird, und ein immer schon vergangenes« revolutionäres Geschehen, auf das sich diese Tat affirmativ bezieht. Im Bewusstsein ihrer revolutionären Bedingtheit kann sie sich nur erhalten, »wenn sie sich selbst vorausgeht. Also wenn sie sich selbst« in anderer Form »wiederholt« (Menke 2018: 69). Um ihrer drohenden Absetzung präventiv entgegenzuwirken, bringt die wahre Demokratie die im revolutionären Sprung aufgehobene Potentialität subjektiver Freiheit, die in allen anderen politischen Ordnungen einzig als äußerliche Negativität revolutionären Widerstands in Erscheinung treten kann, als innere Voraussetzung ihres ordnungsimmanenten Erhalts zur Darstellung. Der affirmative Bezug auf ihren revolutionären Ur-Sprung, von dessen chaotischer Form sie sich zugleich distanziert, ist entsprechend nicht als lobenswerte, prinzipiell auch verzichtbare Ausrichtung einer strukturell komischen Handlungsordnung zu verstehen, sondern als direktes Erfordernis ihres politischen Selbsterhalts, das durch ihre Einsicht in die revolutionäre Bedingtheit ihrer eigenen Entstehungsgeschichte in ihr praktisches Bewusstsein tritt. 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie 161 4.5 Ein komischer Ausblick Auf die Frage, ob und unter welchen Umständen ein solcher Sprung tatsächlich zur Öffnung gesellschaftlicher Verhältnisse für ihre selbstbestimmte Politisierung beitragen oder sie nur zusätzlich verstellen würde, lässt sich keine philosophische Antwort formulieren. Zwar lassen sich spekulative Urteile über historische Tendenzen in der gegenwärtigen Vergesellschaftung fällen, es lässt sich aber weder abschließend sagen, ob irgendwann ein revolutionärer Sprung eintreten wird, noch auf welche Neuordnung er praktisch ausgerichtet wäre. Es kann kein geschichtsphilosophischer, kein polittheoretischer und auch kein der kapitalistischen Verwertungslogik immanenter Grund angegeben werden, warum die Verkehrung der liberalen Tragödie in die neoliberale, libertäre Farce der politischen Gegenwart nicht unendlich weitergesponnen werden könnte, ohne dass zum revolutionären Sprung in einen Tanz politisierter Verhältnisse jemals überhaupt nur angesetzt würde. Die Zukunft der Geschichte politischer Ordnungsbildung bleibt offen, offen auch dafür, dass die Wirklichkeit für immer hinter dem hier in Anschluss an Hegel und Marx begründeten Gelingensbegriff einer komisch geordneten wahren Demokratie zurückbleiben wird. Auch wenn klar ist, dass die »Entwicklung abstrakter Gegenentwürfe« (Hirsch 1995: 187) keinen revolutionären Sprung herbeiführen wird, ist die theoretische Ausführung ordnungstheoretischer Alternativen zur omnipräsenten Erfahrung liberaler Alternativlosigkeit gleichwohl von entscheidender Bedeutung dafür, dass die »Rückkehr der Geschichte«, »die Besinnung auf das Destruktive des [liberalen] Fortschritts«, wie es zu Beginn der Dialektik der Aufklärung heißt, »nicht den Feinden überlassen« (Adorno, Horkheimer 2006: 3) wird. Was sich philosophisch anzeigen lässt, ist nicht nur, dass ein solcher Sprung jederzeit möglich ist, so unrealistisch er auch scheinen mag. Es lässt sich auch begründen, wie seine ordnungstheoretische Ausrichtung verfasst sein müsste, damit er zu einer Einlösung der während der Französischen Revolution erstmals deklarierten Versprechen der politischen Moderne beitragen könnte. Auf Grundlage einer kritischen Analyse liberaler Ordnungsbildung ist es möglich, die Fluchtlinien dessen zu skizzieren, was ihre bestimmte Negation auf Ebene der politischen Ordnung bedeuteten müsste. 162 4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie In so doing, negative critique points to the necessity of the emancipatory abolition of these social relations and institutions in order to end the fate that befalls us in this social reality of permanent catastrophe and holds that this process can happen at any time. (O’Kane 2022: 177) Benjamins Aufforderung Folge zu leisten, die prinzipiell immer gegebene Möglichkeit eines revolutionären Sprungs zu konkretisieren, indem die Chance des historischen Augenblicks durch eine bestimmte Negation liberaler Ordnungsbildung als politisch spezifische Chance definiert wird, bedeutet jene ordnungstheoretische Alternative zur liberalen Alternativlosigkeit zu entwickeln, von der der autoritäre Libertarismus nur behauptet, er würde sie anbieten. Aus der politischen Situation der gegenwärtigen Farce heraus lässt sich die Aufgabe politischer Ordnungsbildung als Chance zur Komödie neu denken. Wo der revolutionäre Sprung gleichwohl aussteht, bleibt die so erlangte Perspektive auf die Möglichkeit einer wahren Demokratie nicht mehr und nicht weniger als ein auf diese Neuordnung ausgerichteter, ein komischer Antifaschismus. Siglen Hegel, Georg Wolfgang Friedrich (1986): Werke in 20 Bänden, Suhrkamp: Frankfurt am Main. JS II Jenaer Schriften 1801–1807 PhG III Phänomenologie des Geistes RPh IV Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatwissenschaft im Grundrisse VG XII Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte ÄIII XV Vorlesungen über die Ästhetik III Literatur Abensour, Miguel (2012): Demokratie gegen den Staat: Marx und das machiavellische Moment, Suhrkamp: Berlin. Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Suhrkamp: Berlin. Adorno, Theodor W. 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Für die grosszügige Förderung der Publikation danke ich dem Schweizerischen Nationalfonds, insbesondere Regula Graf und Adina Staicov für die unterstützende Zusammenarbeit. Ich danke Malte Schefer, Eva Janetzko, Catharina Heppner und Julia Flechtner vom Campus Verlag und dem Istituto Svizzero für die Möglichkeit, die Arbeit in Rom zum Abschluss bringen zu dürfen. Stets und immer danke ich für alles meinen charmanten und hochintelligenten Begleiter:innen: Bea Adam, Giuanna Beeli, Lina Berling, Maria Böhmer, Evelyne Bucherer-Romero, Peter Burleigh, Francesca Colesanti, Alexandra Colligs, Michelle von Dach, Anne Gräfe, Regina Hunter, Theo Hunter, Sophie Jung, Luzia Knobel, Mithra Lehn, Val Minnig, Gioia Dal Molin, Marie Petersmann, Christoph Roost, Franca Schaad, Leila Tichy, Maureen Winter, Nina Wood und allen voran Tobias Ertl. Leonie Hunter Frankfurt, im November 2023