Leonie Hunter
Tragischer
Liberalismus
Tragischer Liberalismus
Leonie Hunter vertritt die Professur für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main. Sie war Postdoc Fellow am Istituto Svizzero in Rom und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen
tätig.
Leonie Hunter
Tragischer Liberalismus
Campus Verlag
Frankfurt/New York
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ISBN 978-3-593-51787-2 Print
ISBN 978-3-593-45531-0 E-Book (PDF)
DOI 10.12907/978-3-593-45531-0
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1.1 Hegels politische Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.2 Marx’ Aktualisierung der politischen Gattungslehre . . . . . . . . . . 14
1.3 Die Poetik der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.4 Die Tragödie des revolutionären Selbstmissverständnisses . . . . 23
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus . . . . 27
2.1 Hegels Bestimmung der tragischen Handlungsordnung . . . . . . 28
2.2 Die liberale Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und
Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.3 Hegels Kritik der bürgerlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
2.4 Die zwei Ebenen bürgerlicher Selbstregierung . . . . . . . . . . . . . . . 60
2.5 Die tragische Revolutionsvergessenheit des politischen
Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
3. Die Farce der politischen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
3.1 Marx’ Farce von 1848–1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
3.2 Warum die Farce »so zu sagen« notwendig ist . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3.3 Die neoliberale Radikalisierung des politischen Liberalismus . . 85
3.4 Autoritärer Libertarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
3.5 Lernen aus der Farce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6
Inhalt
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
4.1 Hegels Komödie und Marx’ Zukunftspoesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
4.2 Die strukturell komische Handlungsordnung der »wahren
Demokratie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
4.3 Perspektiven einer komischen Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
4.4 Zwischen revolutionärem Sprung und komischer Politisierung 156
4.5 Ein komischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Vorwort
Die Argumentation dieses Buches basiert in ihren Grundzügen auf meiner
2022 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main abgeschlossenen Dissertation Das Drama im Politischen: Zur tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus und der demokratietheoretischen Perspektive seiner komischen
Überwindung. Dank einer grosszügigen Förderung des Schweizerischen Nationalfonds war es mir möglich, den umfangreichen Gedankengang der Dissertation in einem philosophisch begründenden Buch zu Hegel und in der
vorliegenden, historisch argumentierenden Studie zum politischen Liberalismus zu publizieren.
Der erste, begriffstheoretische Teil zur politischen Philosophie der hegelschen Dramentheorie ist 2023 bei Konstanz University Press unter dem
Titel Das Drama im Politischen: Hegels Ästhetik als demokratietheoretischer Traktat erschienen. Darin untersuche und systematisiere ich die These einer
strukturellen Homologie von ästhetischer Gattungslehre und politischer
Ordnungsbildung durch eine radikaldemokratische Aktualisierung des
philosophischen Systems Hegels. Die dabei entwickelte Begründung des
Verhältnisses von Poetik und Politik dient als methodologisches Fundament
der folgenden Ausführungen, die sich einer historischen Konkretisierung
von Tragödie und Komödie als paradigmatische Ordnungsmodelle der
politischen Moderne widmen.
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
Die Geschichte des politischen Liberalismus liest sich als Tragödie: Eine Krise löst die nächste ab, während die scheinbar ewige Gerechtigkeit der globalen Märkte waltet. Die allgemeine Übereinkunft, dass es nun mal nicht
anders gehe – there is no alternative –, besiegelt das Scheitern politischer
Transformationsbegehren, die sich dem ubiquitären Anspruch der kapitalistischen Verwertungslogik entgegenstellen. Angesichts sich aneinanderreihender Finanz- und Schuldenkrisen, rasant zunehmender Ungleichheit und
dem globalen Erstarken rechtsnationaler Bewegungen scheint das Versprechen der gleichen Teilhabe aller, auf der das normative Selbstverständnis liberaler Demokratien gründet, zu einem Relikt verkommen zu sein, auf das
sich nicht einmal mehr berufen wird.
Spätestens seit Francis Fukuyama 2017 seine These vom »Ende der Geschichte« als Siegeszug des politischen Liberalismus revidieren und das
Scheitern seiner Prognose einer globalen Durchsetzung der liberalen Demokratie eingestehen musste, ist die sogenannte ›Rückkehr der Geschichte‹
in aller Munde. Vorbei ist die lange vorherrschende Überlegenheit des
liberalen Selbstverständnisses westlicher Demokratien, abgelöst in mindestens dreifachem Sinne: durch den abnehmenden geopolitischen Einfluss
des Westens, ein sich ausbreitendes Krisenbewusstsein und zunehmend
hegemoniale Gegenbewegungen, die sich libertären und autoritären Widerstandsnarrativen verschreiben. Die damit einhergehende Rückkehr einer
radikalen Unsicherheit über die politische Zukunft, in der Freiheits- und
Teilhaberechte nicht länger als garantiert vorausgesetzt werden können,
macht eine Erklärung der Tragödie erforderlich, als die sich der politische
Liberalismus entpuppt hat.
Dass Fukuyama sich in seiner 1989 erstmals aufgestellten These vom
»Ende der Geschichte« auf Hegel bezog, ist kein Zufall. »Hegel«, so heißt es
10
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
bereits bei Habermas, »hat den politischen Diskurs der Moderne eröffnet«
(1985: 65). Als erster Philosoph hat er »einen klaren Begriff der Moderne«
(1985: 13) entwickelt, deren Einsatz er auf die »Zeit der Geburt und des
Übergangs zu einer neuen Periode« (PhG 17) während der Französischen
Revolution datiert. Diese ist durch das Auseinandertreten des Versprechens
subjektiver Freiheit von der Herrschaft der objektiven Ordnung gekennzeichnet, die fortan in Widerspruch und Entsprechung zueinander stehen.
Das selbsterklärte Ziel der hegelschen Grundlinien der Philosophie des Rechts
(Rph) besteht darin, diese Entzweiung ausgehend von seinem geistphilosophischen Programm einer geschichtlichen Entwicklung hin zu immer mehr
Selbstreflexivität zu konkretisieren, indem er sie historisch als Entzweiung
von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat ausdeutet (vgl. Gerstenberger 2006: 13). Um dem geschichtsphilosophischen Anspruch seines
Systems Rechnung zu tragen, versucht er die diagnostizierte Zerrissenheit
moderner Ordnungsbildung, die zu sozialen Exzessen der Verelendung,
Vereinzelung und Ohnmacht führt, durch die Kombination einer Unterweisung protestantischer Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft und eines
ihr gegenübertretenden autoritären Staats auszusöhnen. Schenkt man den
letzten Passagen der Grundlinien Glauben, soll die Geschichte der politischen
Moderne mit dem preußischen Staat an ihr Ende gekommen sein.
So unbestritten die Aktualität der hegelschen Beschreibung moderner
Ordnungsbildung ist, so einig ist sich die Rezeption über die Unzulänglichkeit seiner Lösung. Demgemäß argumentiert auch Fukuyama: Statt
wie Hegel das diagnostizierte Auseinandertreten von subjektiver Freiheit
und objektiver Ordnung in der bürgerlichen Gesellschaft und im liberalen
Staat als Grund sozialer Krisen zu problematisieren, erklärt er ihre Entzweiung kurzerhand zum demokratischen Ideal der politischen Moderne.
Für Fukuyama steht die liberale Verselbstständigung der bürgerlichen
Gesellschaft gegenüber einem zurückhaltenden Staat nicht länger für Entsittlichung, zunehmende Ungleichheit und Chaos, sondern für eine auf
demokratischer Teilhabe und individueller Freiheit basierende Prosperität.
Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass es trotz zahlreicher Defizite
in der historischen Umsetzung kein überzeugenderes Modell politischer
Ordnungsbildung gäbe als die Freisetzung einer bürgerlichen Gesellschaft
durch einen liberalen Staat, die Hegel als Urszene moderner Zerrissenheit
beschrieben hatte – »the ideal of liberal democracy could not be improved
on« (Fukuyama 1992: xi). Es überrascht daher nicht, dass Fukuyama die
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
11
Geschichte der politischen Moderne nicht in Preußen, sondern unter der
amerikanischen Hegemonie der Ära Bush an ihr Ende gekommen sah.
Die Permanenz sozialer Exzesse und politischer Krisen in den letzten
drei Jahrzehnten bezeugt nicht nur die naive Überheblichkeit dieser Annahme (vgl. Deneen 2018). Sie reaktualisiert auch Hegels Befürchtung, dass das
emanzipatorische Projekt der politischen Moderne an einer Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft zerbrechen könnte. Ausgehend von Hegels Diagnose einer in sich entzweiten Moderne und ihrer Aktualisierung
durch Marx, widmet sich dieses Buch einer systematischen Rekonstruktion des liberalen Ordnungsmodells und einer darauf aufbauenden Begründung seines gegenwärtigen Verfalls. Statt der Liste möglicher Endszenarien bloß ein weiteres hinzuzufügen, aktualisiere ich Hegels Problemdiagnose
moderner Entzweiung, die als solche sämtlichen Versuchen ihrer Harmonisierung vorausgeht. Im Durchgang durch neuere Positionen der politischen
Philosophie, die sich im Namen der modernen Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe gegen das Modell liberaler Ordnungsbildung aussprechen, dechiffriere ich die sich verschärfende Verselbstständigung der
bürgerlichen Gesellschaft als systemisch bedingte Krise des politischen Liberalismus. Statt mit vorschnellen Versuchen seiner Verteidigung auf die
jüngste »Rückkehr der Geschichte« zu reagieren, gilt es, die Logik moderner Ordnungsbildung aus ihrer Latenz zu holen und zum Gegenstand einer
Entscheidung darüber zu machen, wie die moderne Entzweiung subjektiver
Freiheit und objektiver Ordnung politisch verwirklicht werden soll.
1.1 Hegels politische Poetik
Die Rede von der Tragödie des politischen Liberalismus ist mehr als eine Metapher. Der Rückgriff auf die – nur auf den ersten Blick gegenstandsfremde
– Architektur der poetischen Gattungslehre verleiht dem politischen Projekt
der Moderne eine kohärente philosophische Struktur, die es nicht nur erlaubt, die Ordnungsbildung des politischen Liberalismus einer begrifflichen
Kritik zu unterziehen, sondern auch Kriterien anzugeben, wie die politische
Moderne geordnet werden sollte. Aus der Warte philosophischer Abstraktion betrachtet, verhandelt das antike Drama denselben Konflikt zwischen der
subjektiven Freiheit (der widerständigen Held:in) und der objektiven Ordnung (gegen die sie rebelliert), der auch das von Hegel diagnostizierte Auseinandertreten von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat bestimmt.
12
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zitiert Hegel Napoleon,
der zu Goethe gesagt haben soll, dass sich die moderne von der alten Tragödie,
wesentlich dadurch unterscheide, dass wir kein Schicksal mehr hätten, dem die Menschen
unterlägen, und dass an die Stelle des alten Fatums die Politik getreten sei. Diese müsse
somit als das neuere Schicksal für die Tragödie gebraucht werden, als die unwiderstehliche Gewalt der Umstände, der die Individualität sich zu beugen habe. (VG 339)
Im Unterschied zur Antike wird die Moderne nicht länger von der Erfahrung
eines transzendentalen Schicksals getragen, sondern durch das Fatum der
Politik, dem die Einzelnen unterliegen. Mit dieser Beschreibung hat Hegel
– ohne sich selbst über die Tragweite des darin aufgestellten Bezugs im Klaren zu sein – die begrifflichen Grundsteine für eine demokratietheoretische
Analyse der Entzweiung moderner Ordnungsbildung jenseits ihrer preußischen Versöhnung gelegt: In seiner Theorie der dramatischen Gattungen,
Tragödie und Komödie, konzeptualisiert Hegel zwei politische Modelle
ebenjener Entzweiung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung,
über die er auch den Einsatz der Moderne kennzeichnet.1
Folglich ermöglicht der Bezug der gattungstheoretischen Unterscheidung zwischen unterschiedlichen dramatischen Vollzugsmodi auftretender
Konflikte auf die Frage moderner politischer Ordnungsbildung es nicht nur,
die tragische Erfahrung des Scheiterns liberaler Demokratien begrifflich zu
fassen. Im Rückgriff auf die Komödie, die Hegel als höchste aller poetischen
Gattungen, als »Gipfel« (ÄIII 527) seiner Ästhetik ausweist, scheint über
die Kritik tragischer Politik hinaus die Möglichkeit einer besser geordneten
Moderne auf. Hegels innerdramatische Differenzierung von Tragödie und
Komödie zeigt an, dass auch auf demokratieimmanenter Ebene zwischen
zwei Modellen des geordneten Vollzugs der politischen Differenz zwischen
subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung unterschieden werden muss:
Zwischen der tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus
der Gegenwart und der ausstehenden Komödie einer wahren Demokratie.2
1 Diese These habe ich in Das Drama im Politischen: Hegels Ästhetik als demokratietheoretischer Traktat
(2023) auf Grundlage der hegelschen Philosophie systematisch begründet. Die darin entwickelte
Strukturhomologie von ästhetischer Gattungslehre und politischer Ordnungsbildung dient als
methodologisches Fundament dieser historisch konkreten Ausführung von Tragödie und Komödie als poetische Ordnungsmodelle der politischen Moderne.
2 Hindrichs (2022) hat in einer Kolumne mit dem Titel Tragischer Liberalismus die These formuliert,
dass sich eine Kritik der tragischen Struktur des politischen Liberalismus von dessen vermeint-
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
13
Dass Hegel das Drama als ästhetische Urszene moderner politischer
Ordnungsbildung ausweist, ist kein Zufall. Denn anders als in den Gattungen, die dem Drama im Aufbau seiner Poetik vorausgehen – dem Epos
als Ordnungsprinzip der Unterdrückung von Subjektivität und der Lyrik,
die sich umgekehrt durch eine Entfesselung subjektiver Innerlichkeit auszeichnet -, wird das Auseinandertreten zwischen der objektiv herrschenden
Ordnung und der Unordnung subjektiver Freiheit im Drama erstmals durch
den offenen Vollzug daraus erwachsender Konflikte verhandelt. In Whites
Deutung der Hegelschen Dramentheorie heißt es:
Dramatic situations begin in the apprehension of a conflict between a world already
formed and fashioned in both its material and social aspects (the world displayed immediately in Epic) and a consciousness differentiated from it and individuated as a self intent
upon realizing its won aims, satisfying its needs and gratifying its desires (the interior
world expressed in Lyric). But, instead of halting at the contemplation of this condition
of severance, [drama] goes on to contemplate the modality of the conflicts. (2014: 95)
Die begriffliche Verwandtschaft, in der die Verfasstheit moderner Ordnungsbildung und die poetische Gattungslehre in Hegels Philosophie
zueinander stehen, offenbart sich auch in seiner Anwendung eines dramatischen Vokabulars auf nahezu sämtliche Bereiche der politischen Philosophie. So beschreibt Hegel die moderne Politik nicht nur als neue Tragödie,
er erläutert auch seine reaktionäre Kritik an der Demokratie, indem er sie
als schlechte Komödie diskreditiert. Der Begriff des Demos fällt in der Phänomenologie (PhG) genau einmal – dort wo Hegel die politische Dimension
der Komödie ausführt (PhG 541; vgl. Hunter 2023: 53).
Für Hegel sind Tragödie und Komödie zwei gleichermaßen dramatische
Handlungsordnungen, weil sie die Entzweiung zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung affirmieren und in sich berechtigen. Sie unterscheiden sich jedoch im Vollzug daraus erwachsender Konflikte. In der Tragödie bricht der Konflikt erst offen aus, wird jedoch umgehend durch eine
schicksalhafte »Versöhnung« (PhG 538) zugunsten der objektiven Ordnung
der herrschenden »Oberwelt« (PhG 539) befriedet. So obsiegt gemäß Hegel
lich schicksalhafter Ausweglosigkeit emanzipieren müsse, sofern er nicht als einzig mögliche
Ordnung der politischen Moderne bestätigt werden soll. Statt sich, wie Hindrichs mit Brecht
sagt, »über den Liberalismus anzutragöden«, gälte es »das in ihm geschriebene Leid aufzuheben« (2022: 61). Aufgabe einer Kritik des tragischen Liberalismus ist es, die Möglichkeit einer
politischen Neuordnung der Moderne offenzulegen. In diesem Buch schlage ich dafür eine Ausrichtung an Hegels Begriff der Komödie vor.
14
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
in der Tragödie stets die »ewige Gerechtigkeit« der herrschenden Ordnung.
Demgegenüber kommt es in der Komödie zu einer »Rückkehr alles Allgemeinen in die Gewißheit seiner selbst« (PhG 543), in der umgekehrt die freie
Subjektivität »in ihrer unendlichen Sicherheit die Oberhand« (ÄIII 527) behält. Hegel begründet den höheren Stellenwert der Komödie, indem er darlegt, inwiefern die dramatisch kollidierenden Zwecke, die sich in der Tragödie bis zuletzt »feindselig gegenüberstehen«, im komisch geordneten Vollzug ihres Konflikts »als sich an ihnen selbst unmittelbar auflösend« (ÄIII 481)
zeigen. Anders als in der tragischen Versöhnung, in der die widerständigen
Haltungen, Interessen und Zwecke der Subjekte zwar in Erscheinung treten,
von diesen allerdings, wenn überhaupt, stets nur um den Preis ihrer Selbstaufgabe realisiert werden können, handelt es sich bei der Komödie um eine
Handlungsordnung, in der unterschiedliche Interessen auf eine Weise konfligieren können, die es den Subjekten ermöglicht, ihre Zwecke immer wieder
aufzulösen und zu verändern, ohne dass dadurch ihre »Subjektivität als solche zugrunde« (ÄIII 530 f.) ginge. Dass Hegel, der vor allem als Denker des
Tragischen bekannt ist, anders als in der Goethezeit üblich, nicht der Tragödie, sondern der Komödie den höchsten Stellenwert unter den poetischen
Kunstformen eingeräumt hat, bleibt nicht ohne Folgen für seine These vom
Fatum moderner Politik.
1.2 Marx’ Aktualisierung der politischen Gattungslehre
An diese Intuition schließt Marx mit dem Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte an, in dem er Hegels Gattungsbegriffe auf die politische Geschichte der
Moderne anwendet. Die 1862 veröffentlichte Schrift, die das Verhältnis zwischen der Französischen Revolution und der gescheiterten Revolution von
1848–1851 verhandelt, setzt mit der berühmten Behauptung ein, Hegel habe
bemerkt,
»daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal
ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal
als lumpige Farce« (2007: 9).3
3 Bereits Burke beschreibt die Französische Revolution als »monstrous tragic-comic scene« (1969:
92). Seine Ausführungen fallen jedoch nicht nur aufgrund ihres Konservatismus, sondern auch
wegen ihrer bloß metaphorischen Verknüpfung von Tragödie und Politik hinter die Verhältnisbestimmung von poetischer Gattungslehre und politischer Geschichte in Marx’ Achtzehntem Bru-
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
15
Aufgrund der journalistischen Natur des marxschen Textes bleiben die Verweise auf Hegels Gattungslehre und der Versuch ihrer Ergänzung durch die
Kategorie der Farce weitgehend assoziativ, was zu einer reichen Rezeptionsgeschichte ihrer Interpretation (vgl. u.a. Brunkhorst 2007; Hörmann 2007;
Iber 2011; Löschenkohl 2018) und Aktualisierung (bspw. Žižek 2009) geführt
hat. In diese Tradition trägt sich auch der folgende Versuch ein, die entzweite Struktur moderner Ordnungsbildung offenzulegen und die unterschiedlichen Möglichkeiten ihres Vollzugs ausgehend von der begrifflichen Unterscheidung in Tragödie, Farce und Komödie zu systematisieren.
Im Achtzehnten Brumaire buchstabiert Marx die bei Hegel nur über Napoleon angedeutete These einer »Gegenwart« (Menke 2005) des Dramas in
der politischen Moderne aus, indem er die verschiedenen Gattungsordnungen »inmitten der gesellschaftlichen Wirklichkeit« (Brunkhorst 2007: 143)
verortet. Dadurch überführt er Hegels politische Deutungen der poetischen
Gattungen, die mit Ausnahme einzelner Ausführungen auf abstrakter Ebene
operieren, auf den historisch spezifischen Kontext der politischen Moderne:
Die große geschichtliche Tragödie entspricht der Französischen Revolution
von 1789, deren tragische Struktur sich in den darauffolgenden ruhigeren
Dekaden der Reformationsepoche durch die Etablierung einer liberalen
Handlungsordnung fortschreibt und festigt. »Nach Marx ist die Moderne
nicht nur durch eine in der Wirklichkeit aufgeführte Tragödie in die Welt gesetzt worden, sondern […] in sich selbst tragisch verfasst« (Iber 2011: 281 f.).
Gleichwohl ist Marx’ Behauptung der tragischen Verfasstheit der politischen
Moderne – anders als die an Nietzsche anschließende Tradition eines »Pantragismus« (Menke 1996: 40), in der die politische Geschichte insgesamt
zu einer niemals endenden Tragödie verklärt wird – nicht als Ausdruck
einer defätistischen Geschichtsphilosophie zu deuten. Die Wiederholung
»weltgeschichtlicher Tatsachen« beschreibt keinen ontologischen Wiederholungszwang, sondern die unvermeidbare Manifestation der tragisch in
sich entzweiten Einheit von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat in
einer Farce, die Marx am Scheitern der Revolutionserfahrung von 1848–1851
maire zurück, vgl. dazu Hörmann 2007: 122 f. Darin verweisen sie jedoch auf eine, auf Platon zurückgehende und bis heute fortgeführte, kulturhistorische Tradition der Erläuterung politischer
Fragestellungen über ästhetische Motive, in der die Verbindung von Politik und Poetik ausgehend vom Aufbau der Theatersituation rekonstruiert wird (vgl. bspw. Egginton 2003; Rancière
2014). Im Unterschied dazu gründet das an Hegel und Marx anschließende Erkenntnisinteresse
in der philosophischen Bestimmung der Gattungsbegriffe als unterschiedliche Modelle politischer Ordnungsbildung.
16
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
abliest. Was sich wiederholen muss, ist demensprechend nicht das Schicksal
moderner Politik schlechthin, sondern die historisch konkrete Verkehrung
der tragisch-liberalen Ordnung in die Farce ihrer Freiheitsversprechen.
Marx’ Ausführungen zielen darauf, diese Verkehrung anhand poetischer Gattungsbegriffe als dialektisches Verwirklichungsverhältnis der
politischen Moderne im Zeichen ihrer liberal entzweiten Ordnung zu bestimmen. Wie er an den Entwicklungen seiner Zeit zu zeigen versucht, muss
eine politische Handlungsordnung, die subjektive Freiheit und objektive
Ordnung dem hegelschen Modell der Tragödie entsprechend durch die
Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und liberalen Staat institutionalisiert, früher oder später in eine »lumpige Farce« (Marx 2007: 9) umschlagen.
Mit dem Ziel einer selbstkritischen Analyse der gescheiterten Revolution
von 1848–1851 und der Zurückweisung der bloß formal demokratischen Klientelpolitik der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich, radikalisiert Marx
die bei Hegels bereits angelegte Kritik der Tragödie. Er legt offen, dass das
tragische Versöhnungsmodell, das Hegel unter den Nenner »ewiger Gerechtigkeit« (ÄIII 526) gestellt hatte, regressive Gegenbewegungen hervorbringt,
die sich im historischen Umschlag der normativen Ideale der Französischen
Revolution zur Farce einer autoritären, vom »Hanswurst« (Marx 2007: 161)
Louis Bonaparte regierten Klassenherrschaft manifestieren.
Marx bleibt allerdings nicht bei der Kritik der liberalen Tragödie und
der Erkenntnis ihres notwendigen Umschlags stehen. Um sich der Gefahr
ihrer schicksalhaften Stilisierung zur einzig möglichen Ordnung der politischen Moderne zu widersetzen, ergänzt er seine Parallelisierung von
poetischen Gattungen und politischen Ordnungen mit dem Modell einer
»kommende[n] Komödie […], in der sich die historischen Beschränkungen
der vorhergehenden Stufen auflösen würden« (Iber 2011: 287 f.). Diese skizziert er als Möglichkeit eines revolutionären Übergangs in eine historisch
ausstehende Verwirklichung der gleichen subjektiven Freiheit aller. Im
Anschluss an die Interpretation Brunkhorsts (2007: 194) lassen sich Marx’
Ausführungen als Blaupause einer gelingenden Demokratie nach dem
Modell der hegelschen Komödie deuten, in der es den Subjekten möglich
werden soll, ihre Zwecke immer wieder aufzulösen und zu verändern, ohne
dass dadurch ihre »Subjektivität als solche zugrunde« (ÄIII 530 f.) ginge.
Entsprechend kohärent schließt Marx mit seiner historisch konkreten
Analyse der tragischen Struktur des politischen Liberalismus und der Perspektive ihrer komischen Überwindung an die philosophische Architektur
der hegelschen Gattungslehre an.
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
17
Indem Marx Hegels poetologische Stufenfolge über Tragödie und Komödie hinaus durch die Regressionsfigur der Farce ergänzt, zeigt er die Grenzen der implizit in der hegelschen Poetik verankerten Geschichtsphilosophie
auf und eröffnet dadurch die Möglichkeit einer politischen Aktualisierung
der Gattungslehre jenseits der Behauptung eines – bereits vollzogenen oder
noch anstehenden – Endes der Geschichte. Im Unterschied zu Hegel, der den
politischen Verwirklichungsanspruch dramatischer Konfliktvollzugsmodelle nur andeutet, legt Marx dar, unter welchen geschichtlichen Bedingungen
sich verschiedene politische Ordnungen historisch hervorbringen konnten
und wie sie gegebene Praktiken, Normen und Institutionen reproduzieren.
Iber beschreibt Marx’ Anwendung poetischer Gattungsbegriffe zur Erschließung moderner Ordnungsbildung daher als »materialistische Variation Hegels« (2011: 288; eine ähnliche Deutung findet sich auch bei Smith 1993: 32).
Ziel meiner Studie ist es, diesen materialistischen Zugriff auf die begriffliche Architektur der poetischen Gattungslehre zu systematisieren, indem
Hegels Bestimmungen von Tragödie und Komödie politisch gedeutet und
durch den Einschub der von Marx beschriebenen Farce historisch konkretisiert werden. Dafür wird in Kapitel 2 zunächst die Struktur des politischen
Liberalismus im Ausgang seiner historischen Verbreitung seit dem 19. Jahrhundert anhand der hegelschen Bestimmung der tragischen Entzweiung
von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung rekonstruiert. Dabei zeigt
sich, dass der politische Liberalismus von Voraussetzungen lebt, die er
selbst nicht garantieren kann, woraus jene Selbstverkehrung seiner Freiheitsversprechen resultiert, für die Marx’ Begriff der Farce steht. Nachdem
die Zuspitzung dieser Selbstverkehrung ausgehend von Marx’ Beschreibung
der gescheiterten Revolution von 1848–1851 als immanente Konsequenz des
politischen Liberalismus bestimmt wurde, wird der Übergang vom fordistischen Liberalismus der Nachkriegszeit zum Neoliberalismus der Gegenwart
in Kapitel 3 als historische Wiederholung der systemisch bedingten Farce
liberaler Ordnungsbildung nachvollzogen. Die historisch konkrete Analyse
der Krisenanfälligkeit liberaler Demokratien offenbart, dass der aktuelle
Zuwachs libertärer und autoritärer Bewegungen nicht, wie diese selbst
glauben, im Widerspruch zum politischen Liberalismus steht, sondern als
Konsequenz seiner Ordnungsbildung zu verstehen ist. Statt die Struktur
derselben gegen ihre Umschlagslogik zu verteidigen, setze ich sie, der Stoßrichtung von Hegel und Marx’ politischen Poetiken folgend, in ein kritisches
Verhältnis zur ausstehenden Möglichkeit der Komödie. Dementsprechend
wird die Entzweiung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, die den
18
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
modernen Einsatz des politischen Liberalismus begründet, in Kapitel 4 von
ihrem tragischen Vollzug unterschieden, um die gegenwärtig vor allem
als Bedrohung der Demokratie erfahrene »Rückkehr der Geschichte« ins
Schlaglicht der Möglichkeit einer komischen Neuordnung der politischen
Moderne zu rücken.
Der Rückgriff auf die dramatische Gattungslehre bezeugt, dass die
politische Moderne auch anders geordnet werden könnte, ohne dass die
Entzweiung verleugnet wird, die ihren Begriff und ihre historische Verwirklichung auszeichnet. Anhand der Unterscheidung zwischen Tragödie,
Farce und Komödie lässt sich nachvollziehen, wie unterschiedlich die moderne Entzweiung vollzogen werden kann: liberal, neoliberal, autoritärlibertär oder wahrhaft demokratisch. Im gleichen Zug lässt sich die liberale
Behauptung eines Endes der Geschichte in ein begriffliches Verhältnis zur
Erfahrung regressiver Geschichtslosigkeit als Farce und der Möglichkeit
einer geschichtlichen Neuordnung der politischen Moderne im Zeichen
der Komödie stellen. Durch diese Gliederung und Systematisierung der
verschiedenen Vollzugsmodi moderner politischer Ordnungsbildung stellt
sich die folgende Analyse einer Gleichsetzung von politischem Liberalismus
und entzweiter Moderne ebenso entgegen wie der Utopie einer Harmonisierung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung und den daraus
erwachsenden Konflikten. So erlaubt es die heuristische Ausrichtung an
ästhetischen Begriffen, den Zusammenhang von politischem Liberalismus, Neoliberalismus und autoritärem Libertarismus zu systematisieren
und den politischen Kampf um die ordnungstheoretische Ausdeutung der
politischen Moderne unter dem Nenner der Komödie neu zu etablieren.
1.3 Die Poetik der Französischen Revolution
Dass Hegel den Beginn der Moderne auf die Französische Revolution datiert,
ist nicht nur von historischer Bedeutung. Denn die »Zeit der Geburt und des
Übergangs zu einer neuen Periode« (PhG 17) war auch die Zeit, in der entschieden wurde, wie die Moderne politisch geordnet werden soll. Um das bis
heute anhaltende Kontinuum dieser Entscheidung begreifbar zu machen, ist
es von zentraler Bedeutung, dass die Moderne als historisch spezifische Periode erschlossen wird, die zwar das prinzipielle Auseinandertreten subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung vorgibt, nicht aber den politisch konkreten Vollzugsmodus desselben. Denn die Institutionalisierung der moder-
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
19
nen Entzweiung dieser Prinzipien im Modell des politischen Liberalismus
ist weniger selbstverständlich als dies die liberale Theoriebildung suggeriert.
Entsprechend wichtig ist es, im Vorfeld der begrifflichen Bestimmung und
kritischen Analyse des politischen Liberalismus kurz die Bedingungen und
Konditionen seiner historischen Entstehung im Zuge der Französischen Revolution zu rekonstruieren.
Dass es sich beim revolutionären Einsatz der politischen Moderne um
»das größte Emanzipationsprojekt in der Geschichte der Menschheit« handelt, ist weitgehend unbestritten. »Das Vermögen, selbstbestimmt zu handeln«, gilt nicht länger »als Privileg einiger weniger, sondern [als] universale[r] Anspruch« (Amlinger, Nachtwey 2022: 31). Weit weniger einsichtig ist,
warum dieses Emanzipationsversprechen der gleichen Freiheit aller unmittelbar mit der spezifisch liberalen Vollzugsordnung moderner Entzweiung
als Freisetzung einer bürgerlichen Gesellschaft durch einen sich politisch
zurückhaltenden Staat gleichgesetzt wurde (vgl. Gerstenberger 2006: 518).
Marx beschreibt diese ideengeschichtlich wie historisch kaum je infrage gestellte Gleichsetzung des politischen Liberalismus mit dem Projekt der politischen Moderne als das »Rätsel« (1970: 367) der Französischen Revolution.
In der Französischen Revolution wurde dem vorausgehenden, jahrhundertelang vorherrschenden Ordnungsmodell des Feudalismus ein Ende
gesetzt. Im Augenblick der Revolution wurde der »endlose Kreislauf der
Ersetzung der einen Herrschaft durch die andere Herrschaft«, der die
feudale Ordnung bestimmt hatte, unterbrochen und ein »ganz andere[r]
Typ politischer Ordnung etabliert« (Menke 2011a: 15): eine moderne Handlungsordnung, in der subjektive Freiheit und objektive Ordnung im Namen
der Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe auseinandertreten.4 Dieser Schritt von der Unterbrechung der feudalen Ordnung zur
Etablierung einer liberalen Handlungsordnung erweist sich allerdings als
»rätselhaft« (Marx 1970: 366; vgl. zu diesem Motiv Menke 2015: 7–13). Warum
die Französische Revolution in eine große Tragödie führte, statt eine freie
Komödie zu etablieren, erklärt sich nicht aus ihrem politischen Programm.
Das von Marx ausgewiesene Rätsel des historischen Ereignisses der Französischen Revolution besteht entsprechend darin, dass das Versprechen
freier und gleicher politischer Selbstbestimmung als solches nicht vorgibt,
4 Für eine liberalismuskritische Rekonstruktion der historischen Fundierung der normativen Prämisse der Gleichursprünglichkeit von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe, vgl. Balibar
2012; für eine Rekonstruktion im Kontext liberaler Theoriebildung, vgl. Özmen 2023: 80–86.
20
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
ob die Entzweiung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung in der
Form einer tragisch liberalen oder in der Form einer strukturell komischen
Handlungsordnung vollzogen werden soll, für die Marx an anderer Stelle
den Begriff der »wahre[n] Demokratie« (1976b: 232) einführt.5 Historisch ist
der Fall klar: Das revolutionäre Versprechen der gleichen Freiheit aller wurde
in die bürgerlich-liberale Form gleicher subjektiver Rechte eingetragen. Es
wurde als Berechtigung individueller bürgerlicher Freiheit und der Möglichkeit einer darauf aufbauenden, demokratischen Teilhabe ausgedeutet. Das
Rätsel der Französischen Revolution ist faktisch zugunsten einer politisch
liberal verfassten Handlungsordnung entschieden worden.
Dass dieser Verwirklichung ein Rätsel vorausgegangen ist, als dessen historische Lösung die Etablierung des politischen Liberalismus zu verstehen
ist, zeugt allerdings davon – und dies ist der entscheidende Punkt der marxschen Bemerkung –, dass das revolutionäre Versprechen der gleichen Freiheit aller auf einer anderen Ebene anzusiedeln ist als die politische Handlungsordnung, die in seinem Namen eingesetzt wurde. Anders formuliert
lässt sich festhalten, dass die revolutionäre Forderung der gleichen Freiheit
und Teilhabe aller »auf etwas Vorpolitischem begründet« (Menke 2011a: 15 f.)
sein muss.
Im ideengeschichtlichen Kontext der Französischen Revolution wurde die Natur des Menschen als Referenzrahmen für dieses vorpolitische
Begründungserfordernis herangezogen. Um ihre politischen Versprechen
legitimieren zu können, haben sich die französischen Revolutionär:innen
auf die neuzeitliche Naturrechtstradition von Hobbes über Montesquieu
bis Locke berufen, die behauptet, der Status gleicher Freiheit sei natürlich
vorgegeben, aber gesellschaftlich verstellt worden. Bei Montesquieu heißt
es:
Im Naturzustand werden die Menschen zwar in der Gleichheit geboren, sie können aber
nicht darin verharren. Die Gesellschaft lässt sie die Gleichheit verlieren, und nur durch die
Gesetze werden sie wieder gleich. (1951: 159)
5 In Zur Judenfrage (1970) unterscheidet Marx die – strukturell tragische – Revolution von 1789 von
einer noch ausstehenden – strukturell komischen – Neuordnung der politischen Moderne, indem er Erstere als politisch und Letztere als sozial charakterisiert. Der Begriff des Politischen,
mit dem Marx dabei operiert, ist anders als der hier verwendete Begriff politischer Ordnungsbildung geprägt von der bürgerlichen Politik des 19. Jahrhunderts. Aus Marx’ Unterscheidung folgt
daher nicht, dass die wahre Demokratie nicht politisch wäre, sondern dass sie auf einer selbstbestimmten Politisierung des Sozialen, d.h. der bürgerlichen Gesellschaft, gründet, vgl. Kap. 4.3.
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
21
Im revolutionären Selbstverständnis bestand die politische Aufgabe darin,
die Natur des Menschen, die im Zeichen der philosophischen Aufklärung als
gleiche und freie erkannt wurde, zunächst revolutionär zu deklarieren, um
sie in einem zweiten Schritt durch die Etablierung einer politischen Handlungsordnung subjektiver Schutz- und Teilhaberechte abzusichern.
Dieses revolutionäre Selbstverständnis manifestiert sich besonders
deutlich in der politischen Philosophie Lockes, der schreibt: »Though I have
said […] That all Men by Nature are equal, I cannot be supposed to understand
all sorts of Equality«. Weil sich die natürlichen Gleichheitsvoraussetzungen
nicht unmittelbar in eine soziale Gleichheitspraxis übertragen lassen, muss
das natürlich begründete Versprechen der gleichen Freiheit aller in die spezifische politische Form individueller Rechtsgleichheit übertragen werden
– »that equal right, that every man hath, to his natural freedom, without
being subjected to the will or authority of any other man […] in respect of
Jurisdiction« (1988: 304).6 Habermas beschreibt das Selbstverständnis der
Französischen Revolution dementsprechend als politische Deklaration der
Positivierung von Naturrecht (vgl. 1971: 89). Die Französische Revolution
wollte keine neue politische Normativität etablieren, sondern verstand sich
als »bloße Explizitmachung des gegebenen Naturrechts« (Raimondi 2011:
98). Sie behauptete, dass der Mensch von Natur aus frei sei und dass sich
diese Freiheit von nun an als individuelle verwirklichen können soll. Ziel der
Etablierung eines liberalen Staates war es, diese Verwirklichung in die Form
6 Interessant ist diesbezüglich, dass der bis heute wirksame Ausschluss geschlechtlich diskriminierter und rassifizierter Subjekte im ideengeschichtlichen Kontext der liberalen Naturrechtslehre meist über deren angeblich defizitäre Natur begründet wurde, so bspw. bei Locke (vgl. 1988:
211). Aus zeitgenössischer Perspektive ist einfach nachzuweisen, dass diese biologistischen Zuschreibungen das normative Argument natürlicher Gleichheit untergraben und die Autor:innen,
die auf sie verweisen, dementsprechend an ihrem eigenen Maßstab scheitern. Wie sich mit Marx
nachvollziehen lässt, liegt das wesentlichere Problem allerdings in der Verortung dieses Maßstabs in der Natur selbst: Die ideengeschichtliche Verschiebung der Frage, wer sich zu den Freien und Gleichen zählen darf, von der Metaphysik in die Natur, ist eine Verschiebung, die von
der naturrechtlichen Theoriebildung willentlich als solche vollzogen wurde. Dies ist insofern verhängnisvoll, als vermeintlich natürliche Bestimmungen immer wieder zur Einschränkung von
Gleichheit herbeigezogen werden können, da sich die philosophische Frage der Natur »naturgemäß« immer neuen Interpretationen darüber öffnet, wer, wie und was in welcher Weise zu dieser
Natur gehört. Die politische Geschichte lehrt, dass die Verortung der Gleichheit in der Natur häufiger dazu führte, dass Ungleichheiten naturalisiert wurden, als dass sie einen kritischen Diskurs
über die immer schon politischen Ausdeutungen dieser Natur eröffnet hätte.
22
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
subjektiver Rechte zu bringen und sie dadurch vor politischen Eingriffen zu
schützen.
Gleichwohl vollzieht sich im revolutionären Akt der Deklaration bürgerlicher Freiheitsrechte, die sich auf ein »vorgängiges, natürliches Recht« beziehen, mehr als die bloße »Explizitmachung« desselben: Wie Raimondi offenlegt, schaffte die revolutionäre Erklärung der gleichen subjektiven Rechte aller aus dem natürlichen Recht etwas, »was es bis dahin nie gewesen ist, nämlich das Fundament einer politischen Ordnung« (2011: 96 f.). Der deklarative Akt der revolutionären Erklärung der gleichen rechtlichen Freiheit aller
nahm nicht nur den Charakter einer Nachträglichkeit gegenüber dem philosophisch behaupteten Naturrecht an, »sondern zugleich auch die performative Struktur der Selbstbezüglichkeit: Er ist bereits selbst Vollzug jener
politischen Selbstbestimmung«, die er als Prinzip der neuen liberalen Ordnung »auf Dauer stellt« (Raimondi 2011: 97).
Die Französische Revolution legitimierte und sicherte ihr normatives
Versprechen, indem sie es als Konsequenz einer Veränderung auswies, die
sich vorpolitisch bereits vollzogen hat. »Genauer: Sie war die politische
Befreiungstat einer Klasse, die von sich weiß und behauptet, dass sie sich
vor ihrer politischen Befreiungstat bereits befreit hat« (Menke 2018: 69). Erst
»im Schoße der alten« (Marx 1971: 9) Ordnung, in der – nicht zuletzt durch
koloniale Enteignung, Unterdrückung und Versklavung (vgl. u.a. BuckMorss 2000; Ferreira da Silva 2022, 2017: 99–105; James 1989)7 – maßgebliche Fortschritte in der materiellen Produktion, Technik und Verwaltung
erzielt wurden (vgl. u.a. Gerstenberger 2006; Meiksins Wood 2002; Milios
2018, Robinson 1983), war es möglich, die natürlich gleiche Freiheit aller als
vorpolitische Erkenntnis auszuweisen und durch den revolutionären Akt
ihrer politischen Deklarierung in eine neue Handlungsordnung zu überführen. Das revolutionäre Rätsel, heißt es daher bei Marx, »löst sich einfach«
(1970: 367): Die Französische Revolution war von einer bürgerlichen Klasse
getragen, die an einer Abschaffung feudaler Privilegien und einer Verallgemeinerung kapitalistischer Produktionsverhältnisse interessiert war. Dies
erforderte eine politische Sicherung ökonomischer Wertabschöpfung in
7 In James’ Analyse der Haitianischen Revolution finden sich zahlreiche Verweise auf antike Tragödien, deren lose Bezüge zur Hegelschen Tragödientheorie Scott in Conscripts of Modernity: The Tragedy of Colonial Enlightenment (2004: v.a. 152–169) systematisiert. Zum legitimatorischen Verhältnis von philosophischer Naturrechtstradition und kolonialem Barbareidiskurs, vgl. Eberl 2021.
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
23
der Form subjektiver (Eigentums- und Vertrags-)Rechte, die es durch ein
politisch zurückhaltendes, staatliches Gewaltmonopol abzusichern galt.8
1.4 Die Tragödie des revolutionären Selbstmissverständnisses
Aus der Tatsache, dass das revolutionäre Rätsel historisch einfach aufgelöst
wurde, folgt allerdings nicht, dass sich das ontologische Rätsel moderner politischer Ordnungsbildung dadurch ebenfalls aufgelöst hätte. Denn der revolutionäre Einsatz der liberalen Handlungsordnung gründet auf einem revolutionären Selbstmissverständnis. Weil der revolutionäre Befreiungsakt
nicht als revolutionär-politische Setzung von Freiheit und Gleichheit, sondern als bloße Explizitmachung einer bereits freien und gleichen Natur ausgegeben wurde, konnte er sich nur einmal ereignen. Dem liberalen Selbstverständnis zufolge bedurfte es nur eines revolutionären Ereignisses, weil die
Idee der Naturrechte nur einmal aus der vorpolitischen Philosophie in die
Politik getragen werden muss. Ist dieser Übergang einmal geebnet worden,
steht der politischen Verwirklichung subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe nichts mehr im Weg. Es bedarf keiner revolutionären Politik mehr. An
diesem Punkt setzt das Versprechen liberaler Ordnungsbildung an, sämtliche Konflikte in einen ordnungsimmanenten Wettbewerb um die Teilhabe
an der Gestaltung des liberalen Staats einzutragen. Indem der politische Liberalismus verspricht, alle Konflikte, die in der Vergangenheit unterdrückt
wurden oder zu revolutionären Umbrüchen geführt haben, fortan in den geordneten Bahnen demokratischer Ordnungsverhältnisse vollziehen und lösen zu können, glaubt er die revolutionär-»vorpolitische« Politik, die seine
eigene Handlungsordnung etabliert hatte, ein für alle Male hinter sich lassen
zu können. Nachdem im einmaligen Ereignis revolutionärer Politik erfolgreich deklariert worden ist, was politisch deklariert werden musste, um das
liberale Ordnungsmodell politische Wirklichkeit werden zu lassen, kann es
8 Für eine ausführliche Diskussion der Frage, in welchen Hinsichten ökonomische Entwicklungen
den revolutionären Umsturz bedingten, vgl. Gestenberger 2017. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die historische Voraussetzung einer Verallgemeinerung frühkapitalistischer Produktions- und Zirkulationsweisen nicht so verstanden werden kann, als würde sich die revolutionär etablierte liberale Handlungsordnung in einem bloß ideologischen Überbau erschöpfen. Die
Verallgemeinerung des kapitalistischen Wertverhältnisses mag die subjektive Rechtsform erklären, in deren Form das revolutionäre Versprechen subjektiver Freiheit politisch positiviert wurde,
nicht aber das Versprechen demokratischer Teilhabe, vgl. dazu Kap. 2.
24
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
nur noch darum gehen, diese Deklaration ordnungsimmanent, d.h. in positivem Recht, zu schützen und zu wahren. Wie Marx zeigt, bleibt das revolutionäre Versprechen der gleichen Freiheit aller damit eben das: eine rechtlich
gesicherte Deklaration, keine wahrhaft demokratische Verwirklichung.
Das Selbstmissverständnis der Französischen Revolution besteht in der
Performativität ihrer naturrechtlichen Begründung. Diese macht unkenntlich, dass das Versprechen der gleichen Freiheit aller auch anders hätte
realisiert werden können als durch eine staatliche Sicherung subjektiver
Rechte. Die individuelle Freiheit der Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft ist kein Synonym des modernen Versprechens subjektiver Freiheit
und ihrer Entzweiung von der objektiven Ordnung; sie ist nicht mehr und
nicht weniger als eine historische Ausdeutung und Praxis desselben. Das
Problem des naturrechtlichen Selbstverständnisses der Französischen Revolution besteht entsprechend darin, dass sie das Rätsel der Revolution nicht
als fortwirkendes Rätsel in Erscheinung bringt. Im politischen Liberalismus
kommt die historisch vorübergehende Lösung des ontologischen Rätsels
moderner Ordnungsbildung als direkte politische Konsequenz einer vorpolitischen Natur zur Darstellung, die sie nicht ist. Indem die Französische
Revolution das Versprechen der gleichen Freiheit aller als natürlich vorgegeben begriff, verschleierte sie den revolutionären Charakter ihrer eigenen
Setzung und schuf damit die performative Grundlage für das Selbstmissverständnis einer liberalen Handlungsordnung, die glaubt, ihre revolutionäre
Genese dadurch überwinden zu können, dass sie sämtliche Konflikte in
die ordnungsimmanent beschränkte Möglichkeit demokratischer Teilhabe
einträgt.
In Wirklichkeit bleibt Marx’ Rätsel auch dort bestehen, wo es durch die
historische Etablierung einer liberalen Handlungsordnung vorübergehend
gelöst wurde. Denn seine einfache Lösung ist eine, die auch anders ausfallen
könnte. Es wäre prinzipiell jederzeit möglich, dass eine neue revolutionäre
Politik entsteht, eine andere Klasse, Bewegung oder Subjektivität, die dem
politischen Liberalismus ein Ende setzt und eine andere Lösung des revolutionären Rätsels der politischen Moderne etabliert. Gemäß Marx ließe sich
das Rätsel politischer Ordnungsbildung, das sich in der Französischen Revolution erstmals als historisches Rätsel gestellt hat, wahrhaft erst durch die
revolutionäre Etablierung einer strukturell komischen Demokratie lösen.
Die Ordnungsbildung einer solchen Demokratie würde das ontologische
Rätsel politischer Ordnungsbildung lösen, nicht weil sie behauptet, das
moderne Auseinandertreten von subjektiver Freiheit und objektiver Ord-
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
25
nung zu überwinden, sondern weil sie die Setzung der gleichen Freiheit
und Teilhabe aller anders als in der liberalen Handlungsordnung »selbst
nur als eine Bestimmung, und zwar die Selbstbestimmung des Volks« zur
Darstellung brächte. Sie wäre, wie es in Marx’ berühmter Formulierung
heißt, »das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen« (1976b: 231), weil sie bestehende Ordnungsverhältnisse als Resultate vergangener Konfliktvollzüge,
d.h. als geschichtliche Erzeugnisse einer revolutionären Setzung, erkennen,
ausweisen und auf dieser Grundlage für künftige, selbstbestimmt gestaltete
Weiterentwicklungen öffnen könnte.
Diese ontologische Auflösung käme zwar einer gelungeneren historischen Lösung, aber gleichwohl keiner historischen Auf lösung des Rätsels
gleich: Weil sich die revolutionäre Politik normativer Setzungen als konstitutive, vorpolitische Voraussetzung sämtlicher politischer Ordnungsbildung
erweist, kann sie als solche von keiner – auch von keiner zukünftigen –
politischen Ordnung jemals abschließend überwunden werden. Der Unterschied zwischen der ontologischen Auflösung des revolutionären Rätsels in
der strukturell komischen Demokratie gegenüber seiner liberalen Lösung
besteht darin, dass die wahre Demokratie von sich selbst weiß, dass sie das
Rätsel zwar historisch besser lösen kann, weil sie es als ontologisches zur
Darstellung bringt, dass sie es aber gerade deshalb niemals gänzlich auflösen können wird. Die ontologische Auflösung des revolutionären Rätsels in
der wahren Demokratie erweist sich insofern als zukunftsoffen, als sie die
Unauflösbarkeit des Rätsels als historisches Rätsel bezeugt. Mit Marx steht
die Komödie im Politischen für das Ende sämtlicher Fiktionen vom Ende
der Geschichte.
Marx’ Deutung der Französischen Revolution überzeugt, weil er trotz der
Tragödie der historischen Auflösung ihres Rätsels im politischen Liberalismus, am emanzipatorischen Potenzial ihrer Setzung und der Möglichkeit
einer komischen Wendung des darin aufgehobenen Versprechens der gleichen Freiheit aller festhält: »Die von Marx […] kritisierte Beschränktheit –
oder auch Formalität –« der liberalen Handlungsordnung, die sich »eben
darin zeigt, dass sie bloß eine Erklärung ist, wird […] im Sinne eines Vorgriffs umgedeutet, der auf künftige Kritik und politische Kämpfe ausgerichtet ist« (Raimondi 2011: 99). Marx zufolge hat die Französische Revolution
einen bis heute wirkmächtigen Fehler gemacht, als sie ihr Versprechen der
gleichen Freiheit aller durch die Positivierung vermeintlicher Naturrechte
zu verwirklichen versuchte. Ihr Fehler besteht allerdings nicht in der Äußerlichkeit der »vorpolitischen« Begründung ihres Ordnungsmodells, sondern
26
1. Am Ende liberaler Selbstverständlichkeit
in der naturalisierenden Verklärung derselben. Richtig verstanden erweist
sich die Äußerlichkeit der Hervorbringung demokratischer Politik als deren
unüberwindbare Bedingtheit durch eine revolutionäre Setzung. Die damit
verbundene Kritik lautet, dass die Französische Revolution nicht verstanden hat, was sie selbst getan hat: Sie hat die gleiche Freiheit aller durch eine
revolutionäre Setzung auf die Welt gebracht, die als solche der permanenten Gefahr ihrer revolutionären Wider- und Entsetzung ausgeliefert bleibt.9
Diese Gefahr ist der Einsatzpunkt einer Neuordnung der Moderne, welche
den Umgang mit dem Rätsel politischer Ordnungsbildung zum Gegenstand
einer kollektiven Entscheidung macht.
9 Eine ähnliche Argumentationsfigur findet sich bei Hegel, der die Gleichheit der subjektiven Freiheit aller ebenfalls in ihrer historischen Verwirklichung untersucht. Anders als Marx sieht er sie
allerdings nicht als politische durch die Französische Revolution in die Welt gebracht, sondern
wie Theunissen nachvollzieht, durch die Verbreitung des Christentums: »Geschichte ante Christum natum geschieht in der Weise einer Suche nach dem christlichen Prinzip und in der Form
der Annäherung an dieses; Geschichte post Christum natum hingegen ist die trotz allem letztlich
doch fortschreitende Verwirklichung des christlichen Prinzips, das nach seiner Manifestation im
Sohn Gottes nicht mehr gesucht, sondern ›nur‹ noch praktiziert zu werden braucht« (1970: 94).
In Marx’ Modell eingetragen lautet Hegels These: Geschichte ante Französischer Revolution geschieht in der Weise einer Suche nach dem dramatisch-demokratischen Prinzip subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe an der objektiven Ordnungsbildung; Geschichte post Französischer
Revolution hingegen ist die Verwirklichung dieses Prinzips, das nach seiner Manifestation auf
den Pariser Straßen nicht mehr gesucht, sondern »nur« noch praktiziert zu werden braucht. Die
Frage nach der ordnungstheoretischen Verschiedenheit dieser Praktizierung ist eine Frage, die
Hegel als religiöse nicht mehr sinnvoll stellen kann. Wo sie demgegenüber als politische Frage
gestellt wird, lässt sie sich über Marx’ Kritik der tragischen Struktur der liberalen Handlungsordnung und der Perspektive auf ihre selbstreflexive Überwindung (weitgehend) überzeugend
beantworten, vgl. Kap. 4.
2. Die tragische Handlungsordnung
des politischen Liberalismus
»It is at first sight surprising that so open and positive a movement as
liberalism should ever have produced tragedy at all« (Williams 1966: 68).
Untrennbar sind Tragödie und Liberalismus gemäß Williams’ kulturtheoretischer Analyse aufgrund des tragischen Schicksals moderner Entfremdung:
Die Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat führt zu
Vereinzelung, Verelendung und Ohnmacht.1 Entgegen dieser allgemeinen
Interpretation der Tragödie als Resultat des Liberalismus lautet die spezifischere These des folgenden Kapitels, dass der politische Liberalismus
nicht nur verschiedenste Tragödien gesellschaftlicher Entfremdung hervorbringt, sondern dass sich seine Handlungsordnung selbst als strukturell
tragisch verfasst beschreiben lässt: Die liberale Ausdeutung und Institutionalisierung des revolutionär deklarierten Versprechens einer gleichen
Freiheit aller, entspricht dem – von Hegel gattungstheoretisch angedeuteten und von Marx historisch ausgeführten – Modell einer tragischen
Handlungsordnung im Politischen.
Nach einer kurzen Erläuterung der gattungstheoretischen Bestimmung
der Tragödie durch Hegel (Kap. 2.1) wird die Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat im liberalen Selbstverständnis rekonstruiert
(Kap. 2.2), was es erlaubt, die tragische Struktur liberaler Subjektivierung
nachzuzeichnen. Ausgehend von Hegels in den Grundlinien ausgeführter
1 Williams’ marxistischer Interpretationsversuch besteht darin, die Tragödie als Resultat der Entfremdung im bürgerlichen Alltag und damit als Produkt, nicht als Struktur des Liberalismus auszuweisen: »Thus I have known tragedy in the life of a man driven back to silence, in an unregarded working life. In his ordinary and private death, I saw a terrifying loss of connection between
men, and even between father and son« (Williams 1966: 13). Eine ähnliche Tendenz der Diskussion moderner Tragödien in einer Rhetorik paternalistischen Kitschs findet sich bei Van den Brink
(2000), dessen Verknüpfung von Tragödie und Liberalismus allerdings im Zeichen einer Verteidigung des Liberalismus steht.
28
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Kritik bürgerlicher Vergesellschaftung (Kap. 2.3) werden die zwei Ebenen
bürgerlicher Selbstregierung, ihre objektive Gouvernementalität und die
Normalisierung der Subjekte erläutert (Kap. 2.4). In deren Funktionsweise
manifestiert sich die in der liberalen Ordnungsbildung angelegte, strukturell tragische Tendenz zu einer inneren Entpolitisierung, die sich auf ihre
Revolutionsvergessenheit zurückführen lässt (Kap. 2.5).
2.1 Hegels Bestimmung der tragischen Handlungsordnung
Hegels Diskussionen tragischer Kunstwerke der Antike, allen voran der
Antigone von Sophokles, gehören zu den bekanntesten und meistrezipierten
Stellen seines philosophischen Systems. Weniger bekannt ist seine poetologische Klassifizierung der Tragödie als dramatische Gattung, die er in der
Ästhetik anhand von drei zentralen Merkmalen bestimmt: Der berechtigt
auftretende Konflikt zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung
endet in einer (1) tragischen Versöhnung durch (2) subjektive Resignation, die objektiv gesichert wird durch die (3) Naturalisierung bestehender
Ordnungsverhältnisse.2
(1) Wie Hegel in der Ästhetik betont, sind tragische Konflikte nicht nur durch
die anerkannte Ebenbürtigkeit der gegeneinander antretenden Mächte und
die schuldvolle Unterdrückung der jeweils anderen Konfliktseite bestimmt,
die das Drama grundsätzlich, d.h. auch die Komödie, auszeichnen (vgl.
Kap. 1.1). Das Spezifikum der Tragödie liegt in ihrem Konfliktverlauf, der
per definitionem in einer Versöhnung zugunsten der objektiven Ordnung
mündet. Trotz der anfänglichen Berechtigung beider Konfliktparteien und
Hegels Betonung der Unüberwindbarkeit ihrer Konfliktualität ist der tragische Ausgang ihrer Kollision vorbestimmt: Er entwickelt sich stets so, dass
die selbstbestimmt handelnden Subjekte, die der Sphäre der subjektiven
Freiheit des »unteren Rechts« zugeordnet sind, denjenigen Subjekten unterliegen, die sich die Sicherung der bestehenden Ordnungsverhältnisse
des »oberen Rechts« zum Zweck ihrer Handlungen machen. Spezifisch
tragisch enden dramatisch berechtigte Konflikte dort, wo die herrschenden
2 Diese Definition des tragischen Ordnungsmodells nach Hegel habe ich ausgeführt in Hunter
2023: 189–214.
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
29
Ordnungsverhältnisse subjektive Transformationsbegehren absorbieren,
indem sie sich nur so weit anpassen, wie zur Sicherung ihres ungehinderten
Fortbestands erforderlich.3
(2) Aufgrund der Vorgegebenheit dieser Versöhnungsstruktur ist selbstbestimmtes Handeln im tragischen Handlungsordnungsmodell von Beginn an
zum Scheitern verurteilt. Das widerständige Subjekt wird vor eine unmögliche Wahl gestellt: Entweder es steht, wie Antigone, kompromisslos für den
eigenen Zweck ein und nimmt dadurch seinen Tod in Kauf oder es resigniert.
In beiden Fällen handelt es sich um eine Aufhebung des Konflikts zugunsten
der herrschenden Ordnungsverhältnisse, die dazu führt, dass das »Positive«
– die Essenz dessen, was das widerständige Subjekt vermeintlich wirklich
wollte – in einer »nicht mehr zwiespältigen, affirmativen Vermittlung« (ÄIII
527), d.h. wenn überhaupt in Form einer moderaten Reformentwicklung, erhalten bleibt. Wählt das widerständige Subjekt die erste Variante, die Hegel der klassischen Antike zuordnet, wird es im Verlauf des tragischen Konflikts in »Schranken zurück[gewiesen] und zertrümmert« (ÄIII 548). Wählt
es die zweite Variante, kommt die tragische Versöhnung dadurch zustande, dass es den Konflikt auf die innere Szene seiner Subjektivität rückprojiziert. Als Beispiel führt Hegel Antigones Vater Ödipus auf Kolones an, dessen resignatives Handeln er als bereits zur Moderne hinstrebendes Verhalten beschreibt. Ödipus führt die tragische Versöhnung herbei, indem er »alle Zwiespälte in sich selbst auslöscht und sich in sich selbst reinigt« (ÄIII
551). Indem er den ordnungserhaltenden Zweck seiner Verbannung internalisiert, bringt er jene »affirmative Vermittlung« hervor, die für eine tragische Versöhnung erforderlich ist. So wird der dramatisch aufbrechende
Konflikt zwischen dem selbstbestimmten Zweck des widerständigen Subjekts und den objektiv herrschenden Ordnungsverhältnissen auf die innere
Szene des Subjekts verlagert, wodurch er nicht länger als äußerliche, d.h.
politische, Auseinandersetzung im objektiven Geist der herrschenden Ordnungsverhältnisse ausgetragen werden muss.
Um einer solchen Versöhnung im Modus subjektiver Resignation den
Weg zu bereiten, werden die Subjekte in der tragischen Handlungsordnung
dazu angehalten, ihre Zwecke stets auf deren grundsätzliche Kompatibili3 Darin unterscheidet sich die Argumentation von Hindrichs Bestimmung des tragischen Liberalismus (2022: 55), in der zwar die Notwendigkeit der Zerstörung anerkannt wird, der Ausgang der
Kollision jedoch als ergebnisoffen ausgewiesen wird.
30
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
tät mit herrschenden Ordnungsverhältnissen zu prüfen, bevor sie in eine
Transformationsforderung gegenüber bestehenden Regeln, Normen und
Gesetzen überführt werden. Damit schleicht sich die Forderung nach einem
vorzeitigen Gehorsam in Hegels Darstellung tragischer Versöhnung ein.
Statt die Vorgegebenheit des tragischen Konfliktausgangs als problematische, inhaltliche Beschränkung dessen zu begreifen, was in der tragischen
Handlungsordnung als berechtigter Zweck auftreten kann, verschiebt Hegel
die Unterscheidung in tragisch berechtigte bzw. unberechtigte Zwecke auf
die innere Szene des Subjekts.
Das Zustandekommen solcher Versöhnungen sieht er dabei durch das
»absolute Walten« einer »ewigen Gerechtigkeit« (ÄIII 526) gewährleistet, die
das selbstbestimmt handelnde Subjekt gegen sich selbst aufruft, wo es die
vorgelagerte Pflicht einer innerlichen Wahrhaftigkeitsüberprüfung seiner
Zwecke missachtet. Diese Gerechtigkeit soll den aufgetretenen Konflikt
als Widerspruch auflösen, indem sie die tragische Entscheidung zwischen
Tod oder Resignation erzwingt (ÄIII 524). Dass Hegel immer wieder auf das
vermeintliche Wirken einer übergeordneten Gerechtigkeit verweist, um den
versöhnlichen Ausgang tragischer Konflikte zu plausibilisieren, ist darauf
zurückzuführen, dass die tragische Handlungsordnung auf Voraussetzungen beruht, die sie selbst nicht hervorbringen kann. Weil es innerhalb der
Tragödie aufgrund ihrer dramatischen Berechtigung subjektiver Freiheit
keine Instanz gibt, welche die Versöhnung aus ihr hervorgehender Konflikte
mit den gegebenen Ordnungsverhältnissen absichern könnte, wird auf ein
vermeintlich übergeordnetes Walten »ewiger Gerechtigkeit« verwiesen.
(3) Im Unterschied zum Epos ist die tragische Handlungsordnung gleichwohl nicht durch ihre politische Unveränderbarkeit, sondern durch eine
Berechtigung gewisser ordnungsimmanenter Entwicklungen gekennzeichnet: Tradierte Normen, Regeln und Gesetze können moderat reformiert
werden, solange die tragische Handlungsordnung und die zentralen Ordnungsverhältnisse, die ihre Hegemonie sichern und durchsetzen, nicht
infrage gestellt werden. Transformationsbegehren, die aus selbstbestimmtem Handeln erwachsen, werden zwar berechtigt, ihre tragische Integration
in bestehende Ordnungsverhältnisse besiegelt aber im gleichen Zug ihre
inhaltliche Entschärfung: Der Konflikt zwischen subjektiver Freiheit und
objektiver Ordnung lässt sich tragisch nur lösen, indem die selbstbestimmte
Handlung, die motiviert ist, ganz andere Verhältnisse einzurichten, zu einer
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
31
moderaten Reform zusammengestaucht wird, die innere Entwicklungen
anregt, ohne die bestehenden Verhältnisse aufs Spiel zu setzen.
Aus ordnungstheoretischer Perspektive dient die Figur »ewiger Gerechtigkeit« dazu, der Gefahr einer Radikalisierung von Transformationsbegehren vorzubeugen, woraus allerdings eine implizite Naturalisierung
bestehender Ordnungsverhältnisse resultiert. Die tragische Handlungsordnung versucht ihren eigenen Erhalt dadurch zu garantieren, dass sie
auftretende Konflikte auf die innere Szene der Subjekte projiziert, wodurch sie zentrale Institutionen ihrer Ordnungssicherung der Möglichkeit
einer selbstbestimmten Gestaltung entzieht. Um die Gefahr ihrer revolutionären Absetzung durch eine andere politische Ordnung abzuwenden,
bringt sie einen Satz an vermeintlich substanziellen, gehaltvollen Ordnungsverhältnissen hervor, der von der Möglichkeit einer selbstbestimmten
ordnungsimmanenten Infragestellung ausgenommen ist.
Das historisch konkrete Ordnungsmodell des politischen Liberalismus lässt
sich dieser Argumentationsstruktur entsprechend anhand von drei Schritten erörtern: Die liberale Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft und die
damit korrespondierende Etablierung eines demokratischen Wettbewerbs
um die repräsentative Besetzung der Regierungsmacht bringt (1) strukturell
tragische Versöhnungen politischer Konflikte durch eine (2) Kultur subjektiver Resignation hervor, die objektiv durch eine (3) gouvernementale
Selbstregulierung der bürgerlichen Gesellschaft gesichert wird. Anders formuliert: Die »Ironie der tragischen Revolution [besteht darin], dass sie auf
radikale Demokratie zielte und zum Ergebnis [einen] modernen Kapitalismus hatte« (Iber 2011: 289, siehe auch Brunkhorst 2007: 199), der durch eine
strukturelle Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet
ist. Die mit dieser Parallelisierung von Drama und politischer Ordnungsbildung verbundene Kritik des politischen Liberalismus verfolgt weder das
Ziel einer Schwächung historisch erreichter Freiheitsgewinne noch wird der
Anspruch einer vollständigen Rekonstruktion liberaler Diskurse erhoben.4
Es geht vielmehr darum, im Zeichen des revolutionären Versprechens der
gleichen subjektiven Freiheit aller die »verborgenen tragischen, das heißt
4 Angesichts »how broad the liberal tent is« (Biebricher 2018a: 6; vgl. dazu auch Möllers 2020: 10;
Özmen 2023: 43–46), erhebt die hier rekonstruierte naturrechtliche Herleitung keinen exklusiven Anspruch, sie ist lediglich als exemplarische Begründungsstrategie bürgerlicher Ordnungsbildung zu verstehen (vgl. Kap. 1.3)
32
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
selbstzerstörerischen Zwänge« (Iber 2011: 289) auf den Begriff zu bringen,
die der politische Liberalismus aufgrund seiner Ausdeutung dieser Freiheit
als bürgerlich-individuelle Rechtsfreiheit mithervorbringt.
2.2 Die liberale Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und
Staat
Historisch durchgesetzt hat sich das Ordnungsmodell des politischen Liberalismus auch als Gegenbewegung zur Restauration. Statt auf Grundlage
der Terreur im Nachgang der Französischen Revolution eine Rückkehr zur
feudalen Ordnung zu fordern, wurde konstatiert, »dass die demokratische
Selbstregierung des Volkes, um nicht erneut in Gewalt und Unterdrückung zu führen, nicht nur der Regulierung durch Verfahren, sondern der
Begrenzung von außen bedarf« (Menke 2011b: 247). Dem liberalen Staat
kommt dadurch eine doppelte Aufgabe zu: Er soll die gleichen individuellen
Freiheitsrechte aller in der bürgerlichen Gesellschaft sichern und sein staatliches Regieren auf der Grundlage demokratischer Teilhabe konstituieren
(vgl. Kap. 1.3).
Constant zufolge verändert sich das Freiheitsverständnis damit grundsätzlich: Die »alte« politische Freiheit der demokratischen Teilnahme an
der kollektiven Selbstregierung des Gemeinwesens wird ergänzt durch eine
neue, subjektive Freiheit:
Das Ziel der Alten war die Teilung der […] Macht unter alle Bürger desselben Vaterlandes:
das nannten sie Freiheit. Das Ziel der Modernen ist die Sicherung in den privaten Genüssen, und Freiheit nennen sie den gesetzlichen Schutz dieser Genüsse. (1946: 40)
Der politische Liberalismus beschreibt ein Ordnungsmodell, in dem diese
zwei Freiheiten im Konflikt miteinander stehen: Die alte Freiheit der demokratischen Teilhabe soll nicht verlustig gehen, es müssen ihr aber gleichwohl
Grenzen gezogen werden, da man »von den heutigen Völkern [nicht mehr
verlangen kann], dass sie wie die früheren ihre gesamte persönliche Freiheit
der politischen Freiheit opfern« (Constant 1946: 52, vgl. Hindrichs 2022: 55).
Das Verhältnis dieser zwei Freiheitsfiguren lässt sich über die Bestimmung politischer Differenz im Kontext radikaler Demokratietheorien
erschließen, dem u.a. die politischen Philosophien von Lefort und Gauchet,
Rancière, Mouffe und Laclau zugerechnet werden (vgl. Marchart 2010). Das
Politische wird dabei als transformative Kraft subjektiver Freiheit beschrie-
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
33
ben, die als ontologische Voraussetzung sämtlichen politischen Handelns
in einer unüberbrückbaren und unversöhnlichen Differenz zur objektiven Ordnung der bestehenden Politik steht. In ein radikaldemokratisches
Vokabular eingetragen zeichnet sich der politische Liberalismus dadurch
aus, dass er die Differenz zwischen der subjektiven Freiheit des Politischen
und der objektiven Ordnungsbildung der Politik affirmiert, aber zugleich
eine Einheit dieser Differenz formiert, indem er sie institutionalisiert: als
Differenz zwischen der bürgerlichen Gesellschaft (als Ort des Politischen),
in der subjektive Freiheit als natürlich begründete, individuelle Freiheit
realisiert wird, und dem liberalen Staat (als Politik), dessen Aufgabe es ist,
diese individuelle Freiheit zu sichern und freie Subjekte durch ihre gleiche
demokratische Teilhabe an der Gestaltung des Gemeinwesens teilhaben zu
lassen. Anders formuliert: In der liberalen Handlungsordnung wird die politische Differenz über die staatliche Sicherung individueller Freiheitsrechte
in der bürgerlichen Gesellschaft offengehalten. Diese spezifische – wie sich
zeigen wird strukturell tragisch verfasste – Handlungsordnung, als die der
politische Liberalismus die Einheit politischer Differenz als Einheit der Differenz von Staat und Gesellschaft hervorbringt, hat in ihren institutionellen
Grundzügen seit der Französischen Revolution Bestand. Wie Marx festhält,
haben die »verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden
der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn« (1973: 28). Trotz grundlegender Unterschiedlichkeiten und historischer Divergenzen zeichnen sich
die im Nachgang der Französischen Revolution etablierten Demokratien
allesamt durch das liberale Prinzip einer Einheitsbildung dieser Differenz
aus, dem zufolge die aus der politischen Berechtigung subjektiver Freiheit
erwachsenden »Gegensätze zwar durch den Staat in eine zivile Verlaufsform
gebracht sind, ohne aber dadurch ihre Gegensätzlichkeit einzubüßen« (Iber
2011: 294).
2.2.1 Die demokratische Teilhabe am parlamentarischen Wettbewerb
Mit Lefort ist die Französische Revolution als Beginn demokratischer Ordnungsbildung zu verstehen, weil sie die, wie es bei ihm heißt: konstitutive
Leere des Orts der Macht historisch erstmals zur Darstellung bringt (vgl.
1990: 284). Die prinzipielle Kontingenz politischer Macht wird nicht länger
durch metaphysische oder religiöse Ursprungserzählungen überblendet,
34
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
sondern in ihrer Veränderbarkeit zur Erscheinung gebracht. Ähnlich argumentiert Rawls, wo er eine prinzipielle normative Neutralität als Signum
des Liberalismus ausweist, der insofern »freistehend« (1998: 77) operiert, als
er sich durch eine Unabhängigkeit vom substanziellen Wahrheitsanspruch
universalistischer Lehren auszeichnet.
Leforts Argumentation zufolge ist es Aufgabe des liberalen Staates, die
Verschiedenheit subjektiv freier Zwecke zu berechtigen, indem daraus hervorgehende Konflikte auf Grundlage allgemeiner Wahlen in demokratisch
regulierte Prozeduren übertragen werden. An die Stelle einer zwischen feudalen Königen und Fürsten rotierenden Herrschaft tritt ein zukunftsoffener, demokratisch geregelter Wettkampf um die politische Macht der Regierung, in dem unterschiedliche Forderungen, Weltansichten und Transformationsbegehren auf einer staatlich eingerichteten »Bühne des Konflikts«
gegeneinander antreten. Gemäß Lefort und Gauchet ist die auf dieser Bühne
inszenierte »Veröffentlichung des Ergebnisses der Stimmauszählung« insofern konstitutiv demokratisch, als sie ein »bildliches Auftreten des Konflikts
auf dem politischen Feld« (1990: 115) hervorbringt: Die jeweiligen Wahlsieger:innen treten nur als vorübergehende Besetzer:innen des Orts der Macht
in Erscheinung.
Die Machtausübung ist nun einem Verfahren unterworfen, das sie in regelmäßigen Abständen erneut ins Spiel bringt. Sie geht am Ende aus einem geregelten Wettstreit hervor,
dessen Bedingungen dauerhaft festgeschrieben sind. (Lefort 1990: 293)
Die im Zuge der Französischen Revolution erlangte Einsicht in die Unmöglichkeit einer abschließenden Legitimation politischer Herrschaft und
die damit einhergehende Forderung demokratischer Selbstbestimmung
werden dementsprechend durch das allgemeine Wahlrecht »als grundlegende Verfahrensordnung« (Willke 1996: 53) der repräsentativen Demokratie
institutionalisiert.
Damit war der Citoyen als staatsbürgerliches Subjekt geboren, das seine partikularen Zwecke zu verallgemeinern versucht, indem es am demokratischen Wettbewerb um eine repräsentative Besetzung der Regierungsmacht teilnimmt. Der Citoyen allein kann das Zustandekommen eines solchen Wettbewerbs aber weder begründen noch gewährleisten. Denn erst wo
er sich zuvor als Bourgeois hervorgebracht hat, d.h. unter Voraussetzung
seiner subjektiven Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft, kann er sich auf
Grundlage unterschiedlicher subjektiver Zwecke in den demokratischen Gestaltungsprozess einbringen. In dieser Voraussetzung manifestiert sich die
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
35
zweite Aufgabe des liberalen Staats: die Sicherung individueller Freiheit in
der bürgerlichen Gesellschaft. Sie soll garantieren, dass sich tatsächlich unterschiedliche Citoyens herausbilden, die in den geregelten Wettbewerb um
die zeitlich stets begrenzte, repräsentative Herrschaft des politischen Gemeinwesens eintreten können.
Diese Doppelung des modernen Subjekts in Bourgeois und Citoyen
korrespondiert entsprechend mit der doppelten Aufgabe der Institutionalisierung eines demokratischen Wettbewerbs und der Freisetzung einer
bürgerlichen Gesellschaft auf Ebene der liberalen Ordnungsbildung: Die
Unterscheidung in das privatisierte, individuell freie Subjekt des Bourgeois
und die demokratische Teilhabe des Citoyens gründet in der Art und Weise,
wie die liberale Handlungsordnung durch die Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat eine politisch geordnete Einheit der Differenz
zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung hervorbringt.
2.2.2 Die staatliche Sicherung individueller Freiheit in der bürgerlichen
Gesellschaft
Der liberale Staat versucht die demokratische Teilhabe auf Grundlage unterschiedlicher politischer Subjektpositionen dadurch zu garantieren, dass er
ihr die individuelle Freiheit der Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft
voraussetzt (vgl. Özmen 2023: 59). Das Axiom liberaler Theoriebildung
besteht entsprechend in der Annahme eines vorgegebenen menschlichen
Pluralismus, der in der bürgerlichen Gesellschaft seine freie Entfaltung
finden soll. Es handelt sich dabei um eine begründungstheoretische Politisierung des naturrechtlichen Selbstverständnisses der Französischen
Revolution. Die liberale Theoriebildung operiert politisch, nicht metaphysisch, wie es bei Rawls in Abgrenzung von Burke heißt, weil die Gleichheit,
die dem liberalem Gerechtigkeitsverständnis vorausgeht, als Gleichheit der
Abwesenheit von Prämissen über ein vermeintliches Wesen der Menschheit
zu verstehen ist. So versucht sich das liberale Regieren bestmöglich von
»kontroversen philosophischen und religiösen Lehren unabhängig« (Rawls
1992: 255) zu machen. Die damit verbundene Annahme lautet, dass die
Menschen gerade in der Verschiedenheit ihres Menschseins natürlich gleich
sind und es deshalb Aufgabe liberaler Politik ist, diese Gleichheit als gleiche
Freiheit individueller Andersheit in der Form einer – gesellschaftlichen –
Voraussetzung demokratischer Teilhabe zu sichern.
36
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Die »liberale Regierungskunst« ist daher »zuallererst ein kritisches Projekt. Ihr Grundverdacht: Es wird zu viel regiert« (Bröckling 2007: 78). Diesem
Staatsverständnis liegt mit Berlin gesprochen die Ansicht zugrunde,
daß es einen bestimmten persönlichen Freiraum geben [muss], der unter keinen Umständen verletzt werden [darf]; anderenfalls fehlt dem Individuum jenes Mindestmaß an
Platz, das notwendig ist, um jene natürlichen Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihm überhaupt erst ermöglichen, die verschiedenen Zwecke, die Menschen für gut, richtig oder
heilig halten, zu verfolgen oder auch nur zu erkennen. (2006: 203)
Die Pluralität der Menschen, die in der Tradition ihrer naturrechtlichen Begründung als vorpolitisch gegeben vorausgesetzt wird, gilt es dem liberalen Selbstverständnis zufolge in der Form staatlich gesicherter, subjektiver
Freiheitsrechte vor politischen Eingriffen zu schützen. Wie Habermas (1971)
darlegt, ist es diese Form staatlich gesicherter, subjektiver Rechte, die die
stets prekäre Einheit zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft in der liberalen Handlungsordnung herstellt. Indem der Schutz individueller Freiheit und die demokratische Teilhabe am politischen Wettbewerb in dieselbe
Form subjektiver Rechte eingetragen werden, entsteht ein Rechtsverhältnis,
dessen Aufgabe es ist, Gesellschaft und Staat vor dem Hintergrund ihrer politischen Trennung zusammenzuhalten.
Dem Selbstverständnis des politischen Liberalismus zufolge ist die gleiche individuelle Freiheit etwas, was die Einzelnen zwar immer schon besitzen, was aber gleichwohl erst durch die subjektive Rechtsordnung im liberalen Staat und die dadurch vollzogene politische Freisetzung der bürgerlichen
Gesellschaft praktisch realisiert wird (vgl. Özmen 2019: 46). Der gemeinsame
Nenner der naturrechtlichen Freiheitsbegründung besteht gemäß Pippin in
»the pre-eminence […] of the human individual«, aus dem unterschiedliche
liberale Denker, von Hobbes über Locke bis Mill, einen ähnlichen Grundsatz
an Ordnungsverhältnissen ableiten, die den Erhalt der liberalen Handlungsordnung grundsätzlich gewährleisten sollen:
a limited and accountable state […], equality before the law, administrative transparency,
constitutional protection of rights, and in most versions, one protection above all: significant and extensive property rights. (Pippin 2008: 211)
Diese durch den liberalen Staat abgesicherten subjektiven Rechte fungieren
als »prinzipielle Freiheitsrechte, weil sie alle Handlungen, die nicht explizit
nach Kriterien äußeren Verhaltens verboten sind, freigeben müssen« (Habermas 1971: 91). Citoyen und Bourgeois stehen sich der naturrechtlichen Begründung zufolge nicht gleichberechtigt gegenüber: Der staatstragende Ci-
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
37
toyen wird durch den unpolitischen Bourgeois, »der die politische Macht zugunsten seiner privaten Freiheit begrenzt wissen möchte« (Raimondi 2011:
100), getragen und hervorgebracht. Er kann sich am demokratischen Wettbewerb nur unter der Voraussetzung beteiligen, dass er sich durch den liberalen Staat als unpolitischer Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft gesichert weiß. Dem liberalen Staat kommt dadurch eine paradoxe Aufgabe zu:
Weil er sich die subjektive Freiheit der Einzelnen voraussetzt, muss er die
Freiheit seiner politischen Regierung einschränken.5
Damit ist eine Aussage darüber getroffen, wie das Verspechen subjektiver Freiheit im politischen Liberalismus realisiert werden soll: Die
individuelle Freiheit in der Form staatlich garantierter, bürgerlicher Rechte
ist die Formbestimmung, die die liberale Handlungsordnung dem Versprechen subjektiver Freiheit gibt. Anders als das liberale Selbstverständnis
suggeriert, handelt es sich dabei nicht um die einzig mögliche Praxis
subjektiver Freiheit. Denn der Begriff subjektiver Freiheit beschreibt als
solcher zunächst nur eine unbestimmte Potentialität (vgl. Plessner 1975), die
praktisch so oder anders ausgedeutet werden kann:
Die liberale Idee subjektiver Freiheit ist eine Auslegung, aber nicht deckungsgleich mit
der einer freien Wahl des eigenen Lebens; sie ist daher nicht trivial und universal, sondern
anspruchsvoll und ebenso historisch wie kulturell situiert. (Menke 2004: 230)
Wie Menke an anderer Stelle ausführt, gestaltet der liberale Staat die individuelle Freiheit der Einzelnen zwar nicht inhaltlich, »aber er deutet oder
bestimmt sie. Denn ein Recht auf Freiheit ›überhaupt‹ gibt es nicht« (2019:
184). Im Modell des politischen Liberalismus wird das strukturell dramatische Versprechen der Französischen Revolution, das in einer durch die
politische Ordnung gesicherten Verwirklichung subjektiver Freiheit besteht, dadurch realisiert, dass die individuelle Freiheit in der bürgerlichen
Gesellschaft durch den Staat vor politischen Eingriffen geschützt wird,
damit rechtlich freie und gleiche Bürger:innen am politischen Wettbewerb
um die repräsentative Besetzung der Regierungsmacht teilhaben können.
Weil die individuelle Freiheit des Bourgeois damit zur Voraussetzung der
demokratischen Teilhabe des Citoyens gemacht wird, kommt es zu einer
5 Dies entspricht dem von Schmitt (1928: 166; 175) als Verteilungsprinzip des politischen Liberalismus ausgearbeiteten Grundsatz, wonach die Freiheit der Einzelnen prinzipiell unbegrenzt und
frei von einer Begründungspflicht ist, während die Befugnisse des Staates prinzipiell begrenzt
und legitimationsbedürftig sind.
38
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Priorisierung einer der zwei Aufgaben des liberalen Staates: Die Sicherung
individueller Freiheit wird der Freiheit der Teilhabe an der demokratischen
Selbstregierung übergeordnet. Dieser Primat der bürgerlichen Gesellschaft
gegenüber dem liberalen Staat, der durch den liberalen Staat selbst gesichert
und hervorgebracht wird, ist die zentrale Bestimmung der Handlungsordnung des politischen Liberalismus (vgl. Hindrichs 2022: 56). Das von Marx
herausgestellte Rätsel der Französischen Revolution besteht entsprechend
darin, dass dadurch ein als demokratisch ausgewiesener Staat eingesetzt
wird, der über die gleiche Teilhabe aller legitimiert wird, dessen Macht
aber einer bürgerlichen Gesellschaft unterstellt wird, an deren Grenze seine
politische Regierungsbefugnis endet (vgl. Kap. 1.2).
Die Einsicht, dass die Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und liberalem Staat im Zuge der Französischen Revolution auf eine Weise institutionalisiert wurde, in der Letzterer die Integrität der Ersteren garantieren soll, darf allerdings nicht die Einheit ihrer Differenz überblenden, die
durch die Handlungsordnung des politischen Liberalismus insgesamt hervorgebracht und erhalten wird: »Daß eine wechselseitige Ausschließung […]
besteht, sollte uns nicht ihre wechselseitige Einschließung verschleiern« (Lefort, Gauchet 1990: 110). Das Zustandekommen dieser paradoxen, weil in sich
entzweiten Einheit, welche die wechselseitige Einschließung von individueller Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft und demokratischer Teilhabe
am liberalen Staat hervorbringt, gilt es in den folgenden Schritten nachzuvollziehen.
2.2.3 Böckenfördes Diktum und das liberale Kulturargument
Der im politischen Liberalismus gesetzte Vorrang der negativen Freiheit
des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der positiven
Freiheit der demokratischen Teilhabe an der Regierungsmacht des liberalen Staats zeitigt eine Reihe demokratietheoretischer Konsequenzen, die
sich auf Grundlage von Böckenfördes Diktum, dass der politische Liberalismus seine eigenen Voraussetzungen selbst nicht hervorbringen kann,
erklären lassen. Ausgehend von der Rekonstruktion dieser Einsicht wird im
Folgenden anhand unterschiedlicher, teils affirmativer, teils kritischer Positionierungen rekonstruiert, inwiefern der politische Liberalismus seinen
eigenen Fortbestand gefährdet.
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
39
In der politischen Voraussetzung einer rechtlich abgesicherten bürgerlichen Freiheit steckt die Annahme, dass die geteilte Normativität der
Bürger:innen, das gemeinsame Gute, im verantwortungsvollen Wollen einer
gleichen Freiheit aller liegt, die es demokratisch hervorzubringen und zu
schützen gilt. In Wellmers Formulierung:
Als liberal können wir […] Positionen bezeichnen, die auf der Annahme basieren, dass
erstens die liberalen und demokratischen Grundrechte intern mit einer – zumindest potentiell – solidaritätsstiftenden Konzeption eines gemeinsamen Guten verknüpft sind,
und dass zweitens in modernen Gesellschaften keine darüber hinausgehende Konzeption
des Guten zu einer für alle Gesellschaftsmitglieder verpflichtenden Grundlage der gesellschaftlichen »Vereinigung« gemacht werden darf. (1993: 57)
Die normative Annahme lautet demnach, dass sich das freie Wollen der
Einzelnen als Wollen der liberalen Handlungsordnung selbst und damit als
Wollen der gleichen Freiheit aller realisiert. Zugleich beinhaltet die individuelle Freiheit der Einzelnen aber das explizite Recht »selbstsüchtig, verrückt,
exzentrisch, unverantwortlich, provokativ, obsessiv, selbstdestruktiv, monomanisch etc. zu handeln« (Wellmer 1993: 39). Wahrhaft liberal kann die
Freiheit der Einzelnen daher nur sein, wo der Bourgeois seine subjektiven
Zwecke freiwillig einschränkt und sich trotz der prinzipiell gewährleisteten
Berechtigung destruktiven Handelns einer solidarischen Praxis der demokratischen Sicherung der gleichen Freiheit aller verschreibt. Nur durch die
Transformation bloß individueller, selbstsüchtiger und verrückter Freiheit
in eine verantwortungsvolle, auf Gerechtigkeit ausgerichtete, solidarisch
operierende Freiheit können normative Subjekte hervorgebracht werden,
auf die sich die liberale Handlungsordnung stützen kann. Wie aber realisiert sich diese »Begrenzungsnotwendigkeit« (Özmen 2019: 51) individueller
Freiheit? »[W]o – und vor allem wie – findet diese Subjektivierung, die politische Verwandlung der individuellen Freiheit statt? Wie wird der Bourgeois
zum Citoyen?« (Menke 2019: 192).6
6 Die folgende Rekonstruktion, die mit Hegel und Foucault eine an Böckenfördes Analyse der Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft anschließende Kritik der kulturellen Überformung dieser Gesellschaft entwickelt, folgt den wesentlichen Argumentationsschritten der rechtsphilosophischen Bestimmung des Liberalismus durch Menke (v.a. 2019 sowie 2015). Über Menke hinaus wird offengelegt, inwiefern diese Vollzugsordnung subjektiver Freiheit mit Hegels Modell
einer tragischen Konfliktordnung korrespondiert. Im Unterschied zu Menke, der die Konflikthaftigkeit der Moderne insgesamt als tragisch verfasst begreift, bezeugt die Beschreibung der
tragischen Spezifizität des politischen Liberalismus als ein, nicht das politische Ordnungsmodell
moderner Konflikthaftigkeit die Möglichkeit seiner Überwindung (vgl. Kap. 4).
40
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Der liberale Jurist Böckenförde führt diese notwendige Transformation des Bourgeois in den Citoyen – die Rawls schlicht als nicht weiter
begründungsbedürftige, normative Voraussetzung liberaler Gerechtigkeit
begreift – als zentrales Stabilitätsproblem des politischen Liberalismus aus.
Ausgehend von seiner Analyse der Säkularisierung als Bedeutungsverlust
christlicher Sittlichkeit im Zuge der Modernisierung westlicher Gesellschaften formuliert er die Grundfrage liberaler Ordnungssicherung schlechthin:
»Wieweit können staatlich geeinte Völker allein aus der Gewährleistung
der Freiheit des einzelnen leben ohne ein eigenes Band, das dieser Freiheit
vorausliegt?« (1991: 111). Mit Blick auf Wellmers Definition des liberalen
Selbstverständnisses lässt sich dieselbe Frage als Frage nach der Stabilität der angenommenen Solidaritätsstiftung in der liberalen Konzeption
des gemeinsamen Guten stellen. Der dritte Pfeiler revolutionärer Normativität, die Solidarität (früher: Brüderlichkeit)7, erweist sich in diesem
Zusammenhang als konzeptuelle Schwachstelle der neu etablierten Handlungsordnung. Böckenförde stellt die Herausforderung folgendermaßen
dar:
Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der
Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen
Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben. (1991: 112 f.)
Wenn versucht wird, das »gemeinsame Gute«, das über die bloße Wahrung
der gleichen Rechte aller hinaus Solidarität stiften soll, stattdessen als »verordnete Staatsideologie« (Böckenförde 1991: 113) zu verwirklichen, lässt sich
die bürgerliche Gesellschaft nicht länger als politisch freigesetzte begreifen.
Der Staat kann sich als liberaler nur erhalten, wenn er die Stiftung von Solidarität der bürgerlichen Gesellschaft überlässt. Böckenförde zieht daraus
die folgerichtige Konsequenz, dass »[d]er freiheitliche, säkularisierte Staat
von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das
große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist« (1991: 112).
Anders formuliert: Die Frage, wie freie Individuen zu verantwortungsvollen
7 Solidarität ist hier als gesellschaftliche Praxis definiert, die – anders als durch kommunitaristische Debatten gefordert – keine neue Gemeinschaft implementiert, sondern, so die Definition
von Celikates und Jaeggi »ohne eine starke bzw. substantielle gemeinschaftliche Unterfütterung
auskommen muss und doch mehr ist als die punktuelle, stets instabile Kooperation eigeninteressierter Individuen« (2017: 38).
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
41
Bürger:innen werden, ist eine Frage, deren Beantwortung der liberale Staat
der bürgerlichen Gesellschaft überlässt.
Die liberale Antwort auf diese Frage lautet gemeinhin: In der und durch
die Kultur wird der egoistische Bourgeois zum staatstragenden Citoyen.
»Kultur« ist dabei als allgemeiner Überbegriff für Orte und Praktiken der
Subjektivierung zu verstehen, für die der liberale Staat »mit seinen Mitteln,
den Mitteln der individuellen Berechtigung, nichts tun kann, von denen
er aber voraussetzen muss, dass sie sich immer schon und immer weiter
gelingend vollziehen« (Menke 2019: 192).
Besonders deutlich kommt die kulturelle Dimension dieser gesellschaftstheoretischen Argumentationslinie im liberalen Selbstverständnis
der politischen Philosophie Rortys (1989) zum Ausdruck. Rorty verortet die
Möglichkeit des solidarischen Erhalts einer demokratischen Handlungsordnung in der Verallgemeinerung reflektierter Selbstverhältnisse, die
durch kulturelle Praktiken, wie bspw. die Lektüre pädagogisch wertvoller
Romane, hervorgebracht werden sollen. Dieser kulturellen Ethik legt er die
»liberal hope« (Rorty 1989: 74) zugrunde, dass eine allgemeine Zunahme der
kulturell erlernbaren Fähigkeit zur Selbstdistanzierung zur Konsolidierung
einer Akzeptanz abweichender Zwecke und einer daraus erwachsenden
demokratischen Solidarität führen wird.
Ähnlich argumentiert auch Rawls, der die notwendige Verwandlung
des Bourgeois in den Citoyen in kantischer Tradition durch eine kulturell
verankerte Vernunftethik der Selbstverantwortung erklärt, welche die solidarisch hervorzubringende Gerechtigkeit der liberalen Handlungsordnung
verbürgen soll. Das Funktionieren des liberalen Staates wird dadurch an
eine politische Ethik gebunden: Dieser kann die Freiheit der Einzelnen
nur unter der Bedingung ihrer vernünftigen Einsicht in die Notwendigkeit
des Zugeständnisses derselben Freiheit an alle anderen sichern (vgl. Rawls
1975: 606–621; für eine detaillierte Rekonstruktion Weithman 2010: 42–67)
– unter der Bedingung also, dass die Einzelnen die liberale Handlungsordnung und den Grundsatz der gleichen Rechtsfreiheit freiwillig affirmieren
und mittragen (vgl. Özmen 2015: 125). Dass sich der Staat erhalten kann,
liegt, so Rawls, am »Vorrang« der aus einer Praxis der Selbstverantwortung erwachsenden Gerechtigkeit gegenüber den möglichen Auswüchsen
individueller Freiheit. Subjektiv freie Zwecke sollen mit Blick auf die Hervorbringung politischer Gerechtigkeit gefiltert werden, wodurch der Bestand
der liberalen Handlungsordnung – in der alle gleichermaßen leben können
wollen – gesichert werden soll. Dies bedeutet, dass die »ethische Kategorie«
42
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
(Özmen 2015: 127) des Vorrangs der Gerechtigkeit nicht nur ein Vorrang
»um der subjektiven Freiheit willen [ist], er ist zugleich auch einer vor der
subjektiven Freiheit« (Menke 2004: 239; Hervorh. LH). Um den Erhalt der
liberalen Handlungsordnung zu sichern, wird das Versprechen individueller – potenziell immer auch destruktiver – Freiheit dem ethischen Appel
der freiwilligen Beschränkung dieser Freiheit zugunsten der Gerechtigkeit nachgestellt: Vor ihrer Realisierung erfordert die staatliche Sicherung
individueller Freiheit deren freiwillige Einschränkung, wobei die »selbststabilisierende normative Kraft« dieser Einschränkungen »parasitär« (Özmen
2015: 129) aus der ethisch hervorzubringenden Bereitschaft der Einzelnen
abgeschöpft werden muss.
Zwar vermag es Rawls Gerechtigkeitstheorie, die Vernünftigkeit solcher Einschränkungen theoretisch zu begründen, sie stößt allerdings an
Grenzen, wo sie mit dem praktischen Problem der Verweigerung ihres
Vernunftsappells konfrontiert wird.8 Weil die Stabilität der Gerechtigkeit,
die das Funktionieren der liberalen Handlungsordnung bedingt, auf einer
ihr kulturell vorausgesetzten politischen Ethik basiert, kann deren Verweigerung nicht als politisch hervorgebrachtes Problem ausgeführt und
verstanden werden. Sie lässt sich, wie bereits Rorty aufzeigt hatte, nur auf
Grundlage einer liberalen Hoffnung auf »Vernünftigkeit« (Özmen 2023: 160)
formulieren:
Wir hoffen, daß sie [die Gerechtigkeit] zumindest durch einen, wie ich ihn nennen
möchte, übergreifenden Konsens gestützt wird, das heißt einen Konsens, der alle die
widerstreitenden philosophischen und religiösen Lehren einschließt, die mutmaßlich
in einer mehr oder weniger gerechten konstitutionellen demokratischen Gesellschaft
bestehen bleiben und Anhänger gewinnen werden. (Rawls 1992: 258)
Rawls’ Anspruch, dass gesellschaftlich hervorgebrachte Unfreiheiten und
Ungleichheiten »zum größten Vorteil der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft« (1992: 261) ausgestaltet werden, ist ein normativer
Anspruch, auf dessen Realisierung nur gehofft werden kann, weil er durch
die politische Handlungsordnung des Liberalismus weder hervorgebracht
noch gesichert werden kann (vgl. Özmen 2023: 161–165). Dem liberalen Kul8 Ein zentrales methodisches Problem, das bereits auf dieser Begründungsebene greift, besteht in
der angenommenen Transhistorizität der Einschränkungen individueller Freiheit: Die universell
und formal entwickelten und begründeten normativen Ideale müssen nachträglich mit der geschichtlichen Realität politisch herrschender Ordnungen vermittelt werden, was zu erheblichen
Spannungen im Theoriegebilde führt, vgl. dazu Honneth 2013: 15 f.; 119 f.
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
43
turargument wohnt die implizit geschichtsphilosophische These inne, dass
die Menschen das Angebot einer solidarischen Praxis ihrer individuellen
Freiheit aufgrund ihrer prinzipiellen Vernunftbegabung früher oder später
in eindeutiger Mehrheit annehmen werden.9 Das von Böckenförde ausgewiesene Wagnis der liberalen Handlungsordnung besteht entsprechend
darin, dass diese ihren eigenen Erhalt wesentlich davon abhängig macht,
dass ein solcher Fortschritt eintritt und die von ihr freigesetzten Bourgeois
tatsächlich in der Lage sind, dem Gerechten »den gebührenden Vorrang […]
zuzugestehen und ihr Handeln dementsprechend zu orientieren« (Özmen
2015: 126).
Wie sich gezeigt hat, besteht das im liberalen Selbstverständnis dargelegte Programm einer staatlichen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft
darin, individuelle Freiheit und demokratische Teilhabe so zusammenzuhalten, dass die Freiheit der Teilhabe übergeordnet wird, ohne dass die Teilhabe daran zugrunde geht. Die mit dieser Beschreibung verbundene Einsicht
lautet, dass der politische Liberalismus subjektive Freiheit und demokratische Teilhabe nicht in gleichberechtigter, sondern in asymmetrischer Weise
hervorbringt: Am Anfang steht die subjektive Freiheit als Freiheit individueller Bedürfnisse und daraus erwachsender Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft. Die demokratische Teilhabe erscheint erst als diesem Freiheitsprinzip nachgelagerte Praxis der Eintragung ethisch vorgefilterter Zwecke
in einen prozessual regulierten Wettbewerb um die politische Regierung des
liberalen Staates. Die Gefahr, dass die demokratische Teilhabe trotz kultureller Vernunftappelle an dieser Unterordnung zugrunde gehen könnte, ist
der Preis des Wagnisses, das mit der liberalen Freisetzung der bürgerlichen
Gesellschaft eingegangen wurde.
9 Dies macht deutlich, warum vernunftethische Begründungen kultureller Solidaritätsstiftung
nicht geeignet sind, um politische Krisen des Liberalismus zu verstehen. Aufgrund ihrer transzendentalen Voraussetzung allgemeiner Vernünftigkeit können sie nicht erklären, warum die
Erwartung, dass die Menschen »allmählich den Wunsch [entwickeln werden], eine bestimmte
Art von Person zu sein und ein gemeinsames politisches Leben zu führen« (Özmen 2015: 116), auf
breiter Basis enttäuscht wird.
44
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
2.2.4 Die tragische Struktur liberaler Subjektivierung
In seiner zur Moderne hinstrebenden Bestimmung charakterisiert Hegel den Begriff der Tragödie anhand von drei zentralen Merkmalen: Der
auftretende Konflikt endet in einer (1) tragischen Versöhnung durch (2)
subjektive Resignation, die durch eine (3) Naturalisierung bestehender
Ordnungsverhältnisse konsolidiert wird. Wie die Ausführung des liberalen
Kulturarguments gezeigt hat, wird die Versöhnung auftretender Konflikte
zwischen kollidierenden Zwecken auch in der liberalen Handlungsordnung
durch eine ethisch vorgelagerte Zweckfilterung gesichert. Diese lässt sich,
in Hegels poetologische Begriffsarchitektur eingetragen, als strukturell
tragische Kultur (2) subjektiver Resignation beschreiben.
Hegel begreift die tragische Resignation als Ausgleich subjektiver Art,
weil die anfängliche »Einseitigkeit« (ÄIII 524) des widerständigen Zwecks
nicht offen gewaltsam durch die objektiv herrschende Ordnungsmacht,
sondern durch die handelnden Subjekte selbst abgestreift wird – »sie müssen resignierend das in sich aufnehmen, dem sie in substantieller Weise
selbst sich entgegensetzten« (ÄIII 527). Die Versöhnung durch Resignation
erfordert dementsprechend eine Internalisierung des dramatischen Konflikts: Wo das resignierende Subjekt die Kollision seines selbstbestimmt
formierten Zwecks mit den objektiv geltenden Ordnungsverhältnissen auf
die innere Szene seiner Subjektivität verlagert, muss diese Kollision nicht
länger politisch ausgetragen werden (vgl. Kap. 2.1).
Den modern tragischen Charakteren gleich finden sich liberale Subjekte
»von Anfang an mitten in einer Breite zufälligerer Verhältnisse und Bedingungen« (ÄIII 560), d.h. im Kontext gesellschaftlicher Pluralität, wieder und
werden mit der Aufgabe betraut, auf der inneren – ethischen – Szene ihrer
Subjektivität »wahrhafte« von falschen Zwecken zu unterscheiden. Rawls
nicht unähnlich, beschreibt Hegel die Aufgabe, die dem tragischen Subjekt
zur Sicherung der Versöhnbarkeit berechtigt auftretender Konflikte zukommt, als verantwortungsvolle Filterung seiner individuellen Zwecke nach
dem Maßstab einer übergeordneten, »ewigen Gerechtigkeit« – die Hegel
nicht politisch, sondern metaphysisch begründet. Es schleicht sich dadurch
die Forderung eines vorauseilenden Gehorsams in Hegels Bestimmung der
Tragödie ein, die in einem Spannungsverhältnis zum dramatischen Prinzip
einer Gleichberechtigung der kollidierenden Mächte steht (vgl. Kap. 2.1).
Dieselbe Tendenz lässt sich in der liberalen Verschiebung von der Berechtigung subjektiver Freiheit zu einer kulturell begründeten, politischen
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
45
Ethik beobachten: So wie die dramatische Handlungsordnung der Tragödie in Hegels Beschreibung immer stärker an das ihr eigentlich entgegengesetzte epische Modell einer Tugendlehre von guten und schlechten Zwecken heranrückt, manifestiert sich im liberalen Kulturargument der immer
verbindlichere Appell zu einer freiwilligen Einschränkung individueller Freiheit, die der liberale Staat selbst nicht zu machen bereit ist (vgl. dazu van den
Brink 2000: 49–58). In beiden Fällen soll das Subjekt aus »einer Breite zufälliger Verhältnisse und Bedingungen« die wahrhaft gerechten, wahrhaft freien
Zwecke herausfiltern:
[In] der Tragödie [geht] das ewig Substantielle in versöhnender Weise siegend [hervor],
indem es von der streitenden Individualität nur die falsche Einseitigkeit abstreift, das Positive aber, das sie gewollt, in seiner nicht mehr zwiespältigen, affirmativen Vermittlung
als das zu Erhaltende darstellt […]. (ÄIII 527)
Was Hegel hier als das »ewig Substantielle« der Tragödie beschreibt, entspricht der kulturellen Solidaritätsvoraussetzung liberaler Ordnungsbildung. Die »nicht mehr zwiespältige, [sondern] affirmative Vermittlung«
subjektiv freier Zwecke soll freiwillig, aus vernünftiger Einsicht in die übergeordnete Gerechtigkeit der liberalen Handlungsordnung vollzogen werden. In der Konsequenz erweist sich die vorgelagerte Resignation »falsch
einseitiger« Zwecke als Bedingung ihrer Überführung in demokratische
Prozesse. Das liberale Subjekt ist zwar als Citoyen berechtigt und aufgefordert, selbstbestimmt zu handeln und seine Transformationsbegehren
mit dem Ziel ihrer politischen Verallgemeinerung in den demokratischen
Wettbewerb einzubringen. Dies gilt aber nur unter der Bedingung, dass es
dieses Begehren bereits als Bourgeois entkräftet haben wird. Nur so lassen
sich entstehende Konflikte in moderate Reformentwicklungen überführen,
ohne die liberale Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft zu gefährden.
Dem liberalen Subjekt kommt dadurch eine doppelte Aufgabe zu: Es
muss einerseits für seine subjektiv freien, selbstbestimmt formierten
Zwecke einstehen, um dem demokratischen Versprechen einer gleichen
Teilhabe in der Form ordnungsimmanenter Entwicklungen zur Einlösung
zu verhelfen. Andererseits muss es eine grundsätzliche Kompatibilität dieser Zwecke mit den bestehenden Ordnungsverhältnissen gewährleisten,
die den Bestand der liberalen Handlungsordnung sichern. In der strukturell tragisch dramatisierten Wirklichkeit der Moderne wird das Auftreten
politischer Konflikte zwar formal berechtigt, weil die demokratische Legitimation der liberalen Handlungsordnung auf einer explizit politischen
46
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Berechtigung subjektiver Freiheit beruht. Diese Berechtigung kommt aber
keiner praktischen Gewährleistung demokratischer Teilhabe gleich, weil
die aus subjektiver Freiheit erwachsenden Zwecke, die in solchen Konflikten kollidieren, privatisiert werden müssen, bevor sie im demokratischen
Wettbewerb ausgetragen werden können. Das liberale Subjekt wird, dem
tragischen Schicksal Ödipus’ entsprechend, passiviert: Bevor es sich aktiv
in die demokratische Gestaltung der Regierungsmacht einbringen kann,
muss eine passive Filterung seiner Zwecke auf der inneren Szene seiner
Subjektivität durchlaufen worden sein. In dieser uneingestandenen Voraussetzungslogik kommt das konstitutiv »asymmetrische Tragödienmodell«
(Schulte 1992: 70) Hegels zum Ausdruck, das dem Erhalt objektiver Ordnungsverhältnisse einen impliziten Primat gegenüber der stets betonten
Berechtigung subjektiver Freiheit einräumt.
Die mit dieser Beschreibung verbundene Einsicht lautet, dass die kulturelle Einschränkung subjektiver Freiheit im politischen Liberalismus in
einer strukturell tragischen Verkehrung ihres behaupteten Primats gegenüber der objektiven Ordnung resultiert: Indem die Freiheit subjektiver
Zwecke auf der der politischen Gestaltung willentlich entzogenen – im
liberalen Selbstverständnis als kulturell beschriebenen, wie sich später zeigen wird, gouvernemental regierten – Ebene der bürgerlichen Gesellschaft
eingeschränkt wird, kommt es zu einem uneingestandenen Primat der
objektiv darin herrschenden, »substantiellen« Ordnungsverhältnisse, deren
übergeordneter Erhalt vorgibt, was als »wahrhafter« Zweck in den Wettbewerb um die politische Regierung des liberalen Staates eingehen kann. Im
politischen Liberalismus waltet die Macht objektiver Ordnung entsprechend
nicht nur im stets verdächtigten Staat, sondern in der von ihm freigesetzten
bürgerlichen Gesellschaft, deren Regierung weder als solche erkannt noch
mit dem Anspruch einer selbstbestimmten kollektiven Gestaltung versehen
wird. Daher hat die – auf die Ebene des Staates beschränkte – symbolische Austragung von Konflikten im liberaldemokratischen Wettbewerb, in
dem »die Kandidaten vor den Augen der Wähler gegeneinander antreten«,
gemäß Lefort und Gauchet eine »Verdunkelung des Wirklichen« (1990: 114)
zur Folge. Das Wagnis des politischen Liberalismus besteht nicht darin,
dass die demokratische Teilhabe an einer Übermacht subjektiver Freiheit
scheitern könnte, sondern darin, dass mit der politischen Freisetzung der
bürgerlichen Gesellschaft ein im Dunkeln bleibender Mechanismus ihrer
Selbstregierung freigesetzt wird, der einen verbindlichen Maßstab der eingeforderten Zweckfilterung – und damit nichts anderes als die objektiven
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
47
Rahmenbedingungen subjektiver Freiheit – vorgibt.10 Im politischen Liberalismus herrscht das Primat einer objektiven Ordnung der bürgerlichen
Gesellschaft, die vorgibt, wie subjektive Freiheit in ihr praktiziert werden
kann.
2.3 Hegels Kritik der bürgerlichen Gesellschaft
Diese auf den ersten Blick mythisch anmutende These einer sich verdunkelnden Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, die eine im liberalen
Selbstverständnis uneingestandene Übermacht gegenüber dem Staat gewinnt, findet sich bereits in Hegels Grundlinien angelegt.11 Seine Beschreibung der damals aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft, die zwischen die
Entitäten der Familie und des Staates tritt, zeigt auf, dass die subjektive
Freiheit, die darin berechtigt wird, an der Form individueller Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet ist. Dadurch gerät sie in Widerspruch zur liberalen
Hoffnung auf eine solidarische Praxis der Selbstbeschränkung. Anders als
gemeinhin erwartet, führt die zunehmende Abhängigkeit aller von allen
10 Dies steht konträr zu Groß’ Verständnis von Isaiah Berlins »tragischem Liberalismus«. Die liberale Tragik besteht nicht darin, dass sich »keine objektiv gültige Methode finden lässt, nach der sich
die verschiedenen Werte in ihren Ansprüchen gegeneinander ausbalancieren ließen« (2002: 148),
sondern darin, dass die tatsächliche Praxis solcher Ausbalancierung gesellschaftlichen Mächten
überlassen wird, die jenseits des demokratischen Anspruchs selbstbestimmter politischer Gestaltung operieren.
11 Es gilt anzumerken, dass Hegel sich, wo er selbst vom Liberalismus spricht, nicht auf liberale
Vertragstheorien bezieht, sondern den »post-1815 French liberalism« referiert, »which for some
of its adherents drew on the principles of Jeremy Bentham’s utilitarianism« (Pinkard 2017: 135). In
seiner Diskussion der »äussere[n] Ausbreitung« des Liberalismus, dem sich gemäß Hegel »fast
alle modernen Staaten« geöffnet haben, nimmt er vor allem die Restaurationsphase der französischen Juli-Monarchie zwischen 1815 und 1830 in den Blick, die er interessanterweise als »fünfzehnjährige Farce« (VG 534) beschreibt. Eine Farce insofern, als die vordergründig liberale Charte Constitutionnelle, der sich die französische Regierung zum Zwecke ihrer Legitimation unterstellte, de facto aus der Feder einer von König Louis XVIII einberufenen Kommission stammte
und mit dem Ziel verfasst wurde, »to create the fiction that the revolution of 1789 had never really
happened and that the royal succession was continuing as if it had always been there« (Pinkard
2017: 136). Obwohl offenbleibt, ob Marx sich im Achtzehnten Brumaire an dieser Formulierung Hegels orientiert hat, um die Farce des vierzig Jahre – und drei Louis (XIX, Philippe I und für zwei
Tage dessen Enkel Philippe II) – späteren Coups von Louis Bonaparte zu beschreiben, bezeugt
die – zugegebenermaßen randständige und ohne Bezug zur poetologischen Stufenfolge auftretende – Nennung der Farce in Hegels Geschichtsphilosophie das strukturell regressive Moment
des politischen Liberalismus, vgl. Kap. 3.
48
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
gemäß Hegel nicht zu einer kulturell verankerten Solidarität, sondern zu
sich verschärfenden Exzessen der Ungleichheit, Verelendung, Vereinzelung
und Ohnmacht, die den Fortbestand der liberalen Handlungsordnung bedrohen. Weil Hegel die bürgerliche Gesellschaft in den Grundlinien – trotz
der Versöhnung mit dem preußischen Staat, in der er sie am Ende aufgehen
lässt – stets in »Wahrung ihrer Differenz« zum liberalen Staat denkt, erreichen ihre Bestimmung gemäß Henrich »eine erstaunliche Modernität […].
In ihr sind die meisten Züge der marxistischen Gesellschaftskritik schon
voll ausgebildet« (1971: 202 f., vgl. Kap. 4).
Um den politischen Liberalismus als strukturell tragische Handlungsordnung begreifbar zu machen, gilt es, Hegels Tragödientheorie im Kontext seines – in der Rezeption häufig getrennt behandelten – rechtsphilosophischen Spätwerks auszuführen. Durch eine Engführung seiner tragödientheoretischen Argumentation mit den Grundlinien lässt sich ein differenzierteres Bild des Verhältnisses von Bourgeois und Citoyen entwickeln,
das die Möglichkeiten und Grenzen politischer Handlungsfähigkeit in der
liberalen Handlungsordnung offenlegt. Dementsprechend wird im Folgenden nachvollzogen, wie Hegel die Entstehung individueller Zwecke im »System der Bedürfnisse« der bürgerlichen Gesellschaft beschreibt und weshalb
er daraus die Forderung eines religiös fundierten – nicht länger im zeitgenössischen Sinne liberalen – Staates zieht, die im letzten Schritt der Rekonstruktion als falsche Konsequenz aus einer richtigen Problembeschreibung
zu kritisieren sein wird.
In Hegels Rechtsphilosophie, so Willke, »trifft das Beste und Schlimmste
staatstheoretischer Reflexion zusammen« (1996: 17).12 Zu Beginn seiner Ausführungen begreift er die Herausbildung politischer Ordnung in der Moderne – ganz im Sinne der liberalen Programmatik – als Ordnungsbildung, in
der »das Besondere sich zur Form der Allgemeinheit erhebe, in dieser Form
sein Bestehen suche und habe« (RPh § 186: 343). An späterer Stelle heißt es:
12 Willke (1996: 11–84) schreibt ebenfalls vom liberalen Staat als Tragödie: Er beschreibt dessen Depotenzierung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft allerdings nicht als Strukturmerkmal des
politischen Liberalismus, sondern als historisch begründete Selbstaufhebung. Statt diese Entwicklung als notwendige Krise der liberalen Handlungsordnung auszuführen, versteht er sie als
weitgehend abgeschlossenen Übergang von der Tragödie des alten liberalen Staates in die Ironie eines neuen, wesentlich schwächeren neoliberalen Staates, vgl. 1996: 11–84, v.a. 84. Für eine
Kritik der dadurch implizierten These des Neoliberalismus als neuartige politische Ordnung, vgl.
Kap. 3.
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
49
Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der
Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden
zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst
diese zu erhalten. (RPh § 260: 407)
Hegel bestimmt den modernen Staat ausgehend vom Prinzip subjektiver
Freiheit. Pippin (vgl. 2008: 210) betont daher zu Recht, dass Hegels Verständnis moderner Staatlichkeit weit näher am liberalen Selbstverständnis
operiert als häufig angenommen. Dass Hegel seine Überlegungen gleichwohl in einer illiberalen Apologie des preußischen Staates gipfeln lässt, ist
kein bloßer Ausdruck konservativer Kurzsichtigkeit. Es ist der – falsche –
Schluss aus einer konzise diagnostizierten, strukturell in der bürgerlichen
Gesellschaft angelegten Exzessivität, deren Gefahr Hegel im Unterschied
zur kontrafaktischen Hoffnung liberaler Theorien ernst nimmt.
2.3.1 Das »System der Bedürfnisse« und die Freiheitsform individueller
Bedürfnisbefriedigung
Hegel begründet das Auftreten der modernen Tragödie in der Phänomenologie und der Ästhetik, korrespondierend mit dem Übergang von der
homogenen Sittlichkeit der Antike zur entzweiten Sittlichkeit der Moderne,
durch die Erweiterung des Kreises möglicher subjektiver Zwecke. Dramatische Handlungsordnungen sind gemäß Hegel dadurch bestimmt, dass
Momente subjektiver Freiheit nicht mehr unwillentlich – lyrisch – auftreten
und sofort wieder – episch – unterdrückt werden, sondern von der Handlungsordnung selbst als äußerliche Effekte ihrer eigenen Ordnungsbildung
affirmiert werden. Der liberale Staat entspricht diesem Modell insofern,
als er die individuelle Freiheit subjektiver Zwecke in der bürgerlichen
Gesellschaft durch die Form subjektiver Rechte sicherstellt. Die liberale
Handlungsordnung realisiert das geistphilosophische Programm einer gelingenden, selbstreflexiven Ordnungsbildung, indem sie die ihr äußerlichen
Effekte subjektiver Freiheit nicht länger unterdrückt, sondern ihnen einen
berechtigten Ort innerhalb ihrer Handlungsordnung zuweist: in der vom
liberalen Staat offen entzweiten bürgerlichen Gesellschaft.
Die Zwecke bürgerlicher Individuen sind allerdings nicht ganz so frei,
wie sie zunächst glauben machen. In den Grundlinien heißt es: »Die bürgerliche Gesellschaft ist vielmehr die ungeheure Macht, die den Menschen an sich
reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sei und
50
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
vermittels ihrer tue« (RPh § 238: 386). In seiner Herleitung der bürgerlichen
Gesellschaft legt Hegel dar, dass die vermeintlich freie Natur der Subjekte in
der Form individueller Bedürfnisse keine natürlich gegebene Voraussetzung
ist, sondern durch die moderne Vergesellschaftung im »System der Bedürfnisse« selbst hervorgebracht wird.
Mit Blick auf frühere Ordnungsformationen, in denen widerständige
Zwecke, wenn überhaupt, »unterirdisch« (PhG 538) in Erscheinung getreten sind, hält Hegel fest, dass sich der Kreis der Zwecke in der politischen
Moderne tatsächlich erweitert hat – die Form subjektiver Freiheit aber
nichtsdestotrotz beschränkt bleibt. Vor dem Hintergrund der strukturell
episch geordneten Polis des alten Athens führt er aus, dass der Verlust der
Einheit der antiken Sittlichkeit einen Verlust der normativen Kontexte verschiedener Zwecke anzeigt, die in die Bereiche der Familie und des Staates
aufgeteilt waren. Im Zuge der Moderne werden die tradierten Sitten und
Gebräuche, die den normativen Zusammenhang des Gemeinwesens bis
dahin organisiert hatten, durch ein gesellschaftlich vermitteltes »System
der Bedürfnisse« abgelöst, wodurch sich den Einzelnen zwar ein größerer,
aber gleichwohl beschränkter Kreis möglicher Zwecke eröffnet.
Gemäß Hegel können die Einzelnen – die das liberale Selbstverständnis
schlicht als natürlich gegebene Individuen voraussetzt – erst in und durch
ihre Abhängigkeit von anderen zu modernen Individuen werden. Denn die
Mittel der Befriedigung ihrer Bedürfnisse, auf der ihr moderner Subjektstatus gründet, werden auf Grundlage einer gesellschaftlich vermittelten
Arbeitsteilung hergestellt, die den Gesamtzusammenhang der bürgerlichen
Gesellschaft konstituiert. Hegel begreift es als historische Errungenschaft
der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie den Einzelnen ihre »ursprünglichen,
d.i. unmittelbaren Erwerbungsarten« (RPh § 217: 370) entzieht und sie in
ein gesellschaftlich vermitteltes »System der Bedürfnisse« einträgt. Diese
Eingliederung verspricht einerseits eine durch die Allgemeinheit vermittelte Befriedigung individueller Bedürfnisse, die Hegel als Voraussetzung
der Entwicklung eines selbstbestimmten modernen Subjektstatus versteht.
Wie Marx herausstellt, zwingt sie die von ihren ursprünglichen Erwerbungsarten Enteigneten aber andererseits dazu, zur Gewährleistung ihrer
Subsistenz ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft setzt ein zu »Vagabunden gemachte[s] Landvolk« voraus,
das durch »grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert«
wurde. Nachdem ihnen die Möglichkeit der selbstbestimmten Subsistenz
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
51
genommen und deren Gewährleistung durch eine Verallgemeinerung gegenseitiger Abhängigkeit im »System der Bedürfnisse« durchgesetzt wurde,
bedurfte die soziale Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft weit weniger unmittelbarer Gewalt. Seit es außerhalb dieser Gesellschaft keine Subsistenzsicherung mehr gibt, sorgt der »stumme Zwang der ökonomischen
Verhältnisse« (Marx 1968: 765) dafür, dass die Einzelnen sich ins System
bürgerlicher Vergesellschaftung eingliedern (vgl. Amlinger, Nachtwey 2022:
47). Obschon Hegel selbst keine explizite Kritik der politischen Ökonomie
entwickelt hat, bezeugen seine Ausführungen der bürgerlichen Gesellschaft
in den Grundlinien bereits die Grundstrukturen eines Systems allgemeiner
arbeitsteiliger Abhängigkeit, in dem der Beitrag der Einzelnen zur Befriedigung der Bedürfnisse aller so erscheint, als wäre er ein bloßer Effekt des
Strebens nach der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse (vgl. Smith 2015).
In der bürgerlichen Gesellschaft werden soziale Beziehungen durch den
Austausch von Waren vermittelt, da dieser Austausch nach dem Verlust
vormoderner Praktiken der Subsistenzsicherung den Zugang zu den Existenzbedingungen individueller Bedürfnisbefriedigung reguliert (vgl. von
Redecker 2020b: 41–57). Der marktförmige Umlauf dieser Waren bringt
Standards und Anforderungen hervor, die die Produzent:innen erfüllen
müssen, um zu überleben (vgl. Hirsch 1995: 17 f.). Um nicht mehr als die gesellschaftlich notwendige Zeit für die Produktion einer Ware aufzuwenden,
sehen sie sich gezwungen, kompetitive Technologien und Organisationsformen zu übernehmen, die auf einer möglichst effizienten Ausbeutung der
investierten Arbeitskraft gründen.13 Die Einzelnen können die Befriedigung
ihrer individuellen Bedürfnisse entsprechend nur sichern, indem sie sich
den ökonomischen Verhältnissen fügen. Mit anderen Worten: In der bürgerlichen Gesellschaft setzen die Bewegungsgesetze eines instabilen Marktes
gemessen am Wert produzierter Waren die Bedingungen fest, unter denen
die Einzelnen – nach Maßstab ihrer jeweiligen Rolle im Gesamtgefüge
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – Zugang zur Befriedigung ihrer Be13 Da der autodynamische Verwertungsimperativ auf der Abschöpfung vom Mehrwert der investierten Arbeitskraft basiert, operiert er nur scheinbar selbstständig. Die soziale Vermittlung der
bürgerlichen Gesellschaft durch die Verwertung von Wert bedeutet daher nichts anderes als ihre
Vermittlung durch abstrakte, am Maßstab ihrer möglichst effizienten Ausbeutung organisierte
Arbeit, vgl. Postone 1993: 151. Zentral ist, dass der Verwertungsimperativ nicht nur die im strengen Sinne ökonomische Sphäre der Produktion organisiert, sondern indirekt auch sämtliche Bereiche ihrer sozialen Reproduktion prägt, von »households, neighborhoods, civil-society associations« bis zu »informal networks, and public institutions such as schools« (Fraser 2017a: 23).
52
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
dürfnisse erhalten (vgl. Heinrich 2014: 257 f.). Die daraus resultierende
»Bereicherung des Kapitalisten« ist, wie Heinrich darlegt, »genauso wenig
Zweck« der bürgerlichen Gesellschaft »wie die Reproduktion der Arbeitskräfte, beides ist nur Abfallprodukt der Verwertung« (2012: 29; vgl. dazu
auch Osborne 2004: 27), welche die Bedürfnisbefriedigung organisiert.
In der marxistischen Theoriebildung wird die Form sozialer Vermittlung
und gesellschaftlicher Kohäsionsstiftung durch die Logik der Verwertung
daher als abstrakte Herrschaft beschrieben, die das soziale Verhältnis einer
allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den Menschen, das die
bürgerliche Gesellschaft konstituiert, als sachliche Beziehung zwischen
Menschen und Dingen zur Darstellung bringt (vgl. Adamczak 2017: 267 f.;
Mau 2023: 185 f.; von Redecker 2020b: 55).14
Der liberalen Logik der Ausdeutung von subjektiver Freiheit als individuelle Bedürfnisbefriedigung zufolge schaut zu allen, wer zuerst für sich selbst
schaut. In Hegels Formulierung: »In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse« soll die »subjektive
Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen
um[schlagen]« (RPh § 199: 353). Dadurch wird die Freiheit der Subjekte bereits auf Ebene der Zweckfindung und -formierung eingeschränkt. Sie kann
nur als Effekt des marktförmigen »Systems der Bedürfnisse« hervorgebracht
werden, d.h. in der Form von Zwecken zur individuellen Bedürfnisbefriedigung, die gesellschaftlichen Rationalitätsstandards entsprechen müssen.
Hegel zeigt, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht bloß natürlich
vorgegebene Bedürfnisse vermittelt, sondern ein System aufeinander verwiesener Tätigkeiten etabliert, indem Bedürfnisse immer schon zerlegt,
unterschieden, vervielfältigt worden sind (vgl. RPh § 190: 348), bevor sie
von den Subjekten in die Form partikularisierter Zwecke gebracht werden
können. Folgt man Hegels geistphilosophischer Argumentation, müssen die
14 Wie Habermas darlegt, handelt es sich bei der Erschließung der bürgerlichen Gesellschaft auf
Grundlage der politischen Ökonomie nicht um eine argumentative Ablenkung von den Prämissen der liberalen Theoriebildung. Die liberale Naturrechtskonstruktion hat »selber die Politische
Ökonomie als Probierstein ihrer Wahrheit betrachtet: Die Naturgesetze der Gesellschaft sollten
die Versprechen der Naturrechte des Menschen einlösen. Wenn daher Marx jetzt der Politischen
Ökonomie nachweisen konnte, daß der freie Verkehr der Privateigentümer untereinander einen
chancengleichen Genuß der persönlichen Autonomie für alle Individuen notwendig ausschließt,
so hatte er zugleich den Beweis geliefert, daß den formalen und generellen Gesetzen der bürgerlichen Privatrechtsordnung die prätendierte Gerechtigkeit ökonomisch versagt bleiben muß«
(1971: 115).
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
53
Zwecke des Bourgeois als äußerliche Effekte der liberalen Ordnungsbildung
verstanden werden, in die ihre praktische Verwirklichung eingetragen ist.
Sie sind nicht gänzlich frei, sondern stehen als äußerliche Freiheitseffekte
der liberalen Handlungsordnung immer in – teils auch negativem – Bezug
zur marktförmigen Arbeitsteilung, die die bürgerliche Gesellschaft strukturiert. Obschon der liberale Staat die subjektive Freiheit der Einzelnen
explizit als Voraussetzung und Grenze seiner Regierungsmacht begreift,
ist es dieser liberale Staat, der der subjektiven Freiheit ihre bürgerlichindividuelle Form gibt:
Denn wenn die Freiheit der Einzelnen einerseits die Voraussetzung des Staates ist, ist sie
durch den Staat hervorgebracht: Es gibt sie nicht von selbst oder von Natur aus; die individuelle Freiheit ist ein politischer Effekt. (Menke 2019: 181)15
Die individuelle Freiheit der Einzelnen ist als äußerlicher Effekt staatlicher
Ordnungsbildung zu verstehen, der sich in der bürgerlichen Gesellschaft
verwirklicht; ein Effekt, den der liberale Staat zwar hervorbringt, aber inhaltlich nicht reguliert, weil er ihn durch die naturrechtliche Begründung
der gleichen subjektiven Freiheit aller naturalisiert. Dass sich subjektive
Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft als individuelle Freiheit verwirklicht, heißt nicht, wie das liberale Selbstverständnis behauptet, dass diese
Freiheit gänzlich frei, weil vor politischen Eingriffen geschützt wäre, sondern dass sie im politischen Liberalismus willentlich einer impliziten, mit
Lefort gesprochen: einer verdunkelten Regulierung durch die kapitalistisch
vermittelte Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft überlassen wird.
Hegels implizite Kritik am liberalen Selbstverständnis lautet, dass es sich
blind macht für die konstitutive Rolle gesellschaftliche Arbeitsteilung in der
bürgerlichen Gesellschaft und die daraus resultierende Begrenzung subjektiver Freiheit auf individuelle Bedürfnisbefriedigung. In der liberalen Theoriebildung wird der historische Formwandel des Mediums gesellschaftlicher
Integration von einer tradierten, umgreifenden Sittlichkeit zum modernen,
arbeitsteiligen »System der Bedürfnisse« nicht als politisch gewollte Hervorbringung einer staatlich abgesicherten kapitalistischen Ökonomie zur Darstellung gebracht. Er erscheint ausschließlich als Freiheitsgewinn auf nor-
15 Anders formuliert: Würde die bürgerliche Gesellschaft nicht explizit durch den liberalen Staat
freigesetzt, könnte sie ihre marktförmige Vermittlung sozialer Beziehungen nicht erhalten: »Ohne die Form der subjektiven Rechte«, so das Programm von Menkes Kritik der Rechte »kein Kapitalismus« (2015: 311, vgl. dazu auch Pistor 2020: 327).
54
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
mativer Ebene, als überfällige Auflösung von sittlicher Unfreiheit in der vermeintlich natürlichen Freiheit individueller Bedürfnisse.
In kritischer Ausführung desselben Arguments hält Marx fest: »Der
Mensch, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist […] erscheint […]
notwendig als der natürliche Mensch« (1970: 369). Das damit verbundene
Problem liegt in der Fragwürdigkeit dieser Natürlichkeit. Anders als Berlin,
der die individuellen Freiheitsrechte der bürgerlichen Gesellschaft dadurch
begründet, dass die Freiheit der Einzelnen nicht durch äußere Zwänge
beschnitten werden darf, verweisen Hegel und Marx auf die Gefahr innerer Zwänge, die die bürgerliche Vergesellschaftung aus sich selbst heraus
hervorbringt. In diesem Sinne konstatiert Marx, dass die naturrechtlich
legitimierte Französische
Revolution […] das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf[löst], ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis. (1970: 369)
Die Konsequenz, der von Hegel vorbereiteten und von Marx ausgeführten
Kritik der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft, lautet nicht,
dass es im politischen Liberalismus in Wirklichkeit keine subjektive Freiheit
gäbe, dass das erhobene Versprechen bloß normative Ideologie sei und seine Funktionsweise stattdessen unmittelbar aus ökonomischen Strukturen
abgeleitet werden sollte. Sie lautet bescheidener, dass die individuelle Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft immer schon beschnitten und durch
die abstrakte Herrschaft marktförmiger Verwertungsimperative vorgeformt
ist. Die Hervorbringung gesellschaftlich bedingter, aber individuell erscheinender Bedürfnisse wird durch die Naturalisierung menschlicher Pluralität,
die dem liberalen Freiheitsversprechen zugrunde liegt, verdunkelt. Denn die
liberale Theoriebildung versteht nicht, dass die arbeitsteilig hervorgebrachten, individuellen Bedürfnisse gleichzeitig in historisch bis dahin unbekanntem Maße frei und beschränkt sind. Sie übersieht, dass sich in der individuellen Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht die Form, sondern eine
Form subjektiver Freiheit verwirklicht.
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
55
2.3.2 Die Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft
Die Sorge, die Hegel im Zuge seiner Analysen der bürgerlichen Gesellschaft
umtreibt, betrifft das destruktive Potenzial, das er in der liberalen Formbestimmung subjektiver Freiheit als individuelle Bedürfnisbefriedigung verortet. Dass die Zwecke der Einzelnen nur vermittelt durch die kapitalistische
Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebracht werden können, führt gemäß Hegel zu einer Willkürfreiheit, die er als Grund für die systemisch bedingte Instabilität der liberalen Handlungsordnung begreift. Für
Hegel ist klar, dass die liberale Freisetzung des »Systems der Bedürfnisse«
in zunehmender Ungleichheit, Vereinzelung, Verelendung und Ohnmacht
resultieren muss. Dies ist der Grund, warum Hegel die Grundlinien mit der
Legitimierung eines christlich fundierten Staates abzuschließen versucht,
dessen Aufhabe es ist, die Exzesse bürgerlicher Willkürfreiheit abzuwenden.16
Die liberale Handlungsordnung zeichnet sich gemäß Hegel dadurch
aus, dass sich die Besonderheit individueller Zwecke in der bürgerlichen
Gesellschaft in einer »nach allen Seiten auslassende[n] Befriedigung« individueller Bedürfnisse in »zufälliger Willkür und subjektive[m] Belieben«
realisiert. In dieser bürgerlich »selbständigen Entwicklung der Besonderheit« kündigt sich Hegel zufolge der »letzte Grund des Untergangs« der
liberalen Handlungsordnung an, weil die Form der Berechtigung subjektiver Freiheit als ausgelassene Befriedigung individueller Bedürfnisse
den liberalen Staat früher oder später zu zerstören droht. Im Kontext der
bürgerlichen Arbeitsteilung erweist sich die liberale Ausdeutung des revolutionären Versprechens der gleichen Freiheit aller in der Form einer
gleichen Rechtsfreiheit als staatliche Stabilisierung eines Systems sozialer
16 Ein anderer, in Hegel verankerter Argumentationsstrang, auf den mit Blick auf die Problematik der Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft häufig verwiesen wird, ist die Konzeption sozialer Freiheit. Das Problem, das mit der Idee eines sittlich verankerten Rechts auf Freiheit (Honneth 2013) einhergeht, liegt Pippin folgend darin, dass die »Freiheitsversprechen der Moderne«,
die dem »Individuum in all seinen legitimen Freiheiten zum Recht in der sozialen Ordnung […]
verhelfen soll[en]« (Honneth 2013: 118), nicht in der Form von Rechtsansprüchen realisiert werden können – »they are the condition for the actuality of such claims« (Pippin 2008: 257). Anders
formuliert: Eine soziale Verrechtlichung der Solidaritätspraktiken, durch die die liberale Handlungsordnung gesichert werden soll, kann ihrerseits nicht in der Form der liberalen Rechtsordnung durchgesetzt werden, weil diese Praktiken ihr, wie Böckenförde richtigerweise offenlegt,
vorausgesetzt sind, vgl. Kap. 2.2.3.
56
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Ungleichheit. Aufgrund der ökonomischen Verwertungsimperative, die die
sozialen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft vermitteln und formen, führt die liberale Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft, die diese
Beziehungen vor politischen Eingriffen schützen soll, in ein »Schauspiel
ebenso der Ausschweifung [wie] des Elends« (RPh § 185: 341). Wie Hegel zu
einem historisch bemerkenswert frühen Zeitpunkt beobachtet, führt die
»Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit« nicht wie erhofft dazu, dass
»die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse
aller anderen um[schlägt]« (RPh § 199: 353). Im Gegenteil:
Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse
und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die
Anhäufung der Reichtümer […] auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not
der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des
Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen
Gesellschaft zusammenhängt. (RPh § 243: 389)
In seiner Beschreibung der Unfähigkeit des Genusses seitens der arbeitenden Bevölkerung zeigt Hegel, inwiefern die Arbeitsteilung im »System der
Bedürfnisse« mit einer uneingestandenen Teilung der Bedürfnisberechtigung einhergeht, die den Arbeitnehmenden den Genuss geistiger wie materieller Güter entzieht. Er schildert die Organisation individueller Bedürfnisbefriedigung damit ähnlich wie später Marx: Ohne seine Kritik bürgerlicher
Vergesellschaftung bereits in ein politökonomisches Vokabular einzutragen,
begreift Hegel Not und Elend nicht als sozialontologisches Phänomen, sondern als Resultat der historischen Hervorbringung einer Klasse von Arbeiter:innen, die ihre Arbeit zu Marktkonditionen verkaufen müssen, um überleben zu können. Deren Armut wird nicht länger auf natürliche Umstände
wie schlechte Ernten oder die Despotie gemeiner Fürsten zurückzuführen
sein, sondern als systemische Konsequenz einer gemäß der liberalen Rechtsordnung gleichen und freien Arbeitsteilung zur Darstellung gebracht.
Der weitgehende Verlust der unabhängigen Subsistenz im Zuge der Industrialisierung, die Marx unter den Nenner der ursprünglichen Akkumulation stellt, führt gemäß Hegel zu einem
Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise […] –
und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch
eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen –, [was] die Erzeugung des Pöbels hervor[bringt],
die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in
wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt. (RPh § 244: 389)
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
57
In dieser berühmten Passage, die Henrich zur Behauptung verleitet, dass
Marx nicht nur »in seinem systematischen Problem, sondern auch in seinen
konkreten Analysen […] ein Schüler Hegels gewesen« (1971: 203; vgl. dazu
auch Ruda 2011: 23–35) sei, legt Hegel dar, welche sozialen Konsequenzen
die liberale Freisetzung individueller Bedürfnisbefriedigung in der bürgerlichen Gesellschaft zeitigt. Aufgrund seiner gleichzeitigen politischen
Freisetzung und rechtlichen Absicherung durch den liberalen Staat bringt
das »System der Bedürfnisse« einen Zustand hervor, in dem einige wenige über die Subsistenzmittel vieler anderer verfügen und die rechtlich
gleichgestellte Freiheit aller faktisch zur Unterdrückung der Freiheit der
Besitzlosen führt.
Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche
Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug
besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern. (RPh § 245:
390)
In anderer Formulierung lautet Hegels These, dass die bürgerliche Gesellschaft keine Solidaritätspraxis hervorbringen kann, welche die soziale
Einlösung des Versprechens der gleichen Freiheit aller garantieren könnte, indem sie die marktförmigen Imperative kapitalistischer Verwertung
eindämmt und der Ausbeutung der arbeitenden Klasse dadurch Schranken
setzt. Die Entwicklung eines »eigentümliche[n] Vermögen[s]« bürgerlicher Solidarität, von dem die liberale Theoriebildung hofft, dass sie durch
kulturelle Bildung und eine freiwillige ethische Selbstbeschränkung hervorgebracht werde, wird durch ebenjene arbeitsteilige Organisation der
bürgerlichen Gesellschaft verstellt, deren Exzesse sie abwenden soll. Denn
die rechtliche Absicherung des bürgerlichen Diktums, dem zufolge die
subjektive Selbstsucht der Einzelnen aufgrund ihrer gegenseitigen Abhängigkeit in einen Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller umschlägt,
sichert im gleichen Zug die abstrakte Herrschaft jener marktförmig vermittelten Verwertungsimperative, die es den Einzelnen verunmöglichen,
ihre Zwecke ethisch einzuschränken, ohne ihre Bedürfnisbefriedigung
grundsätzlich zu gefährden. Gemäß Hegel führt ausgerechnet jene Form
der staatlich gesicherten Rechtsgleichheit, die das normative Versprechen
der Gleichheit und Freiheit im politischen Liberalismus verwirklicht, dazu,
dass das kulturell verankerte »Gefühl des Rechts, der Rechtlichkeit und der
Ehre« verlustig geht.
58
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
In der marxistischen Theoriebildung wird diese Einsicht in die strukturell bedingte Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Krisentheorie der kapitalistischen Produktionsweise weiterentwickelt, die darlegt, warum die Instabilität der Verwertungslogik nicht in einen Kollaps der liberalen Handlungsordnung führt, sondern zu ihrer Stabilisierung beiträgt (vgl.
Clarke 1993). Gemäß Mau muss die kapitalistische Produktionsweise in periodischen Abständen Krisen der Überproduktion hervorbringen, weil das individuelle Expansionsinteresse einzelner Kapitaleigentümer:innen im Widerspruch zum Selbsterhaltungsinteresse der Märkte steht, die nicht unendlich expandieren können:
In the capitalist mode of production, the production of useful things is subordinated not
only to the production of value, but to the valorisation of value, and the mute compulsion
of competition forces individual capitals to produce without regard for the limits of the
market, like a stuck gas pedal in a car heading towards a cliff. (2023: 307)
In der Konsequenz kommt es zu regelmäßigen Wirtschaftskrisen, die durch
eine Vernichtung von überschüssigem Kapital und einer Erhöhung des
Lohndrucks sicherstellen, dass die Kapitalakkumulation effizient fortgeführt werden kann. Solche Wirtschaftskrisen führen entsprechend nicht
automatisch zu einer politischen Infragestellung der liberalen Handlungsordnung, wie der junge Marx noch hoffte. Die darin zum Ausdruck
kommende Exzessivität der bürgerlichen Vergesellschaftung ist ein notweniger Ausgleichsmechanismus des der Verwertungslogik inhärenten
Widerspruchs zwischen Expansion und Selbsterhaltung, der genauso gut
folgenlos bleiben oder gar zu einem Abbau sozialrechtlicher Regulationsmechanismen führen kann. Der späte Marx hält daher im dritten Band des
Kapitals fest: »Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen
der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte
Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen« (1983: 259).17
Um der Gefahr, die sich aus der diagnostizierten Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft ergibt, etwas entgegenhalten zu können, entwirft Hegel in den Grundlinien das Modell eines christlich fundierten Staats, das er
im protestantischen Preußen seiner Zeit gelingend realisiert sieht. Aufgabe
dieses Staates ist es, die Gegensätze zwischen Besitzenden und Besitzlosen
17 Dass Krisen in diesem Sinne systemstabilisierend sind (vgl. Mau 2023: 317; O’Kane 2022), ist das,
was akzelerationistische Ansätze übersehen, wenn sie behaupten: »the only way out of capitalism
is through it« (bspw. Shaviro 2014, für eine Kritik, vgl. Alphin 2023: 111–118).
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
59
zu schlichten, indem der Besonderheit der Einzelnen durch das christliche
Freiheitsversprechen eine Form gegeben wird, die zugleich ein Bewusstsein
substanzieller Einheit hervorbringt (vgl. Bayer 2021: 87; Ruda 2011: 23; Yildiz 2008: 119). Im Unterschied zu liberalen Denker:innen konstatiert Hegel,
dass die Konstitution bürgerlicher Solidarität einer Motivation bedarf, die
sich nicht in der Abstraktion eines gerechten Staates erschöpfen kann, der
aus vernünftigen Gründen nicht abgelehnt werden kann.
[T]he additional motivation for giving allegiance to such an abstraction had to come from
the appropriate religion as the realm of »feeling« or »passion« so that a workable conception of a wider, shared good could get a grip within the fragile psychologies of individual
people. (Pinkard 2017: 164)
Weil die subjektive Freiheit der Einzelnen durch ihre liberale Formgebung zu
sozialen Exzessen führt, sieht Hegel die Aufgabe der fortgeschrittenen politischen Moderne darin, »die subjektive Freiheit auf die absolut objektive, auf
die göttliche Subjektivität zurück[zuführen]« (Theunissen 1970: 409).18 Dadurch glaubt er eine christliche Solidaritätspraxis begründen zu können, die
es vermag, die bürgerliche Gesellschaft nachhaltig zu stabilisieren. Gewährleistet wird diese Praxis durch einen Staat, der seine Regierungsmacht zugunsten einer substanziellen Sicherung und Stärkung protestantischer Sittlichkeit einsetzt.
Wie Marx (1976b) in seiner Kritik der Grundlinien zeigt, scheitert dieses
Modell an Hegels eigenem Programm eines modernen Staates, der es vermögen können soll, die subjektive Besonderheit der Einzelnen zu wahren
und sie gleichsam in eine substanzielle Einheit zu fügen. Marx legt darin
dar, dass das Vermögen zur selbstbestimmten Handlung, das Hegel als
Grundlage einer durch subjektive Rechte vermittelten liberalen Handlungsordnung ausweist – Grund des Rechts ist das »Dasein des freien Willens«
(RPh § 29; 79) –, gemäß Hegels eigener Definition subjektiver Freiheit nicht
äußerlich, d.h. auch nicht durch ein staatlich verbürgtes Gleichheitsversprechen Christus’, an die bürgerliche Gesellschaft herangetragen werden
kann.19 Indem Hegel, den »Himmel auf die Ebene weltlicher Herrschafts-
18 Diese Argumentationsfigur ist nicht so anachronistisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen
mag: Mit Rosas Demokratie braucht Religion (2022) wurde sie jüngst wieder politisch aktualisiert,
vgl. dazu Özmen 2023: 33 f.
19 Marx’ Kritik überzeugt insbesondere mit Blick auf Stellen, in denen Hegel zur Legitimation seiner Staatstheorie ein metaphysisches Naturverständnis heranzieht, das hinter seine geistphilosophischen Begriffsbestimmungen subjektiver Freiheit zurückfällt, so z.B. in RPh § 280 und
60
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
verhältnisse« (Theunissen 1970: 446) projiziert, verwechselt er nicht nur
Sein und Sollen. Er redet einem »emanzipationsfeindlichen, reaktionären
Staatskult« das Wort, der die von »Gott angebotene Versöhnung« mit einem,
jeder politischen Begründung entbehrenden, »Versöhntsein bestehender
Weltwirklichkeit« (1970: 447) gleichsetzt (vgl. dazu auch Avineri 1976; Habermas 1985: 52 f.). Mit Wallat gesprochen, besteht der »eigentliche Skandal
der hegelschen Philosophie« darin, dass er die eigens diagnostizierte Exzessivität der bürgerlichen Gesellschaft in seiner Staatsphilosophie sogleich
wieder »mit den höheren Weihen metaphysischen Glorienscheins« (2009:
71) zu verschleiern versucht.20
2.4 Die zwei Ebenen bürgerlicher Selbstregierung
Hegel folgend wurde dargelegt, dass die liberale Formgebung subjektiver Freiheit als individuelle Bedürfnisbefriedigung nicht zu der erhofften
gleichen demokratischen Teilhabe aller führt, sondern ein marktförmig
vermitteltes »System der Bedürfnisse« hervorbringt, das sich einer selbstbestimmten politischen Gestaltung entzieht. Dies ist darauf zurückzuführen,
dass der liberale Staat, indem er die individuelle Freiheit der Einzelnen
voraussetzt, zugleich voraussetzen muss, »daß [diese] Freiheit sich reguliert
oder sich selbst regiert« (Menke 2019: 190). Denn die Vorstellung, dass die
bürgerliche Gesellschaft nicht regiert würde, weil der liberale Staat willentlich davon absieht, sie politisch zu regieren, ist ein Fehlschluss: Sie wird nicht
nicht regiert, sie wird anders regiert. Im liberalen Selbstverständnis soll diese Selbstregierung durch eine verantwortungsvolle Filterung individueller
Zwecke seitens der Subjekte zustande kommen. Vor dem Hintergrund
des bereits von Hegel beobachteten Scheiterns bürgerlicher Solidarität
§ 281: 449–454; vgl. dazu Wolff 2004. Marx hat allerdings die Tendenz, den liberalen Staat als
bloße Folge der Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft darzustellen, wodurch die politische
Rolle ihrer Freisetzung durch ebendiesen Staat verdunkelt wird.
20 Weil sich Hegels theologische »Begründung« seiner Staatstheorie als am wenigsten anschlussfähiger Teil seiner politischen Philosophie erwiesen hat, haben zahlreiche Autor:innen sich der
Aufgabe der Formulierung einer demokratischen Sittlichkeit nach Hegel angenommen. Diese
soll den geistigen Setzungscharakter präsent halten, den er in seiner Geistphilosophie begrifflich überzeugend ausgeführt, in seiner Staatstheorie aber zugunsten einer metaphysischen Argumentation aufgegeben hat, vgl. bspw. Khurana 2017: 474; Honneth 2013: 470–474; Wellmer 1993:
28.
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
61
angesichts der objektiven Verwertungsimperative kapitalistischer Arbeitsteilung, bedarf es einer anderen Beschreibung subjektiver Selbstregierung:
Statt einer verantwortungsvollen und ausgeglichenen Bedürfnisbefriedigung führt das »System der Bedürfnisse« zu einer Übermacht abstrakter
Herrschaftsverhältnisse aus der eine Kultur subjektiver Anpassung erwächst, welche die Exzesse der bürgerlichen Vergesellschaftung reguliert,
indem es sie normalisiert.
Die Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft greift dementsprechend auf zwei Ebenen, die in der folgenden Darstellung unterschieden
werden, obwohl sie in der Praxis ineinandergreifen: die Selbstregierung
bürgerlicher Institutionen und die korrespondierende Selbstregierung der
Subjekte (vgl. Heller 2018: 336). In der zweitgenannten Form bezieht sich
das Selbst bürgerlicher Selbstregierung auf das Selbst der Subjekte in der
bürgerlichen Gesellschaft, in der erstgenannten auf das ordnungstheoretisch bestimmbare Selbst dieser Gesellschaft, das sich im »System der
Bedürfnisse« reproduziert: Die bürgerliche Gesellschaft regiert sich als
Ganze selbst.
Im Folgenden wird das Verhältnis dieser beiden Ebenen in Rekurs auf
Foucaults Kritik der Gouvernementalität ausgeführt, die die Verklammerung der objektiven Regierung des Gouvernements mit der Mentalität
regierter Subjekte in den Blick nimmt (vgl. Saar 2011: 38 f.). Eine Orientierung an Foucault ermöglicht es, die bereits über Hegel und Marx erläuterte
objektive Ebene bürgerlicher Selbstregierung durch eine Analyse kultureller Normalisierung zu ergänzen und das Verhältnis beider Ebenen als
Verhältnis einer asymmetrischen gegenseitigen Voraussetzung zu bestimmen. Denn wie sich zeigen wird, manifestiert sich die spezifisch tragische
Struktur liberaler Ordnungsbildung in der beidseitigen Voraussetzung
subjektiver und objektiver Praktiken bürgerlicher Selbstregierung.
Im Folgenden soll zunächst Foucaults Theorie der Gouvernementalität
aufgegriffen werden, um die daraus erwachsenden Potenziale, ebenso wie
ihre Beschränkungen für ein auf beiden Ebenen operierendes Verständnis bürgerlicher Selbstregierung herauszustellen (Kap. 2.4.1). Nachdem
in einem ersten Schritt die politiktheoretische Implikation der objektiven
Selbstregierung dargestellt (Kap. 2.4.2) und die daraus resultierende tragische Selbstvergessenheit des politischen Liberalismus rekapituliert wird
(Kap. 2.4.3), wird in einem zweiten Schritt das Phänomen einer kulturell
vermittelten Normalisierung in den Blick genommen. Dafür wird die subjektive Ebene bürgerlicher Selbstregierung Foucault folgend in Abgrenzung
62
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
von der affirmativen Überformung ihres Kulturcharakters in der liberalen
Theoriebildung erschlossen (Kap. 2.4.4), was es erlaubt, die Erfahrung einer
Ohnmacht gegenüber der vermeintlich natürlichen Gerechtigkeit bürgerlicher Vergesellschaftung in Referenz auf Hegels Verständnis tragischer
Gerechtigkeit zu erläutern (Kap. 2.4.5), um dann im nächsten und letzten
Schritt die übergreifend tragische Struktur liberaler Ordnungsbildung
herauszuarbeiten (Kap. 2.5).
2.4.1 Foucaults Kritik der Gouvernementalität
Mit Foucault lässt sich die politische Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft durch den liberalen Staat als Hervorbringung einer gouvernementalen Praxis ihrer Selbstregierung beschreiben. In seiner Analyse (neo)liberaler Regierungspraktiken führt er den Begriff des gouvernementalen Regierens dementsprechend als Gegenbegriff zum souveränen staatlichen Regieren ein. Anders als das souveräne Regieren, das auf der demokratisch legitimierten Bühne des Staates offen in Erscheinung tritt, vollzieht sich das gouvernementale Regieren unsichtbar in der politisch verdunkelten Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Im Unterschied zu Foucault, der die Gegenüberstellung von souveränem und gouvernementalen Regieren als Logik
einer historischen Entwicklung vom Liberalismus zum Neoliberalismus begreift (vgl. Brown 2015: 52–88; Saar 2011), wurde in der vorausgehenden Rekonstruktion des politischen Liberalismus ausgehend von Hegel und Marx
dargelegt, dass die uneingestandene Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft als Gegenseite staatlichen Regierens in der Struktur der liberalen
Handlungsordnung angelegt ist.21 Foucault zufolge fasst Gouvernementalität
[d]ie Gesamtheit, die von den Anweisungen, Verfahren, Analysen und Reflexionen, Kalkülen und Taktiken gebildet wird, die es erlauben, diese sehr spezifische und zugleich sehr
komplexe Form der Macht auszuüben. (1978: 655)
Aufschlussreich ist diese Bestimmung, weil Foucault im Unterschied zum
liberalen Selbstverständnis nicht die individuellen Zwecke der Einzelnen
als natürlichen Ausgangspunkt der inneren Regulierung der bürgerlichen
21 Der Neoliberalismus ist dementsprechend auch nicht als neue politische Ordnung, sondern als
immanente Radikalisierung des Liberalismus zu verstehen (vgl. Kap. 3.3).
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
63
Gesellschaft begreift, sondern das Prinzip bürgerlicher Gouvernementalität dadurch bestimmt, dass sie »als ihren Effekt […] produzier[t], was sie
als existierend beschreibt« (Lemke 1997: 171). Foucault legt dar, dass die
bürgerliche Gesellschaft die individuellen Bedürfnisse, die sie nur zu schützen und zu befriedigen vorgibt, selbst hervorbringt.22 Er rekonstruiert die
dem liberalen Individuum zugrundeliegende Vorstellung eines empirisch
vorausgesetzten Interessensubjekts, dessen gewollte Zwecke als »zugleich
unmittelbar und absolut subjektiv« (2004: 375) erscheinen. Tatsächlich werden diese Zwecke jedoch erst durch die »Kunst des liberalen Regierens« als
Zwecke der individuellen Bedürfnisbefriedigung hervorgebracht, indem
»an die Stelle einer äußerlichen Begrenzung […] eine interne Regulation«
(Lemke 1997: 172; vgl. dazu auch Loick 2013: 308 f.) tritt. Foucault zeigt,
dass die liberale Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft nicht mit der
»Abwesenheit eines Koordinations- und Regulationsinteresses« einhergeht,
sondern dass »das Element der Freiheit die Notwendigkeit ihrer Abstimmung und Steuerung« (Lemke 1997: 183) im Gegenteil verschärft.
Dabei unterscheidet er die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft dadurch von früheren Regierungsformen, dass sie
nicht länger auf offenen Zwang und direkte Gewaltausübung setzt. Gouvernemental ist eine Regierungspraxis allerdings nicht, weil sie auf offene
Gewaltmittel verzichten würde, sondern weil sie sich nicht als Politik im
demokratischen Sinne – der gleichen und freien Teilhabe aller in Form
einer selbstbestimmten Gestaltung geteilter Praxis –, sondern als »unsichtbare […] Politik« (Möllers 2020: 115) verwirklicht. Nach Foucault können
die Dispositive der bürgerlichen Gesellschaft – Erziehung, Wissenschaft,
22 Hegel beschreibt die innere Regulierung der bürgerlichen Gesellschaft in den Grundlinien in Referenz auf den Begriff der Polizei, den er von dem des Staates unterscheidet: »Die polizeiliche
Aufsicht und Vorsorge hat den Zweck, das Individuum mit der allgemeinen Möglichkeit zu vermitteln, die zur Erreichung der individuellen Zwecke vorhanden ist« (RPh § 236: 385; vgl. dazu
Menke 2019: 185). Damit geht nicht nur ein Problem terminologischer Art einher, weil Hegels
Begriff der Polizei eine Verwechslungsgefahr innewohnt; nicht nur mit dem Alltagsverständnis
von Polizei, sondern auch mit Foucaults Polizeiverständnis, das in Opposition zur liberalen Regierungskunst steht, sowie mit Rancières (2014) Konzeption der Polizei, die als begriffliches Gegenteil zur demokratischen Politik subjektiver Freiheit dient. Hegels Verständnis polizeilicher
Tätigkeit ist problematisch, weil er sie als »über« den »verschiedenen Interessen der Produzenten und Konsumenten stehende, mit Bewusstsein vorgenommene Regulierung« (RPh § 236; 384)
begreift. Demgegenüber behauptet die tragödientheoretische Deutung bürgerlicher Selbstregierung nach Hegel, dass diese Regulierung nicht »mit Bewusstsein« vorgenommen wird, sondern
sich in struktureller Selbstvergessenheit vollzieht, vgl. Kap. 2.2.2.
64
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Kunst, Gesundheit, Familie, Sexualität, Verkehr, Umwelt etc. – als soziokulturelle Ordnungszusammenhänge nur bestehen und sich erhalten, weil
sie durch objektiv wie subjektiv gouvernemental operierende Machtverhältnisse reproduziert werden, die sich dem Anspruch ihrer wissentlichen und
willentlichen Gestaltung entziehen (vgl. Fraser 2017a).
Obwohl sich mit Foucaults Konzept der Gouvernementalität ein theoretisches Modell gewinnen lässt, das es erlaubt, die Verklammerung der beiden
Ebenen bürgerlicher Selbstregierung zu denken, wird durch seine Machtanalyse ein angemessenes Verständnis der objektiven Seite – die abstrakte
Herrschaftslogik kapitalistischer Vergesellschaftung – verstellt. Aufgrund
seiner induktiven Methode beschränkt sich Foucault auf Analysen der verschiedenen Dispositive, ohne eine gesellschaftstheoretische Bestimmung
ihres systematischen Zusammenhangs vorzunehmen. Demgegenüber vermag es eine an Hegel und Marx anschließende Analyse des »Systems der
Bedürfnisse«, die objektive Integrationskraft bürgerlicher Selbstregierung
in den Blick zu nehmen, indem sie deren Vermittlung durch die Arbeitsteilung erklärt. Erst der Fokus auf diese Vermittlung macht verständlich,
wie die bürgerliche Gesellschaft es schafft, ihr »gestörte[s] Gleichgewicht«
(Marx 1983: 259) trotz immer neuer Krisen stets wieder zu retablieren.23
Hegels Argumentation zufolge gründet die innere Regierung der bürgerlichen Gesellschaft auf einer durch die Arbeitsteilung objektiv institutionalisierten – den von Foucault analysierten Dispositiven entsprechend
übergeordneten – Abhängigkeit aller von allen, die durch die staatlich
garantierte subjektive Rechtsform vor politischen Regierungseingriffen
geschützt wird.24 Dabei legitimiert der politische Liberalismus durch seine
23 Foucaults Einwand, der theoretische Zugang über die Organisationsweise bürgerlicher Arbeitsteilung würde zu einer ökonomistischen Verkürzung sozialer Verhältnisse führen, ist zwar mit
Blick auf die Theorietradition des orthodoxen Marxismus nicht unbegründet. Indem er jedoch
die kapitalistische Verwertungslogik ebenso kategorisch aus seiner Analyse ausblendet wie die
Rolle rechtlich garantierter Eigentumsverhältnisse, lässt er die zentrale Frage, wie die bürgerliche Gesellschaft sich trotz wiederkehrender Krisen immer wieder in ihrer Gesamtheit reproduzieren kann, unbeantwortet. »In his analysis of factory discipline, Foucault is […] unable to
answer the question of why workers show up at the factory gates« (Mau 2023: 36). Gemäß Mau
ist Foucault »incapable of identifying the underlying social logic of precisely those ›infinitesimal
mechanisms‹ of power which he is so eager to place under the microscope. His preoccupation
with the concrete turns out to be incredibly abstract because it isolates the micro level from its
wider social context« (ebd.).
24 Auch die Bedeutung der durch subjektive Rechte vermittelten staatlichen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft für die gouvernemental in ihr operierenden Felder entgeht Foucault auf-
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
65
Referenz auf die Naturrechtsargumentation nicht nur die (vermeintliche)
Freiheit der Einzelnen in der bürgerlicheren Gesellschaft, sondern durch die
Form individueller Bedürfnisbefriedigung, in die er diese Freiheit einträgt,
indirekt immer auch die von Marx herausgestellte wertförmige Vermittlung
sozialer Beziehungen, die die bürgerliche Arbeitsteilung organisiert. Dies
führt in eine umfassende und entsprechend objektive, aber gleichwohl
»stumme« (Marx 1968: 765) Übermacht ökonomischer Verhältnisse: Die
Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft ist eine Regierung, die sich
»hinter dem Rücken« (Marx 1968: 59) der Einzelnen vollzieht.
Foucaults Beobachtungen eines historischen Rückgangs von offenem
Zwang und direkter Gewaltausübung können als Bestätigung dieser Einsicht gedeutet werden, auch wenn sich ein Begriff der abstrakten Herrschaft
der objektiven Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft über Foucault
weder herleiten noch begründen lässt. Das Herausstellungsmerkmal seiner
Theoriebildung wird erst deutlich, wo die objektive Ebene bürgerlicher
Selbstregierung in ein Verhältnis zur kulturell vermittelten Selbstregierung
der Subjekte gestellt wird. Bevor jedoch Foucaults Theorie gouvernementaler Subjektivierung im Zeichen einer Normalisierung bürgerlicher Exzesse
erläutert werden kann, sollen zunächst kurz die politiktheoretischen Konsequenzen der objektiven Ebene bürgerlicher Selbstregierung beleuchtet
und deren tragische Struktur herausgearbeitet werden.
2.4.2 Die unsichtbare Politik bürgerlicher Selbstregierung
In einer Politik, die nicht als demokratisch gestaltungsbedürftige Politik erkannt wird, gilt das Matthäus-Prinzip der kumulativen Bevorteilung: »Denn
wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat,
dem wird auch das genommen, was er hat« (Matthäus: 25, 26; vgl. Streeck
2015: 136; Amlinger, Nachtwey 2022: 74). In der bürgerlichen Gesellschaft
setzt sich durch, wer bereits hat, wer schon ist. Wie argumentiert wurde, ist
dies nicht – oder nicht hauptsächlich – auf Formen organisierter Klientelpolitik zurückzuführen, sondern auf die abstrakte Herrschaft einer sich am
Maßstab der Verwertung ausrichtenden Selbstregierung der bürgerlichen
Gesellschaft.
grund seiner Annahme, dass souveränes Regieren historisch durch gouvernementales Regieren
abgelöst worden sei.
66
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Mit Blick auf das Selbstverständnis des politischen Liberalismus ausgeführt, erweist sich diese objektive Ebene bürgerlicher Selbstregierung
als »innere[r] Ausnahmezustand« des zweiten Pfeilers »liberale[r] Normativität« (Menke 2019: 190): des Versprechens einer gleichen Teilhabe aller in
Form der demokratischen Gestaltung gemeinsamer Praxis. In ein radikaldemokratisches Vokabular eingetragen lautet die Konsequenz dieser These,
dass sich der politische Liberalismus die gouvernementale Selbstregierung
der bürgerlichen Gesellschaft unwillentlich zu einer demokratisch nicht
mehr politisierbaren Voraussetzung macht, die den Ort des Politischen
faktisch besetzt. In der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft
manifestiert sich eine Logik der politischen Selbstverkehrung, die den Ort
der Macht, der für die gleiche Teilhabe aller in Form der demokratischen
Gestaltung gemeinsamer Praxis offengehalten werden soll, unsichtbaren
Regierungspraktiken preisgibt. So verstanden zeugt Lefort und Gauchets
Diagnose einer »Verdunkelung des Wirklichen« (1990: 114) davon, wie der
politische Liberalismus sein demokratisches Teilhabeversprechen bricht:
Der Ort der Macht ist nicht leer, er wird auf gouvernementale Weise vom
Imperativ der Verwertung regiert. Als Kritik am liberalen Selbstverständnis
ausgeführt lautet dieselbe These: Indem die liberale Handlungsordnung
dem demokratischen Versprechen gleicher Teilhabe die rechtliche Form individueller Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft voraussetzt, bringt sie
eine uneingestandene Praxis bürgerlicher Selbstregierung hervor, die den
Ort des Politischen auf eine Weise besetzt, die sie selbst nicht als politische
Besetzung begreifen kann.
Gleichwohl kann die objektive Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft durch die allseitige Abhängigkeit von ökonomischen Verhältnissen
den Fortbestand der liberalen Handlungsordnung nicht gänzlich aus sich
selbst heraus sichern: Sie bleibt auf den liberalen Staat angewiesen. Um
die exzessiven sozialen Konsequenzen kapitalistischer Verwertung einzudämmen, überschreitet der liberale Staat immer wieder sein sich selbst
auferlegtes Gebot der politischen Zurückhaltung und greift in die bürgerliche Gesellschaft ein: entweder regulierend, indem er als Wohlfahrtsstaat
versucht vertragsrechtlich gesicherte Asymmetrien durch die Etablierung
sozialrechtlicher Gegengewichte abzumildern, oder indem er, wie in Kapitel 3.3.3 ausgeführt werden wird, als neoliberaler Schuldenstaat versucht,
kollabierte Marktbedingungen wiederherzustellen. Dass sozialstaatliche
Regulierungen ersterer Art kapitalistische Exzesse tatsächlich mäßigen und
Perioden – vorübergehender – Solidarität befördern können, widerspricht
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
67
allerdings weder der hegelschen Analyse bürgerlicher Arbeitsteilung noch
Foucaults Theorie gouvernementalen Regierens. Denn das Solidaritätspotenzial staatlicher Regulationen wird überschätzt, wo die Entwicklung
des liberaldemokratischen Sozialstaates als abgeschlossene Emanzipation
von der Naturrechtskonzeption verstanden wird, die die politische Freisetzung der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft
begründet (vgl. bspw. Habermas 1971). Ihr naturrechtlich verbürgtes Primat wird auch dort fortgetragen, wo der Sozialstaat eine geringfügige
Subsistenzsicherung gewährleistet. So muss eine regulativ eingreifende
Sozialpolitik als liberale Politik stets »kompensatorisch und produktiv zugleich sein« (Menke 2015: 295) – kompensatorisch gegenüber den Exzessen
bürgerlicher Vergesellschaftung, produktiv im Sinne ihrer Ausrichtung auf
die Transformation von Arbeitslosen in Lohnarbeitende. Sie kann daher
nicht anders, als jene Arbeitsteilung zu stabilisieren, deren destruktive
Effekte sie zu bekämpfen sucht. Dementsprechend beschreibt Willke die
paradoxe Anforderung an den sozialliberalen Staat, der die bürgerliche
Gesellschaft vor zu viel politischer Regierung schützen, aber zugleich die
durch sie hervorgebrachten Exzesse eindämmen soll, als einen »tragische[n]
Double-Bind« (1996: 22; vgl. Kap. 3.3.1).
2.4.3 Eine liberale Lethe
Die Analyse der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft hat gezeigt, dass der liberale Vorrang individueller Freiheit in
einem vom liberalen Selbstverständnis uneingestandenen Verrat am erhobenen Versprechen demokratischer Teilhabe resultiert. In der objektiven
Verkennung dieses Verrats spiegelt sich das Selbstmissverständnis, das die
beschriebene Asymmetrie des hegelschen Tragödienmodells begründet.
Wie in Kapitel 2.2.4 ausgeführt, bedarf die tragische Versöhnung einer
subjektiven Resignation widerständiger Zwecke, weil sich die tragische
Handlungsordnung nur erhalten kann, wo und indem sie der objektiven
Ordnung substanzieller Herrschaftsverhältnisse einen impliziten Primat
gegenüber ihrer – entsprechend bloß vordergründigen – Berechtigung
subjektiver Freiheit einräumt. Im tragischen Selbstverständnis bleibt dieser
Primat uneingestanden. Die Tragödie behauptet von sich selbst, eine dramatische Gattungsordnung zu sein, die die Mächte subjektiver Freiheit und
objektiver Ordnung gleichermaßen berechtigt. Dementsprechend begreift
68
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
auch die liberale Theoriebildung nicht, dass die Gleichberechtigung der konfligierenden Mächte subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung, zu deren
politischer Verwirklichung der politische Liberalismus angetreten war,
stets zugunsten einer Übermacht der objektiven Ordnung der bürgerlichen
Gesellschaft aufgelöst wird. Obwohl er auf »Demokratie zielte«, hatte er
einen »modernen Kapitalismus« (Iber 2011: 289) zur Folge, der sich nicht politisch selbstbestimmt gestalten lässt. Die Einsicht in die gouvernementale
Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft zeigt, dass darin herrschende
Normen, Regeln und Gesetze zwar durch minimale Eingriffe seitens des
liberalen Staats reformiert werden können, aber nur in dem Maße, wie sie
die grundlegende politische Freisetzung der kapitalistischen Arbeitsteilung
nicht als solche infrage stellen. Vermittelt durch die subjektive Rechtsform
sichert der liberale Staat einen Satz bürgerlicher Ordnungsstrukturen und
-verhältnisse ab, die im demokratischen Wettbewerb weder auf Ebene ihrer
politischen Freisetzung noch auf Ebene ihrer inhaltlichen Herrschaftssicherung (v.a. der vertragsrechtlichen Sicherung von Eigentumsverhältnissen)
infrage gestellt werden können. Der vermeintlich ergebnisoffene Prozess
liberaldemokratischer Regierung erweist sich daher, dem hegelschen Modell tragischer Konfliktvollzüge entsprechend, als abgekartetes Spiel mit
prädestiniertem Ausgang.
Hegel spricht im Zusammenhang mit der tragischen Versöhnung von der
Lethe ihrer Selbstvergessenheit, die es ihr ermöglicht, sämtliche Konflikte
stets zugunsten bestehender objektiver Ordnungsverhältnisse aufzulösen,
aber zugleich zu behaupten, aus subjektiver Freiheit erwachsender Widerstand würde in gleichem Maße berechtigt: »Die Versöhnung des Gegensatzes mit sich ist die Lethe der Unterwelt im Tode, – oder die Lethe der Oberwelt, als Freisprechung […] vom Verbrechen, und seine sühnende Beruhigung« (PhG 538). Wie in Kapitel 2.2.4 nachvollzogen wurde, müssen Subjekte, die ihre Zwecke aus der bürgerlichen Unterwelt in die staatliche Oberwelt
überführen wollen, im Modell einer zur Moderne ausgerichteten Tragödie
zwar nicht mehr sterben, sie müssen ihre Zwecke aber auf eine Weise vorfiltern, die einer Resignation gleichkommt. Für die uneingestandene Notwendigkeit dieser Resignation steht liberale Lethe des Versprechens subjektiver
Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft.
Wichtiger mit Blick auf die hier diskutierte objektive Ebene gouvernementaler Selbstregierung ist allerdings die damit korrespondierende Lethe
der Oberwelt, die Hegel als Freispruch von einem Verbrechen beschreibt. Auf
die liberale Handlungsordnung angewandt, lässt sich dieses Verbrechen als
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
69
Verrat des liberalen Staats an seinem Versprechen gleicher Teilhabe deuten.
Indem das liberale Selbstverständnis vorgibt, die gleiche Teilhabe aller durch
einen demokratischen Wettbewerb an der staatlichen Regierungsmacht sicherzustellen, versucht es die Abtretung der tatsächlichen Regierungsmacht
an die objektive Ordnung der bürgerlichen Selbstregierung zu sühnen. Das
Selbstverständnis des politischen Liberalismus ist ein Selbstmissverständnis, das sich Hegel folgend als zweifache Lethe subjektiver Resignation und
objektiver Sühne beschreiben lässt: »Beide sind die Vergessenheit, das Verschwundensein der Wirklichkeit und des Tuns der Mächte« (PhG 538). Es gilt
daher auch für den politischen Liberalismus, was Hamacher für die Tragödie
festhält:
Die »höhere Sprache« der Tragödie [, die] zwar die des aufklärerischen Bewusstseins, der
bewussten Erforschung von Gesetzen der Natur [ist], sie ist die Sprache der »Lichtseite«
[…]; aber sie ist zugleich und darin auch die Sprache der Verbergung, des […] bewusstlosen
Handelns und der »im Hinterhalte« der Aufklärung »lauernden Macht« […]. (2000: 127)
Die liberale Handlungsordnung kann, der Tragödie gleich, nicht anders, als
zu vergessen und zu verdrängen, dass die Zwecke der Subjekte aufgrund der
staatlich freigesetzten gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen
Gesellschaft nur in beschränkter Form in den formal demokratischen Wettbewerb um eine Regierungsmacht eingetragen werden können, die ihrerseits nicht berechtigt ist, über die tatsächlich Ordnungsverhältnisse zu entscheiden.
2.4.4 Die Normalisierung der Subjekte
Weder die allgemeine Abhängigkeit von ökonomischen Verhältnissen noch
sozialstaatliche Regulierungen können aus sich selbst heraus sicherstellen, dass die liberale Handlungsordnung nicht an den zerstörerischen
Konsequenzen bürgerlicher Vergesellschaftung zugrunde geht. Dafür bedarf es der zusätzlichen, subjektiven Ebene einer kulturell vermittelten
Selbstregierung, welche die bürgerliche Exzessivität stabilisiert, indem sie
sie normalisiert. Um ihren Fortbestand zu gewährleisten, ist die liberale
Handlungsordnung auf eine ethische Selbstregierung der Subjekte, auf eine
»Übersetzung gesellschaftlicher Spannungen [auf] innere Kampfplätze«
(Amlinger, Nachtwey 2022: 137) angewiesen. Adorno beschreibt diese Selbstregierung als »Kitt […] eines psychologischen Surplus über die objektive
70
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Ökonomie«, der notwendig ist, um die »Gesellschaft zu erhalten« (2003a:
292). Demnach bedarf der politische Liberalismus einer – in ihrem Erfordernis bereits von Böckenförde erkannten, jedoch als bürgerliche Solidarität
missverstandenen – Kultur individueller »Zurichtung und Selbstmodellierung« (Bröckling 2007: 31). Indem die Subjekte sich selbst normalisieren,
normalisieren sie auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie
leben, und entlasten den liberalen Staat dadurch von der Notwendigkeit
regulativer Eingriffe.
Die Stärke der Theoriebildung Foucaults liegt in der Verhältnisbestimmung dieser subjektiven Ebene bürgerlicher Selbstregierung zur beschriebenen objektiven Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft, die er als
gegenseitige, aber asymmetrische Verwirklichung begreift. Er beschreibt
die Praxis subjektiver Normalisierung als Effekt der gouvernementalen
Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft. Diese These lässt sich in
zweierlei Hinsicht ausführen. Einerseits zeigt sich, dass die Subjekte ihre
Zwecke praktisch kaum bewusst filtern müssen, weil diese in aller Regel
schon in jener Form individueller Bedürfnisbefriedigung hervorgebracht
werden, die die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft vorgibt. Andererseits manifestiert sich im ordnungstheoretischen
Erfordernis einer Selbstregierung der Subjekte die Notwendigkeit einer
bürgerlichen Kultur liberaler Subjektivierung. Im Unterschied zum liberalen Kulturargument wird jedoch nicht mehr auf die Entstehung einer Kultur
gehofft, die es vermöchte, Exzesse der bürgerlichen Gesellschaft abzuwenden, bevor sie entstehen (vgl. Kap. 2.2.3). Die Analyse fokussiert auf die
bestehende Kultur bürgerlicher Vergesellschaftung, die als gouvernemental
regierte dazu beiträgt, bestehende und sich zunehmend verschärfende
Exzesse zu normalisieren. Dies tut sie gemäß Foucault, indem sie sich als
bürgerliche Kultur einer subjektiven Selbstnormalisierung hervorbringt.
In Überwachen und Strafen (1992) beschreibt Foucault den Übergang von
der offenen, gewaltvollen Strafe im Mittelalter zu einem zunehmend ausdifferenzierten, modernen Disziplinarsystem, das darauf angelegt ist, dass
die Subjekte sich auf Grundlage der bloßen Androhung von Strafe selbst disziplinieren. Im Panoptikum, das Foucault zur Illustration dieser Disziplinierungslogik dient, sind die Gefangenen dem potenziellen Blick der Wärter:innen permanent ausgeliefert, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich beobachtet, beurteilt und gegebenenfalls bestraft werden. Dies führt zu einem
neuen kulturell vermittelten Verhalten: zu einer durch die Subjekte selbst
erwirkten Normalisierung im Rahmen der bürgerlichen Institutionen und
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
71
Milieus, in die sie eingebunden sind. Im Zuge der liberalen Freisetzung der
bürgerlichen Gesellschaft wird die »zu simple und zu sehr restringierende
Form des Fremdzwanges […] durch flexiblere, dezentrale, ja bereichsspezifische Formen des Selbstzwanges« (Willke 1996: 61) ersetzt.
Dies begründet, Foucault folgend, die Asymmetrie zwischen den zwei
Formen bürgerlicher Selbstregierung: Der subjekttheoretisch erläuterte
»Umbau des psychischen Habitus von Personen« in der Disziplinargesellschaft ist nicht als Ziel, sondern als Resultat der objektiven Selbstregierung
der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen. Eine »dezentrale Selbstorganisation und Selbststeuerung« der Subjekte erweist sich schlicht als effizienter
als eine unvergleichbar aufwendigere Praxis »hierarchisch strukturierten
Fremdzwangs« (Willke 1996: 61). Dementsprechend bringt die objektive
Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft eine Kultur disziplinierter
Normalisierung hervor, die die Art und Weise prägt, wie die Einzelnen
sich in dieser Gesellschaft selbst regieren, in anderen Worten: wie sie sich
subjektivieren. Anstelle der liberal erhofften Kultur bürgerlicher Solidarität
entsteht eine Kultur normalisierten Gehorsams.
Das Verhältnis zwischen der objektiven und subjektiven Ebene der
Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft ist insofern als gegenseitiges
Verwirklichungsverhältnis zu verstehen, als die kulturell vermittelte Selbstmodellierung der Einzelnen auf deren Abhängigkeit von der bürgerlichen
Arbeitsteilung zurückzuführen ist. Diese Arbeitsteilung ist aber umgekehrt
auf die Herausbildung einer Kultur subjektiver Normalisierung angewiesen,
damit die von ihr freigesetzte Exzessivität nicht gegen sie in Anschlag gebracht wird. Asymmetrisch ist dieses beidseitige Verwirklichungsverhältnis,
weil die Einzelnen sich den Systemzwängen des bürgerlichen Verwertungsimperativs nicht entziehen können, obwohl dessen Fortbestand auf ihre
Normalisierung angewiesen ist.
2.4.5 Zur tragischen Ewigkeit liberaler Gerechtigkeit
Die Gebundenheit der Einzelnen an bürgerliche Verwertungsimperative
lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass diese ihnen als Ausdruck
einer natürlich legitimierten Gerechtigkeit gegenübertreten, die in Hegels
Tragödientheorie den Namen »ewige Gerechtigkeit« trägt:
72
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Über der bloßen Furcht und tragischen Sympathie steht deshalb das Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt, welche in
ihrem absoluten Walten durch die relative Berechtigung einseitiger Zwecke und Leidenschaften hindurchgreift, weil sie nicht dulden kann, daß der Konflikt und Widerspruch
[…] in der wahrhaften Wirklichkeit sich siegreich durchsetze und Bestand erhalte. (ÄIII
526)
Dass sich auftretende Konflikte in der Tragödie nicht endlos fortspinnen,
sieht Hegel dadurch gewährleistet, dass die »relative Berechtigung« subjektiver Zwecke im tragischen Prozess ihrer eingeschränkten Überführung in
objektive Ordnungsverhältnisse als Ausdruck des Waltens einer »ewigen Gerechtigkeit« in Erscheinung tritt, das die Versöhnungsbereitschaft der Einzelnen fördert.25
Im Unterschied zur antiken Tragödie wird das Walten dieser in der Einschränkung subjektiver Zwecke wirksamen Gerechtigkeit im politischen Liberalismus nicht mehr als göttliche, sondern als natürliche Gewalt erfahren. Aufgrund der naturrechtlichen Legitimation subjektiver Freiheit in der
Form individueller Bedürfnisbefriedigung – und der daraus resultierenden
Entwicklung einer bürgerlichen Arbeitsteilung –, deren Erhalt die Notwendigkeit einer Selbstbeschränkung subjektiver Zwecke erfordert, tritt das Erfordernis solcher Beschränkung den Einzelnen nicht als das gouvernemental konstituierte Erfordernis gegenüber, das es in Wirklichkeit ist, sondern
als Ausdruck einer natürlich vorgegebenen Gerechtigkeit. Wie in der antiken
Tragödie, setzt im politischen Liberalismus »sogleich die Forderung ein, daß
sich auch die Individuen in sich selbst mit ihrem individuellen Schicksal versöhnt zeigen müßten« (ÄIII 565 f.). Der Unterschied zur tragischen Versöhnung in der Antike, in der diese Gewalt offen als göttlich legitimierte Schicksalsmacht in Erscheinung tritt, besteht darin, dass die nicht weniger umfassende Gewalt bürgerlicher Vergesellschaftung nicht mehr als Schicksalsmacht, sondern als Ausdruck natürlicher Gesetzmäßigkeiten zur Darstellung kommt. Die »ewige Gerechtigkeit« der liberalen Einschränkung subjektiver Freiheit ist von »kälterer, kriminalistischer Natur« (ÄIII 565) als ihre antike Vorgängerin, weil sie den normalisierten Subjekten nicht einmal
25 In Dialectical Social Theory and its Critics: From Hegel to Analytical Marxism and Postmodernism unternimmt Smith einen ähnlichen Versuch, die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen
Gesellschaft über die Figur tragischer Versöhnung zu deuten: »The point is simply that the social ontology of capitalism presented by Marx has the same structure as that presented in Hegel’s
analysis of the religious drama found in Greek tragedy. In both cases the moment of universality
confronts individuals as an alien necessity above them« (Smith 1993: 29).
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
73
mehr die Möglichkeit bietet, die erfahrene Einschränkung ihrer Zwecke als
Resultat einer höheren Macht zum Ausdruck zu bringen.
Dass die bürgerliche Vergesellschaftung im politischen Liberalismus als
Ausdruck einer natürlichen und dementsprechend »ewigen Gerechtigkeit«
erfahren wird, bezeugt, warum innerhalb der liberalen Handlungsordnung
keine Praxis politischer Teilhabe entstehen kann, die sich den darin geltenden Verwertungsimperativen zu entziehen vermag. Bürgerlichen Exzessen
kann nur durch jene kompensatorische »Rührung des nicht handelnden Mitleidens« (PhG 540; vgl. dazu Kohpeiß 2023: 193) begegnet werden, auf die die
liberale Theoriebildung ihre kulturelle Hoffnung setzt. Auch Hegels Argumentation zufolge ist es möglich, dass vorübergehend kulturelle Praktiken
der Solidarität, »des Almosens, der Stiftungen, wie des Lampenbrennens bei
Heiligenbildern usf.« entstehen, die von der staatlichen Wohlfahrt »öffentliche[r] Armenanstalten« (RPh § 242: 388) ergänzt werden kann. Aufgrund
der im politischen Liberalismus umfassend wirksamen Naturalisierung der
bürgerlichen Gesellschaft ist es jedoch nicht möglich, deren gouvernementale Regierung durch ein selbstbestimmtes Handeln innerhalb liberaler Prozeduren zu politisieren, um jene Verwertungsimperative herauszufordern,
aus denen die Notwendigkeit von Armenanstalten überhaupt erst entsteht.
Wie gemäß Hegel bereits Napoleon erkannt hatte, ist »an die Stelle des alten Fatums die Politik […] als das neuere Schicksal für die Tragödie« getreten,
in der eine ebenso »unwiderstehliche Gewalt der Umstände« (VG 339) zum
Tragen kommt. Dass die Politik der Moderne den Menschen als »unwiderstehliche Gewalt« gegenübertritt, ist auf ihre liberale Form und damit auf die
Tatsache zurückzuführen, dass sie zwar vorgibt, eine demokratische Politik
zu sein, faktisch aber der naturalisierten Selbstregierung der bürgerlichen
Gesellschaft untersteht, die sich einer selbstbestimmten politischen Gestaltung entzieht. So wie die dramatische Handlungsordnung der Tragödie in
Hegels Beschreibung immer stärker an das ihr eigentlich entgegengestellte
epische Modell einer Tugendlehre von guten und schlechten Zwecken heranrückt, manifestiert sich in der Kultur bürgerlicher Selbstregierung eine
durch den Verweis auf die vermeintlich natürlich begründete Gerechtigkeit
der bürgerlichen Gesellschaft normalisierte Anpassung an eine zunehmend
entpolitisierte Demokratie.
74
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
2.5 Die tragische Revolutionsvergessenheit des politischen
Liberalismus
Böckenfördes anfänglich erläuterte Einsicht in das Wagnis des liberalen
Staates, der sich durch die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft Voraussetzungen schafft, die er selbst nicht hervorbringen kann, wird bei
Menke affirmativ mit dem Motiv eines vermeintlich tragisch notwendigen
Untergangs subjektiver Freiheit in Verbindung gebracht. Böckenfördes
Diktum erfolgt, so Menke,
aus dem Geist der dialektischen Tragödientheorie des deutschen Idealismus, die an dem
tragischen Helden (vor allem des Sophokles) nicht der Untergang, sondern die Freiheit fasziniert hat: die Freiheit nicht nur, die zu ihrem Untergang führt, sondern die sie in ihrem
Untergang bewahren, ja allererst erlangen. Freiheit im Untergang: das ist die Dialektik der
Tragödie, die Böckenförde im liberalen Staat am Werk sieht. Der liberale Staat ist der freie
Vollzug des Untergangs eines Staates, der sich aus sich selbst heraus setzen und erhalten
zu können behauptete. (2019: 182)
Menkes Deutung ist aus unterschiedlichen Gründen problematisch. Zunächst weil der prognostizierte Untergang des liberalen Staates nicht
eintritt. Wie sich gezeigt hat, werden durch die staatliche Freisetzung der
bürgerlichen Gesellschaft entpolitisierte, gouvernementale Mächte gestärkt, die den gesamthaften Erhalt der liberalen Handlungsordnung an
Stelle des Staates – und teils auch in Kooperation mit ihm – gewährleisten
(vgl. Kap. 2.3.2 sowie zum Motiv eines untergehenden Staates Kap. 4.3.2).
Die grundlegendere Problematik der Deutung liegt allerdings darin, dass
Menke die Verbindung der Berechtigung subjektiver Freiheit – die den
deutschen Idealismus nicht nur an der Tragödie, sondern am Drama insgesamt fasziniert hatte – mit der Notwendigkeit ihrer tragischen Aussöhnung
gleichsetzt: Nur im Moment seines Untergangs, in Tod oder Resignation,
scheint das Subjekt seine Freiheit erfahren zu können. Was als historisch
spezifische Diagnose des politischen Liberalismus zutrifft, sollte allerdings
nicht auf die Gesamtheit der politischen Moderne projiziert werden (vgl.
Toscano 2013: 26; Trautsch 2020: 196 f.). Denn in genau diesem Kurzschluss
besteht das Selbstmissverständnis des politischen Liberalismus, auf das
Marx in seiner Erläuterung des »Rätsels« der Französischen Revolution
hingewiesen hatte: Die Verwirklichung subjektiver Freiheit muss nicht
in tragischen Untergängen resultieren, sie ließe sich, in Fortführung der
Anlehnung an die Stufenfolge der dramatischen Poetik Hegels, auch in
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
75
komischer Heiterkeit auflösen. Im Gegensatz zu Menke, der die liberale
Freiheit der Subjekte durch die Affirmation ihrer tragischen Struktur zum
einzig möglichen Modus praktischer Freiheitsverwirklichung erklärt, soll
der Verweis auf die Dramentheorie des deutschen Idealismus im Folgenden dazu dienen, die ordnungstheoretischen Fluchtlinien einer strukturell
komischen Neuordnung der politischen Moderne aufzuzeigen.
Wie die Rekonstruktion der historischen Auflösung des revolutionären
Rätsels im politischen Liberalismus gezeigt hat (vgl. Kap. 1.3), produziert
dessen naturrechtliches Selbstverständnis eine spezifisch tragische Selbstvergessenheit. Indem die liberale Theoriebildung behauptet, der politische
Liberalismus sei die einzige Möglichkeit einer politischen Verwirklichung
der modernen Entzweiung von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung,
verleugnet sie den revolutionären Charakter seiner politischen Etablierung.
Angesichts der prinzipiellen Zukunftsoffenheit der politischen Geschichte
kann es sich dabei nur um ein Selbstmissverständnis handeln: Keine politische Ordnung der Welt kann ihre revolutionäre Bedingtheit abschließend
überwinden.
Dass es gleichwohl so scheint, als habe der politische Liberalismus seine revolutionäre Genese hinter sich gelassen, ist auf die zwei beschriebenen
Selbstregierungsformen der bürgerlichen Gesellschaft zurückzuführen: ihre
gouvernementale Selbstregierung durch marktförmige Verwertungsimperative und die kulturell vermittelte Selbstregierung normalisierter Subjekte.
Die liberale Handlungsordnung immunisiert sich gegen die Gefahr ihrer revolutionären Infragestellung, indem sie die Imperative bürgerlicher Vergesellschaftung der demokratischen Gestaltung entzieht und die Legitimation
dieser Entpolitisierung einer bürgerlichen Kultur der Selbstnormalisierung
überantwortet.
Für die einzelnen Subjekte bedeutet dies, dass die liberale Pflicht der Filterung und Normalisierung ihrer Zwecke einem uneingestandenen, quasirevolutionären Engagement für den Erhalt der liberalen Handlungsordnung
gleichkommt. Indem sie zwischen verantwortungsvollen und leichtfertigen
Zwecken unterscheiden und sich den Verwertungsimperativen entsprechend normalisieren, wiederholen sie den revolutionären Einsatz des politischen Liberalismus im »Tempus [einer] uneinholbaren Nachträglichkeit«
(Menke 2018: 79, vgl. Kap. 4.5). Durch ihre Selbstregierung, die sie aufgrund
ihrer naturrechtlichen Legitimation als bloßen Ausdruck einer natürlichen
Gerechtigkeit erfahren, schirmen sie das liberale Ordnungsmodell vor der
Möglichkeit revolutionärer Infragestellungen ab.
76
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
Die im liberalen Selbstverständnis stets betonte, vermeintlich ergebnisoffene Auflösung formal berechtigter Konflikte im Wettbewerb um die staatliche Regierungsmacht erweist sich daher, der Tragödie gleich, als immer
schon zugunsten des Bestands bürgerlicher Ordnungsverhältnisse vorentschieden. Lefort und Gauchet beschreiben diese strukturelle Voreingenommenheit der liberalen Demokratie folgendermaßen:
Während dieses System zwar auf der anfänglichen Geste beruht, die Teilung sich entfalten
zu lassen, hält es sich nur aufrecht, indem es den absoluten Ausdruck der Teilung bannt,
indem es dem Herrscher den Weg zur Behauptung seiner radikalen Andersheit verschließt
und indem es dem Klassenantagonismus eine symbolische Form der Austragung bietet,
die seine Gefahr vermindert. Eine Doppeldeutigkeit, die gleichsam mit ihrer eigenen Verschleierung schwanger geht. (1990: 110)
Die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft durch den liberalen Staat
kann nur aufrechterhalten werden, indem die Möglichkeit eines »absoluten
Ausdruck[s] der Teilung«, der die liberale Handlungsordnung selbst infrage
stellen würde, gebannt wird. Sie verunmöglicht es nicht nur dem vorübergehenden »Herrscher«, sondern auch allen anderen Subjekten, innerhalb
der liberalen Handlungsordnung eine Position einzunehmen, die die politische Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft herausfordern könnte.
Im politischen Liberalismus ist eine ordnungsimmanente demokratische
Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine solche Politisierung grundsätzlich unmöglich wäre. Schließlich bezeugt das tragische Selbstmissverständnis des politischen Liberalismus, dass sich die prinzipielle Möglichkeit einer
revolutionären Politik auch durch gouvernementale Selbstregierungspraktiken und Verweise auf das übergeordnete Walten einer »ewigen Gerechtigkeit« nicht abschließend unterbinden lässt. Die ubiquitären Krisen des
gegenwärtigen politischen Liberalismus zeugen jedoch nicht von einer progressiven Infragestellung seines Ordnungsmodells aus der Forderung einer
strukturell komischen Neuordnung der politischen Moderne.
Die liberale Handlungsordnung sieht sich, im Gegenteil, durch eine zunehmende Hegemonie autoritär-libertärer Positionen herausgefordert, die
auf eine immer radikalere Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft
drängen. Bevor daher im letzten Kapitel die Fluchtlinien einer komischen
Neuordnung der politischen Moderne skizziert werden können, die die
revolutionären Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe neu
zu vermitteln verspricht, gilt es im nächsten Kapitel zunächst die jüngere
2. Die tragische Handlungsordnung des politischen Liberalismus
77
Entwicklung des politischen Liberalismus in den Blick zu nehmen, die sich
als Umschlag seiner tragischen Struktur in eine offene Farce beschreiben
lässt.
3. Die Farce der politischen Gegenwart
Im Achtzehnten Brumaire behauptet Marx, dass sich »große weltgeschichtliche Thatsachen […] so zu sagen zweimal ereignen, […] das eine Mal als große
Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce« (2007: 9). Ordnungstheoretisch
gedeutet, lässt sich dieses »so zu sagen« als immanente Konsequenz des
politischen Liberalismus ausführen: Die Tragödie der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft gründet in ihrem strukturell bedingten
Verrat an den ihr zugrundeliegenden Versprechen gleicher Teilhabe und
subjektiver Freiheit. Wo diese Kehrseite ihrer Ordnungsbildung krisenhaft
erfahrbar wird, tritt die Farce des politischen Liberalismus in Erscheinung.1
Auf gattungstheoretischer Ebene kommt es dadurch zu einer Verschiebung,
die sich im Rahmen der hegelschen Poetik nicht mehr begreifen lässt: Die
Wiederholung der Tragödie in der Farce beschreibt keine Etablierung einer
neuen Ordnung.2 Sie ist Signum einer Krise, die in der Tragödie selbst angelegt ist. In der Farce des politischen Liberalismus, so die These, manifestiert
sich die Wahrheit seiner krisenhaft verfassten Tragödie.
1 Vgl. für eine damit korrespondierende Deutung des Verhältnisses von Tragödie und Farce Clover
2017: 436 ff. Für eine widersprechende, gattungstheoretisch allerdings nicht ausgeführte Interpretation der Farce als Gegenteil der Tragödie des politischen Liberalismus, vgl. Hindrichs 2017:
387–390. Häufig wird auch darauf verwiesen, dass Marx’ Referenz auf Hegel sich nicht primär auf
dessen poetologische Bestimmung der Tragödie, sondern auf die sozialontologische Einsicht beziehe, der zufolge historische Ereignisse einen Wiederholungscharakter aufweisen müssen, um
Wirklichkeit zu erlangen und von einem bloß Zufälligen in ein »Bestätigte[s]« (VG 380) überführt
werden zu können (vgl. bspw. Brunkhorst 2007: 209; Löschenkohl 2017: 41; Said 1976: 135–138).
Demgegenüber erlaubt es eine poetologisch informierte Deutung der marxschen Verhältnisbestimmung, den Wiederholungscharakter von Tragödie und Farce in seiner ordnungstheoretischen Spezifizität auszuführen: Nicht jede Wiederholung historischer Ereignisse folgt der spezifischen Gesetzmäßigkeit, die Marx im Umschlag von Tragödie und Farce beobachtet.
2 Im Kontext der Poetik Hegels findet die Farce nur nebensächliche Erwähnung im Naturrechtsaufsatz (JS 489), vgl. dazu Donougho 2021: 189.
80
3. Die Farce der politischen Gegenwart
Um diese These im Kontext moderner politischer Ordnungsbildung
auszuführen und zu begründen, wird Marx’ Interpretation der politischen
Geschichte Frankreichs von 1789 bis zum Aufstieg Louis Bonapartes zunächst als historische Konkretion der tragischen Struktur des politischen
Liberalismus rekonstruiert. Daraus wird ein politischer Begriff der Farce
extrahiert, der eine immanente Radikalisierungstendenz des Liberalismus beschreibt, die in einen Autoritarismus umschlägt. Die marxsche
Engführung von Tragödie und Farce erlaubt es, autoritäre Entwicklungen
als Ausdruck einer der liberalen Handlungsordnung selbst eingeschriebenen Exzessivität zu dechiffrieren. In einem zweiten Schritt wird die
Notwendigkeit dieses Umschlags zur Erklärung der gegenwärtigen Krise
des politischen Liberalismus im Zeichen seiner neoliberalen Intensivierung
einerseits und libertärer Gegenbewegungen andererseits herangezogen,
um deren ordnungstheoretisches Verhältnis zueinander zu erschließen.
Denn wie bereits Marcuse mit Blick auf den Faschismus des 20. Jahrhundert
festhält, antizipiert »Marx’ Analyse der Entwicklung der Revolution von
1848–51 zur autoritären Herrschaft des Louis Bonaparte […] die Dynamik
der spätbürgerlichen Gesellschaft: die auf Grund ihrer eigenen Struktur
sich vollziehende Liquidierung ihrer liberalen Periode« (1965: 143).3 Eine
damit korrespondierende Liquidierung des politischen Liberalismus und
seines normativen Selbstverständnisses lässt sich, so die These, auch in
der gegenwärtigen Entwicklung seiner neoliberalen und zunehmend auch
libertären Radikalisierung beobachten.
3.1 Marx’ Farce von 1848–1851
Der »lange Katzenjammer« (2007: 13), der Marx zufolge in Form einer liberalen Handlungsordnung auf die Französische Revolution und die anschließende Machtergreifung Napoleons I. folgt, erweist sich insofern als Tragödie im Politischen, als die revolutionäre Deklaration der gleichen subjektiven
Freiheit und Teilhabe aller durch ihre Ausdeutung als bürgerliche Rechtsfrei-
3 Damit korrespondiert die im Kontext der Kritischen Theorie geläufige Erklärung des Nationalsozialismus als immanenter Umschlag der liberalen Handlungsordnung in einen illiberalen Autoritarismus, der durch eine totalitäre Mobilisierung der naturrechtlich legitimierten Naturalisierung der bürgerlichen Gesellschaft vollzogen wird (vgl. u.a. Marcuse 1968; Horkheimer 1980:
115; Menke 2011a: 17; Wilkinson 2021: 26–43).
3. Die Farce der politischen Gegenwart
81
heit im gleichen Zug realisiert und unterminiert wird. Marx begreift diese
historische Entwicklung als tragisch verfasst, weil die Französische Revolution nicht offensichtlich scheitert, sondern der Anspruch einer radikalen Demokratie aufgrund der Erfahrung der nachrevolutionären Terreur in einen
bürgerlichen Konstitutionalismus überführt wird, der als »Klotz am Bein der
nachfolgenden Reformationsepoche« (Brunkhorst 2007: 196) über das erfahrene Scheitern hinwegtäuscht.
Marx’ Kritik der bürgerlich-demokratischen Politik im Frankreich des
19. Jahrhunderts korrespondiert mit Hegels Erläuterung der politischen
Moderne, in der die liberale Handlungsordnung durch ihre formale Anerkennung subjektiver Freiheit in der Form der Rechtsfreiheit individueller
Bedürfnisbefriedigung und die damit einhergehenden Naturalisierung der
bürgerlichen Gesellschaft bestimmt wird (vgl. Kap. 2.3). Die zunehmende
Dominanz marktförmig vermittelter Verwertungsimperative und die normativ damit korrespondierende Idee einer kompensatorischen Solidarität
leisten einem liberalen Selbstverständnis Vorschub, dem zufolge die politische Geschichte der menschlichen Emanzipation mit der Französischen
Revolution abgeschlossen worden sei und sämtliche fortan auftretenden
Konflikte sich im ordnungsimmanenten Rahmen formal demokratischer
Verfahren prozessieren und lösen lassen. Mit Blick auf die historischen
Entwicklungen nach der gescheiterten Revolution von 1848–1851 hält Marx
fest, dass der verbreitete Glaube, man habe »den Feind überwunden«, dazu
führte, dass die bürgerlichen »Herren Demokraten […] ihre Lorbeerkronen
auf Vorschuß ein[strichen]« (2007: 14). Wie die Farce der darauffolgenden
Machtübernahme Louis Bonapartes zeigen würde, handelte es sich dabei
um ein Selbstmissverständnis: Der liberale Vorrang der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der demokratischen Teilhabe führte nicht zu einer
gelingenden Verwirklichung, sondern zu einem systematischen Verrat am
revolutionären Versprechen der gleichen Freiheit aller. Marx’ Analyse zeigt,
dass die naturalisierende Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer
zunehmenden Verelendung und Vereinzelung führte. Dieser Entwicklung
gegenüber nimmt seine Kritik insofern einen bemerkenswerten Standpunkt
ein, als er die damals
modernste, vorbehaltslos liberale Theorie der bürgerlichen Gesellschaft akzeptierte. Aber
er konnte zugleich aus deren eigenen Prämissen entwickeln, wie diese Gesellschaft nicht
nur die Widersprüche, die über sie hinaustreiben, sondern auch die autoritäre Herrschaft,
die sie zwanghaft stillstellen (und zusammen mit den Liberalen unter sich begraben), aus
sich selbst hervorzubringen imstande ist. (Brunkhorst 2007: 141).
82
3. Die Farce der politischen Gegenwart
In entsprechend starkem Kontrast steht die aus der Tragödie des liberalen
Selbstmissverständnisses resultierende Farce des Aufstiegs Louis Bonapartes in den Jahren 1848–1851 zur revolutionären Etablierung einer neuen politischen Handlungsordnung im Zuge der modernen Verfassungsrevolution
von 1789 (vgl. Brunkhorst 2007: 211).
Marx begreift den Aufstieg Bonapartes als Folge der gehaltvollen Niederschlagung der Juni-Aufstände von 1848. Marx zufolge gelingt es dem
durch und durch unfähigen, »ernsthafte[n] Hanswurst« (2007: 161) nicht
etwa, sich als Kaiser ausrufen zu lassen, weil im Nachgang der gescheiterten Revolution eine neue politische Ordnung installiert worden wäre,
sondern weil er die Lächerlichkeit der bürgerlichen, nur vermeintlich demokratischen Politik der Restaurationsepoche offenlegte. Der Aufstieg
Bonapartes demonstriert für Marx, dass die liberale Handlungsordnung,
die im Zuge der Französischen Revolution eingesetzt wurde, anders als die
demokratisch gesinnte Bourgeoisie meinte, das revolutionäre Versprechen
einer gleichen und freien Teilhabe nicht verwirklicht hatte, wodurch sie der
monarchischen Konterrevolution die Möglichkeit bot, das entstandene politische Vakuum für sich zu nutzen. Weil »[v]on Freiheit, Gleichheit […] nur
noch die Namen geblieben« (Iber 2011: 291) sind, konnte »[d]er einfältigste
Mann Frankreichs« die »vielfältigste Bedeutung« (Marx 1960: 45) erhalten,
indem er der kollektiven Ernüchterung Ausdruck verlieh, die sich nach der
gewaltvollen Niederschlagung der Aufstände auftat.
Louis Bonaparte knüpfte offen an den liberalen Verrat am revolutionären Erbe von 1789 an, indem er das liberale Selbstverständnis der »Herren
Demokraten«, dem zufolge sich im bürgerlichen Konstitutionalismus eine
gelingende Demokratie nach dem Ideal der Französischen Revolution realisierte, über sich hinaustrieb. Indem er das liberale Selbstverständnis demokratischen Gelingens »platt als Komödie« (Marx 2007: 70) nahm, zeigte
er auf, wie grundlegend die revolutionären Versprechen darin verfehlt wurden (vgl. Kap. 4.1 sowie Brunkhorst 2007: 214; Harries 1995: 42; Hunter 2020).
Bonaparte gelang es, die politische Macht in einem Augenblick auf sich zu
vereinen,
wo die Bourgeoisie selbst die vollständigste Komödie spielte, aber in der ernsthaftesten
Weise von der Welt, ohne irgendeine der pedantischsten Bedingungen der französischen
dramatischen Etiquette zu verletzen. (2007: 69)
Während die Bourgeoisie noch »halb geprellt, halb überzeugt von der
Feierlichkeit ihrer eigenen Haupt- und Staatsaktionen« an der liberalen
3. Die Farce der politischen Gegenwart
83
Handlungsordnung des bürgerlichen Konstitutionalismus festhielt, behandelte Bonaparte die Weltgeschichte nach 1789 als platte Komödie und
stellte dadurch die Lächerlichkeit ihres politischen Scheiterns zur Schau
(vgl. 2007: 70; vgl. Kap. 4.1). Marx beschreibt Bonaparte als »ernsthafte[n]
Hanswurst« (2007: 161), weil er den verratenen demokratischen Anspruch
der liberalen Handlungsordnung in seiner kruden Kritik ernster nahm
als deren nur mehr auf Etiketten und Verfahren versteiften bürgerlichen
Vertreter:innen selbst. Mit Bonaparte wird die liberale Handlungsordnung
offen als jene Farce erkennbar, die sie gemäß Marx uneingestanden schon
als große Tragödie war. Der Fehler der bürgerlichen Demokrat:innen bestand entsprechend darin, dass sie glaubten, eine subjektiv freie und gleiche
Teilhabe etabliert zu haben, obschon sie die Versprechen der Französischen
Revolution strukturell verfehlten. Im Augenblick der Krise, in dem die liberale Tragödie in eine offene Farce umschlägt, wird deutlich, dass die liberale
Handlungsordnung nie etwas anderes war als eine scheiternde Komödie.
Tragedy must now itself be understood as farce. From this perspective, Louis Bonaparte is
the most appropriate of performers upon the stage of bourgeois society, for he unintentionally unmasks [its] self-deception. (Stallybrass 2001: 19)
Der Aufstieg Louis Bonapartes ließ die Lächerlichkeit des liberalen Zerrbilds
offen zutage treten. Die Farce, für die er steht, ist entsprechend nicht als Farce seiner unfähigen Persönlichkeit zu verstehen, sondern als Farce einer politischen Handlungsordnung, die ihre eigenen Versprechen unterläuft.
3.2 Warum die Farce »so zu sagen« notwendig ist
Indem Marx die Kategorie der Farce einführt, radikalisiert er die bereits in
Hegels Kritik der Tragödie angelegte Einsicht in ihre entdramatisierende
Tendenz (vgl. Kap. 2.2.4). Dies ermöglicht es, den politischen Liberalismus
als Handlungsordnung begreifbar zu machen, die zwar ihrer Form nach
dramatisch bzw. demokratisch ist, deren Ordnungsbildung aber durch
eine inhärente Entdramatisierung gekennzeichnet ist, die sich in einer
Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert. Marx weist den
politischen Liberalismus als strukturell tragisch aus, weil dieser sich mit
einer gelingenden demokratischen Handlungsordnung verwechselt – ohne
selbst schon einen angemessenen Begriff derselben zu haben – und dadurch
eine Reflexion seiner strukturellen Verfehlungen der revolutionären Ver-
84
3. Die Farce der politischen Gegenwart
sprechen verstellt, die seine Etablierung legitimiert hatten (vgl. Kap. 2.5).
Die historische Konkretion und Ergänzung der hegelschen Poetik, als die
Marx’ Achtzehnter Brumaire hier ausgeführt wird, markiert demnach den
Unterschied zwischen einer sich immanent entpolitisierenden Tragödie
und einer ausstehenden, strukturell komisch geordneten Demokratie (vgl.
Kap. 4).
Nach Marx ist die Verkehrung der »großen Tragödie« in eine »lumpige
Farce« Konsequenz einer Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft, die der strukturell tragischen Handlungsordnung des politischen
Liberalismus inhärent ist (vgl. Kap. 1.3; 2.3). Die Farce markiert den Augenblick, in dem deren Exzessivität so manifest wird, dass ihr demokratisches
Selbstverständnis als Selbstmissverständnis erkennbar wird, wodurch regressive Gegenbewegungen auf den Plan gerufen werden. Die krisenhafte
Manifestation dieser Exzessivität ist eine »so zu sagen« notwendige Konsequenz der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft, weil sich
im Augenblick des Umschlags in die Farce nur zeigt, was der politische
Liberalismus immer schon war: ein – historisch zwar partiell verwirklichtes, aber strukturell gleichwohl – gebrochenes Versprechen.4 Die These, die
Marx’ Ausführungen im Achtzehnten Brumaire an Hegels politische Poetik
heranführt, lautet daher, dass die Farce von 1848–1851 nicht als Reaktion
auf ein einmaliges historisches Ereignis oder eine singuläre »Thatsache«
zu begreifen ist, sondern als Ausdruck einer unabwendbaren Selbstverkehrungslogik der strukturell tragischen Handlungsordnung des politischen
Liberalismus. Marx radikalisiert die in Hegels Poetik angelegte Kritik, indem er offenlegt, dass es keine Tragödie jenseits ihres Umschlags geben
kann: Aufgrund der Exzessivität der bürgerlichen Vergesellschaftung muss
der politische Liberalismus früher oder später regressive Gegenbewegungen
hervorbringen.
An diese Beobachtung schließt eine Reihe historisch kleinteiliger Analysen unterschiedlicher Krisen des politischen Liberalismus an, denen die
4 Anders als Foucault (2004) und Lacoue-Labarthe, Nancy (1997: 128) nahelegen, wird die Exzessivität der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft nicht erst im Augenblick der Krise geboren oder als Reaktion auf diese Krise hervorgebracht. Die Krise zeichnet sich dadurch aus, dass das latente Wirken der gouvernementalen Selbstregulierung manifest
wird – staatliches und gouvernementales Regieren erweisen sich demnach als zwei Seiten derselben Medaille: der strukturell tragischen, sich potenziell immer schon in eine Farce verkehrenden
Handlungsordnung des politischen Liberalismus, die die Einheit ihrer Differenz bildet, vgl. dazu
Kap. 2.4.
3. Die Farce der politischen Gegenwart
85
Geschehnisse im Nachgang der gescheiterten Revolution von 1848–1851
als Blaupause dienen.5 Diesen gegenüber liegt der methodische Fokus der
folgenden Ausführungen nicht auf einer Beschreibung oder Aufzählung
konkreter Ereignisse liberaler Selbstverkehrung, sondern auf dem Nachweis ihrer strukturellen Notwendigkeit vor dem historischen Hintergrund
der neoliberalen Radikalisierung des politischen Liberalismus in den letzten
fünf Jahrzehnten. Diese Radikalisierung gilt es, als immanente Entwicklungslogik des politischen Liberalismus zu rekonstruieren, weil sich der
Neoliberalismus als historisches Phänomen nur im systematischen Rekurs
auf die Wurzel der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft
erklären lässt.
3.3 Die neoliberale Radikalisierung des politischen Liberalismus
Anders als seine Terminologie suggeriert, ist der Neoliberalismus, der gemeinhin für die globale politische Entwicklung seit Mitte der 1970er-Jahre
steht, nicht als historisch neuartige Ordnung eines anderen Liberalismus zu
verstehen. Er steht vielmehr für eine immanent notwendige Radikalisierung
der inhärent krisenhaft verfassten Ordnungsbildung des politischen Liberalismus. Der erste Schritt einer poetologisch informierten Einordnung neoliberaler Ordnungsbildung in den ordnungstheoretischen Kontext der politischen Moderne besteht entsprechend darin, ihn Biebricher folgend als »the
crisis of liberalism« zu rekonstruieren: »Neoliberalism must be understood,
first and foremost, as a response to this crisis based on a diagnosis of the
factors that led to its decline« (Biebricher 2018a: 12).6 Im Unterschied zu Ansätzen, die den Neoliberalismus als eigenständige politische Ordnung ver-
5 Neben dem bereits genannten Beispiel Marcuses (1965), sei u.a. auf Blackledges (2002) an Marx
orientierte Analyse der Ära Thatcher sowie auf Žižeks (2009) Versuch verwiesen, den Brumaire
mit Blick auf 9/11 als große Tragödie und die Finanzkrise von 2008 als darauffolgende Farce zu
aktualisieren.
6 Biebricher begreift die anhaltende Krise des politischen Liberalismus als historische Reaktion
auf die Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts, die entgegen den Prognosen der klassischen liberalen Ökonomie gezeigt haben, dass sich auch illiberale Ökonomien nachhaltig reproduzieren
können. Im Zuge dieser Erfahrung rückte der politische Liberalismus in eine Legitimationskrise,
auf die seine Neoliberalisierung gemäß Biebricher reagiert: »What puts the ›neo‹ into neoliberalism is obviously this modernizing effort« (2018a: 22).
86
3. Die Farce der politischen Gegenwart
stehen – so die Linie von Foucault7 über Bourdieu bis Fraser, Harvey, Dörre,
Streeck und Vogl –, gilt es, die Kontinuität zwischen politischem Liberalismus und Neoliberalismus – im Anschluss an Biebricher, Brown, Lazzarato,
O’Kane, Postone, von Redecker, Milios, Lapatsiorias und Sotiropoulos – als
ordnungsimmanente Radikalisierung nachzuvollziehen.
Vor dem Hintergrund der hegelschen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft sind die zunehmend extremen Krisen der politischen Gegenwart
auf eine immer umfänglichere rechtliche und technologische Verallgemeinerung des marktförmig vermittelten »Systems der Bedürfnisse« zu
verstehen, dessen staatliche Freisetzung das Grundprogramm liberaler
Ordnungsbildung von Beginn an ausgezeichnet hat (vgl. Kap. 2.3). Die als
neuartig empfundene Erfahrung einer nicht länger kontrollierbaren Exzessivität gründet entsprechend nicht auf einer politischen Neuordnung
der Moderne, sondern auf einer Effizienzsteigerung bürgerlicher Verwertungsimperative, die durch ihre globale Ubiquität einen immer stärkeren
Verpflichtungscharakter gegenüber demokratisch legitimierten Versuchen ihrer sozialrechtlichen Regulierung angenommen haben (vgl. Alphin
2021: 25; 107–118). Die Erfahrung sozialer Exzessivität ist eine Erfahrung
stagnierender Beschleunigung: »In immer kürzeren Abständen wird aus
der Negation des Alten Neues geschaffen, die Welt einer rastlosen Logik
des Neuen unterworfen« (Löschenkohl 2017: 24), ohne dass die liberale
Ordnungsbildung oder die Macht der durch sie freigesetzten Verwertungsimperative dadurch politisch infrage gestellt würden.8 Demnach ist die
gegenwärtige Farce der neoliberalen Entpolitisierung und der libertären
Herausforderung des politischen Liberalismus weder auf eine neuartige
Ökonomisierung des Sozialen noch auf einen moralischen Verfall bürgerlicher Solidarität zurückzuführen, sondern auf die ordnungstheoretisch
konsequente Radikalisierung der liberalen Freisetzung bürgerlicher Verge-
7 Gemäß Foucault löst ein neues ökonomisches Marktprinzip die ehemals soziale Logik der Gesellschaft im Zuge der 1970er-Jahre ab (vgl. Bröckling et al. 2000: 16). Demgegenüber wurde
in Kap. 2.3.1 im Verweis auf Hegel dargelegt, dass die soziale Logik der bürgerlichen Gesellschaft seit ihrer Etablierung als »System der Bedürfnisse« durch Verwertungsimperative vermittelt wird, vgl. für eine ähnliche Kritik Lazzarato 2012: 92. Für eine ideengeschichtliche Rekonstruktion des Übergangs von Liberalismus zu Neoliberalismus bei Foucault, siehe Bröckling
2007: 76–107.
8 Zur Zeitlichkeit der gesellschaftlichen Verallgemeinerung ökonomischer Verwertungsimperative, vgl. Postone, der die beschriebene Entwicklung als »treadmill effect« (1993: 290 f.) begreift; zur
politischen Dimension derselben vgl. Osborne 1995.
3. Die Farce der politischen Gegenwart
87
sellschaftung und die daraus resultierende Integration sämtlicher sozialer
Existenzen in den immer effizienter organisierten Prozess kapitalistischer
Arbeitsteilung.
Marx’ Kontinuitätsthese, der zufolge der Umschlag von der Tragödie in
die Farce »so zu sagen« notwendig ist, ergibt sich nicht aus geschichtsphilosophischen Prämissen, sondern aus der historischen Erfahrung der krisenhaften Verselbstständigung der bürgerlichen Gesellschaft. Während die
prinzipielle Unüberwindbarkeit von Konflikten, die aus subjektiver Freiheit
erwachsen, ontologisch konstatiert werden kann, wodurch anerkannt wird,
dass ihre Differenz zur objektiven Ordnung sämtliche politische Ordnungsbildung bestimmt, erwachsen die Exzesse der bürgerlichen Gesellschaft einer historisch spezifischen, durch sie selbst hervorgebrachten und nur in ihr
geltenden Logik ihrer politischen Freisetzung.
Wie bereits in Kapitel 1.3 beschrieben, war die revolutionäre Etablierung
des politischen Liberalismus sowie die Verallgemeinerung des darin angelegten Verwertungsimperativs historisch und politisch kontingent (vgl. Milios 2018: 67–69). Ist sie jedoch einmal eingesetzt und die Organisation sozialer Beziehungen durch eine inhärent auf Wertsteigerung ausgerichtete Produktion sowie den damit einhergehenden marktförmigen Tausch von Waren
etabliert worden (vgl. Kap. 2.3.1), folgt die bürgerliche Vergesellschaftung,
wie Postone darlegt, dem »immanent principle of development« (1993: 376)
einer immer effizienteren Verwertungspraxis:
The historical development of capitalist society […] is socially constituted, nonlinear and
nonevolutionary. It is neither contingent and random, as historical change might be in
other forms of societies, nor a transhistorical evolutionary […]; rather, it is a historically
specific […] development that originates as a result of particular and contingent historical
circumstances but then becomes abstractly universal and necessary. (1993: 377)9
Durch die immer schnellere technologische Vernetzung auf globaler Ebene
wuchs auch die Verbindlichkeit des marktförmig vermittelten Verwertungsimperativs bürgerlicher Vergesellschaftung. Um nicht mehr als die globalgesellschaftlich notwendige Zeit für die Produktion einer Ware aufzuwenden,
sehen sich Produzent:innen gezwungen, immer kompetitivere Organisati9 Wie Ritter darlegt, ist diese immanente Entwicklungslogik einer Verallgemeinerung kapitalistischer Verwertungsimperative bereits in Hegels Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft angelegt: »Die industrielle bürgerliche Klassengesellschaft ist […] durch ihr eigenes Gesetz dazu
bestimmt, zur Weltgesellschaft zu werden« (1989: 57). Vgl. zur Kontextualisierung dieser These in
den Grundlinien Ruda 2011: 44.
88
3. Die Farce der politischen Gegenwart
onsformen zu übernehmen, die auf einer immer effizienteren Ausbeutung
der investierten Arbeitskraft gründen. In der vollumfänglich verallgemeinerten, bürgerlichen Gesellschaft der Gegenwart sitzt der »stumme Zwang
der ökonomischen Verhältnisse« (1968: 765) so tief, dass
kein Kapital, außer ein selbstmörderisches, seine Tätigkeiten oder seinen Lebenslauf frei
wählen oder gegenüber den Innovationen seiner Konkurrenten oder den Erfolgsparametern in einer Welt der Knappheit und Ungleichheit gleichgültig sein [kann]. (Brown 2015:
46)
So entfalten die durch den liberalen Staat freigesetzten, gouvernemental regierenden Verwertungsimperative der bürgerlichen Gesellschaft eine der liberalen Handlungsordnung immanente, historisch spezifische, aber gleichwohl universell wirksame, sozial abstrakte Notwendigkeit (vgl. Prusik 2020).
Wo sich ihre Durchsetzungskraft intensiviert, verkehrt sich der politische Liberalismus in eine neoliberale Farce, weil die daraus erwachsenden Exzesse
sich in immer kürzeren Abständen in immer neuen Krisen verallgemeinern,
ausbreiten und verstetigen:
[…] only its name and intensity have changed. Liberal governmentality is exercised by moving from economic crisis to climate crisis, to demographic crisis, to energy crisis, to food
crisis, etc. Changing names merely changes the type of fear the crisis evokes. Crisis and
fear constitute the inexorable features of neoliberal capitalist governmentality. We will not
escape the crisis (at best it might change intensity) quite simply because crisis is the form
of government of contemporary capitalism. (Lazzarato 2015: 10)
Im Folgenden werden die letzten fünf Jahrzehnte einer globalen Verallgemeinerung bürgerlicher Verwertungsimperative zunächst kurz historisch
kontextualisiert (vgl. Kap. 3.3.1), bevor ihre Konsequenzen anhand der zwei
bereits für die Analyse des politischen Liberalismus erläuterten Ebenen
gouvernementaler Selbstregierung nachvollzogen werden – auf der objektiven Ebene der gouvernementalen Selbstregierung der Institutionen und
Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die liberale Handlungsordnung gegen
revolutionäre Infragestellungen abzusichern, und auf der subjektiven Ebene der bürgerlichen Kultur, die die normative Ausrichtung der Subjekte
bestimmt. Dabei lässt sich beobachten, dass die neoliberale Radikalisierung
der liberalen Ordnungsbildung im Zeichen einer ubiquitären Schuld steht:
Auf objektiver Ebene entstand in Reaktion auf eine zunehmende Finanzialisierung der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Kap. 3.3.2) eine staatlich
abgesicherte Schuldenökonomie (vgl. Kap. 3.3.3). Damit korrespondiert
eine Verschiebung auf Ebene der bürgerlichen Kultur subjektiver Selbstre-
3. Die Farce der politischen Gegenwart
89
gierung: Die im 19. Jahrhundert einsetzende, bis in den politischen Liberalismus der Nachkriegsjahre hineinreichende Normalisierung der Subjekte
durch Disziplinierung wurde vom Kontrollprinzip einer Selbstoptimierung
abgelöst (vgl. Kap. 3.3.4), deren Verschuldungslogik sich nicht länger als
strukturell tragisch beschreiben lässt (vgl. Kap. 3.3.5). Zusammengenommen kulminieren diese Entwicklungen in der umfassenden Erfahrung jener
Alternativlosigkeit, die die politische Gegenwart bestimmt (vgl. Kap. 3.3.6).
3.3.1 Zwei Missverständnisse neoliberaler Regierung
Die neoliberalen Exzesse der politischen Gegenwart lassen sich vor dem Hintergrund der historischen Kontinuität der liberalen Ordnungsbildung weder als Resultate einer »Invasion« (Bourdieu 1998) oder »Landnahme« (Dörre
2009) der bürgerlichen Gesellschaft noch als »Revolution« (Harvey 2005) verstehen. Dass der Neoliberalismus gleichwohl häufig als neuartige politische
Ordnung konzeptualisiert wird, ist auf seine Kontrastierung zu den trente
glorieuses (1945–1975) der Nachkriegszeit zurückzuführen.
Mit dem Begriff des Neoliberalismus ist in der Regel die historische
Epoche seit Mitte der 1970er-Jahre gemeint, die im Zeichen einer Auflösung
der sozialstaatlichen Absicherung einer bürgerlichen Solidaritätspraxis
steht. An die Stelle des sozialliberalen Konsenses der Nachkriegsjahre,
dem zufolge die Teilhabe am demokratischen Wettbewerb der staatlichen
Garantie einer gewissen materiellen Gleichheit bedarf, rückte eine Ethik
individualisierter Verantwortung, die theoretisch von Figuren wie Hayek,
Friedman und Mises vorangetrieben und durch Thatcher und Reagan salonfähig gemacht, aber letztlich von New Labor und dem Dritten Weg politisch
durchgesetzt wurde.10 So beobachtete etwa Balibar Anfang der 1990er-Jahre
in den liberalen Demokratien des globalen Nordens
eine Krise von massiven Phänomenen der Deindustrialisierung und der Erwerbslosigkeit,
der Verschärfung der Ungleichheiten und der »Ausschließung«, der »neuen Armut« und
des Rückgangs der gewerkschaftlichen Organisierung (1992: 198),
10 Für eine kurze Geschichte des Neoliberalismus in verschiedenen historischen Etappen, vgl. Harvey 2005; Davies et al. 2021; Wilkinson 2021; für eine historische Kontextualisierung des damit
korrespondierenden Scheiterns des keynesianischen Sozialliberalismus, vgl. Hirsch, Roth 1986:
94–103; Brenner 2006: 97–236.
90
3. Die Farce der politischen Gegenwart
die sich bis in die jüngste Gegenwart fortschreibt. Die letzten fünf Jahrzehnte waren gekennzeichnet von »abnehmende[m] Wachstum, zunehmende[r]
Ungleichheit und steigende[r] Gesamtverschuldung« (Streeck 2015: 30).
Die vorausgehenden Nachkriegsjahre des keynesianischen Sozialliberalismus, die in den westlichen Demokratien eine historisch verhältnismäßig
ausgeglichene Verteilung von Vermögen – in der Form von Geld wie von Fähigkeiten – hervorbracht haben, werden dieser Entwicklung häufig als normativer Standard des klassischen politischen Liberalismus vorausgesetzt.
So gründet der weit verbreitete Versuch, die liberal freigesetzte bürgerliche
Gesellschaft ausgehend von einer solidarischen Praxis gegenseitiger Anerkennung zu konzeptualisieren (vgl. Honneth 2013: 317–470), auf der Annahme, dass es sich bei der neoliberalen Radikalisierung des politischen Liberalismus um eine Fehltendenz mit historischem Ausnahmecharakter handelt.
Demgegenüber haben zahlreiche Autor:innen, wie Lazzarato (2015), Streeck
(2015) und Vogl (2021), mit Blick auf die Geschichte des politischen Liberalismus seit dem 19. Jahrhundert aufgezeigt, dass nicht die Epoche seit Mitte
der 1970er Jahre, sondern die trente glorieuses als Ausnahme zu begreifen sind.
Streeck beschreibt die drei Nachkriegsjahrzehnte als Phase,
in der die kapitalistische Marktwirtschaft […] als politische Konstruktion [galt], der nur so
lange eine Existenzberechtigung eingeräumt wurde, wie sie im sicheren Griff einer durch
die 1930er Jahre ernüchterten politischen bzw. in der staatszentrierten Kriegswirtschaft
des Zweiten Weltkriegs angelernten technokratischen Elite war, die eines über alle Parteigrenzen hinweg gemeinsam hatte: tiefe, erfahrungsbegründete Zweifel an der Tragfähigkeit und Tragbarkeit freier kapitalistischer Märkte, also eben jener Wirtschaftsordnung,
in die wir mit dem globalen Neoliberalismus unserer Tage wieder einzutreten im Begriff
sind. (Streeck 2015: 16)
Die Vorstellung, dass es sich beim Neoliberalismus um eine problematische
Ausnahme handelt, die durch eine Rückkehr zum Modell eines keynesianischen Sozialliberalismus überwunden werden könnte, wird von zwei
Missverständnissen der gouvernementalen Regierung der bürgerlichen Gesellschaft getragen: (1) der Vorstellung, dass neoliberale Exzesse darauf zurückzuführen sind, dass das produktive Kapital der »Realwirtschaft« durch
ein parasitäres Finanzkapital ersetzt worden wäre und dass (2) der liberale
Staat gegenüber der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft an
Bedeutung verloren hätte. Vor dem Hintergrund der Kontinuitätsthese, die
den Neoliberalismus als Manifestation der immanenten Krisenanfälligkeit
des politischen Liberalismus versteht, lässt sich nachweisen, inwiefern
beide dieser Annahmen fehlgehen und warum weder eine Schwächung
3. Die Farce der politischen Gegenwart
91
des Finanzsektors noch ein sozialrechtlich stärker eingreifender Staat die
Exzessivität bürgerlicher Vergesellschaftung effektiv eindämmen könnten.
3.3.2 Bürgerliche Vergesellschaftung im Zeichen ihrer Finanzialisierung
Der Übergang vom keynesianischen Sozialliberalismus der trente glorieuses
zum gegenwärtigen Neoliberalismus ist von einer zunehmenden Bedeutung des Finanzkapitals gegenüber dem Industrie- und Kommerzkapital
gekennzeichnet (vgl. Lazzarato 2015: 124). Zahlreiche Kritiker:innen, so etwa Duménil und Lévy (2011), Dörre (2009), Hudson (2012), Krippner (2011),
Sassen (2014), aber auch Streeck (2015), gehen davon aus, dass sich die
kapitalistischen Verwertungsimperative aufgrund der Dominanz globaler
Finanzmärkte als solche transformiert hätten und die mannigfaltigen Krisen der letzten Jahrzehnte daher auf eine Übermacht des Finanzkapitals
gegenüber produktiven Kapitalformen zurückführen seien. Demgegenüber
zeigen Balibar (2020: 279 f.), Durand (2017), Lazzarato (2015), Lapatsiorias,
Milios, Sotiropoulos (2013), Mau (2023: 135; 314), Nachtwey (2016) und Prusik
(2020), dass die zentrale Vermittlungsrolle von Finanzmärkten keineswegs
neu, sondern konstitutiver Teil einer auf kapitalistischer Arbeitsteilung
basierten Vergesellschaftung ist.11
Anders als monopolkapitalistische Deutungen nahelegen, ist der Neoliberalismus nicht durch eine Abnahme ökonomischer Selbstregulierung
aufgrund eines historischen Wegfalls an Konkurrenz gekennzeichnet,
sondern durch eine immer effizientere Realisierung kapitalistischer Verwertungsimperative, die seit jeher jenseits einer liberal erhofften Wettbewerbsgerechtigkeit stehen (die partielle historische Realisierung solcher
Gerechtigkeit während der trente glorieuses wurde schließlich nicht durch
eine gesellschaftliche Selbstregierung, sondern durch Eingriffe seitens des
Sozialstaates hervorgebracht).12 Wie Vogl (2010/2011: 95–98) ausführt, ist
die zunehmende Dominanz globaler Finanzmärkte als Entwicklung zu
11 Für eine Rekonstruktion der historischen Entstehung der Finanzmärkte, vgl. Vogl 2017.
12 Der ordoliberalen Theoriebildung zufolge gründen die neoliberalen Exzesse der Gegenwart in
einer Monopolbildung durch globale Großunternehmen wie Alphabet, Amazon, Apple und Meta (vgl. zur ökonomischen Plattformbildung der letzten Jahrzehnte, Vogl 2021: 60–85), die ihre
Operationsbereiche aufgrund ihrer dominanten Marktstellung quasi alleine regulieren können.
Dadurch entsteht ein Wettbewerbsmangel, analog zu demjenigen, der der ordoliberalen Erklärung zufolge den Aufstieg des Faschismus in den 1930er-Jahren verursacht hat, vgl. bspw. Böhm
92
3. Die Farce der politischen Gegenwart
verstehen, die die kapitalistischen Verwertungsimperative nicht als solche
verändert, den »stummen Zwang« ihres Vollzugs aber dadurch verstärkt,
dass sie diesen immer effizienter organisieren, wodurch sich nicht nur
der unmittelbare Druck auf Produzent:innen intensiviert, sondern auch die
Konkurrenz unter den Arbeitnehmenden zunimmt, an die dieser Druck weitergegeben wird. Durch den Handel mit modernen Finanzderivaten lässt
sich die Effizienz der Verwertung in unterschiedlichsten ökonomischen
Subsystemen vergleichen, wodurch sich ihr übergreifender Wettbewerb
verschärft. Forwards, Futures, Swaps und Options
introduce a formative perspective on actual concrete risks, making them commensurate
with each other and reducing their heterogeneity to a singularity. Their reality as values –
the very fact that they are commodities with a price […] – makes possible the commensuration of heterogeneous concrete risks. In other words, their reality as commodities secures
an abstraction from the real inequality of concrete risks, reducing them to expressions of
a single social attribute: abstract risk. In this sense, they monitor and control the terms
and the reproduction trajectories of the contemporary capitalist relation. (Lapatsiorias,
Milios, Sotiropoulos 2013: 2 f.)
Aufgrund der Warenförmigkeit von Finanzinstrumenten, d.h. aufgrund
der Tatsache, dass mit dem Handel selbst gehandelt werden kann, werden
die konkreten Risiken unterdurchschnittlicher Wertschöpfung in verschiedensten Produktionskontexten in einen allgemeinen, marktförmigen
Wettbewerb zueinander eingetragen, wodurch eine weltweite Vergleichbarkeit ihrer Produktivität hergestellt wird. Der Handel mit abstraktem Risiko
macht es möglich, die Gesundheitskosten eines neu geborenen Kindes mit
denjenigen eines Amazon-Features abzugleichen und auf die Entwicklung
ihres zukünftigen Wertverhältnisses zu wetten. Dabei sind die konkreten
Risiken, auf die sich diese Finanzinstrumente beziehen, kaum je als solche
erkennbar, da sie durch zahlreiche Prozesse ihrer Bündelung einen kognitiv
nicht mehr einholbaren Abstraktionsgrad erreichen.
Weil Finanzinstrumente gegenüber dem Gebrauchswert der Produkte,
mit deren Risiken sie handeln, ebenso wie gegenüber der Arbeit ihrer Herstellung radikal indifferent sind – »all that is relevant to them is drawing
from these various forms of production and labor a surplus expressed in abstract quantities of money« (Lazzarato 2015: 141) –, ist ihre Selbstverwertung
effizienter als in allen anderen Kapitalformen. Dies bedeutet nicht, dass das
1966; für eine Kontextualisierung dieses Ansatzes, vgl. Biebricher 2018a: 38–41, Bonefeld 2017 sowie Brown 2019: 37–39; 76–82.
3. Die Farce der politischen Gegenwart
93
Finanzkapital jenseits von produktivem, d.h. industriellem oder kommerziellem, Kapital stünde, sondern dass es eine übergeordnete Vermittlungsrolle in der gesellschaftlichen Verallgemeinerung des kapitalistischen Verwertungsimperativs einnimmt, indem es sämtliche Kapitalformen »into a
coherent whole« überführt: »It represents the purest and most general form
of appropriation« (Lazzarato 2015: 139). Die globalen Finanzmärkte sind rein
und allgemein, weil der darin erreichte Grad an marktwirtschaftlicher Effizienz »most appropriate to the concept of ›capital‹«, d.h. der Verwertung von
Wert, ist. Die auf globalen Finanzmärkten gehandelten Kapitalanlagen sind
dementsprechend nichts anderes als »structural representations of capitalist relations« (Lapatsiorias, Milios, Sotiropoulos 2013: 2), d.h. liberal freigesetzter, gouvernemental regierter Vergesellschaftungsprozesse. Es ist nicht
möglich, den »realwirtschaftlichen« Produktionssektor von diesen Märkten
zu trennen, weil die Risiken der Produktion, die darin in der Form abstrakten
Risikos gehandelt werden, integraler Bestandteil ebenjener Produktionsprozesse sind. In anderen Worten: Die sogenannte Realwirtschaft ist auf Kapital angewiesen, das sie nur erhält, sofern ihre konkreten Risiken einer mangelhaften Wertschöpfung mit den Risiken anderer Kapitalformen mithalten
können.
Anders als populäre Formen der moralistischen Kapitalismuskritik nahelegen (vgl. bspw. Smith 2010), ist die zunehmende Dominanz globaler
Finanzmärkte nicht auf die Gier oder Maßlosigkeit dreister Banker:innen
zurückzuführen, sondern »inherent in the very logic of capital« (Lazzarato
2015: 136; vgl. Durand 2017). Was als Problem einer ausufernden Spekulation
verhandelt wird, beschreibt nichts anderes als die radikale Realisierung des
Prinzips einer durch Verwertung vermittelten bürgerlichen Arbeitsteilung
»in conditions created by modern-day capitalist accumulation« (Lazzarato
2012: 20). Die erfahrbare Zunahme einer ökonomistischen Rationalität in
sämtlichen Sphären der bürgerlichen Gesellschaft ist weder die Schuld einzelner Spekulant:innen noch ist sie auf das Handeln staatlicher Akteur:innen
reduzierbar. Wie die in Kapitel 2.4 herausgearbeitete Analyse gouvernementaler Selbstregierung gezeigt hat, handelt es sich bei den kapitalistischen
Verwertungsprozessen, die die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft
organisieren, um eine uneingestandene Form der Politik, die jenseits des
Anspruchs und der Möglichkeit ihrer selbstbestimmten Gestaltung waltet:
In other words, contrary to what economists, journalists and other »experts« never tire of
repeating, finance is not an excess of speculation that must be regulated, a simple capitalist function ensuring investment. Nor is it an expression of greed and rapaciousness of
94
3. Die Farce der politischen Gegenwart
»human nature« which must be rationally mastered. It is, rather, a power relation. (Lazzarato 2012: 24)
Die zunehmende Dominanz globaler Finanzmärkte bezeugt kein Ende gesellschaftlicher Selbstregulierung, sondern im Gegenteil die Kontinuität ihrer gouvernemental regierten politischen Macht, die durch die »naturalistische Selbstverrätselung« (Wallat 2010: 282) des politischen Liberalismus verdunkelt wird.
Damit ist allerdings noch nicht erklärt, warum es zu einer solchen Effizienzsteigerung in der Realisierung des kapitalistischen Verwertungsimperativs kam. Verschiedene historische und sozialwissenschaftliche Studien,
die hier nur kursorisch behandelt werden können, führen den Beginn dieser
Steigerung seit Mitte der 1970er-Jahre auf eine Wachstumskrise westlicher
Industrienationen (vgl. Nachtwey 2016: 47–63) und eine zunehmende globale Vernetzung zurück (vgl. Panitch, Gindin 2012). Durch den Aufbau einer
weltweiten Logistik (vgl. Bernes 2013) und die Industrialisierung der Agrikultur (vgl. Mau 2023: 277; 287), die es der industriellen Produktion erlaubte,
auf immer billigere Arbeitskraft zurückzugreifen, wird deren Abwanderung
in den globalen Süden erklärt. Mit Blick auf jüngere Effizienzsteigerungen
nimmt die transnationale Vereinheitlichung der rechtlichen und technologischen Rahmenbedingungen des globalen Handels ein besonderen Stellenwert ein: Die (a) weltweit zunehmende Durchsetzung des angelsächsischen
Vertragsrechtssystems und die (b) Entstehung einer zunächst telefonisch,
später über das Internet vermittelten globalen Echtzeit der Kommunikation haben dazu beigetragen, dass die Verwertung von Wert immer effizienter
organisiert werden konnte.
(a) Die rasant voranschreitende Globalisierung der Kapitalmärkte ist gemäß Pistor durch eine Proliferation des angelsächsischen Rechtssystems zu
verstehen, das sich durch einen Vorrang von subjektiven Vertrags- und Eigentumsrechten gegenüber Sozialrechten auszeichnet (vgl. 2020: 433; Tzouvala 2018: 121–126).13 Auch Bröckling beobachtet eine damit korrespondie-
13 Dass diese Proliferation durch eine Rückkehr zum Sozialrecht der trente glorieuses nicht rückgängig gemacht werden kann und selbst wenn, die Probleme, die aus der Form der subjektiven Rechte selbst erwachsen, dadurch nicht behoben würden, zeigt Menkes Kritik der Rechte, v.a. die darin
ausgeführte Kritik des bürgerlichen Sozialrechts, vgl. v.a. 2015: 281–307. Auch Pistor legt offen,
dass der Versuch, politische »Ansprüche dadurch aufwerten zu wollen, dass man ihnen einen
Rechtsschutz der Art zukommen lässt, wie ihn das Kapital seit Jahrhunderten genießt, das System nicht [verändert]; es reproduziert es« (2020: 358).
3. Die Farce der politischen Gegenwart
95
rende »Ausweitung und Pluralisierung von Vertragswelten« (2007: 129), die
sich darin manifestiert, dass gesellschaftliche Beziehungen, die zuvor entweder sozialrechtlich oder gar nicht rechtlich geregelt waren, in vertragsrechtliche Formen eingetragen werden, was den Grundstein für die bis heute anhaltende, global wirksame politische Deregulierung gelegt hat.14 Ein
einschlägiges Beispiel dafür findet sich bei Brown (2015: 180–208), die die
zunehmende Attestierung von ehemals politischen Rechten wie der Redefreiheit an private Unternehmen beschreibt. Indem juristische Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen »auch Unternehmen Anteil an den
Menschenrechten haben« (2015: 207), wird ihre ohnehin bröckelnde sozialrechtliche Regulierung weiter erschwert. Streeck hält daher mit Blick auf Europa fest, dass nicht etwa die Regierungen der EU-Mitgliedsländer, sondern
der Europäische Gerichtshof Hauptakteur der ökonomischen »Integration
durch supranationale Liberalisierung« (2015: 192) ist (vgl. dazu auch Biebricher 2018b: 110–115).
(b) Das Aufkommen des »technologische[n] Paradigma[s] der Information und Kommunikation« (Reckwitz 2017: 228), das die Technikgeschichte
seit etwa 1980 bestimmt und die Ablösung von industrieller durch digitale
Technologie markiert, war die zweite Voraussetzung für den Aufstieg der
globalen Finanzmärkte. Die technologische Globalisierung durch das Internet basiert auf einer praktisch uneingeschränkten Datenübertragung, die
einen nahezu zeitgleichen Austausch von Informationen durch teilautonome Tradingprogramme ermöglicht, was den Handel mit abstraktem Risiko auf ein bisher ungekanntes Effizienzniveau gehoben hat (vgl. dazu Vogl
2021: 34–59). Obschon es sich bei neuronalen Netzwerken um eine jüngere technologische Innovation der letzten Jahre handelt, bestätigt die zunehmende Automatisierung des globalen Handels die aufgestellte Kontinuitätsthese: Trading-Algorithmen treffen keine normativen Entscheidungen über
den konkreten Gebrauchswert oder die spezifische Herstellungsweise der
Produkte, deren Risiken sie handeln. Sie beziehen ihre Informationen aus
einer Unmenge abstrakter Daten vergangener Marktentwicklungen, auf deren Grundlage sie statistische Entscheidungen treffen. Der einzige Maßstab
dieser Entscheidungen ist und war der dadurch erreichte Mehrwert. In sei-
14 Für eine detaillierte historische, durch unterschiedliche Stränge neoliberaler Theoriebildung
kontextualisierte Rekonstruktion dieser Entwicklung, vgl. Slobodian 2018: 121–145; für eine Erläuterung ihrer ökologischen Dimension, vgl. Petersmann 2022: 40 f.
96
3. Die Farce der politischen Gegenwart
ner immer schnelleren, immer effizienteren Abschöpfung besteht der »Bias«
liberaler Kontinuität (vgl. dazu Vogl 2010/2011: 101–107).
3.3.3 Der neoliberale Schuldenstaat und seine intervenierende
Krisenpolitik
Mit der Kritik, dass das vermeintlich produktive Kapital der »Realwirtschaft«
durch ein parasitäres Finanzkapital ersetzt worden wäre, geht nicht selten
die Überzeugung einher, dass der liberale Staat an Bedeutung verloren hätte
(vgl. bspw. Bourdieu 1998). Auch diese zweite Annahme einer »choice between state and market« (Graeber 2011: 384) ist falsch. Die zunehmende Dominanz globaler Finanzmärkte und die Proliferation des angelsächsischen
Vertragsrechts hat sozialrechtliche Eingriffe und Regulierungen massiv erschwert, wenn nicht gänzlich unterbunden (vgl. Streeck 2015: 201 f. sowie
Crouch 2004: 11–14). Weil Kapitaleigentümer:innen ihre Anlagen jederzeit
ins Ausland verschieben oder zeitweise ganz aus dem Kreislauf ziehen können, kommt es zu einer faktischen »Immunisierung des Kapitalismus gegen
massendemokratische Interventionen« (Streeck 2015: 138).
Diese Entwicklung ist allerdings nicht als allgemeine Schwächung des
Staates gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, sondern als
Abbau des steuerbasierten keynesianischen Sozialstaats, der von einem
mindestens so starken neoliberalen Schuldenstaat abgelöst wurde, der
die heimischen Ökonomien durch die Absicherung ihres privaten Risikos
vor der Gefahr ihrer Vernichtung als überschüssiges Kapital schützt (vgl.
Kap. 2.3.2). Um die sozialen Verluste abzumildern, die mit einer immer
effizienteren Verwertungsökonomie einhergehen, bedarf es einer massiven politischen Unterhaltung der globalen Märkte (vgl. Slobodian 2018).
Das Paradox des neoliberalen Staates besteht entsprechend darin, dass er
permanent in die bürgerliche Gesellschaft intervenieren muss, »um sie als
einen Bereich zu erhalten, den er nicht zu regieren vermag« (Menke 2015:
322). Im Unterschied zur antizyklischen Regulierungspolitik des sozialliberalen Staats der trente glorieuses fokussiert die Politik des neoliberalen
Schuldenstaates auf stabilisierende Marktinterventionen zugunsten der
Kapitaleigentümer:innen (vgl. Bonefeld 2016; Brenner, Riley 2022: 6; Hirsch
1995: 106, 156 f.; Edgerton 2021: 42). Die neoliberale Forderung nach »weniger
Staat und mehr Markt zielt ohne Ausnahme nicht auf den Staat als solchen,
sondern allein auf seine sozialstaatlichen Komponenten« (Wallat 2009: 334).
3. Die Farce der politischen Gegenwart
97
Der liberale Staat war entsprechend nicht nur der historische »Geburtshelfer« (Marx 1968: 779) der Durchsetzung und Verallgemeinerung
kapitalistischer Verwertungsimperative in der bürgerlichen Gesellschaft
(vgl. Kap. 2.3.2). Deren Sicherung durch sein – regulierendes oder intervenierendes – Eingreifen ist eine bleibende, notwendige Bedingung ihrer
Reproduktion (vgl. Polanyi 2001: 147; Wallat 2009: 285). Dass der Erhalt der
gouvernementalen Selbstregulierung der bürgerlichen Gesellschaft auch
nach dem Wegfall eines Großteils sozialrechtlicher Regulationen massiver staatlicher Steuerungsmaßnahmen bedarf, die von der neoliberalen
Theoriebildung geleugnet werden, zeugt vom bereits erläuterten Selbstmissverständnis, das der »liberale[n] Fiktion« (vgl. Vogl 2021: 22) einer sich
automatisch selbst regulierenden bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt
(vgl. Lazzarato 2015: 165). Obschon staatliche Interventionen faktisch zugenommen haben, radikalisiert das neoliberale Selbstverständnis die liberale
Annahme, die bürgerliche Gesellschaft sei aufgrund »ihrer anscheinenden Unpersönlichkeit und […] preistheoretischen Ausrechenbarkeit« noch
»politikfrei[er]« als während ihrer sozialliberal regulierten Phase, endlich
»›sauber‹ im Sinne von unpolitisch« (Streeck 2015: 139).
Prinzip neoliberaler Interventionspolitik ist es gemäß Streeck (vgl. 2015:
57), Konflikte, die aus ökonomischen Verlusten entstehen, zeitlich hinauszuzögern, indem der Staat sich der Verschuldung als Mittel und Medium
der Krisenabsicherung bedient: Erst mittels Inflation, dann durch Staatsverschuldung und schließlich durch die Expansion privater Kreditmärkte und
den Ankauf von Staats- und Bankschulden durch die Zentralbanken. Spätestens im Zuge der Finanzkrise von 2008 hat sich dieser Mechanismus verstetigt. Neben der Rettung von Banken und der Überflutung der Wirtschaft
mit billigem Geld haben die Regierungen der führenden Volkswirtschaften
durch Austerität, Steuersenkungen, die Beseitigung rechtlicher Hindernisse für unsichere Arbeitsmärkte sowie den Verkauf öffentlichen Eigentums zu
Tiefstpreisen private Verluste von Kapitaleigentümer:innen abgefedert (vgl.
Mau 2023: 314).
Dieser Zusammenhang von neoliberaler Regierung und Verschuldung
hat in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit erfahren.15 Doch anders,
als bspw. Graeber (2011) suggeriert, der ausgehend von Nietzsches Kritik
des christlichen Schuldkultus eine umfassende Sozialontologie der Schuld
15 Für eine konzise Zusammenfassung und Kontextualisierung des Diskurses, vgl. Cavallero, Gago
2021: 11–13.
98
3. Die Farce der politischen Gegenwart
entwickelt, ist die Verschuldung neoliberaler Gouvernementalität nicht
als Ausdruck eines transhistorischen Prinzips, sondern als historisches
Spezifikum des »immanent principle of development« (Postone 1993: 376)
liberaler Ordnungsbildung zu verstehen. Sie entsteht, weil der neoliberale
Staat die Kosten der exzessiven Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft,
deren Freisetzung von politischer Regulierung er zu radikalisieren versucht,
übernehmen muss, um ihren Kollaps abzuwenden. Jedes Mal, wenn er
eine aufflammende Krise eindämmt, indem er die private Schuldenlast
marktrelevanter Großanleger übernimmt, macht er sich etwas abhängiger von diesen Anlegern, die, kaum sind sie staatlich gerettet worden, im
Schulterschluss mit Ratingagenturen »ungeheuren Druck auf alle Regierungen ausüben«, die ihre Staatsverschuldung auf den »Kapitalmärkten
refinanzieren« (Nachtwey 2016: 66) müssen. Die Staatsverschuldung liegt
mittlerweile durchschnittlich mehrere tausend Prozent über dem Wert
Anfang der 1970er-Jahre, in zahlreichen westlichen Demokratien übersteigt
sie das Bruttoinlandsprodukt. Wie lange der staatliche Kauf von Zeit aufrechterhalten werden kann, ist entsprechend unklar. Aus »too big to fail«
droht »too big to bail« zu werden.
Der Übergang zum Neoliberalismus ist nicht als Bruch mit, sondern als
krisenhaftes Kontinuum liberaler Staatlichkeit, als Radikalisierung ihrer
ordnungstheoretischen Paradoxie zu verstehen. Wie die Verschiebung vom
sozialliberalen Regulierungs- zum neoliberalen Interventionsstaat zeigt, ist
die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe zur Sicherung der nur vermeintlich politisch nicht regierten bürgerlichen Gesellschaft ein konstitutiver
Mechanismus liberaler Ordnungsbildung, der unterschiedlich vollzogen
werden kann: durch die präventive Regulation globaler Märkte oder durch
die nachgelagerte Abfederung ihrer immer exzessiveren Krisen.
3.3.4 Von der Disziplin zur Kontrolle
Um die immense Wirksamkeit dieses Schuldzusammenhangs in der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft nachzuvollziehen, bedarf es einer Überführung der Analyse auf die Ebene bürgerlicher
Subjektivierung. Erst im Rekurs auf die kulturelle Legitimation einer zunehmenden Selbstverschuldung wird deutlich, inwiefern die (moralische)
Privatverschuldung der Einzelnen den neoliberalen Glauben an einen po-
3. Die Farce der politischen Gegenwart
99
litisch zurückhaltenden Staat aufrechterhält. Während der trente glorieuses
wurden die Menschen noch von
oben reglementiert und standardisiert, [die] sozialen Institutionen verurteilten das Individuum zwar nicht moralisch, pressten es aber über homogene Lebens- und Erwerbschancen in eine verwaltete Welt – und ließen es dadurch entfremdet und isoliert zurück.
Wir leben heute in einer anderen Gesellschaft: Die Spätmoderne ist beschleunigt, flüchtig
und auf permanente Differenzierung angelegt. (Amlinger, Nachtwey 2022: 45)
In seinem Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (2012) macht Deleuze
es sich zur Aufgabe, diese Verschiebung der subjektiven Reproduktion der
bürgerlichen Gesellschaft im Zuge ihrer neoliberalen Radikalisierung seit
den 1970er-Jahren nachzuvollziehen. Ausgehend von Foucaults Beschreibung der Disziplinierungsgesellschaft stellt er die Unterschiede neuerer
Subjektivierungsprozeduren zur Normalisierungspraxis der sozialliberalen
Epoche dar (vgl. Rölli 2020). Weil die bürgerlichen Milieus und Institutionen der trente glorieuses (von der Schule über die Fabrik bis zum Gefängnis),
deren Aufgabe es war, die Subjekte durch Strafandrohungen zu einer Selbstnormalisierung zu drängen, im Zuge ihrer zunehmenden Freisetzung von
sozialrechtlichen Regulierungen an Verbindlichkeit und Durchsetzungskraft verloren haben, wurden sie von einer internalisierten Kultur gänzlich
subjektivierter Selbstkontrolle abgelöst. Heute sind es nicht länger die
Fabriken und Schulen (Ausnahme ist das Gefängnis, vgl. Wilson Gilmore 2022), die mit Strafe drohen, sondern der Verwertungsimperativ der
gouvernementalen Regierung der bürgerlichen Gesellschaft selbst, dessen
Drohung darin besteht, aus den Fabriken und Schulen auszuschließen, wer
im Wettbewerb um die effizienteste Selbstverwertung zurückfällt.
In der neoliberalen Gegenwart wird Normalisierung zunehmend zur
alleinigen Aufgabe des Subjekts, das sich zu einem »unternehmerischen
Selbst« (Bröckling 2007) formieren soll, das seine Zwecke an der Optimierung seiner individuellen Wettbewerbsposition ausrichtet (vgl. Kohpeiß
2023: 163; Rebentisch 2014; 2022: 229; von Redecker 2020a: 57–59; Wagner 2014: 115–136). Die Einzelnen sind dazu angehalten, sich im Rahmen
der bürgerlichen Effizienzimperative bestmöglich zu optimieren, um sich
von den Abgehängten abzusetzen. Um mit der steigenden Effizienz kapitalistischer Verwertung mithalten zu können, müssen sie sich jedoch
in steigendem Ausmaß privat verschulden, sei es um Ausbildungskosten
zu tragen oder ihre Wohnsituation angesichts stetig steigender Mieten
100
3. Die Farce der politischen Gegenwart
zu sichern: »Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der
verschuldete Mensch« (Deleuze 2015: 15).
An die Stelle einer sozialliberalen Praxis des Austauschs von Interessen
tritt der vereinzelte, »neoliberale Homo oeconomicus [in] seine[r] Gestalt als
Humankapital« (Brown 2015: 35). Armut und Ausbeutung treten vor diesem
Hintergrund nicht mehr als Resultate verlorener Verteilungskämpfe, sondern als Konsequenz eines mangelnden Arbeitsethos in Erscheinung.
Krankheiten sind ein Ausdruck mangelnder Vorsorge, Übergewicht das Resultat fehlender Selbstdisziplin, Rückschläge im Job Ergebnis mangelnder Motivation, private Probleme zeugen von geringer sozialer Kompetenz, Zukunftsängste erscheinen als Unfähigkeit
zu positivem Denken. Gesellschaftliche Probleme werden in individuelle transformiert.
(Amlinger, Nachtwey 2022: 76)
Wie Bröckling herausstellt, sind kontrollbasierte Subjektivierungsprozesse
»ohne victim blaming nicht zu haben; die frohe Botschaft, jeder sei seines Glückes Schmied, bedeutet im Umkehrschluss: An seinem Unglück
ist jeder selber schuld« (2000: 156). Mit der zunehmenden Privatverschuldung geht eine ethische Verschuldung an einem – stets drohenden oder
bereits eingetretenen – persönlichen Scheitern einher. Denn die neoliberale
»Anrufung der Selbstverantwortung« (Bröckling 2000: 156), sich als Alleinunternehmer:in zu begreifen, »means taking responsibility for poverty,
unemployment, precariousness, welfare benefits, low wages, reduced pensions, etc., as if these were the individual’s ›resources‹ and ›investments‹ to
manage as capital« (Lazzarato 2012: 51; vgl. auch Alphin 2021).
Während die Disziplinargesellschaft westlicher Demokratien vom kulturellen Versprechen getragen wurde, dass es für alle, die sich dem Modell liberaler Gerechtigkeit entsprechend normalisieren, einen subsistenzsichernden Platz in der Fabrik geben würde, droht der Individualisierungsimperativ, der mit der Verschiebung von der Disziplin zur Kontrolle einhergeht,
mit dem sinnbildlichen Ausschluss aus der Fabrik.16 Nur diejenigen, die sich
16 Dies zeigt sich bspw. am neoliberal radikalisierten Beispiel von Hartz IV, heute »Bürgergeld«,
bei dem die sozialstaatliche »Förderung« mit der »Forderung« nach individueller Optimierung
einhergeht (vgl. Amlinger, Nachtwey 2022: 128). Der uneingestandene politische Charakter der
gouvernementalen Regierung der bürgerlichen Gesellschaft, die eine allgemeine Beschäftigung
weder hervorbringen kann noch will (vgl. dazu Marx’ Ausführungen zur progressiven Produktion
einer relativen Überbevölkerung 1968: 657–670 sowie Mau 2023: 296–318), wird durch die Fiktion einer möglichen Vollbeschäftigung überblendet. Die konstante Verfehlung dieses Ziels führt
unmittelbar in die gegenwärtige Kultur subjektiver Selbstverschuldung. Obschon Sozialrechte in
Deutschland – im Unterschied zu den USA und Großbritannien, wo subjektive Rechte dem So-
3. Die Farce der politischen Gegenwart
101
so weit optimieren und privat verschulden, dass sie sich ganz »individuell«
gegen die weniger Optimierten absetzen können, entgehen dem Schicksal
eines vermeintlich selbstverschuldeten Ausschlusses aus dem bürgerlichen
»System der Bedürfnisse«, der den bestrafenden Einschluss im Disziplinarsystem abgelöst hat.
3.3.5 Die nicht mehr tragische Selbstverschuldung neoliberaler Subjekte
Dass es sich dabei nicht um einen Bruch, sondern um eine Kontinuität normalisierender Subjektivierung handelt, zeigt Ewald anhand von Foucaults
Analyse des politischen Liberalismus, in der das Prinzip individueller Verschuldung als Rückversicherung für die Gefahr scheiternder Solidarität in
Erscheinung tritt:
Der liberale Harmoniegedanke besteht darin, dass die Moral […] mit der Ökonomie harmoniert, dass die Leitprinzipien […] dieser Felder, statt einander zu widersprechen, aufeinander verweisen und sich wechselseitig bekräftigen. Der Begriff des Verschuldens hat
die Aufgabe, diese Harmonie herzustellen. Sie hat einen universellen, sowohl ökonomischen wie juristischen, politischen und moralischen Wert. Sie ist ein Vermittlungsmechanismus: Sie ermöglicht, dass ein ökonomisches Verhalten zugleich moralisch sein […]
kann. (1993: 81)
Diese durch die neoliberale Kultur vermittelte kontrollbasierte »Moralisierungsstrategie« (Lemke 1997: 198) spricht die bürgerliche Gesellschaft
dadurch von der Verantwortung für die hervorgebrachten Exzesse steigender Ungleichheit, Unterdrückung und Vereinzelung frei, dass sie das
Scheitern von Solidaritätspraktiken nicht auf ihre politische Freisetzung,
sondern auf eine vermeintlich immer mangelhaftere Persönlichkeitsstruktur der Subjekte zurückführt.
Vor dem Hintergrund der internalisierten Konfliktlösung, die Hegel
als Signum der modernen Struktur der tragischen Versöhnung bestimmt
hatte, lässt sich diese neoliberale Radikalisierung der von Foucault skizzierten Normalisierungsprozesse als zunehmende Entdramatisierung der
Tragödie, d.h. als Entpolitisierung des politischen Liberalismus, beschreiben. Wie Hegel in der Ästhetik betont, ist Schuld im tragischen Konflikt
zialrecht durch die Verfassung vorgelagert sind – prinzipiell als Gegengewicht eingesetzt werden könnten, nimmt ihre Bedeutung gegenüber neoliberalen Kontrollmechanismen stetig ab,
vgl. Pistor 2020: 433.
102
3. Die Farce der politischen Gegenwart
unumgänglich: Aufgrund der anerkannten Ebenbürtigkeit der gegeneinander antretenden Mächte, muss die tragische Versöhnung in die schuldvolle
Unterdrückung einer der beiden Konfliktseiten – de facto stets der Seite
subjektiver Freiheit (vgl. Kap. 2.1) – münden. Die Leistung der Tragödie als
dramatische Gattung besteht entsprechend darin, dass sie das konflikthafte
Auseinandertreten von objektiver Ordnung und subjektiver Freiheit als
unvermeidbar zur Darstellung bringt, indem sie die Unmöglichkeit eines
schuldfreien Handelns aufzeigt (vgl. Hunter 2023: 193–195). Der Übergang
vom Disziplinarsystem der Nachkriegsjahre zum Kontrollsystem der neoliberalen Gegenwart ist zugleich als Kontinuität und als Bruch mit diesem
Schuldverständnis zu verstehen.
Die Kontinuität der beiden Normalisierungsmodelle ist durch ihre Harmonisierungsleistung begründet, die als strukturell tragisch beschrieben
werden kann, weil die Versöhnung auftretender Konflikte durch eine Internalisierung seitens der Subjekte gewährleistet wird. So wird sichergestellt,
dass die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft
nicht in einen offenen Konflikt mit dem untergrabenen Versprechen demokratischer Teilhabe gerät. Die neoliberale Verschuldung bricht allerdings
auch mit dem tragischen Schuldverständnis. Obwohl Ewald (1993) überzeugend argumentiert, dass das Prinzip subjektiver Verschuldung bereits
im politischen Liberalismus angelegt ist, nimmt die neoliberale Verschuldung der Subjekte eine neuartige Qualität an, die in zunehmend offenen
Widerspruch zum dramatisch-demokratischen Selbstverständnis tragischliberaler Schuldhaftigkeit tritt.
In der neoliberal radikalisierten Gegenwart beruht der ubiquitäre
Schuldzusammenhang nicht mehr auf dem – formal zwar berechtigten,
aber praktisch gleichwohl zum Scheitern verurteilten – Versuch, subjektiv freie Zwecke gegen die Zwecke der objektiven Ordnungssicherung
durchzusetzen, sondern in einem selbstverschuldeten Scheitern an der
Gouvernementalität kapitalistischer Verwertungsimperative. Das neoliberale Subjekt erweist sich als schuldig, weil es sich nicht effizient genug in die
bürgerliche Arbeitsteilung einzutragen vermag, nicht weil es die Organisation dieser Arbeitsteilung, wie im liberalen Selbstverständnis vorgesehen,
ordnungsimmanent kritisieren und dadurch in einen schuldbehafteten,
politischen Wettbewerb mit anderen Zwecken treten würde. Die bereits im
politischen Liberalismus beobachtbare Tendenz einer tragischen Asymmetrie der Mächte, welche aus der uneingestandenen Voraussetzungslogik der
subjektiven Konfliktinternalisierung erwächst, die einen impliziten Primat
3. Die Farce der politischen Gegenwart
103
herrschender Ordnungsverhältnisse gegenüber der stets betonten Berechtigung subjektiver Freiheit installiert (vgl. Kap. 2.1), wird im neoliberalen
Kontrollprinzip schuldhafter Selbstoptimierung endgültig manifest. Weil
die neoliberale Selbstverschuldung gänzlich jenseits der demokratischen
Möglichkeit gleicher Teilhabe und selbstbestimmten Handelns zu stehen
kommt, erweist sie sich aus poetologischer Perspektive als entdramatisierte
Schuld, aus politiktheoretischer Perspektive als entpolitisierte Schuld.
Hegels Affirmation tragischer Schuldhaftigkeit erweist sich bereits mit
Blick auf die Rolle subjektiver Resignation im politischen Liberalismus
als problematisch: Indem sich der Ausgang demokratisch prozessierter
Konflikte als immer schon zugunsten der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft entschieden erweist, vermischt sich die
demokratisch legitimierte Schuld an der politischen Bekämpfung anderer
Zwecke mit der Schuld an der erfahrenen Unmöglichkeit ihrer demokratischen Politisierung. Das heroische Bild einer demokratisch notwendigen
Verschuldung an anderen Zwecken überblendet die strukturelle Vorbestimmtheit des tragischen Konfliktausgangs.
Demgegenüber wird in der neoliberalen Selbstverschuldung offenkundig, dass die – bereits in der tragischen Handlungsordnung des politischen
Liberalismus angelegte – Schuld der Subjekte nicht in der unhintergehbaren Schuld der demokratischen Unterdrückung anderer Zwecke besteht,
sondern in der Schuld an einer scheiternden Normalisierung des eigenen Selbst innerhalb der bürgerlichen Arbeitsteilung. Die Radikalisierung
tragischer Schuldhaftigkeit im Übergang von der Disziplin- zur Kontrollgesellschaft hat es ermöglicht, offen mit dem – faktisch schon im politischen
Liberalismus verratenen, aber normativ weiter reproduzierten – Versprechen gleicher Teilhabe zu brechen. Neuartig ist dementsprechend nicht,
dass die gouvernementale Unterminierung gleicher Teilhabe einer immer
radikaleren demokratischen Entpolitisierung des politischen Liberalismus
zuarbeitet, sondern dass die neoliberale Verschiebung des imaginierten
Orts subjektiv notwendiger Verschuldung vom demokratischen Wettbewerb in die bürgerliche Arbeitsteilung dazu führt, dass selbst der Anspruch
einer demokratischen Gestaltbarkeit dieser Gesellschaft seine legitimatorische Bedeutung für die Begründung der herrschenden politischen Ordnung
verliert.
Zur Legitimation dieser kulturellen Verschiebung wird stattdessen das
Argument der Berechtigung subjektiver Freiheit neu aufgerüstet. Indem
das Sozialrecht als illiberales Element verabschiedet wird, weil die in-
104
3. Die Farce der politischen Gegenwart
stitutionalisierten Prozesse staatlich vermittelter Normalisierung durch
Disziplinierung das subjektive Freiheitsversprechen in der Form der individuellen Rechtsfreiheit beschneiden, lässt sich der Zerfall bürgerlicher
Disziplinarinstitutionen als Befreiung zur Darstellung bringen.17 Die neoliberale Radikalisierung bürgerlicher Subjektivierung kommt einer sozialen
Entkleidung subjektiver Freiheit gleich: Während diese im sozialliberalen
Verständnis der trente glorieuses noch mit kulturell vermittelten Praktiken
und Institutionen der Bildung und Mündigkeit verknüpft wurde, auf denen
die liberale Hoffnung ihrer globalen Durchsetzung basierte (vgl. Kap. 1.1;
2.2.3), wurde sie in den letzten fünf Jahrzehnten von dem damit einhergehenden sozialen Anspruch befreit. So wurde die sozialdemokratisch
politisierte »Massenkultur« (Reckwitz 2017: 100) des Keynesianismus der
Nachkriegsjahre von einer neoliberalen »Hyperkultur […] kompetitiver
Singularitäten (Reckwitz 2017: 108; 102) abgelöst, in der die Freiheit der
Einzelnen nicht länger als kulturell vermittelte in Erscheinung tritt. Was
im Selbstverständnis des politischen Liberalismus als kulturelle Solidaritätsbedingung einer gelingenden Freiheitspraxis galt, wurde im Zuge
seiner neoliberalen Radikalisierung als bürgerlicher Disziplinierungsballast
abgeworfen, wodurch das Versprechen der gleichen Teilhabe aller auf das
normative Minimum einer individuellen Rechtsgleichheit reduziert wurde.
Indem das neoliberale Selbstverständnis vorgibt, durch die Erosion des
Sozialrechts ein Mehr an individueller Freiheit hervorgebracht zu haben,
sichert sich die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft durch eine immer schärfere, immer effizientere Selbstkontrolle
zunehmend flexibilisierter und formbarer Subjekte ab.18
17 Diese Kritik wird auch aus progressiver Warte formuliert: Die »Künstlerkritik« (2012: 30), so Boltanski und Chiapellos Klassifizierung dieses Ansatzes ausgehend von den Studierendenprotesten
von 1968, kritisiert die disziplinierende Normalisierung sozialrechtlich regulierter Institutionen
der Nachkriegszeit aufgrund ihrer normierenden Einschränkung subjektiver Freiheit. Dies resultiert allerdings nicht in einer Affirmation des Übergangs zur Kontrollgesellschaft, in der »Autonomie und Authentizität« nicht mehr »als Ergebnisse einer anderen, besseren Gesellschaft betrachtet« werden, sondern nur noch »als Resultat der Selbstoptimierung innerhalb der bestehenden Ordnung« (Amlinger, Nachtwey 2022: 126).
18 Trotz der globalen Dimension dieser Entwicklung ist anzumerken, dass der Aufstieg neoliberaler Kontrollmechanismen nicht zu in einer grundsätzlichen Überwindung von Disziplinarherrschaft geführt hat. Nicht nur in den Fabriken und informellen Produktionsstätten des globalen
Südens, auch im westlichen Niedriglohnsektor steht despotisches und autoritäres Management
weiterhin an der Tagesordnung (vgl. Davis 2006: 174–198; Mau 2023: 230).
3. Die Farce der politischen Gegenwart
105
3.3.6 Radikale Entpolitisierung
Im Übergang von der Disziplin zur Kontrolle bestätigt sich das bereits mit
Blick auf den politischen Liberalismus konstatierte asymmetrische Verwirklichungsverhältnis der zwei Ebenen liberaler Selbstregierung (vgl. 2.4.3):
Die vermeintlich freie Praxis subjektiver Selbstregierung ist der Politik nicht
vorgelagert, sondern ein politischer Effekt der objektiven gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft, für deren Stabilisierung
sich eine selbstverschuldende Kontrollkultur schlicht als effizienter erweist
als eine Disziplinierungskultur, die auf vergleichsweise schwerfälligere und
unflexible Institutionen angewiesen ist.
Die historische Entwicklung des neoliberalen Schuldenstaats geht mit
einer korrespondierenden Verschiebung der Stabilisierung globaler Märkte
von der antizyklischen Nachfragepolitik des keynesianischen Sozialstaats zu
einer konsumorientierten Förderung der Privatverschuldung – insbesondere durch Immobilienfinanzierung – einher, die sich als privatisierter Keynesianismus beschreiben lässt (vgl. Young 2009).19 Die Milderung sozialer Exzesse wird dabei nicht länger als Aufgabe eines sozialrechtlich regulierenden
Staates verstanden, sondern als Verantwortung selbstoptimierender Subjekte, die sich, um mit der steigenden Effizienz kapitalistischer Verwertung
mithalten zu können, privat verschulden müssen.
Zwar sind sie losgelöst von standardisierten Lebenslaufmustern, doch gleichzeitig können sie auf dem volatilen Markt, auf dem sie sich behaupten müssen, nur selten wirklich
selbstbestimmt agieren. Sie sind abhängig von Entwicklungen, die sie nicht kontrollieren
können. (Amlinger, Nachtwey 2022: 93)
Die neoliberale Radikalisierung subjektiver Normalisierungsprozesse durch
Kontrollmechanismen hat es der liberalen Handlungsordnung ermöglicht,
mehr Zeit zu kaufen, indem die Schuldenlast des permanent intervenierenden Staates durch eine zunehmende Privatverschuldung abgefedert wird.
Die Kontrollkultur neoliberaler Subjektivierung erklärt und legitimiert diese
Verschuldung, die nicht nur den Großteil der Kosten der Exzesse bürgerlicher Vergesellschaftung übernimmt, sondern auch das bürgerliche Missverständnis der Möglichkeit einer staatlichen Schuldenfreiheit aufrechterhält.
19 Young erklärt die Finanzkrise von 2008 als Folge der Entwicklung des privaten Immobilienmarkts zum »funktionalen Äquivalent« (2009: 144) der neoliberal überkommenen, keynesianischen
Nachfragepolitik.
106
3. Die Farce der politischen Gegenwart
Für den Einzelnen ergibt sich eine paradoxe Situation: Einerseits ist er den Kräften des
Marktes ausgeliefert wie einer Naturgewalt, andererseits kann er seinen Erfolg wie sein
Scheitern niemandem zuschreiben als sich selbst. (Bröckling 2000: 163 f.)
Die neoliberale Mobilisierung subjektiver Freiheit in der normativ minimalen Form individueller Rechtsfreiheit hat zu einer immer radikaleren
Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft geführt. Neoliberalismus
»bedeutet hier also, keine echten Alternativen zu haben, gleichzeitig aber
zu viele Optionen« (Amlinger, Nachtwey 2022: 101). Im Zuge der Überwindung normalisierender Disziplinarinstitutionen und sozialrechtlicher
Regulationsmechanismen ist es zur einer
Vollendung der schon weit vorangekommenen Entpolitisierung der politischen Ökonomie
[gekommen], zementiert in reorganisierten Nationalstaaten unter der Kontrolle internationaler, gegen demokratische Beteiligung isolierter Regierungs- und Finanzdiplomatie,
mit einer Bevölkerung, die in langen Jahren hegemonialer Umerziehung gelernt haben
müsste, die Verteilungsergebnisse sich selbst überlassener Märkte für gerecht [und] alternativlos zu halten. (Streeck 2015: 120)
Wie ausgehend von Hegel herausstellt wurde, wird die gouvernementale
Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft bereits im liberalen Ordnungsmodell von der »unwiderstehliche[n] Gewalt der Umstände« (VG
339) getragen. Die neoliberale Kombination der Ablösung sozialrechtlicher
Regulierung durch einen permanent intervenierenden Schuldenstaat mit
der kulturell vermittelten »Responsabilisierung des Subjekts« (Brown 2015:
81) hat die Erfahrung dieser politischen Ohnmacht jedoch in einer bis vor
wenigen Jahrzehnten undenkbaren Deutlichkeit zutage gebracht.
In der neoliberalen Gegenwart wird manifest, was für das Bestehen der
bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich gilt: Der Staat als intervenierender
ist »notwendig, die Demokratie nicht« (Kostede 1980: 160). Im Zuge des Neoliberalismus ist die Erfahrung der Möglichkeit einer partiellen sozialrechtlichen Regulierung der bürgerlichen Gesellschaft, die das liberale Versprechen
demokratischer Selbstbestimmung durch die trente glorieuses getragen hatte,
endgültig verlustig gegangen. Mittlerweile reproduzieren sich die gouvernementalen Herrschaftsverhältnisse, die den Lauf der politischen Geschichte
bestimmen, nicht mehr indirekt, sondern offen unter dem modernen Nenner »ewiger Gerechtigkeit«: TINA – there is no alternative (vgl. dazu Brown
2019: 64 sowie Streeck 2017: 253).
3. Die Farce der politischen Gegenwart
107
3.4 Autoritärer Libertarismus
Im Augenblick des Umschlags der liberalen Handlungsordnung in eine
offene Farce zeigt sich Marx zufolge, was sie immer schon war: ein gebrochenes Versprechen gleicher demokratischer Teilhabe und subjektiver
Freiheit. Die historisch neuartige Offensichtlichkeit dieses Bruchs, die die
politische Gegenwart seit mehreren Jahren prägt, motiviert nicht nur progressive Liberalismuskritiken, die an die Versprechen seiner revolutionären
Einsetzung erinnern. Sie ruft auch autoritäre Gegenbewegungen auf den
Plan, die der Diskrepanz des liberalen Versprechens individueller Freiheit und Selbstbestimmung zur tatsächlichen Abhängigkeit der Einzelnen
von Entwicklungen, die sich ihrer Kontrolle wesentlich entziehen, durch
libertäre Forderungen einer noch radikaleren Individualisierung entgegentreten (vgl. Hindrichs 2022: 59 f.). Spätestens seit der Finanzkrise von
2008 hat sich weltweit eine neue, autoritäre Rechte etabliert, die sich als
libertäre Gegenbewegung gegen einen politischen Liberalismus sozialdemokratischer Ausprägung begreift. Die kategorische Ablehnung staatlicher
Interventionspolitik in Kombination mit rassistischen und sexistischen
Ressentiments hat eine unter dem Nenner eines autoritären Libertarismus fassbare Allianz zwischen so unterschiedlichen Bewegungen wie den
Maßnahmengegner:innen mit Neonazis und ihren antisemitischen Verschwörungstheorien, der Alt-Right mit unterschiedlichen Ausprägungen
des Trumpism und neoreaktionären Technodystopien hervorgebracht. Die
gouvernemental verdunkelte Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft,
die »den Menschen« nicht nur »chaotisch und unverständlich erscheint«,
sondern ihnen auch »feindlich begegnet […,] produziert nicht [mehr] nur
Massen, die sich passiv ihrem Schicksal fügen, sondern mobilisiert [zunehmend auch] eine zerstörerische Aktivität, die sich gegen [die erfahrene]
Bedrohung wendet« (Amlinger, Nachtwey 2022: 56).
Das historische Erstarken dieser Bewegungen spiegelt sich auch in der
kritischen Theoriebildung: Während sich die Kritik des politischen Liberalismus im demokratietheoretischen Diskurs – in weit rezipierten Analysen
seines »postdemokratischen« (Crouch 2004) »soft totalitarism« (Lacou-Labarthe, Nancy 1997: 128) und »nihilistischen Zeitalter[s]« (Rancière 2014: 132)
– bis vor wenigen Jahren hauptsächlich mit dem Phänomen seiner immanenten Tendenz zur Entpolitisierung auseinandergesetzt hat, ist es in jüngerer Zeit zu einer Fokussierung auf regressive Gegenbewegungen gekom-
108
3. Die Farce der politischen Gegenwart
men (vgl. insbesondere Amlinger, Nachtwey 2022; Brown 2019; Fraser 2017b,
Henkelmann et al. 2020).
Einig sind sich verschiedene Gegenwartsdiagnosen darin, dass solche
Bewegungen an Einfluss gewonnen haben, weil die etablierten politischen
Mächte – und mit ihnen auch die Gewerkschaften als traditionell linke
Gegenkräfte – im Zuge ihres intervenierenden Krisenmanagements an Legitimität verloren haben. Sie können nicht mehr glaubhaft vermitteln, dass
sie die Bedürfnisbefriedigung der Einzelnen politisch sicherstellen können
(vgl. Amlinger, Nachtwey 2022: 16). Damit reagiert die neue Rechte auf
das tatsächlich gebrochene liberale Versprechen einer durch die staatliche
Sicherung subjektiver Rechte gewährleisteten individuellen Selbstbestimmung (vgl. Rensmann 2020: 47). Der autoritäre Libertarismus ist nicht »als
irrationale Bewegung gegen, sondern als Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften« (Amlinger, Nachtwey 2022: 13) zu begreifen. Denn obwohl sich der
in ihm zum Ausdruck kommende Protest gegen den politischen Liberalismus
richtet, rebelliert er im Namen einer seiner zwei zentralen Werte: subjektiver
Freiheit.
Darin zeigt sich auch, was der autoritäre Libertarismus nicht sein will:
eine Politik demokratischer Teilhabe. Bereits in seinem klassischen theoretischen Selbstverständnis wird der Libertarismus als Radikalisierung der neoliberalen Position eingeführt, da sämtliche Marktinterventionen und damit
auch das gegenwärtig ubiquitäre Prinzip der Staatsverschuldung abgelehnt
werden (vgl. u.a. Friedman 1970; Hoppe 2015; Nozick 1974: 113–119; Rand,
zitiert nach Toffler 1997, dazu Craib 2022: 27–29; Rothbard 2006). Auf der
Grundlage eines Verständnisses subjektiver Freiheit, das diese in Kontinuität zur naturrechtlichen Konzeption des politischen Liberalismus begreift,
d.h. nicht als gesellschaftliche Errungenschaft, sondern als natürlich vorausgesetzter persönlicher Besitzstand, der politisch nicht hergestellt, sondern
nur verteidigt werden muss (vgl. Marcuse 1968: 12; von Redecker 2020a: 55),
soll der Staat auf ein absolutes Minimum reduziert werden – »police, armed
services and the law courts to settle disputes amongst men« (Rand, zitiert
nach Toffler 1997: 245 f.; Rothbard 2000). Es handelt sich dabei um eine weitere Radikalisierung der liberalen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft:
Libertäre Bewegungen reagieren auf den erfahrenen Verrat am Versprechen
subjektiver Freiheit nicht, indem sie ihn dem kapitalistischen Verwertungsimperativ anlasten, dessen gouvernementale Regierung in eine immer stärker verschuldete Kontrollgesellschaft führt, sondern indem sie die neoliberale Interventionspolitik kritisieren, die mehr schlecht als recht versucht,
3. Die Farce der politischen Gegenwart
109
die daraus erwachsenden Exzesse abzumildern. Interessant ist, dass dieser
theoretische Anspruch praktisch kaum je eingelöst wird. In Staaten, in denen autoritär-libertäre Figuren an der Regierungsmacht sind, wird die neoliberale Interventionspolitik in der Regel fortgeführt, wovon medienwirksame Intensivierungen staatlicher Diskriminierung ablenken. Die Farce autoritär-libertärer Regierung manifestiert sich entsprechend darin, dass durch
den Versuch einer weiteren Radikalisierung der neoliberalen Freisetzung der
bürgerlichen Gesellschaft auch die darauf reagierende staatliche Krisenpolitik verstärkt wird, durch deren vermeintliche Überwindung sie sich politisch
legitimiert.
Dass es die geteilte Kritik neoliberaler Interventionspolitik ist, die es
vermag, eine (vorübergehende) Kohärenz unter autoritären Bewegungen zu
erzeugen, zeigt sich auch daran, dass Phasen libertärer Politisierung häufig
verzögert in Reaktion auf die Erfahrung staatlicher Eingriffe auftreten.
Obwohl die ökonomische oder soziale Deprivation der Einzelnen, gegen die
sich ihre destruktive Rebellion richtet, in der Regel bereits länger anhält,
gewinnen autoritär-libertäre Bewegungen ihr Momentum meist durch
politische Ereignisse wie die Wirtschaftskrise 2008, die Fluchtbewegungen 2015 oder die COVID-19-Krise 2020 (Amligner, Nachtwey 2022: 309).
Dies ist auch der Grund, weshalb die konkreten Programme politischer
Gruppierungen, die sich unter dem Nenner des autoritären Liberalismus
zusammenfassen lassen, in ihren über die Kritik staatlicher Interventionspolitik hinausgehenden Programmen teils stark voneinander abweichen
können.
Autoritär-libertäre Bewegungen lassen sich mit Fraser (vgl. 2017a: 33;
2017b: 78 f.) als regressive Kritik an einem progressiven Neoliberalismus
verstehen. Um die neoliberale Agenda staatlicher Deregulierung politisch
durchzusetzen und zu legitimieren, kam es in den 1990-Jahren unter New
Labor und dem Dritten Weg zu einem historischen Bündnis mit sozialen
Bewegungen und identitätspolitischen Begehren (vgl. Giddens 1999). Im
Kontext des autoritären Libertarismus wird das Leiden an den immer erbarmungsloseren Effizienzimperativen der neoliberalen Vergesellschaftung
auf diese politische Integration von historischen Minderheiten projiziert
(vgl. von Redecker 2020a: 39). Im Unterschied zur marxistischen Tradition
der Kritik bürgerlicher Vergesellschaftung werden soziale Exzesse nicht
länger durch Klassenunterschiede erklärt, sondern durch die Beschwörung
der Metapher eines Gesellschaftskörpers, dessen »harmonious relation
between brain and limbs, that is, between employers and employees«, in
110
3. Die Farce der politischen Gegenwart
der Form von Migrant:innen und Jüd:innen ein »external or parasitical
element« gegenübertritt, »which feeds on the social body« (Teixeira Pinto
2019: 19, vgl. dazu auch Marcuse 1968).20 Infolgedessen wird der Allianz
zwischen neoliberaler Deregulierung und progressiver Identitätspolitik das
Versprechen einer Stärkung subjektiver Freiheit durch sexistische, rassistische und antisemitische Nationalismen entgegengestellt, die stabile, häufig
wertekonservative Identitäten – jenseits der nicht mehr glaubwürdigen
Zusicherung einer bürgerlichen Solidaritätskultur – anbieten (vgl. Brown
2019: 5; 13).
Autoritär ist dieser Libertarismus nicht nur, weil der erfahrene Verlust
subjektiver Freiheit auf dem Ressentiment einer imaginierten Bedrohung
durch historische Minderheiten gründet, sondern vor allem, weil er offen
einen Kapitalismus ohne Demokratie, d.h. ohne Anspruch einer kollektiven
Gestaltung geteilter Praxis, proklamiert (vgl. Hoppe 2001, dazu Amlinger,
Nachtwey 2022: 50; Bonefeld 2016; Slobodian 2023).21 Er befördert eine Form
der »Anti-Politik« (Amlinger, Nachtwey 2022: 326; vgl. Texeira Pinto 2019:
7), denn die Führungsfiguren der neuen Rechten werden nicht gewählt, um
die bürgerliche Gesellschaft anders, besser zu gestalten, sondern um von
20 Der durch Ohnmachtserfahrungen motivierten Rebellion des autoritären Libertarismus fehlt eine theoretische Grundlage, »wie es beispielsweise der Marxismus für die Arbeiter- oder der Feminismus für die Frauenbewegung war. Statt Theorie gibt es nur noch Sound- und Argument-Bites,
die erratisch zusammengefügt werden; auf argumentative Stringenz [wird] wenig Wert [gelegt]«
(Amlinger, Nachtwey 2022: 296). Wie Texeira Pinto im Anschluss an Jameson (vgl. 1991: 3) festhält,
lässt sich die damit zusammenhängende Konjunktur von Verschwörungstheorien daher als »the
poor person’s Marxism, a degraded version of Ideologiekritik« dechiffrieren. Diese lassen sich als
»a Herculean attempt« verstehen, »to come to grips with the fact that power is not located where
it is said to be – using tools ill-suited to the task. In a way, the whole alt-right Weltanschauung
could be construed as a backhanded compliment to Marx« (2019: 6).
21 Dies widerspricht dem häufig plebiszitären Selbstverständnis dieser Bewegungen nur oberflächlich: Wie Amlinger und Nachtwey in ihrer soziologischen Studie der Querdenker:innenszene zeigen, beruht deren Anspruch einer basisdemokratischen Selbstermächtigung auf einer äußerst
»dünne[n] Rahmenerzählung« kollektiven Handelns: »Man ist dagegen – gegen das Establishment, gegen die Macht. […] Dieser Impuls mündet häufig in einem Wunsch nach Dis-Intermediatisierung, also der Ausschaltung aller organisatorischen oder repräsentativen Instanzen,
die Interessen und Einsprüche bündeln sowie Kompromisse herstellen können« (2022: 120). Am
anderen Rand des autoritär-libertären Spektrums tritt die Forderung einer Abschaffung demokratischer Prozesse sogar offen zutage: Während die in der amerikanischen Technologiebranche
populäre Lehre des Longtermism ihre eugenischen Prämissen noch mehr oder weniger bedeckt
hält, spricht sich die Bewegung des »Dark Enlightenment« ungeniert dafür aus, Technomonarchien unter der Führung einer »transhuman super-race« (Texeira Pinto 2019: 19) von Silicon Valley
CEOs zu installieren (vgl. Burrows; Smith 2021: 149).
3. Die Farce der politischen Gegenwart
111
der Politik endlich in Ruhe gelassen zu werden. Dies steht zwar im Widerspruch zum politischen Selbstverständnis der Französischen Revolution
(vgl. Kap. 1.3), nicht jedoch zur (neo)liberalen Theoriebildung insgesamt.
Wie Texeira Pinto darlegt, ist
democratic self-governance […] not a necessary part of a liberal social order. On the contrary, classical [neoliberalism; LH] does not support the idea of inalienable rights [of participation; LH] – Hayek famously said he favoured a »liberal dictatorship« when professing his support for Pinochet’s coup in Chile – but this ideological affinity between fascism
and libertarianism, however substantial, was obscured by geopolitical alignments and revisionist history. (2019: 17)
Die Unterminierung demokratischer Teilhabe ist aufgrund seines Primats
subjektiver Freiheit in der Form individueller Rechte in die Architektur des
politischen Liberalismus eingeschrieben (vgl. Kap. 2.2.2). Bereits in der
Diskussion seiner neoliberalen Radikalisierung wurde deutlich, dass es in
einer Handlungsordnung, in der der kapitalistische Verwertungsimperativ
der historischen Ausnahme seiner sozialliberalen Regulierung entledigt
wurde und infolgedessen den immer alternativloseren Raum des politisch
Möglichen absteckt, keine Demokratie mehr braucht. Im Zuge dessen wurde die ursprünglich in gleichem Maße über demokratische Teilhabe wie
über subjektive Freiheit begründete Legitimation dieser Ordnung durch
das immer einseitigere Versprechen individueller – vermeintlich nicht länger politischen – Selbstbestimmung ersetzt. Marcuses mit Blick auf den
europäischen Faschismus des 20. Jahrhunderts festgehaltene Beobachtung
hat daher nichts an Aktualität verloren: »Since the social order intended
by liberalism is left largely intact, it is no wonder that the ideological interpretation of this social order exhibits a significant agreement between
liberalism and antiliberalism« (1968: 7).
Autoritär-libertäre Bewegungen radikalisieren die liberale Position,
indem sie das Versprechen demokratischer Teilhabe an der staatlichen
Regierungsmacht nicht mehr nur missachten, sondern zugunsten weiterer
politischer Deregulierungen der bürgerlichen Gesellschaft offen ablehnen.
Sie radikalisieren die neoliberale Position, indem sie deren historisches
Bündnis mit sozialen Bewegungen und identitätspolitischen Begehren
aufbrechen und durch eine entgegengesetzte Intensivierung politischer
Diskriminierung ersetzen, die von ihrem Scheitern an der proklamierten Überwindung staatlicher Interventionspolitik ablenkt. Der autoritäre
Libertarismus ist eine regressive Radikalisierung der neoliberalen Radika-
112
3. Die Farce der politischen Gegenwart
lisierung des politischen Liberalismus. Wo das liberale Selbstverständnis
einer solidarisch kooperierenden bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr nur
durch die neoliberale Behauptung eines losen Nebeneinanders atomisierter
Individuen, sondern zusätzlich durch eine Intensivierung politischer Diskriminierung abgelöst wird, verliert das revolutionäre Versprechen gleicher
demokratischer Teilhabe die letzten Überreste seines legitimatorischen
Sinns.
3.4.1 Kulturen bürgerlicher Lächerlichkeit
Das Gros der autoritär-libertären Führungsfiguren, die in den letzten Jahren die Regierungen westlicher Demokratien übernommen haben, zeichnet
sich durch eine neue Lächerlichkeit aus. Darin manifestiert sich der Umschlag der liberalen Tragödie in eine Farce, die Marx als schlechte Komödie
beschrieben hatte. An Hegels Gattungsbestimmungen anschließend lässt
sich das Verhältnis von Farce und Komödie als Unterscheidung zwischen
einer lächerlich missratenen und einer gelingenden Komödie rekonstruieren. Beide Modelle reagieren auf das tragische Scheitern der liberalen
Handlungsordnung, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise: einmal,
indem der Anspruch gleicher Teilhabe ostentativ fallengelassen wird, das
andere Mal, indem die politische Moderne einer Neuordnung unterzogen
wird, die eine selbstbestimmte Praxis gleicher Teilhabe und subjektiver
Freiheit etabliert. Indem zwischen der gelingenden Komödie einer wahren
Demokratie und der bloß lächerlichen Farce der politischen Gegenwart
unterschieden wird, lässt sich nachvollziehen, worin die Art und Weise,
wie der autoritäre Libertarismus den gebrochenen Versprechen des politischen Liberalismus begegnet, fehlgeht und was daraus für das Projekt einer
progressiven Liberalismuskritik folgt.
Hegel differenziert in der Ästhetik zwischen scheiternden und gelingenden Komödien, indem er Erstere als bloße Lächerlichkeit ohne gesellschaftlichen Ordnungsanspruch beschreibt, während er Zweitere als eine dramatische Handlungsordnung eigenen Rechts begreift, die auf politiktheoretischer Ebene mit dem Anspruch einer Neuordnung der Moderne einhergeht
(vgl. Hunter 2023: 215–242). Im Unterschied zur gelingenden Komödie, für
die Hegel eine Reihe an Bedingungen formuliert (vgl. Kap. 4.1), ist lächerlich bereits »jeder Kontrast des Wesentlichen und seiner Erscheinung […],
ein Widerspruch, durch den […] der Zweck in seiner Realisation sich selbst
3. Die Farce der politischen Gegenwart
113
um sein Ziel bringt« (ÄIII 527). Folgt man dieser Unterscheidung, lässt sich
keine politisch gelingende Praxis der Lächerlichkeit skizzieren. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sämtliche Praktiken komödiantischer Distanznahme von den bestehenden (neo)liberalen Ordnungsverhältnissen notwendigerweise dem im Folgenden kritisierten Strukturkonservatismus bürgerlicher Lächerlichkeitskulturen zum Opfer fallen müssten. Es handelt sich primär um eine begriffliche Verschiebung: Im Kontext meiner politischen Lektüre der Komödientheorie Hegels sind progressive Praktiken des Lächerlichmachens, die Rebentisch nicht als bloße »Umkehrung der Positionen« (2020:
54), sondern als Verweis auf die Möglichkeit einer anderen sozialen Praxis
begreift, als Antizipation einer strukturell komischen Neuordnung zu verstehen, wie sie in Kapitel 4 ausgeführt wird. Gleichwohl ist Adorno zuzustimmen: »Je gründlicher die Gesellschaft« eine solche Neuordnung schuldig
bleibt, »um so unwiderstehlicher wird Komik in den Orkus gerissen, Lachen,
einst Bild von Humanität, zum Rückfall in die Unmenschlichkeit« (Adorno
1975: 603). Je hegemonialer die regressive Lächerlichkeit autoritär-libertärer
Bewegungen, desto schwerer haben es subversiv operierende Antizipationen
einer komischen Neuordnung der politischen Moderne.
Marx’ Deutung Louis Bonapartes, dessen Aufstieg er als Ausdruck der lächerlichen Komödie liberaler Ordnungsbildung beschreibt, korrespondiert
mit dieser Definition Hegels: Indem Bonaparte die Praxis bürgerlicher Klientelpolitik »platt als Komödie« (2007: 70) nahm, zeigte er gemäß Marx auf,
wie die liberale Ordnungsbildung an ihrem eigenen Maßstab scheitert. In
demselben Sinne erweist sich auch eine bürgerliche Kultur, die gouvernementale Mechanismen der Selbstverschuldung und politisch alternativlose
Zustände fördert, aber gleichzeitig mit dem Appell an die Einzelnen herantritt, durch Solidarität jene Voraussetzungen einer pluralen Vergesellschaftung herzustellen, die der Staat nicht hervorzubringen vermag, als lächerlicher »Widerspruch« zwischen dem »Wesentlichen« liberaler Ordnungsbildung und seiner »Erscheinung«. Autoritäre Versuche, liberale Handlungsordnungen zu überwinden, mobilisieren diese Lächerlichkeit als politische
Strategie.
Das Phänomen einer kulturell verankerten bürgerlichen Lächerlichkeit,
die Forderungen einer Neuordnung der politischen Moderne unterminiert,
ist dementsprechend nicht neu. Es äußert sich nur unterschiedlich: als
passive, neoliberale Kultur eines elitären Zynismus oder als aktive Strategie
libertärer Meme Wars. In beiden Ausprägungen schirmen Praktiken der
Lächerlichkeit die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft und die darin
114
3. Die Farce der politischen Gegenwart
wirksamen Verwertungsimperative vor der Gefahr einer, auf das strukturell komische Ordnungsmodell einer wahren Demokratie ausgerichteten,
revolutionären Infragestellung der liberalen Handlungsordnung ab. Der
entpolitisierende Effekt der Distanznahme, der beiden Phänomenen bürgerlicher Lächerlichkeit gleichermaßen zugrunde liegt, lässt sich bereits
an Hegels problematischer Lektüre der antiken Komödien Aristophanes’
nachvollziehen, die hinter seinen Begriff komischen Gelingens zurückfällt.
Bevor der Unterschied des neoliberalen Zynismus zur autoritären Strategie der Lächerlichkeit im Kontext libertärer Bewegungen diskutiert wird,
gilt es daher ausgehend von Hegel kurz das grundlegende Problem eines
lächerlichen Strukturkonservatismus zu rekapitulieren.
3.4.2 Das Aristophanes-Problem
Wie schnell das komische Versprechen emanzipativer Befreiung und kollektiver Selbstbestimmung in eine lächerliche Herrschaftsstabilisierung kippen
kann, zeigt sich bereits beim antiken Komödiendichter Aristophanes, über
den Hegel schreibt: »Ohne ihn gelesen zu haben, läßt sich kaum wissen, wie
dem Menschen sauwohl sein kann« (ÄIII 553). Denn die genauere Betrachtung der komödiantischen Verkehrungen Aristophanes’ zeigt, dass diese keineswegs zu einer »frei in sich selbst sich geistig bewegende[n] absolute[n]
Subjektivität« führen, die »sich nicht mehr mit dem Objektiven« (ÄIII 527)
einigen muss. Ganz im Gegenteil lässt Aristophanes den Widerstand selbstbestimmt rebellierender Subjekte scheitern, indem er ihn als lächerlichen
Kontrast zum vermeintlich substanziellen Wesen bestehender Herrschaftsstrukturen zur Darstellung bringt. Aristophanes’ Werke scheitern an Hegels
Definition der Komödie, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die komisch verkehrt werden, nicht für ihre Veränderung öffnen, sondern durch
den Gestus einer Distanznahme im Gegenteil stabilisieren. Hegel selbst ist
die Tragweite dieser Verfehlung verborgen geblieben, was sich daran zeigt,
dass sich seine affirmative Diskussion der aristophanischen Werke im Rekurs auf seine eigene Kritik der kompensatorischen Lächerlichkeit scheiternder Komödien dekonstruieren lässt (vgl. Hunter 2023: 228–238).
Besonders deutlich tritt der Strukturkonservatismus Aristophanes’ im
Beispiel der Frauen in der Volksversammlung (Eκκλησιάζουσαι) zutage. Durch
List, Intrige und Verkleidung schaffen sich die Frauen* Athens illegalen Zugang zu der den »als vollständig unfähig karikierte[n]« Männern vorbehal-
3. Die Farce der politischen Gegenwart
115
tenen Volksversammlung. Dort übernehmen sie die Macht von überrumpelten Politikern, deren kriegslustiger und habsüchtiger Herrschaft sie ein Ende setzen, indem sie einen »egalitären Sklavenhalterkommunismus« (Wallat
2015) einführen. Sie überschreiben sämtliches Privateigentum an die Polis
und erklären Promiskuität zur neuen gesellschaftlichen Norm, ohne jedoch
die antike Sklaverei infrage zu stellen. Begründet wird dieser Umbruch, Wallats überzeugender Deutung des Stücks zufolge, durch eine erstaunlich moderne Kritik der gesellschaftlichen Organisation der Reproduktionsarbeit:
Die bekannteste und durch ihren ernsten Scharfsinn beeindruckendste [der Rebellinnen]
ist Lysistrate (»die das Heer Auflösende«). Mit einer verwegenen politischen Idee vereint
die Wortgewaltige die Frauen Griechenlands: mit einem – bei Aristophanes erfolgreichen
– Sexstreik, der die unsäglichen Kriege der Männer beenden soll. Lysistrate pocht auf
die herausragende Bedeutung der Frauen für das Gemeinwesen, die in der elementaren
Reproduktion bestehe: »Am Gemeinwohl habe ich Anteil, denn ich liefere ihm Männer«.
(Wallat 2015)
Es ist die gesellschaftlich hervorgebrachte und vermittelte Verpflichtung zur
Reproduktionsarbeit, die die Frauen an den Oikos fesselt und ihnen dadurch
die Bedingungen einer freien und gleichen Teilhabe an der politischen Praxis
verunmöglicht.
Was auf den ersten Blick wie eine progressive Adressierung der Voraussetzungen einer selbstbestimmten politischen Praxis der gleichen Teilhabe
aller klingt, dient Aristophanes allerdings dazu, die bestehenden Verhältnisse gendernormierter Stereotypen und die Herrschaft jener männlichen
Elite zu festigen, welche die athenische Bevölkerung dem nicht enden wollenden Elend des Peloponnesischen Krieges aussetzte. Indem der weibliche
Widerstand als irrational, verdorben und ordnungsunfähig zur Darstellung
gebracht wird, verkehrt sich die dargestellte Kritik an den gesellschaftlichen
Reproduktionsverhältnissen in eine »Persiflage, die die Unmöglichkeit radikaler sozialer Transformationen nur umso eindringlicher vorführt« (Wallat
2015).22 So schlägt Lysistrates radikale Kritik, die sie überzeugend und kohärent vorträgt, in das »Lächerlichmachen von (weiblicher) Kritik an patriar-
22 Dem entspricht auch Adornos vernichtendes Urteil, das nichtsdestotrotz noch zu optimistisch
ausfällt: »Was gar an den […] Komödien des Aristophanes komisch sein soll, ist zum Rätsel geworden, die Gleichsetzung des Derben mit dem Komischen nur noch in der Provinz nachzufühlen« (1975a: 603). Wie spätestens die neue Proliferation bürgerlicher Lächerlichkeit im libertären Meme War aufgezeigt hat (vgl. Kap. 3.4.4), handelt es sich bei der Annahme, dass eine solche
Gleichsetzung nur noch in der Provinz nachgefühlt würde, um Wunschdenken.
116
3. Die Farce der politischen Gegenwart
chaler Herrschaft« (Wallat 2015) um. Indem die Verkehrung der Verhältnisse
auf eine Weise zur Darstellung gebracht wird, die nicht diese Verhältnisse,
sondern deren Verkehrung der Lächerlichkeit preisgibt, kann alles bleiben,
wie es war.
Mit Blick auf Hegels reaktionäres Modell christlicher Sittlichkeit (vgl.
Kap. 2.3.2) und sein essentialistisches Geschlechterverständnis, überrascht
nicht, dass es ihm gefällt, wie Aristophanes widerständige Frauen ins Lächerliche zieht, ohne sich »[ü]ber das wahrhaft Sittliche im athenischen
Volksleben, über die echte Philosophie, den wahren Götterglauben, die
gediegene Kunst« (ÄIII 530) lustig zu machen (vgl. hierzu Newinger 1996:
332 und Murray 1986: 215). Hegel schätzt Aristophanes dafür, dass er
die Auswüchse […] der Demokratie, aus welcher der alte Glaube und die alte Sitte verschwunden sind, die Sophisterei, die Weinerlichkeit und Kläglichkeit der Tragödie, die
flatterhafte Geschwätzigkeit, die Streitsucht usf., [als] dies bare Gegenteil einer wahrhaften Wirklichkeit des Staats, der Religion und Kunst ist es, [als sich] selbst auflösende Torheit vor Augen stellt. (ÄIII 530)
Er schätzt ihn also für ebenjene vulgäre Darstellung subjektiven Widerstands als »substanzlose[s] Handeln«, von der er selbst behauptet hatte,
dass sie nicht »schon um dieser Nichtigkeit willen komisch« ist, sondern
als lächerliche Bestätigung des Gegebenen »mit dem eigentlich Komischen«
nur »verwechselt« (ÄIII 527) würde. Es ist bemerkenswert, wie offensichtlich
Hegel durch sein Lob Aristophanes’ seinen eigenen Begriff der Komödie unterwandert und dessen emanzipatorischen Ordnungsanspruch preisgibt.23
Hegels Schwärmerei für Aristophanes, der, wie es auch in den Vorlesungen
23 Eine weitere Unschärfe, die aus Hegels affirmativer Deutung der Komödien Aristophanes’ und
ihrer Spannung zu seinem eigenen Begriff komischen Gelingens erwächst, liegt in der dadurch
untergrabenen Gattungsdifferenz zwischen Komödie und antiker Satire. Im Unterschied zur Komödie definiert Hegel die Satire als eine untergeordnete Kunstform, die durch eine rein körperliche Erfahrung jenseits geistiger Reflexivität bestimmt bleibt. Als Beispiel nennt Hebing die römischen Saturnalien, die als »regelmäßig wiederkehrende Kollektivveranstaltung[en] zur lachenden Entlastung von sozialem Druck [dienten], ohne dass dabei höhere oder zumindest überlieferungswerte ästhetische Gestaltungen entstehen würden […]. Im Unterschied zur Festkultur der
Komödie als das Zelebrieren des modernen Bewusstseins des freien Demos […] bleibt die karnevaleske Festkultur der Römer in […] ihrer Widersprüchlichkeit gefangen und dringt im Äußersten
zu dieser ganz formalen und temporären Befreiung des Bürgers oder Bauern durch Lachen fort,
das immer eine körperliche Erfahrung bleibt und bewusstlos« (2015: 244 f.). Mit Blick auf die Erfahrung sittlicher Substanz in den antiken Komödien des Aristophanes bleibt unklar, worin die
vermeintlich höhere Geistigkeit eines als komische Sauwohligkeit erfahrbaren Demos gegenüber
der körperlich erfahrenen Versöhnung in der Satire begründet sein soll.
3. Die Farce der politischen Gegenwart
117
über die Philosophie der Geschichte heißt, »für das Wohl des Vaterlandes geschrieben und gedichtet hat« (VG 318), steht nicht nur in Spannung zu seiner
ordnungstheoretischen Definition einer selbstbestimmten Gestaltbarkeit
geteilter Praxis in der gelingenden Komödie, sie zeugt darüber hinaus von
einer grundsätzlichen Scheu gegenüber der von ihm selbst eröffneten Radikalität der geistphilosophischen Prämissen seiner politischen Philosophie,
deren Konsequenzen er nicht zu tragen bereit war (vgl. Kap. 2.3.2).
Statt auf Grundlage seines selbstreflexiven Begriffs gelingender Ordnungsbildung die politische Etablierung einer strukturell komischen Handlungsordnung einzufordern, bedient Hegel sich Aristophanes’ Komödien,
um tradierte Herrschaftsverhältnisse zu besiegeln, indem er diese zur »ewigen« – strukturell eigentlich tragischen – Gerechtigkeit eines übergeordneten Schicksals verklärt, ihnen dabei aber einen subversiven Anstrich verleiht.
In den Kontext der Moderne übertragen, bringt Menke den strukturkonservativen Effekt dieser Lächerlichkeit anhand von Tiecks romantischer
Komödie des Gestiefelten Katers auf den Begriff:
Ja, selbst in der eigenen Darstellung der Komödie bleibt das darin dargestellte Publikum
der Komödie durch die Komödie unverändert: Die Selbstgefälligen, Großsprecher und
Spießer, aus denen sich das Publikum im Gestiefelten Kater zusammensetzt, sind dies
nach wie vor; zwar ist in der Komödie alles anders, aber nichts hat sich durch die Komödie
geändert. (2005: 138)24
Darin, dass alles bleiben kann, wie es war, nachdem der Versuch etwas zu ändern, verlacht wurde, manifestiert sich der grundlegend konservative Kompensationsmechanismus einer auf ostentativer Distanznahme beruhenden,
bürgerlichen Lächerlichkeitskultur.
24 Obwohl sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Deutschland des 19. Jahrhunderts nicht unmittelbar mit dem antiken Griechenland vergleichen lassen, steht die Grundoperation einer wesentlich einverstandenen Distanznahme in der deutschen Romantik – über die Hegel in Auseinandersetzung mit dem der Komödie und der Lächerlichkeit verwandten Begriff der Ironie ein
vernichtendes Urteil fällt (vgl. Hunter 2023: 75–82) – in »unübersehbarer Nähe« (Hebing 2014:
130) zum Strukturkonservatismus Aristophanes’, den Hegel gegen Ende der Ästhetik so enthusiastisch lobt.
118
3. Die Farce der politischen Gegenwart
3.4.3 Elitärer Zynismus als bürgerliche Lächerlichkeitskultur
Im Nachgang der trente glorieuses prägte eine Kultur der passiven Akzeptanz
politischer Ohnmacht die bürgerliche Gesellschaft. Unter dem Nenner einer »zynischen Vernunft« zeichnet Sloterdijk nach, wie das postmoderne
Selbstverständnis der privilegierten »Schlüsselstellungen der Gesellschaft in
Vorständen, Parlamenten, Aufsichtsräten, Betriebsführungen, Lektoraten,
Praxen, Fakultäten, Kanzleien und Redaktionen« mit einer »gewisse[n] schicke[n] Bitterkeit« (1983: 37) untermalt wurde. Deren kulturelle Verankerung
ermöglichte es, die Exzesse und Einschränkungen liberaler Vergesellschaftung in »schmatzend einverstandene[m] Behagen« (Adorno 1975a: 603)
hinzunehmen. Žižek definiert das dabei greifende Prinzip einer zynisch
entlastenden Distanznahme folgendermaßen:
Cynical reason […] is a paradox of an enlightened false consciousness: one knows the falsehood very well, one is well aware of a particular interest hidden behind an ideological universality, but still one does not renounce it. (1989: 25 f.)
Im Zuge der neoliberalen Radikalisierung der liberalen Ordnungsbildung
wird diese zynische Vernunft zunehmend »part of the game. The ruling
ideology is not meant to be taken seriously or literally« (1989: 24).25 Dieses
nachlässige go along postmoderner Bürgerlichkeit, welche die zunehmende
Exzessivität ihrer kapitalistischen Vergesellschaftung erkennt, ohne sie
politisch zurückzuweisen, steht zwar im Kontrast zur »anti-cynical philosophy« (Saarinen 2013) der liberalen Hoffnung auf eine Zunahme bürgerlicher
Solidarität (vgl. Kap. 2.2.3). Beide gründen allerdings auf derselben Prämisse: Eine politische Neuordnung wird kategorisch ausgeschlossen, weil sie
begrifflich mit einem Rückfall in undemokratische Ordnungen gleichgesetzt
wird. Infolgedessen wird die Perspektive auf eine andere demokratische
Ordnungsbildung als naiver Wunschtraum diskreditiert und der politische
Liberalismus als beste aller schlechten Ordnungen affirmiert.
The attitude of ironic distance proper to postmodern capitalism is supposed to immunize
us against the seductions of fanaticism. Lowering our expectations, we are told, is a small
price to pay for being protected from terror and totalitarianism. (Fisher 2009: 5)
25 Für die politische Gegenwart aktualisiert wird diese Position im Akzelerationismus, vgl. exemplarisch Shaviro 2014: 40; für eine Kritik dieser Position Alphin 2021: 124; 118.
3. Die Farce der politischen Gegenwart
119
Auch auf poetologischer Ebene korrespondiert die zynische Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit mit dem liberalen Kulturargument der Hoffnung auf
eine Zunahme bürgerlicher Solidarität. Im Zuge der zunehmenden Manifestierung liberaler Ordnungsbildung als neoliberale Farce bürgerlicher Exzesse wird deren tragische Verklärung als bloß vorübergehende Ausdrücke
der »ewigen Gerechtigkeit« der globalen Märkte durch die zynische Entwertung sämtlicher Versuche ihrer Politisierung abgelöst.
[D]ie militanten Tragiker, die zwar kämpfen, aber sich keinen wünschenswerten Zustand
dieser Welt vorstellen können, [sind] die Zwillinge jener politisch abstinenten Postmodernen, die meinen, dass es auf der Welt nichts gibt, wofür es sich ernsthaft zu kämpfen lohnt.
(Pfaller 2005: 112)
Im Unterschied zum liberalen Kulturargument werden die Exzesse, die aus
der politischen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft resultieren, nicht
mehr in der Hoffnung auf eine wachsende Solidarität verteidigt, sondern
mit der Geste eines defätistischen Schulterzuckens als notwendiges Übel
hingenommen – »a detached spectatorialism […] replaces engagement and
involvement« (Fisher 2009: 6).
Pfaller ist zuzustimmen, dass diese »postmoderne Spaßkultur, die alles
ins Lächerliche […] ziehen will, keineswegs, wie sie oft glaubhaft machen
möchte, eine Verbündete der Komödie ist« (2005: 113). Indem sie Versuche der Veränderung gegebener Verhältnisse ins Lächerliche zieht, bringt
sie diese als Unveränderbare in Erscheinung und bestätigt dadurch die
neoliberale Erfahrung ihrer politischen Alternativlosigkeit. Der emanzipatorische Anspruch der Komödie, in der eine »frei in sich selbst sich geistig
bewegende absolute Subjektivität […] sich nicht mehr mit dem Objektiven«
(ÄIII 527) einigen muss, wird dadurch nicht nur diametral verfehlt, sondern selbst der Lächerlichkeit preisgegeben. Weil die zynische Vernunft die
Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft, die sie vorantreibt, nicht
offen affirmiert, sondern durch ihre Distanznahme den Anspruch einer
kritischen Haltung aufrechterhält, erweist sie sich als »Hauptgegnerin des
Materialismus, den die Komödie behauptet« (Pfaller 2005: 113, vgl. Kap. 4.1).
3.4.4 Die neue Lächerlichkeit der Meme-Kultur
In den letzten Jahren ist eine neue Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit entstanden, in der die humoristische Entlastung nicht länger im Zeichen einer
120
3. Die Farce der politischen Gegenwart
passiven Akzeptanz neoliberaler Alternativlosigkeit steht, sondern aktiv als
Strategie eines autoritär-libertären Widerstands eingesetzt wird. Inwiefern
diese neue Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit zu einer weiteren Radikalisierung der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft
beiträgt, lässt sich exemplarisch an der libertären Meme-Kultur nachvollziehen, die in den letzten Jahren durch die immer stärker internetbasierte
Öffentlichkeit enorm an bürgerlicher Integrationskraft gewonnen hat (vgl.
Reckwitz 2017: 234; Burrows, Smith 2021: 145). Auf Ebene ihrer Bildsprache
entsprechen die verschiedenen politischen Bewegungen, die hier unter dem
Nenner des autoritären Libertarismus zusammengefasst werden, einander
stärker, als ihre inhaltlichen Divergenzen nahelegen würden. Sie alle befördern die neue Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit – einen »trendy fascism«
(Lütticken 2019: 74) –, indem sie sich in der einen oder anderen Weise an Meme-Formaten bedienen, um affektive Ressentiments zu adressieren und in
neue Milieus vorzudringen. Aufgrund der subversiven Kodierung dieser Formate und des darin aufgehobenen Versprechens subjektiver Freiheit ermöglicht ihre Proliferation autoritär-libertären Positionen eine »easy passage into social spheres not traditionally aligned with, or sympathetic to, the farright« (Texeira Pinto 2019: 11). Entsprechend zentral ist ihre Rolle für das autoritäre Projekt einer kulturellen Hegemonisierung libertären Widerstands:
[The Meme-Culture] has now become central to our political processes, spreading through
the mainstream to become one of the most important forms of political participation and
activism today, employed by politicians, political commentators and the public alike. (Merrin 2019: 201)
Digitale Kommunikationsformen sind ein wesentlicher Bestandteil bürgerlicher Kultur geworden, weil sie durch die Vermittlung von Weltbezügen und
Positionierungen »transformieren, was es heißt, ein Subjekt zu sein« (Reckwitz 2017: 244). Memes, die mittlerweile einen Großteil der sozialen Kommunikation im digitalen Raum ausmachen, sind definiert als Träger humoristisch kodierter Information, die sich zugleich durch ihre Flexibilität wie
durch ihre Resilienz im digitalen Kopiervorgang auszeichnen (vgl. Dawkins
2007: 321). Darin ermöglicht das Meme-Format dem Subjekt eine Distanznahme, die zugleich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Adressierten bestärkt.
Dass die Meme-Kultur in den letzten Jahren so stark vom autoritär-libertären Milieu mobilisiert werden konnte, ist gemäß Merrin Ausdruck einer
3. Die Farce der politischen Gegenwart
121
libertären Radikalisierung des im Medium des Memes aufgehobenen Versprechens subjektiver Freiheit:
Online trolling, I would argue, is the contemporary expression of an older attitude: of a
historical spirit of disruption, disorder, challenge, play and humour that takes as its target the entire profane realm of everyday life, the structures and values built on it and the
authorities that defend it. (Merrin 2019: 203)
Lange waren es die Transformationsbegehren der neuen Linken, die sich
dem kulturellen Tugendkatalog der Nachkriegszeit und der damit einhergehenden Disziplinierung widersetzten, indem sie sich Strategien der
Distanznahme und Subversion bedienten, um eine Stärkung subjektiver
Freiheit einzufordern – »[t]he left […] obviously flirted with this chaotic
spirit, being drawn to its play, humour, disruption and dissent« (Merrin
2019: 203).
Teixeira Pinto legt diesem traditionell linken Selbstverständnis gegenüber dar, dass es sich bei subversiven Praktiken dieser Art stets um eine
Form der »Anti-Politik« handelt, weil ihre Referenz auf eine radikal subjektive Freiheit keinen politischen Gehalt generiert. Sie sind weder genuin
progressiv noch inhärent regressiv, weil sie ihre politische Konkretion immer erst durch die bestimmte Konfrontation mit der gegebenen, historisch
spezifischen Politik gewinnen, gegen die sie sich richten: »[The] conflict
with the social order which defines the counterculture, the desire to subvert
or transgress moral codes [is] contingent to the current consensus« (2019:
12). In diesem Sinne hält auch Merrin fest, dass die libertäre Aneignung
subversiver Strategien nur möglich war, weil das unbestimmte Chaos, auf
dessen radikal subjektive Freiheit die Meme-Kultur sich beruft, als »an essentially anti-political force« (2019: 203) verstanden werden muss, wodurch
sich der Konsens, den sie zu unterwandern suchen, als alles bestimmenden
Kategorie ihrer politischen Ausrichtung entpuppt. Dies ist entscheidend,
weil sich der gesamtgesellschaftliche Konsens im Zuge des Übergangs von
der Disziplinargesellschaft der Nachkriegsjahre zur Kontrollgesellschaft
der neoliberalen Gegenwart maßgeblich verändert hat: Während die trente
glorieuses von strikten normativen Vorstellungen und Erwartungshaltungen
geprägt waren, die mit der hegemonialen Ablehnung eines radikalen Anspruchs subjektiver Freiheit einhergingen, wurde dieser Anspruch im Zuge
der neoliberalen Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse kulturell absorbiert und ins Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft eingetragen.
Seither wird die ehemals linke Forderung nach einer normativ selbstbe-
122
3. Die Farce der politischen Gegenwart
stimmten Lebensführung nicht länger durch Disziplinierungsansprüche
unterdrückt, sondern in der Form einer kontrollierten Selbstoptimierung
offen affirmiert.
Dies hat dazu geführt, dass die Mobilisierung der antipolitischen Negativität subjektiver Freiheit meist nicht mehr dem Ziel der »Öffnung einer Situation hin zu einer Neubestimmung [dient], sondern [der] Verfestigung des
Überlegenheitsgefühls derjenigen, die [den] Inside Joke verstehen, mit der
eine Degradierung aller anderen einhergeht« (Kosok 2020: 72). Weil der progressive Neoliberalismus einen bis vor wenigen Jahrzehnten undenkbarer
Grad an normativer Freiheit in der persönlichen Lebensführung als gesellschaftlichen Konsens etablieren konnte, wurde die Strategie der Subversion
dieses Konsens im Namen subjektiver Freiheit von libertären Bewegungen
»weaponised and deployed against so-called political correctness and ›social justice warriors‹« (Teixeira Pinto 2019: 12).26 Der Austausch neurechter
Memes, der die digitale Öffentlichkeit bis weit in liberale Milieus hinein beeinflusst, hat insofern zur Hegemonisierung einer zunehmend autoritären
Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit beigetragen, als die Proliferation eines libertären »troll-humour[s]« dazu geführt hat, dass die sexistische und rassistische Degradierung sozialrechtlicher und (identitäts)politischer Transformationsbestrebungen normalisiert wurde und infolgedessen auf immer
breitere gesellschaftliche Akzeptanz stößt. Dass die kritische Theoriebildung
in vielen Fällen noch immer von einem »underlying belief in the liberating,
anti-totalitarian force of laughter, of ironic distance« (Žižek 1989: 24) geprägt
ist, erschwert die Analyse dieser historischen Entwicklung.
26 Zur kulturellen Hegemonisierung der autoritären Demokratiekritik, die auf dieser libertären
»Anti-Politik« fusst, tragen auch populäre Serienformate wie Vikings (2013–2021), The Last
Kingdom (2015–2022) und insbesondere Game of Thrones (2011–2019) bei, wo mittelalterliche
Clankämpfe in Form eines »Wagnerian melodrama of family and tribe and nation« inszeniert
werden: »If the show’s reluctance to offer ethical through-lines is part of the cold eye it casts on the
ongoing failure and breakup of liberal ethics in the sharkish world of financial capitalism and its
voracious ascendancy over human lives – it is also part of its failure to imagine otherwise« (Livingston
2020). Die Serie wird von aufwendigen digitalen Effekten getragen, die dazu dienen, »autoritäre
Fantasien von Aufstand und Aufstandsbekämpfung« in eine fiktionalisierte, aber gleichwohl »immer realistischere Bildsprache zu kleiden und damit den Horizont anderen politischen Handelns
zu verstellen« (Staab, Wildt 2022: 129, zum legitimatorischen Zusammenhang von Mittelalterglorifizierung und libertärer Theoriebildung, vgl. Slobodian 2023: 123–138). Dem steht der postmoderne Zynismus von ebenfalls ausgesprochen populären Serien wie Succession (2018–2023), White
Lotus (seit 2021) und Industry (seit 2020) gegenüber, deren Inszenierung der Dysfunktionalität der
Superreichen ein defätistisches, sozialliberales Publikum adressiert.
3. Die Farce der politischen Gegenwart
123
Die libertäre Meme-Kultur steht allerdings nicht in direktem Widerspruch, sondern in einem verstärkenden Ergänzungsverhältnis zu der
ihr vorausgehenden, zynischen Kultur bürgerlicher Lächerlichkeit: Indem
sämtliche Versuche einer politischen Überwindung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse der Lächerlichkeit preisgegeben werden, wird deren
gouvernementale Selbstregierung abgesichert. Doch im Unterschied zum
schicksalsgetragenen Zynismus der Postmoderne, der sich durch seine
Weltabwendung reibungslos in die liberale Tragödie einfügte, während
diese sich in eine immer offensichtlichere Farce verkehrte, reagiert die neurechte Lächerlichkeitskultur autoritär-libertärer Bewegungen auf dieses
nicht länger verkennbare Scheitern, indem sie die Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft im Zeichen ihrer Verteidigung subjektiver Freiheit
offen affirmiert. So stärkt der autoritäre Libertarismus die Kultur liberaler Alternativlosigkeit, deren Ohnmacht er vordergründig zu bekämpfen
behauptet.
3.5 Lernen aus der Farce
Ausgehend von dieser Analyse der »Rückkehr der Geschichte« als libertäre
Radikalisierung der neoliberal bereits radikalisierten Ordnungsbildung des
politischen Liberalismus stellt sich die Frage, wie eine an den Versprechen
gleicher Teilhabe und subjektiver Freiheit festhaltende Kritik der politischen
Moderne auf die Farce einer fast gänzlich entpolitisierten Gegenwart reagieren kann. Die kritische politische Theoriebildung, die sich mit dieser Frage
auseinandersetzt, lässt sich im Wesentlichen in zwei Lager unterscheiden:
Das erste setzt auf die (a) Verteidigung und Rückkehr zur sozialliberalen Regulierungspolitik der trente glorieuses; das zweite hofft auf einen (b) Erkenntniseffekt der sich zuspitzenden Krise des politischen Liberalismus, der seine revolutionäre Ablösung durch eine neue politische Handlungsordnung
erleichtern soll. Im Folgenden wird kurz nachvollzogen, worin der Versuch
einer (a) liberalen Selbstverteidigung scheitern muss und weshalb sich die
angestrebte (b) Etablierung einer neuen politischen Handlungsordnung als
unvergleichbar schwierige, aber gleichwohl notwendige Reaktion auf die regressive Gegenwart einer autoritär-libertären Radikalisierung bürgerlicher
Vergesellschaftung erweist.
124
3. Die Farce der politischen Gegenwart
(a) Die – teils offen proklamierte, teils indirekt sich ergebende – Verteidigung des politischen Liberalismus verfolgt eine defensive Reaktionsstrategie, die ausgehend von der Prämisse einer Gleichsetzung von Liberalismus
und Demokratie darauf zielt, den neoliberalen Schuldenstaat wieder durch
einen keynesianischen Sozialstaat zu ersetzen und die erodierte Kultur bürgerlicher Solidarität zu revitalisieren (vgl. u.a. Amlinger, Nachtwey 2022:
351–355; Bourdieu 1988; Herzog 2014; Honneth 2013, 2023; Möllers 2020;
Müller 2019; Nida-Rümelin 2020; Özmen 2023; Reckwitz 2019; Sassen 2014;
Streeck 2015: 267–298; 2017). Getragen wird der Versuch, die neoliberale
Radikalisierung des politischen Liberalismus im Namen einer – vom radikalisierten Versprechen subjektiver Freiheit vermeintlich bloß verstellten
– sozialen Freiheit zu kritisieren, weil die trente glorieuses als Normalfall
liberaler Vergesellschaftung verstanden werden.
Demgegenüber hat die erläuterte systematische Kontinuität der gouvernementalen Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft gezeigt, dass
weder die krisenhafte Farce des Neoliberalismus noch die darauf reagierenden autoritär-libertären Gegenbewegungen als Ausnahmen liberaler
Ordnungsbildung – oder gar als deren Ablösung durch eine andere politische Handlungsordnung – zu verstehen sind, die entsprechend nur wieder
rückgängig gemacht werden müssten. Weil die zunehmende Effizienzsteigerung der globalen Märkte und die daraus erwachsende Exzesse in jenem
Verwertungsimperativ angelegt sind, der die gesellschaftliche Kohäsion
organisiert, lassen sie sich nicht bändigen, sofern die politische Freisetzung
der bürgerlichen Gesellschaft nicht als solche infrage gestellt wird.27
27 Selbst wenn eine solche Rückkehr möglich wäre, wäre sie nicht wünschenswert: Auch wenn sich
während der trente glorieuses vorübergehend eine sozialrechtlich abgesicherte bürgerliche Solidaritätskultur mit mehr oder weniger funktionierenden Anerkennungspraktiken herausgebildet
haben mag, ändert dies nichts daran, dass deren Grundlage einer sozialrechtlichen Regulation
der bürgerlichen Gesellschaft stets mit einer implizit mitvollzogenen staatlichen Legitimierung
der gouvernemental hervorgebrachten Herrschaftsverhältnisse einhergeht, auf die sich die sozialrechtliche Regulierung richtet: Indem der liberale Staat ausgebeuteten Arbeiter:innen Zuschüsse ausbezahlt, statt ihrer Ausbeutung ein politisches Ende zu setzen, schafft er das Fundament für deren Fortführung, vgl. Kap. 2.4.2, Hirsch 1995: 88; 115 f. sowie Edgerton 2021: 38–42
mit Blick auf das Beispiel Großbritanniens. Dazu trägt auch bei, dass die sozialstaatlichen Unterstützungsleistungen in westlichen Ländern wesentlich auf steuerlich erhobenen Profiten aus
ausländischen Direktinvestitionen basierten, die globale Ungleichheiten intensivierten, vgl. Fraser 2017a: 31, sowie weiterführend daraus Köhler, Tausch 2001.
3. Die Farce der politischen Gegenwart
125
(b) Anders als die sozialliberale Verteidigung des politischen Liberalismus
beruft sich die Hoffnung auf ein ordnungstheoretisches Lernen aus der Farce auf ein epistemisches Potenzial, das aus der Erfahrung seines Scheiterns
erwachsen soll. Weil im Augenblick, in dem seine inhärente Exzessivität manifest wird und regressive Gegenbewegungen auf den Plan ruft, mit dem tragisch strukturierten »Erfahrungsverlust« gebrochen wird, der die »Rationalität des Immergleichen« (Adorno 1977a: 760) geprägt hatte, wird die Wahrheit liberaler Ordnungsbildung erfahrbar. In der Farce zeigt sich, was der
politische Liberalismus immer schon war:
[Eine] Ordnung, die voller Widersprüche und Verleugnungen steckt, indem sie Märkte
strukturiert, von denen sie behauptet, dass sie sie von Strukturen befreit, mit Nachdruck
Subjekte regiert, von denen sie behauptet, dass sie sie vom Regiertwerden befreit, Staaten
stärkt und mit neuen Aufgaben versieht, von denen sie behauptet, dass sie ihnen entsagt.
(Brown 2015: 53)
Die Farce steht für den Augenblick, in dem die Exzesse der gouvernementalen Vergesellschaftung so manifest werden, dass sich das liberale Selbstverständnis demokratischer Teilhabe und bürgerlicher Solidarität endgültig als
Selbstmissverständnis entpuppt (vgl. Lütticken 2019: 75). Bereits Marx (2007)
lässt seine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Moment ihrer historischen Regression während des Coups Louis Bonapartes in eins fallen: Der
Augenblick der Krise erscheint als Augenblick möglicher Erkenntnis. An diese Hoffnung auf ein epistemisches Potenzial, das aus der Krisenerfahrung
erwachsen soll, schließt Žižek an:
Wenn eine Ordnung herrscht, werden die Schrecken und Krankheitserscheinungen normalisiert, im Prozess des Übergangs jedoch, wenn die alte Ordnung vergeht und die neue
noch nicht da ist, werden die Schrecken als solche sichtbar, sie werden denormalisiert,
und in solchen Momenten der Hoffnung werden große Taten möglich. (2017: 309)
Žižek scheint zu glauben, dass die liberale Hoffnung auf eine bürgerliche Solidaritätskultur im Augenblick der nicht mehr übersehbaren Krise (neo)liberaler Ordnungsbildung von einer revolutionären Hoffnung abgelöst wird.
Doch wie die Rebellion des autoritären Libertarismus zeigt, bringt die Erfahrung der Krise aus sich selbst heraus weder eine überzeugende Kritik
des politischen Liberalismus – und erst recht keine »große Taten« – hervor
noch zeigt sie an, wie eine bessere politische Handlungsordnung ausgestaltet werden müsste.
Dafür bedarf es einer Revitalisierung des von Marx herausgestellten
revolutionären »Rätsel[s]« (1970: 367). Denn der alles entscheidende Un-
126
3. Die Farce der politischen Gegenwart
terschied zwischen den libertären Forderungen autoritärer Bewegungen
und denjenigen einer emanzipatorischen Neuordnung der politischen
Moderne spiegelt sich in ihrem Bezug zu den Versprechen der Französischen Revolution. Der autoritäre Libertarismus fordert eine Freiheit ohne
Gleichheit. Demgegenüber verlangt die emanzipatorische Kritik liberaler
Vergesellschaftung, dass die subjektive Freiheit aus ihrer bürgerlich freigesetzten individuellen Rechtsform enthoben wird, um sie in ein neues
Verwirklichungsverhältnis zum demokratischen Versprechen gleicher Teilhabe zu stellen. Das nächste und letzte Kapitel geht daher der Frage nach,
ob und wie in der Farce der politischen Gegenwart eine demokratische
Handlungsordnung anderer Art antizipiert werden kann.
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie
der Komödie
Um die Farce der politischen Gegenwart zu überwinden, bedarf es einer
grundlegenden Neuordnung der politischen Moderne, die die Versprechen
subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe einlöst, indem sie sie auf neue
Weise vermittelt. Skizzieren lassen sich die Fluchtlinien einer solchen Neuordnung durch eine am hegelschen Begriff der Komödie ausgerichteten
Deutung von Marx’ Beschreibungen der revolutionären Etablierung einer
neuen politischen Handlungsordnung. Marx’ Modell einer »wahre[n] Demokratie« (1976b: 232, vgl. Kap. 4.2) gründet auf einer Politisierung der
Gesellschaft durch eine kollektive selbstbestimmte Gestaltung der Arbeitsteilung (vgl. Kap. 4.3.1), die im Untergang des liberalen Staates resultieren
würde. Dieser verlöre seine an den politischen Liberalismus gekoppelte Funktion, die Einheit seiner Differenz zur entpolitisierten Sphäre der
bürgerlichen Gesellschaft sicherzustellen (vgl. Kap. 4.3.2). Mit einer solchen Politisierung ginge jedoch die Gefahr einer Überlastung der Subjekte
einher, die sich mit der omnipräsenten Aufforderung konfrontiert sähen,
soziale Praktiken, Regeln und Normen permanent infrage zu stellen und
aktiv umzugestalten. Die These lautet daher, dass die Eröffnung einer an
Marx anschließenden Perspektive auf eine Neuordnung der politischen
Moderne sich überzeugend nur im Rückgriff auf Hegels Bestimmung der
Berechtigung subjektiver Passivität in einer strukturell komischen Handlungsordnung formulieren lässt (vgl. Kap. 4.3.3).
Wie jeder Entwurf einer ausstehenden politischen Neuordnung sieht
sich auch dieser Versuch einer Ausformulierung der strukturell komischen
Handlungsordnung der wahren Demokratie mit der von Hegel herausgestellten Einsicht konfrontiert, dass politische Neuordnungen durch die
Philosophie weder prognostiziert werden können noch sollten. »[U]m ihrer Reinheit willen« erlässt Hegel »ein Dekret, das der philosophischen
128
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
Theorie […] äußerste Zurückhaltung gegenüber der Zukunft auferlegt«
(Theunissen 1970: 415 f.). Gleichwohl wird auch Hegels Philosophie von der
leisen Hintergrundmusik der Forderung einer vernünftig geordneten Zukunft begleitet: Indem er sie durch das »geschichtlich konkrete Interesse«
der politischen Moderne motiviert, bindet er sie indirekt an eine damit
»vermittelte Zukunft« (1970: 439). Theunissens Deutung zufolge käme »die
Leidenschaftslosigkeit der nur denkenden und nicht auch handelnden Erkenntnis« einer »Interesselosigkeit im Sinne eines bewußten Verzichts auf
reale Veränderung« (1970: 439) gleich, die im Widerspruch zu Hegels methodischer Verknüpfung von philosophischem Begriff und geschichtlicher
Wirklichkeit stünde. Mit Blick auf seine poetische Gattungslehre manifestiert sich das daraus erwachsende emanzipatorische Erfordernis in der von
Khurana treffend formulierten
Schwierigkeit, zu begreifen, wie es sein kann, dass in dieser sozialen Welt, in der wir längst
leben, ebenjene Freiheit des Geistes, die bisher in zahllosen Formen daran gescheitert war,
Wirklichkeit zu erlangen, bereits sinnliches Dasein hat. (2017: 468)
Dass geistiges Gelingen gemäß Hegel in den Künsten erfahren werden kann,
nicht aber in der sozialen Wirklichkeit politischer Ordnungsbildung, bestätigt die uneingestandene Notwendigkeit einer Neuordnung dieser Wirklichkeit. Zumindest hat Hegel, indem er das höchste sinnliche Dasein geistiger
Freiheit auf den philosophischen Begriff der Komödie bringt, die »Möglichkeit geschaffen, das Problem der Emanzipation zu stellen und auszutragen«
(Ritter 1989: 63; vgl. Hunter 2023: 129–158; 215–256). Die von Hegel ausgehende Frage lautet daher, inwiefern sich die Antizipation einer politischen
Neuordnung der Moderne über den geistphilosophischen Gelingensbegriff
der Komödie als höchste poetische Gattungsordnung einholen lässt.
Auch Marx problematisiert das Verhältnis von Theorie und Praxis, von
Gegenwart und Zukunft. Im Achtzehnten Brumaire schließt er dafür an die
Vorrede der Grundlinien an, in der Hegel seinem Selbstverständnis folgend
festhält, dass die philosophische Schrift »am entferntesten davon sein« müsse, eine Ordnung zu konstruieren »wie, [sie] sein soll«. Aufgabe der Philosophie sei nicht die Anleitung zur Emanzipation, sondern die Erkenntnis der
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
129
Wirklichkeit. In Anlehnung an die Fabel Aesops – »Hic Rhodus, hic saltus«1
– beschreibt Hegel den Menschen als Kind seiner Zeit, weshalb
auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt [ist]. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. (RPh 25)
Wenig verändert, schreibt Hegel, würde die Redensart lauten: »Hier ist die
Rose, hier tanze« (RPh 25). Die Umdeutung von Rhodus in die Rose gilt ihm
als Zeichen einer bereits gegebenen geistigen Vernunft, die es »im Kreuze
der Gegenwart zu erkennen« und sich ihrer zu erfreuen gilt. Demnach steht
die Rose gleichermaßen für die historische Situiertheit philosophischer
Theoriebildung wie für den konservativen Appell zur »Versöhnung mit der
Wirklichkeit« (RPh 26).2
Hatte der junge Marx in den Thesen über Feuerbach (1969) noch versucht,
Hegel dadurch vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem er dessen bloß
erkennende Interpretation der Welt durch ihre praktische Veränderung
abzulösen suchte, differenziert sich sein Bezug auf Hegels skeptische Beschränkung der Philosophie auf theoretische Kontemplation im Achtzehnten
Brumaire: Die Erfahrung der gescheiterten Revolution von 1848–1851 hat
wachsende Zweifel am emanzipatorischen Potenzial der Philosophie bestätigt. Gleichwohl an der Notwendigkeit einer Neuordnung festhaltend,
beschränkt Marx ihre Bestimmung infolgedessen darauf, die soziale Wirklichkeit so zu kritisieren, dass deren politische Überwindung in den Raum
des Möglichen treten kann. Im Unterschied zu Hegel deutet er die Fabel des
Aesop als Zeugnis davon, dass zwar »nichts übersprungen werden kann«,
aber gleichwohl »gesprungen werden muss« (Löschenkohl 2018: 60). Wäh-
1 Die Fabel des Aesop handelt von einem gescheiterten Fünfkämpfer, der trotz seines evidenten
Unvermögens damit prahlt, über eine unvergleichliche Sprungkraft zu verfügen: »Ein Fünfkämpfer, der wegen seiner Schlappheit von seinen Mitbürgern verspottet wurde, reiste einmal ins Ausland und kehrte nach einiger Zeit wieder in die Vaterstadt zurück. Nun prahlte er mächtig: er
habe in vielen Städten Hervorragendes geleistet, vor allem aber in Rhodos einen Sprung getan,
wie ihn noch kein Olympionike vollführt habe. Bezeugen, sagte er, könnten das die Leute, die
zugegen waren, wenn sie einmal hierherkämen. Da entgegnete einer der Umherstehenden: ›Höre du, wenn das wahr ist, braucht es keine Zeugen. Denn hier ist Rhodos, und hier ist auch die
Gelegenheit zum Sprung!‹« (Hausrath 1940: 97; vgl. dazu Hindrichs 2006).
2 Dass Hegel die Rose als Signum verwirklichter Vernunft heranzieht, ist als Referenz auf die
Lutherrose zu deuten. Deren »um den Stamm des Kreuzes gewachsene Blüte gleicht der im Gekräusel des Zufälligen wachsenden Vernunft, die der philosophische Begriff zu erfassen strebt«
(Hindrichs 2006: 143).
130
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
rend Hegel die Aufforderung, aus Rhodus herauszuspringen, aufgrund der
vermeintlichen Unmöglichkeit eines solchen Sprunges in den durch die
Rose symbolisierten Beweis einer bereits vernünftig verfassten Wirklichkeit umdeutet, hält Marx fest, dass gesprungen werden muss, obschon ein
Sprung unmöglich scheint. Anders als Hegel weist Marx die der liberalen
Handlungsordnung inhärenten Widersprüche als historisch konkrete »Ursache für die Entzweiung des Lebens in reinen Begriff« und »unvernünftige
Wirklichkeit« (Henrich 1971: 200) aus und beschreibt die Möglichkeit einer
politischen Neuordnung als Erfordernis eines revolutionären Sprungs in
eine Politisierung der Gesellschaft (vgl. Kap. 4.4). Dass er damit für die
prinzipielle Möglichkeit einer politischen Überwindung unvernünftiger
Wirklichkeit eintritt, bedeutet allerdings weder, dass es notwendigerweise
zu einer solchen Neuordnung kommen muss, noch, dass sie zu der »wahren
Demokratie« (Marx 1976b: 232) führen muss, die ihm vor Augen steht.3 Statt
sich damit aufzuhalten, die Wahrscheinlichkeit eines revolutionären Übergangs in die »Poesie« einer komischen »Zukunft« (Marx 2007: 12) ermitteln
zu wollen, soll im Folgenden – bescheidener und in wechselseitiger methodischer Übereinkunft mit Hegel und Marx – die ordnungstheoretische
Ausrichtung eines solchen Übergangs herausgearbeitet werden.
4.1 Hegels Komödie und Marx’ Zukunftspoesie
Im Achtzehnten Brumaire stellt Marx der lumpigen Farce des Louis Bonaparte
die Perspektive auf eine noch ausstehende politische Neuordnung gegenüber, die er als proletarische Revolution begreift. Eine solche Revolution
kann »ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus
der Zukunft« (2007: 12). Anders als die Französische Revolution, die gemäß
Marx auf eine heroische Reinszenierung der Römerzeit angewiesen war, um
über ihre tragische Ausdeutung der revolutionären Versprechen hinwegzutäuschen, sprengt die ausstehende Revolution das Paradigma bürgerlicher
Verfassungsrevolutionen. In einer berühmten Passage unterscheidet Marx
3 So argumentieren bspw. funktionalistische Revolutionstheorien, die davon ausgehen, dass auf
der Grundlage ökonomischer und/oder technologischer Entwicklungen Schlüsse über die historische Wahrscheinlichkeit politischer Umbrüche gezogen werden könnten, vgl. bspw. die akzelerationistischen Standpunkte in Avanessian, Mackay (2014) oder der kollapsologische Ansatz von
Servigne, Stevens (2020).
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
131
die proletarische dadurch von der bürgerlichen Revolution, dass sie, einmal sprunghaft angefangen, die gesellschaftlichen Verhältnisse immer
wieder neu politisiert, bis diese eines Tages selbst nach ihrer unendlichen
Umgestaltung verlangen:
Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rasch von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen
in Feuerbrillanten gefaßt, die Extase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald
haben sie ihren Höhepunkt erreicht und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft,
ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen […] kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich
fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um
es wieder von Neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber
wieder aufrichte, schrecken stets von Neuem zurück von der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich
macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze! (Marx 2007: 13 f.)
Um sich beständig selbst kritisieren und die Schwächen der ersten Versuche
verhöhnen zu können, bedarf es eines sprunghaften Versuchs der revolutionären Etablierung einer neuen politischen Ordnung – Hic Rhodus, hic salta! –, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst nach ihrer immer neuen selbstbestimmten Gestaltung verlangen – Hier ist die Rose, hier tanze!
Denn gesellschaftliche Verhältnisse können eigenmächtig erst zum Tanz ihrer Politisierung aufrufen, wo sie als vernünftig verfassbare adressiert werden können, weil der revolutionäre Sprung aus Rhodus bereits gewagt worden sein wird. Indem Marx behauptet, dass die ausstehende Revolution ihre
Poesie aus der Zukunft schöpft, bestimmt er ihre ordnungstheoretische Ausrichtung: Nur indem sie sich an der – in der politischen Vergangenheit und
Gegenwart noch nicht verwirklichten – Poesie einer beständig neu ansetzenden Ordnungsbildung ausrichtet, wird sie sich als emanzipativer Sprung
in politisch vernünftig gestaltbare Verhältnisse erweisen können. Die These
lautet, dass sich diese zukunftspoetische Ausrichtung der ausstehenden Revolution als Referenz auf Hegels Begriff der Komödie verstehen lässt. Bevor
daher auf Marx’ Verweis auf die Komödie im Kontext des Achtzehnen Brumai-
132
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
res eingegangen wird, soll im Folgenden kurz Hegels ordnungstheoretischer
Begriff der Komödie rekonstruiert werden.4
In Hegels Poetik steht die Komödie der Tragödie als Handlungsordnung gegenüber, die auftretende Konflikte zwischen subjektiver Freiheit
und objektiver Ordnung nicht länger dadurch auflöst, dass widerständige
Zwecke durch die herrschenden Ordnungsverhältnisse absorbiert werden
(vgl. Kap. 2.1), sondern indem eine Subjektivität hervorgebracht wird, die es
vermag, solche Konflikte in Heiterkeit aufgehen zu lassen. In der Komödie
geht nicht länger »das ewig Substantielle in versöhnender Weise siegend«
hervor, es ist »die Subjektivität, welche in ihrer unendlichen Sicherheit die
Oberhand behält« (ÄIII 527). Die Aufgabe einer politischen Deutung der
Komödie besteht entsprechend darin, sie als Ordnungsbildungsmodell zu
erschließen, das eine solche Subjektivität hervorzubringen vermag. Im Unterschied zu subjektivistischen Deutungen der Komödie, die darauf zielen,
das Komische als ethische Haltung gegenüber einer vorgegebenen, von ihr
unabhängigen Ordnung fruchtbar zu machen, ist sie ihrerseits als eine politisch ausdeutbare Gattungsordnung zu verstehen, die die Macht subjektiver
Freiheit anerkennt, berechtigt und in ein sich gegenseitig verwirklichendes
Verhältnis zur gleichen Teilhabe aller stellt. Denn wie Hegel – in Kontrast
zum politischen Konservatismus der Grundlinien – zu Beginn seiner Ausführungen der poetischen Gattungen in der Phänomenologie festhält, beruht
das Gelingen einer Handlungsordnung »auf dem unmittelbaren Anteil, den
alle, des Unterschiedes von Ständen unerachtet, an den Entschlüssen und
Handlungen der Regierung nehmen« (PhG 529). Nur vor dem Hintergrund
dieses Versprechens gleicher Teilhabe lässt sich aus der begrifflichen Bestimmung der Komödie ein demokratietheoretisches Modell selbstreflexiver
Ordnungsbildung extrahieren, in dem Normen, Regeln und Gesetze für ihre
stetige Veränderung offengehalten werden.
Diese Aufgabe scheint zunächst paradox: Die Komödie soll sich gerade
dadurch als objektiv verbindliche Handlungsordnung etablieren und erhalten können, dass sie der Subjektivität die Oberhand überlässt. Um die
Plausibilität dieses ordnungstheoretischen Programms auszuführen, wird
sie hier Hegel folgend anhand von drei zentralen Merkmalen bestimmt:
Die (1) heitere Auflösung auftretender Konflikte realisiert sich in (2) einem
freien Spiel der Subjekte mit immer neuen Zwecken, dessen Freiheit durch
4 Die folgende Definition des komischen Ordnungsmodells beruht auf meiner politischen Bestimmung derselben in Hunter 2023: 215–256.
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
133
die gleichzeitige Berechtigung der gleichen Teilhabe und der Verweigerung
solcher Teilhabe seitens der komischen Handlungsordnung gesichert wird,
indem sie (3) ihre äußerlichen Voraussetzungen weltlicher Wirklichkeit in
sich selbst reflektiert und nachvollzieht.
(1) In der Komödie lösen sich Konflikte entweder, indem die infrage gestellten Ordnungsverhältnisse tatsächlich verändert, suspendiert und neu
gesetzt werden. Oder sie lösen sich, weil die komischen Subjekte ihre Zwecke selbst einstellen, aufgeben oder neu konfigurieren, ohne jedoch dadurch
ihrer freien handlungsfähigen Subjektivität verlustig zu gehen. Anders als
in der tragischen Handlungsordnung zeigt die heitere Auflösbarkeit auftretender Konflikte, dass der freie Subjektstatus der Einzelnen auf eine Weise
gesichert wird, die nicht länger einer kompromisslosen Durchsetzung ihrer
jeweiligen Zwecke bedarf: Konflikte können auch aufgelöst werden, wo alles
beim Gleichen bleibt. Nicht die Resultate der heiteren Auflösung von Konflikten zeichnen die Komödie im Politischen aus, sondern der Prozess ihres strukturell komisch geordneten Vollzugs. Daher gilt: »[R]adical politics
in the formative sense must take the shape of a comical action« (Moder 2014:
9).
(2) Analog zur Tragödie bestimmt Hegel das komische Subjekt mit Blick
auf das Darstellungsverhältnis des subjektiven im objektiven Geist, d.h. auf
sein Spiel mit sich als Selbst und Person, als Schauspieler:in mit der Maske seiner Zwecke. Während das tragische Subjekt die Maske einer einheitlichen Repräsentation seines Zweckes aufsetzen muss, die sich entweder auf
die Seite der objektiven Ordnungssicherung oder auf diejenige eines subjektiven Widerstands schlägt, muss die komische Schauspieler:in nicht länger
versuchen, ihr Selbst der Identität einer substanziellen Maske, eines einzelnen Zweckes zu unterstellen. Sie spielt ein freies Spiel mit der endlosen Vielfalt der möglichen Zwecke ihres Selbst – ein Spiel, das die konstitutive Potentialität unterschiedlichster Maskierungen und Personifizierungen offenlegt,
wodurch es zu einem Spiel mit der Maskier- und Personifizierbarkeit selbst
wird.
(3) Auf objektiver Ebene ermöglicht die komische Handlungsordnung
ein solches Spiel, indem sie sich gegen Verhältnisse richtet, die sich als
natürlich oder göttlich substanzialisierte behaupten und dadurch ihre
politische Konstitution verleugnen. Deren gesetzter Charakter bleibt in
der komischen Handlungsordnung selbstreflexiv erfahrbar, indem sie als
historisch gewachsene in Erscheinung treten, wodurch sie sich verändern
und politisieren lassen, ohne jederzeit verändert und politisiert werden zu
134
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
müssen. Dass die Subjekte geteilte Normen, Regeln und Gesetze tatsächlich
auf solche Weise (um)gestalten können, setzt allerdings eine Wirklichkeit
voraus, in der sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auch tatsächlich
verändern lassen:
Der allgemeine Boden für die Komödie ist daher eine Welt, in welcher sich der Mensch
als Subjekt zum vollständigen Meister alles dessen gemacht hat, was ihm sonst als der
wesentliche Gehalt seines Wissens und Vollbringens gilt. (ÄIII 527)
Gemäß Hegel muss eine komödienkompatible Welt nicht nur die Verwiesenheit der Subjekte auf eine ihnen äußerliche Wesentlichkeit ihres Wissens
und Vollbringens, sondern auch die tragische Notwendigkeit »ewiger Gerechtigkeit« hinter sich gelassen haben, weil gegebene Normen, Regeln und
Gesetze nur verändert werden können, wo sie nicht länger als natürlich oder
gottgewollt erscheinen. Schlechte Komödien – für die die Farce Louis Bonapartes hier nur exemplarisch steht – sind demnach als zum Scheitern verdammte Versuche komischer Konfliktlösungen in einer komödieninkompatiblen Welt zu verstehen (vgl. Kap. 3.4.1).
Für Hegel ist klar, dass »der eigentliche Kern der Komik [fehlt], wo einerseits die Peinlichkeit der Verhältnisse, andererseits der bloße Spott und
die Schadenfreude noch Raum behalten« (ÄIII 529). Demzufolge lässt sich
eine komödienkompatible Wirklichkeit dadurch definieren, dass die in ihr
herrschenden Verhältnisse nicht länger peinlich sind. Im Unterschied zu den
Kategorien der Schadenfreude und des Spotts, die auf ein moralisches Fehlverhalten verweisen, eignet sich der Begriff der Peinlichkeit für eine materialistische Deutung der weltlichen Voraussetzungen komischer Konfliktlösungen, da er nicht nur die Scham über die objektive Unzulänglichkeit der
komödieninkompatiblen Gegenwart, sondern auch die damit verbundene
Pein evoziert. Der Schmerz an der Unvernünftigkeit der Wirklichkeit verbindet sich mit der Scham darüber, dass diese nicht anders geordnet wird. Mit
Zupančič gesprochen setzt diese materialistische Deutung der Komödie eine ihr äußerliche »Verwirklichung (eine bereits vollbrachte Metamorphose)«
gesellschaftlicher Verhältnisse »voraus und besteht nicht einfach aus vergeblichen und endlosen Versuchen, sie zu vollbringen« (2014: 183). Die komische
Subjektivität, die Hegel hier beschreibt, bedarf des von Marx skizzierten revolutionären Sprungs, weil sie sich politisch nur vor dem Hintergrund einer objektiv bereits errungenen Entnaturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse etablieren kann.
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
135
Beim folgenden Versuch, Marx’ Verweis auf die aus der Zukunft zu
schöpfende Poesie der ausstehenden revolutionären Neuordnung durch
das Hegelsche Modell der Komödie auszudeuten, handelt es sich um eine
heuristische Rekonstruktion. Der Achtzehnte Brumaire ist zwar von unzähligen mehr oder weniger losen Verweisen auf die Hegelsche Gattungslehre
durchzogen, deren methodischer Stellenwert bleibt allerdings ungeklärt.
Während Marx das Verhältnis von Tragödie und Farce noch einigermaßen
konsequent als der liberalen Handlungsordnung immanent notwendiges
Verkehrungsverhältnis herausarbeitet (vgl. Kap. 3.2), fällt der Begriff der
Komödie nur ein einziges Mal: Indem Louis Bonaparte das liberale Selbstverständnis »platt als Komödie« (Marx 2007: 70, vgl. Kap. 3.1 sowie 3.4.1)
nahm, evozierte er die Farce der liberalen Verfehlung subjektiver Freiheit
und gleicher Teilhabe.
Diese Aussage hat zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen des Status
der Komödie im marxschen Brumaire geführt. Leonard schlägt beispielsweise vor, Farce und Komödie schlicht synonym zu lesen und behauptet:
In Marx’s figuration, comedy clearly occupies a lower status than tragedy […] In reaffirming tragedy’s capacity for greatness, in a sense Marx reverses the Hegelian hierarchy of
genres and goes back to a more conventional evaluation. (2015: 31 f.)
Demgegenüber begreifen Brunkhorst, Löschenkohl und White (vgl. 2014:
328) die zukunftspoetische Ausrichtung der von Marx beschriebenen revolutionären Neuordnung in ihren jeweiligen Kommentaren zum Achtzehnten
Brumaire als strukturell komisch verfasst. Während Löschenkohl (2018) eine
radikaldemokratische Lektüre vorschlägt, die zwar den komischen Konfliktvollzug der immer wieder neu einsetzenden Politisierung herausarbeitet,
den revolutionären Sprung zwischen der krisenhaft tragischen Gegenwart
in eine komisch verfasste Zukunft jedoch jenseits von Hegels Poetik verortet, vertritt Brunkhorst (2007) die Auffassung, dass Marx sich durch seine
strukturell komische Beschreibung der ausstehenden Neuordnung erneut
ins Hegelsche Stufenmodell einträgt, aus dem er durch die Einführung
der Farce vorübergehend ausgebrochen war. Für diese Deutung spricht,
dass Marx sich der Stellung des Komödienbegriffs in der hegelschen Poetik
bewusst war, was sich an einem späteren, an den Wortlaut im Achtzehnten
Brumaire anklingenden Hinweis zeigt: »Hegel hat schon bemerkt, daß in
der Tat die Komödie über der Tragödie steht« (1972: 553). Die These lautet
daher, dass die selbstreflexive Ordnungsbildung im hegelschen Modell der
Komödie als jene Zukunftspoesie verstanden werden kann, durch die Marx
136
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
die politische Ausrichtung der ausstehenden revolutionären Neuordnung
zu begründen versucht. Doch anders als Brunkhorsts Lektüre suggeriert,
handelt es sich bei Marx’ dadurch vollzogener Wiedereingliederung seiner Argumentation in die ordnungstheoretische Logik der poetologischen
Stufenfolge Hegels nicht um eine Rückwendung auf dessen teleologische
Geschichtsphilosophie. Wie Wallat offenlegt, ist es Marx’ oft unterschlagene
»wissenschaftliche Redlichkeit«, dass er die Möglichkeit einer politischen
Neuordnung »nicht als Resultat eherner Geschichtsgesetze konzipiert«,
sondern ihr im Achtzehnten Brumaire jenen unvorhersehbaren revolutionären Sprung voraussetzt, der insgeheim bereits Hegels Komödienverständnis
bedingt. Zu Recht begreift Marx die Möglichkeit einer an der Zukunftspoesie
der Komödie ausgerichteten Neuordnung als eine »Tat der freien politischen
Praxis der sich selbst Befreienden«, die als solche notwendigerweise »der
irreduziblen Kontingenz des menschlichen Handelns unterworfen bleibt«
(2009: 359).
Der im Folgenden unternommene Versuch, Marx’ Skizze einer revolutionären Neuordnung auf Grundlage des Ordnungsmodells der hegelschen
Komödie auszuführen, behauptet eine Kontinuität zwischen dem poetologischen Denken Hegels und der politischen Philosophie Marx’. Nachvollzogen werden soll, wie Marx das von Hegel nur angedeutete politische Potenzial des Begriffs der Komödie durch eine historische Konkretion ihres Ordnungsmodells als Quelle einer revolutionären Zukunftspoesie ausweist.
4.2 Die strukturell komische Handlungsordnung der »wahren
Demokratie«
In seiner Kritik der hegelschen Grundlinien umreißt Marx ein politisches
Ordnungsmodell, das mit der zukunftspoetischen Ausrichtung der im
Brumaire geforderten Neuordnung an Hegels Begriff der Komödie korrespondiert. Im Medium immanenter Kritik zeigt Marx auf, inwiefern Hegels
Entwurf protestantischer Sittlichkeit im preußischen Staat hinter die revolutionären Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe zurückfällt und infolgedessen daran scheitert, die diagnostizierte Exzessivität der
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
137
bürgerlichen Gesellschaft abzumildern (vgl. Kap. 2.3.2).5 Darauf reagierend
skizziert er die Fluchtlinien eines alternativen Modells politischer Ordnung,
der »wahre[n] Demokratie«, die er deshalb als wahr bezeichnet, weil sie nur
»aus sich selbst begriffen werden kann« (1976b: 232). Die Ordnungsbildung
einer wahren Demokratie würde »selbst nur als eine Bestimmung, und zwar
die Selbstbestimmung des Volks«, in Erscheinung treten und käme damit
jenseits der metaphysisch fundierten Rechtsphilosophie Hegels zu stehen.
Für Marx erweist sie sich, wie es in einer berühmten Formulierung heißt, als
»das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen« (1976b: 231), weil sie gesellschaftliche Verhältnisse selbstreflexiv als Resultate vergangener Konfliktvollzüge,
d.h., als geschichtliche Erzeugnisse ihrer eigenen Ordnungsbildung, erkennen und ausweisen kann. Ihre rätselauflösende Wirkung steht entsprechend
nicht für den Wunschtraum einer konfliktfreien Zukunft, sondern für die
Überwindung naturalisierender Konfliktbegründungen, die den Vollzug
auftretender Konflikte in die »ewige Gerechtigkeit« eines entpolitisierten
Jenseits abschieben (vgl. Brunkhorst 2007: 164). Marx’ Modell einer wahren Demokratie ist selbstreflexiv, es kann aus sich selbst heraus begriffen
werden, weil es verspricht, »nichts anderes als die Einsicht zu realisieren,
dass die Regelung des politischen Prozesses, ja, überhaupt alles, was im
Politischen Verbindlichkeit beanspruchen können soll, seinen Grund allein
im politischen Prozess selbst hat« (Menke 2011b: 251).
Marx kann nur behaupten, die wahre Demokratie sei »das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen«, weil er in ihrem Begriff das Verhältnis der revolutionären Versprechen von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe neu konzipiert, indem er aus der Behauptung der Gleichberechtigung ihrer Prinzipien den Anspruch einer politischen Herstellung der gleichen Freiheit aller
ableitet, die im Unterschied zum liberalen Demokratieverständnis nicht länger als natürlich gegebene vorausgesetzt wird. Wie in Kapitel 2 nachvollzogen wurde, garantiert der liberale Staat die gleiche Teilhabe so, dass er ihr
die subjektive Freiheit der Einzelnen in der Form der individuellen Rechtsfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft voraussetzt. Demgegenüber richtet
5 Es sei an dieser Stelle auf die interessante Deutung Theunissens hingewiesen, der bereits Hegels
Modell christlicher Sittlichkeit als Antizipation einer ausstehenden Neuordnung im Sinne Marx’
beschreibt: »Die Analyse des Hegelschen Reich-Gottes-Gedankens hat ergeben, daß [Hegel] die
vom Christentum verkündete Gleichheit aller Menschen nahezu radikal-sozialistisch als die reelle Freiheit jedes Einzelnen auslegt, wie sie gleichfalls erst in einer zukünftigen Gesellschaftsordnung realisiert werden könnte« (1970: 407 f.).
138
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
sich die Forderung einer wahren Demokratie auf die politische Herstellung
und Verwirklichung gleicher Teilhabe. Dabei wird Marx häufig so verstanden, als würde er das asymmetrische Verwirklichungsverhältnis von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe im Zuge seiner Kritik des politischen Liberalismus nur verkehren wollen: Statt die subjektive Freiheit als Voraussetzung der gleichen Teilhabe zu verstehen, wird die gleiche Teilhabe aller der
subjektiven Freiheit der Einzelnen vorausgesetzt, was in einer umgekehrten
Unterdrückung solcher Freiheit durch den politischen Prozess der Verallgemeinerung resultieren müsste, der die gleiche Teilhabe auszeichnet.
Wie Menke ausführt, kann Marx’ Bestimmung demokratischer Ordnungsbildung so nicht verstanden werden. Denn wenn Marx behauptet,
dass in der wahren Demokratie »die Einzelnen als Alle« (1976b: 322) urteilen,
folgt daraus keine Unterdrückung subjektiver Freiheit, weil es sich nicht
um Urteile im Sinne einer abschließenden »Bestimmung eines Zustands
der Allgemeinheit (oder des Allgemeinseins), sondern [um] eine[n] Prozess der Verallgemeinerung des Besonderen« (Menke 2015: 360) handelt.
Wie in der liberalen Handlungsordnung beginnt die gleiche Teilhabe mit
der subjektiven Freiheit der Einzelnen, mit ihren besonderen Bedürfnissen,
Empfindungen und Erfahrungen, die in selbstbestimmte Handlungen überführt und im politischen Prozess zu einem gleichen Teil des Allgemeinen
gemacht werden.
Die Verschiedenheit in der Berechtigung subjektiver Freiheit besteht
darin, dass die Praxis subjektiver Freiheit im politischen Liberalismus
durch eine natürlich vorausgesetzte Pluralität begründet wird, die auf der
nicht weiter explizierten Prämisse einer unendlichen, menschlichen Potentialität beruht (vgl. Plessner 1975). Diese Potentialität ist aufgrund ihrer
konstitutiven Unbestimmtheit gänzlich unpraktisch. Daher erweist sich die
im liberalen Selbstverständnis vorherrschende Annahme, eine plurale Praxis subjektiver Freiheit würde automatisch und entsprechend unpolitisch
aus solcher Potentialität erwachsen können, als Blindheit gegenüber ihrer
nur mehr verdeckt politischen Hervorbringung durch gouvernementale
Mächte (vgl. Kap. 2.4.2). Die damit verbundene Kritik lautet, dass der politische Liberalismus Potentialität mit Praxis verwechselt und es infolgedessen
verpasst, sich der Frage nach den Möglichkeiten der selbstbestimmten
politischen Hervorbringung einer Praxis subjektiver Freiheit zuzuwenden.
Die wahre Demokratie unterscheidet sich folglich nicht dadurch von der
liberalen Berechtigung subjektiver Freiheit, dass sie die Potentialität subjektiver Freiheit verleugnen würde, sondern indem sie ihr einen anderen
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
139
Ort zuweist: Sie begreift Potentialität nicht als bereits gelingende Praxis
subjektiver Freiheit, sondern als Voraussetzung einer solchen Praxis, die
der politischen Verwirklichung bedarf. In der wahren Demokratie wird subjektive Freiheit durch eine innere Politisierung der Gesellschaft, durch die
gleiche Teilhabe an der Selbstregierung sozialer Praktiken hervorgebracht
(vgl. Menke 2015: 434).
Um sich von der liberalen Beschränkung des Versprechens gleicher
Teilhabe zu emanzipieren, ohne dadurch umgekehrt die subjektive Freiheit
der Einzelnen zu unterminieren, versucht Marx ein soziales Verständnis
gleicher Teilhabe jenseits des Ideals absoluter Gleichheit zu entwickeln: eine
»Welt der sich unterscheidenden Menschheit, deren Ungleichheit nichts
anders ist als die Farbenbrechung der Gleichheit« (Marx 1976c: 115). Auf
ähnliche Weise reformuliert auch Adorno die angestrebte Verknüpfung von
Freiheit und Gleichheit als Versuch, weder eine »ungeschiedene Einheit«
noch eine »feindselige Antithetik« herzustellen, sondern eine »Kommunikation des Unterschiedenen«, das »teilhat aneinander« (1977b: 743; vgl.
Schwarte 2023: 35). Eine solche Kommunikation lässt sich nicht durch einen
auf absolute Gleichheit getrimmten »Einheitsstaat« forcieren. Wie es in den
Minima Moralia heißt, bedarf sie einer »Verwirklichung des Allgemeinen
in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch
ginge« müsste gegenüber der »schlechte[n] Gleichheit heute […] den besseren Zustand […] denken als den, in den man ohne Angst verschieden sein
kann« (Adorno 2003b: 116). Gleichheit zu denken als Abwesenheit der Angst,
verschieden zu sein, bedeutet, das Verhältnis von subjektiver Freiheit und
gleicher Teilhabe im Unterschied zum politischen Liberalismus nicht als
einseitiges, sondern als gegenseitiges Voraussetzungsverhältnis zu verstehen: Nicht nur die subjektive Freiheit der Einzelnen ist Voraussetzung für
die Verwirklichung der gleichen Teilhabe an der Regierungsmacht. Auch die
Teilhabe an der Regierungsmacht muss auf subjektive Freiheit zielen, weil
diese der politischen Herstellung bedarf. Marx hält dementsprechend fest,
dass in der wahrhaft demokratischen Handlungsordnung eine Politik der
»freie[n] Entwicklung eines jeden [als] Bedingung für die freie Entwicklung
aller« (1999: 43) in Erscheinung tritt.
Wo der Anspruch gleicher Teilhabe in diesem Sinne, wie es in einer
Formulierung Adornos heißt, als »verschüttete Utopie des Besonderen«
(1966: 312; vgl. dazu Wallat 2009: 137) zur Darstellung kommt, lässt sich
Marx’ Kritik am politischen Liberalismus als Kritik im Namen einer anderen Verknüpfung der revolutionären Versprechen subjektiver Freiheit
140
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
und gleicher Teilhabe dechiffrieren, die auf ordnungstheoretischer Ebene
jener Verknüpfung entspricht, die Hegel anhand des Begriffs der Komödie
entwickelt hatte. Hegels Begriff der Komödie erweist sich insofern als Antizipation der wahren Demokratie, als auch sie die Etablierung einer Praxis
subjektiver Freiheit vorsieht, die in einer, durch die gleiche Teilhabe aller
immer wieder aufs Neue hervorgebrachten, »unendlichen Sicherheit die
Oberhand behält« (ÄIII 527).
Anders als in der strukturell tragischen Handlungsordnung des politischen Liberalismus behält die subjektive Freiheit in der komischen Handlungsordnung der wahren Demokratie die praktische Oberhand, weil diese
in ihr wissentlich und willentlich durch eine explizit politische Praxis hervorgebracht wird. Genauer: Die komische Sicherung subjektiver Freiheit beruht
auf der politischen Praxis ihrer gesellschaftlichen Hervorbringung, d.h. auf
einer Politik geteilter Teilhabe, die auf die Herstellung gleicher subjektiver
Freiheit zielt. Wie in der kurzen Rekonstruktion dargelegt, bestimmt Hegel
die Lösung auftretender Konflikte in der komischen Handlungsordnung dadurch, dass sie nach ihrer beständigen Wiederholung verlangt: Heiter werden die Subjekte nicht, weil keine Konflikte mehr auftreten würden, sondern
weil sie, mit Marx gesprochen, immer neue Konflikte anzetteln, sich beständig selbst kritisieren, sich fortwährend unterbrechen, weil sie die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche verhöhnen und
stets von Neuem zurückschrecken können. Heiter sind sie, weil ihre politische Praxis sicherstellt, dass sie ohne Angst verschieden sein können.
Der Hegelinterpretation Roches folgend, vollzieht sich diese komische
Wiederholung gesellschaftlicher Verhältnisse als Praxis immanenter Kritik,
die sich gegen die »self-contradictory and thus self-cancelling position«
(1998: 139) jener Verhältnisse richtet, die ihre eigene politische Hervorbringung abblenden. Kritisiert wird dementsprechend nicht das unvermeidbare
Auftreten von Konflikten, sondern die durch Hegel auf den Punkt gebrachte »Peinlichkeit« (ÄIII 529) von Verhältnissen, die ihre selbstbestimmte
Gestaltung und Veränderung verunmöglichen. Der Versuch, Marx’ wahre
Demokratie nach dem hegelschen Modell der Komödie zu lesen, spricht
keiner vorschnell heiteren Versöhnung das Wort. Denn wahrhaft aufgelöst – nicht nur vorübergehend stillgestellt – wäre das Rätsel politischer
Ordnungsbildung, das sich mit der Französischen Revolution erstmals als
historisches Rätsel gestellt hat, erst im Zuge der ihrerseits revolutionären
Etablierung einer bis heute ausstehenden Demokratie, deren politische
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
141
Ordnung sich am Modell einer strukturell komischen Verknüpfung subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe orientiert.
4.3 Perspektiven einer komischen Politisierung
Die Stärke ebenso wie das evidente Problem eines über Hegels Komödienbegriff entwickelten Ordnungsmodells wahrer Demokratie liegt in den scheinbar unermesslichen Voraussetzungen einer komödienkompatiblen Welt, in
der alleine heitere Konfliktvollzüge zu gelingen versprechen. Was kann es
schon bedeuten, die Peinlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse zu überwinden?
Anders als Hegel, der sich von der Aufgabe einer konsequenten Ausformulierung seines geistphilosophisch begründeten Anspruchs an die
Voraussetzungen vernünftiger Ordnungsbildung freispricht, nimmt Marx
sich dieser immer wieder an. Daher ist es auf Grundlage einer Engführung seiner Bestimmung der wahren Demokratie mit den Ausführungen
im Achtzehnten Brumaire, die im Werk Marx’ den Umschlag von der emanzipatorischen Ausrichtung seines Frühwerks zur Kritik der politischen
Ökonomie im Spätwerk markiert, möglich, seine Forderung einer revolutionären Neuordnung der politischen Moderne als Überwindung der
liberalen Institutionalisierung der Entzweiung von subjektiver Freiheit in
der bürgerlichen Gesellschaft und gleicher Teilhabe an der Regierungsmacht
des liberalen Staates zu konkretisieren.
Wie Marx im Achtzehnten Brumaire darlegt, erfordert die Verwirklichung
eines wahrhaft demokratischen Verhältnisses von subjektiver Freiheit und
gleicher Teilhabe einen revolutionären Sprung und eine Politisierung der
Gesellschaft, genauer: Sie erfordert einen ereignishaften Sprung in eine
unendliche Politisierung der Gesellschaft. Bevor an späterer Stelle erörtert
wird, wie dieser Sprung zu verstehen ist und warum Marx ihn trotz seiner
Schwierigkeit einfordern muss, gilt es zunächst, die von ihm beschriebenen Versuche, immer wieder von Neuem anzufangen, sich beständig
selbst zu kritisieren und fortwährend im eigenen Lauf zu unterbrechen, als
komisch geordnete Prozesse einer unendlichen Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft zu deuten, von der Marx’ Bezeichnung der ausstehenden
Neuordnung als soziale Revolution (1970) zeugt (vgl. Kap. 1.3).
Weil er um die methodische Prekarität seines Versuchs der Skizzierung
einer historisch ausstehenden Handlungsordnung weiß, begreift Marx seine
142
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
Definition gesellschaftlicher Politisierung nicht als Prognose in die inhaltliche Verfasstheit der antizipierten Neuordnung, sondern als politische Ausrichtung am philosophischen Maßstab der bestimmten Negation bestehender Verhältnisse. Er beschränkt sein Unterfangen auf die Bestimmung ihres
selbstreflexiven Vollzugs, der sich, wie es in einer berühmten Formulierung
des jungen Marx heißt, einzig daran orientieren kann, dass es »alle Verhältnisse umzuwerfen [gilt], in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (1976a: 385).
Statt ein inhaltliches Ideal verwirklichter Gleichheit und Freiheit auszumalen, das nach der Etablierung einer wahrhaft demokratischen Handlungsordnung ein für alle Male vorausgesetzt werden könnte, konzentriert
sich Marx auf die nur negativ bestimmbare Operation eines selbstbestimmten politischen Gestaltungsprozesses. Durch die bestimmte Negation
gesellschaftlicher Ungleichheit und Unfreiheit versucht er die Fluchtlinien
einer subjektiven Freiheitspraxis gleicher Teilhabe anzuzeigen. Dieser methodischen Bestimmung zufolge kann eine Politisierung gesellschaftlicher
Verhältnisse nur gelingen, wo sie die Notwendigkeit, immer wieder neu
anzusetzen, nicht als Scheitern, sondern als konstitutiven Teil ihrer eigenen
Hervorbringung begreift. In der Einsicht, dass immer wieder neu anfangen
und auf das scheinbar Vollbrachte zurückkommen muss, wer gesellschaftliche Verhältnisse politisch selbstbestimmt gestalten will, spiegelt sich auch
das dramatische Bewusstsein um die Unüberwindbarkeit auftretender
Konflikte, das Segal mit Blick auf die Komödie, der höchsten Form des Dramas, auf den Begriff bringt: »The [comic] drama will have no happy ending.
Indeed, it will have no ending at all« (2001: 452).
Doch indem Marx die Gesellschaft als Ort der politischen Hervorbringung einer Praxis gleicher subjektiver Freiheit und Teilhabe ausweist, geht
er zugleich einen Schritt über eine bloß formale Definition demokratischer
Selbstbestimmung hinaus. Im Achtzehnten Brumaire konkretisiert er sein
Verständnis wahrhaft demokratischer Ordnungsbildung als Prozess einer
Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft, deren naturalisierende Freisetzung durch den liberalen Staat überwunden werden soll. Wenn Marx
schreibt, dass sich das liberale, bloß formelle Moment subjektiver Freiheit
in ein materielles Moment subjektiver Freiheit transformieren muss (vgl.
1972: 231 f.), richtet sich diese Forderung geradewegs gegen die gouvernementale Selbstregierung der bürgerlichen Gesellschaft, welche die soziale
Hervorbringung subjektiver Freiheit der politischen Selbstbestimmung entzieht. Statt die praktische Pluralität subjektiver Freiheit wie im politischen
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
143
Liberalismus schlicht als naturrechtlich hergeleitete Gegebenheit zu begreifen, versteht er die Vielfalt einer in sich unterschiedenen Menschheit als
politische Aufgabe ihrer gesellschaftspolitischen Hervorbringung. Indem
Marx die Möglichkeit einer revolutionären Neuordnung auf der bestimmten Negation der tragischen Struktur liberaler Ordnungsbildung gründet,
gewinnt seine Perspektive auf eine Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse an Kontur: Angesichts der Farce liberaler Ordnungsbildung muss
sich der emanzipatorische Anspruch ihrer Ablösung durch eine strukturell
komische Handlungsordnung zugleich gegen die (a) politische Ökonomie
gouvernemental regierender Verwertungsimperative und gegen die (b)
regulierende respektive intervenierende Rolle richten, die der (neo)liberale
Staat ihr gegenüber einnimmt (vgl. Kap. 2.4.2; 3.3.3). Fernab des Anspruchs
auf eine vollständige Wiedergabe der ausdifferenzierten Diskurse, die sich
Marx’ Kritik der politischen Ökonomie und seinem Staatsverständnis gewidmet haben, soll im Folgenden kurz rekonstruiert werden, wogegen sich
die bestimmte Negation des marxschen Politisierungsanspruch vor dem
Hintergrund der liberalen Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und
liberalem Staat richtet.
4.3.1 Die Politisierung der Arbeit
Die zentrale Forderung einer Politisierung der Gesellschaft nach Marx verlangt nach einer anderen Organisation gesellschaftlicher Arbeit. Genauer:
nach einer politischen Überwindung kapitalistisch organisierter Arbeit als
Quelle gesellschaftlichen Reichtums. Wie bereits Hegel herausgestellt hatte,
wird die Kohäsion der bürgerlichen Gesellschaft im politischen Liberalismus
über die Arbeitsteilung hergestellt, die eine umfassende, gegenseitige Abhängigkeit generiert (vgl. Kap. 2.3.1). Deren Ausrichtung am Maßstab kapitalistischer Verwertung führt dazu, dass immer effizientere Standards und
Anforderungen entstehen, an denen sich die Einzelkapitale messen müssen,
wodurch nicht nur regelmäßige Krisen der Überproduktion entstehen, sondern auch der Druck auf die Lohnabhängigen stetig zunimmt. Eine Praxis
gleicher subjektiver Freiheit und Teilhabe lässt sich daher nur etablieren,
wenn die gesellschaftlich vermittelte Bedürfnisbefriedigung der Einzelnen
nicht länger durch die Imperative kapitalistischer Verwertung organisiert
wird.
144
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
Marx skizziert die Hervorbringung einer solchen Praxis als »universelle
Entwicklung« der Einzelnen, die auf der »Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität als ihres gesellschaftlichen
Vermögens« (Marx 1974: 91) gründet. Ein gesellschaftliches Vermögen dieser
Art würde sich von kapitalistischem Reichtum unterscheiden, der als »ungeheure Warensammlung« (Marx 1968: 49) in Erscheinung tritt, weil es sich
statt an der Verwertungslogik des Kapitals an der subjektiven Freiheit der
Einzelnen misst. In den Grundrissen beschreibt Marx die Möglichkeit einer
Ablösung der Form kapitalistischen Reichtums folgendermaßen:
In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder […] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand
der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion. […] Der wirkliche Reichtum manifestiert sich vielmehr –
und dies enthüllt die große Industrie – im ungeheuren Missverhältnis zwischen der angewandten Arbeitszeit und ihrem Produkt wie ebenso im qualitativen Missverhältnis zwischen der auf eine reine Abstraktion reduzierten Arbeit und der Gewalt des Produktionsprozesses, den sie bewacht. Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozess eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum
Produktionsprozess selbst verhält. (1974: 592)
Marx zufolge trägt der technologische Fortschritt dazu bei, dass die Angewiesenheit der kapitalistischen Verwertung auf die Arbeit in einen immer
deutlicheren Widerspruch zur gesellschaftlichen Produktivität tritt, wodurch die Möglichkeit einer anderen Arbeitsteilung aufscheint, in der der
Mensch nicht mehr dem stummen Zwang des Verwertungsimperativs
unterstellt wäre, sondern sich das gesellschaftlich erarbeitete Vermögen
unterordnen würde, indem er dessen gemeinschaftliche Produktion als
»Wächter und Regulator« selbst organisiert und gestaltet. Die historische
Entwicklung einer technologisierten »großen Industrie«, auf die Marx hier
verweist, ist allerdings nicht als Grund dafür zu verstehen, dass die Möglichkeit einer anderen Arbeitsteilung zutage tritt. Wie Marx wenige Zeilen
später ausführt, fungiert sie als bloßer Katalysator des grundlegenden,
»prozessierende[n] Widerspruch[s]« des kapitalistischen Verwertungsprozesses, der einerseits »die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren sucht,
während [er] andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des
Reichtums setzt« (1974: 593). Postones Interpretation folgend zeigt sich dar-
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
145
an nicht nur, dass die Verwertung von Arbeitskraft nicht die einzig mögliche
Quelle von Reichtum ist,6 sondern auch, dass die kapitalistische Produktionsweise das Potenzial ihrer Überwindung stets schon in sich trägt (vgl.
1993: 25–27). Der prinzipielle Selbstwiderspruch des Kapitals, das einerseits
auf eine Überwindung seiner Abhängigkeit von Arbeit zielt, sich von dieser
aber andererseits – solange die gesellschaftliche Arbeitsteilung durch den
marktförmigen Tausch von Waren organisiert wird, deren Wert sich an
der investierten Arbeit misst – unmöglich emanzipieren kann, schafft die
Grundlage für eine andere Arbeitsteilung, die zu etablieren kapitalistische
Gesellschaften aber nicht fähig sind, weil dies der Überwindung des Verwertungsimperativs als soziales Kohäsionsprinzip und damit ihrer eigenen
Abschaffung gleichkäme:
On the one hand, by inducing an enormous increase in productivity, the social forms of
value and capital give rise to the possibility of a new social formation in which direct human labor would no longer be the primary social source of wealth. On the other hand, these
social forms are such that direct human labor remains necessary to the mode of production and becomes increasingly fragmented and atomized. (Postone 1993: 197)
Der Übergang in eine andere Organisation der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, in der sämtliche Tätigkeiten, die »einem sozial verallgemeinerbaren Zweck dienen« (Honneth 2023: 258), unabhängig davon ob sie
in der bürgerlichen Arbeitsteilung alimentiert wurden oder nicht, Gegenstand einer kollektiven Gestaltung würden, kann dementsprechend nicht
als funktionaler Automatismus einer durch die kapitalistische Verwertung
vorangetriebenen Technologisierung verstanden werden (vgl. Heinrich
2013: 207–212). Denn innerhalb des kapitalistischen Systems spricht nichts
dagegen, dass seine selbstwidersprüchliche Tendenz durch die krisenhafte
Vernichtung von überschüssigem Kapital immer wieder aufgefangen und
aufs Neue reproduziert wird (vgl. Kap. 2.3.2). Die Verwirklichung des von
Postone beschriebenen Potentials bedarf einer dem kapitalistischen System
äußerlichen selbstbestimmten Gestaltung, einer aktiven Politisierung der
Art und Weise, wie die gesellschaftliche Arbeitsteilung organisiert wird.
6 Die historische Spezifizität kapitalistischen Reichtums zeigt sich gemäß Postone nicht nur im
Aufscheinen der Möglichkeit einer anderen Arbeitsteilung, sondern auch im Unterschied zur
vorkapitalistischen Arbeitsteilung, die durch offene, unmittelbare Machtverhältnisse organisiert
wurde: »[W]here [material wealth] is the dominant social form of wealth, it is ›evaluated‹ and distributed by overt social relations – traditional social ties, relations of power, conscious decisions,
considerations of needs, and so forth« (1993: 188).
146
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
Was dann noch, »bei radikal verkürzter Arbeitszeit, an Arbeitsteilung übrigbliebe«, heißt es bei Adorno, »verlöre den Schrecken, die Einzelwesen durch
und durch zu formen« (1966: 275).
Die Perspektive auf eine Politisierung der Arbeitsteilung richtet sich
nicht gegen die von Hegel konstatierte allgemeine Abhängigkeit in der
modernen Gesellschaft, sondern auf eine selbstbestimmte politische Gestaltung derselben. Marx’ Modell einer politischen Neuordnung erweist sich
als wahrhaft demokratisch, weil er die gouvernementale Macht des kapitalistischen Verwertungsimperativs nicht durch ein anderes ökonomisches
Prinzip zu ersetzen beabsichtigt, sondern durch einen kollektiven Prozess
gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Die kapitalistische Verwertungslogik
zu überwinden, hieße, die allgemeine Abhängigkeit von gesellschaftlicher
Arbeit als politisch gestaltungsbedürftige ernst zu nehmen. Als Maßstab
ihrer Organisation gälte dem beschriebenen gegenseitigen Voraussetzungsverhältnis von subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe entsprechend die
»universelle Entwicklung« der Einzelnen: »[K]einer darf weniger bekommen
als das Äquivalent der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeit« (Adorno
2003a: 292).
Als strukturell komisch geordnet ließe sich ein solcher Prozess der Politisierung verstehen, weil die gesellschaftliche Organisation der Arbeitsteilung
darin nicht mehr als Ausdruck einer »ewigen Gerechtigkeit«, sondern als Resultat vergangener, politischer Konfliktvollzüge in Erscheinung träte.
The […] claim underlying the labor theory of value is the same as that in Greek comedy:
we are not subjected to an alien universal essence other than that of our own making. In
comedy we realize that the gods supposedly ruling over us with an alien necessity rest on
nothing more than the act of putting on the masks that brings them into existence. We are
free to take these masks off, thereby revealing that there is no »inner essence« ultimately
separate from our self-consciousness. In a parallel manner the labor theory of value holds
that the social forms appearing to rule over the economy with an alien necessity, that is,
the commodity, money, and capital forms, ultimately rest on the act of creating surplus
labor. The alien power of commodity, money, and capital is an illusion. It stems from the
fact that under capitalism each individual worker confronts the product of the sum total
of social labor in isolation. Through their self-association these individuals may come to
realize that commodities, money, and capital are nothing more thang objectified forms of
their own collective labor. This is a comic moment in Hegel’s sense. (Smith 1993: 31)
Die selbstbestimmte Assoziation einer solchen strukturell komischen
Politisierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wäre inhaltlich nicht
präformiert, »sondern in der Art, wie die Einzelnen sich einbringen, offen,
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
147
elastisch, modifizierbar« (Schwarte 2023: 35).7 Marx’ Argumentation folgend lässt sich das Versprechen subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe
politisch nur unter der Voraussetzung einlösen, dass die gesellschaftliche
Kohäsion selbstbestimmt gestaltet wird, was wiederum bedeutet, dass sie
nicht länger durch die gouvernemental regierte Verwertung von Arbeit
organisiert würde.
4.3.2 Der untergehende Staat
Im Unterschied zur Kritik der politischen Ökonomie, der Marx sein Spätwerk gewidmet hat, ist die bestimmte Negation des liberalen Staates, der die
bürgerliche Gesellschaft politisch freisetzt, ein von ihm weitgehend unbearbeitetes Themenfeld geblieben. Entsprechend häufig wurde er dafür kritisiert, »eine[r] ökonomistisch verkürzte[n] Interpretation der entwickelten
kapitalistischen Gesellschaften« (Habermas 1981: 504) zugearbeitet und die
politische Dimension seiner Forderung einer selbstbestimmten Gestaltung
geteilter Praxis aus den Augen verloren zu haben. Dies ist allerdings nicht
darauf zurückzuführen, dass Marx den liberalen Staat zu einem bloß ideologischen Überbau der politischen Ökonomie degradiert hätte. Er war verstorben, bevor er den im Rahmen des Kapitals geplanten Band zum Staat überhaupt erst anfangen konnte (vgl. Wallat 2009: 263).
Es wird daher nicht selten übersehen, dass Marx den liberalen Staat
nicht nur als politische Voraussetzung der historischen Etablierung der
kapitalistischen Arbeitsteilung, sondern aufgrund seiner repressiven,
7 Als »proletarisch« bestimmt Marx diese Assoziation im Sinne einer angestrebten Selbstabschaffung des Proletariats, weil sich ihr Programm gegen eine Arbeitsteilung richtet, die aufgrund
ihrer Ausrichtung am kapitalistischen Verwertungsimperativ proletarische Existenzen hervorbringt. Im gleichen Zug, in dem diese Verwertungslogik proletarische Existenzen hervorbringt,
schreibt sie allerdings auch die vergeschlechtlichten und rassifizierten Existenzen fort, die die
soziale Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft sicherstellen, vgl. dazu u.a. Arruzza (2013),
Bhattacharya (2017), Chen (2013) und Endnotes (2013). Diese würden durch eine revolutionäre
Ablösung der kapitalistischen Verwertungslogik keinesfalls automatisch mitüberwunden, eine
Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse würde es jedoch ermöglichen, sie neu herauszufordern und dadurch zur Möglichkeit ihrer Abschaffung beizutragen. Mit Blick auf den gegenwärtigen Diskurs folgt daraus eine doppelt kritische Perspektive: gegen eine liberale Identitätspolitik, die antirassistische und feministische Befreiungskämpfe von der Frage der kapitalistischen
Arbeitsteilung entkoppelt und gegen einen Klassenzentrismus, der diese Befreiungskämpfe zu
bloßen Nebenwidersprüchen deklassiert.
148
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
gewaltförmigen Absicherung von Eigentumsverhältnissen auch als konstitutiven Bestandteil ihrer politischen Reproduktion angesehen hat (vgl. Loick
2016: 79–84). In den wenigen Passagen, die sich in der Auseinandersetzung
mit dem Modell wahrer Demokratie der Rolle des Staates zuwenden, zieht
er daraus die Konsequenz, dass dieser im Zuge einer selbstbestimmten
Politisierung der Gesellschaft untergehen würde:
In der Demokratie ist der Staat als Besonderes nur Besonderes, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem anderen Inhalt. Die
neueren Franzosen haben dies so aufgefaßt, dass in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung,
nicht mehr für das ganze gilt. (Marx 1976b: 232, vgl. dazu Menke 2015: 339)
Gemäß Marx gilt der liberale Staat für das Ganze, weil er das politische
Projekt der Moderne einlöst, indem er durch die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft eine geordnete Einheit ihrer Differenz zu sich herstellt,
wodurch er die revolutionär deklarierte Differenz von subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung institutionalisiert (vgl. Kap. 1.3). Wo diese
Freisetzung durch eine interne Politisierung aufgehoben würde, obläge es
dementsprechend nicht länger dem Staat, eine ordnungsbildende Einheit
zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung herzustellen. Marx’
Argumentation zufolge würde er zum Besonderen als Besonderes, weil seine
bisherige Aufgabe – die rechtliche Absicherung der politischen Freisetzung
der bürgerlichen Gesellschaft – gegenüber einer demokratisch politisierten
Gesellschaft an Bedeutung verlöre. Wo das, was als politische Regierung
erkannt und gestaltet wird, nicht länger auf den Staat, d.h. auf sein regulierendes bzw. intervenierendes Regierungssystem, beschränkt bliebe,
sondern auf die gegenwärtig gouvernemental organisierte Regierung der
bürgerlichen Gesellschaft ausgeweitet würde, verwandelte sich der Staat in
ein dieser Gesellschaft gegenüber »untergeordnetes Organ« (1973: 27).8 So
würde paradoxerweise eingelöst, was bereits der politische Liberalismus ge-
8 In seiner Kritik des Gothaer Programms, aus der die zitierten Passagen stammen, spricht der junge Marx sich noch für eine »revolutionäre Diktatur des Proletariats« (1973: 28, für eine Kontextualisierung dieses Motivs über Lenin, vgl. Bayer 2021: 121–133; Elbe 2010: 386; Hindrichs 2017:
120–125) aus, die er als Sprung in eine wahre Demokratie begreift (vgl. Kap. 4.4, für eine postfundamentalistische Ausführung seines Modells einer demokratischen Politisierung »gegen den
Staat«, vgl. Abensour 2012). Demgegenüber ist es Zweck dieser sehr kurzen Erläuterung, die
ordnungstheoretische Kompatibilität seiner frühen Staatskritik mit dem späteren Projekt seiner
Kritik der politischen Ökonomie darzulegen, vgl. dazu Hirsch et al. 2008.
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
149
fordert, durch sein Selbstmissverständnis aber faktisch unterminiert hatte:
Ein Primat subjektiver Freiheit gegenüber der Macht objektiver Ordnung
(vgl. Kap. 2.2.2; 2.5).
Interessant ist Marx’ Bestimmung des untergehenden Staates auch, weil
darin die ursprünglich liberale, später neoliberal und immer häufiger libertär radikalisierte Forderung eines möglichst schwachen Staates widerhallt
(vgl. Kap. 3.4). Im Unterschied zum Kontinuum der in ihrem Grundsatz liberalen Kritik staatlicher Regierung zielt Marx’ Staatskritik allerdings nicht
länger auf die Sicherung politischer Passivität in der bürgerlichen Gesellschaft. Der im Modell einer wahren Demokratie durch die bestimmte Negation der liberalen Exklusivität politischer Regierung auf Ebene des Staates
herbeigeführte Untergang desselben wäre im Gegenteil als konsequente Folge jener offenen und allumfänglichen Politisierung der Gesellschaft zu verstehen, welche die liberale Staatskritik zu verhindern sucht. Die staatliche
Regierung, die im neoliberal radikalisierten Liberalismus auf einen in seiner politischen Schwäche stilisierten, aber faktisch permanent intervenierenden Staatsapparat begrenzt bleibt (vgl. Kap. 3.3.3), würde einem kollektiven Gestaltungsprozess unterworfen und auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft ausgeweitet, wodurch der Staat seine Funktion als von dieser Gesellschaft differenzierter Ort politischer Regierung verlöre. Dem entspricht
Adornos Bestimmung des Ziels politischer Praxis als Aufgabe »ihre[r] eigene[n] Abschaffung« (1977a: 769): Weil sich die gegenwärtige politische Praxis ihrer Form nach auf die demokratische Teilhabe am liberalen Staat beschränkt, muss sie abgeschafft und zugunsten einer selbstbestimmten Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse überwunden werden, woraus der
Untergang des Staates als Ort der politischen Regierungsmacht resultieren
würde.
4.3.3 Subjektive Passivität
Anders als oft angenommen besteht die größte Herausforderung der wahren
Demokratie nicht darin, dass eine selbstbestimmt organisierte Arbeitsteilung ein passives »Erschlaffen der Menschheit im Wohlleben« (Adorno
2003b: 178) befördern würde, sondern in der umgekehrten Gefahr einer aktivistischen Überlastung der Subjekte (vgl. Lafargue 2011). Zwar würden die
Subjekte in der wahren Demokratie vom liberalen Appell zur individuellen,
solidarischen Kompensation bürgerlicher Exzesse entlastet, allerdings nur,
150
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
um sich der nicht minder schwerwiegenden Aufgabe einer unendlichen
Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft zuwenden zu können. Die damit
einhergehende Überlastungsgefahr nimmt Adorno in seinem berühmten
Aphorismus Sur l’eau in den Blick, in dem er darlegt, wie »das Wunschbild
des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen«, das zahlreichen »positiven Entwürfe[n] des Sozialismus« zugrunde liegt – gegen
die sich allerdings bereits »Marx […] sträubte« –, jene Überfrachtung der
Einzelnen fortträgt, die »in der bürgerlichen Gesellschaft« des politischen
Liberalismus »Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen mit
sich führt« (2003b: 178).
Dem eigenen Selbstverständnis zufolge setzt sich die wahre Demokratie dadurch vom politischen Liberalismus ab, dass das Versprechen
gleicher Teilhabe auf den gesamten Bereich der bürgerlichen Gesellschaft
ausgeweitet wird. Die Einzelne sieht sich damit der Aufforderung ausgesetzt, sich permanent in die Politisierungsprozesse gesellschaftlicher
Verhältnisse einzubringen, um ihre Teilhabe an deren Gestaltung zu erhalten. Die der Beschreibung einer immer wieder von Neuem beginnenden
Politisierung naheliegende »Vorstellung vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als
Hochbetrieb« (Adorno 2003b: 178) droht damit in eine andere Form der
Unfreiheit umzuschlagen: An die Stelle des ohnmächtigen Ausgeliefertseins
an gouvernementale Mächte tritt eine Hyperaktivität rastloser Selbstkritik,
die sich kaum von neoliberal flexibilisierten Kontrollmechanismen unterscheiden lässt (vgl. Kap. 3.3.4). Adornos Kritik zufolge ist keine »vorgebliche
Gleichmacherei […] zu fürchten, sondern die wüste Erweiterung des […]
Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens« (2003b: 178).
Die wahre Demokratie läuft Gefahr, in eine erneute Terreur abzugleiten
(vgl. Kap. 2.2).
In der Konsequenz legt Adorno dar, dass die Überwindung peinlicher
Verhältnisse durch eine Politisierung der Arbeitsteilung zwar »notwendige,
aber nicht […] zureichende Bedingung einer befreiten Gesellschaft« (2003a:
292) wäre. Denn nur wo es möglich ist, die eigene Teilhabe an politischen Gestaltungsprozessen auch immer wieder auszusetzen, eine Weile nichts Neues anzufangen, sich nicht beständig zu kritisieren, lässt sich gleiche Teilhabe als subjektiv freie praktizieren. »Rien faire comme une bête«, wie Adorno schreibt, »auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen«
(2003b: 179), müsste konstitutiver Bestandteil einer befreiten Gesellschaft
sein. Als philosophischen Begriff schlägt Adorno dafür Kants »ewigen Frie-
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
151
den« vor. Dies vermag nicht zu überzeugen, weil die regulative Idee des »ewigen Friedens« ein potentielles Jenseits auftretender Konflikte evoziert, das
sich nicht mit der modernen Einsicht in die prinzipielle Unüberwindbarkeit
politischer Konflikte zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung
vereinbaren lässt (vgl. Kap. 1). Nicht so in Hegels Komödie, in der die von
Adorno eingeforderte Berechtigung subjektiver Passivität auf den Begriff eines selbstreflexiv gelingenden Ordnungsmodells gebracht wird.
Die konstitutive Bedeutung von Momenten subjektiver Passivität für das
Gelingen einer geteilten Praxis gleicher Teilhabe lässt sich über Hegels poetologische Bestimmung der dramatischen Struktur selbstbestimmten Handelns rekonstruieren, in der er darlegt, wie sich die aktive Handlung aus
der passiven Erfahrung der Unruhe lyrischer Innerlichkeit heraus formiert
(vgl. Hunter 2023: 89–92). Nur wo die Einzelnen sinnlich affiziert werden,
ist es ihnen möglich, Zwecke zu formieren, die sich in Handlungen überführen lassen. Die Erfahrung passiver Affektion ist demnach als Bedingung jener subjektiven Freiheit zu begreifen, die Marx den Prozessen eines kollektiven politischen Urteilens voraussetzt: Um produktiv an der Politisierung
der Gesellschaft teilhaben zu können, bedarf es Subjekte, die aufgrund von
Erfahrungen einer innerlichen Distanz zu den herrschenden Verhältnissen
vorschlagen können, wie diese neu, anders, besser, richtig gestaltet werden
sollten. Die Subjekte müssen die Macht der gegebenen Verhältnisse passiv
erlitten haben, bevor sie in Distanz zu ihnen treten und sich aktiv handelnd
für ihre Veränderung zusammenschließen können. Daher ist die Bejahung
einer vorübergehenden und wiederkehrenden Passivität der poetologischen
Argumentation Hegels folgend Voraussetzung eines jeden selbstbestimmten Handelns: Nichtteilhabe ist die »innere Bedingung« (Menke 2015: 282)
der Teilhabe. Auf Ebene der dramatischen Handlungsordnung folgt daraus,
dass die Einzelne in der einen oder anderen Form von der Bürde politischer
Verantwortung entlastet werden muss.
Im Selbstverständnis des politischen Liberalismus wird die Voraussetzung subjektiver Passivität dadurch eingelöst, dass das Subjekt als passiver
Bourgeois von den politischen Pflichten des Citoyens entlastet wird (vgl.
Kap. 2.2.2). Aber weil die bürgerliche Gesellschaft dadurch insgesamt vom
Anspruch einer aktiven politischen Gestaltung befreit wird, übernehmen
gouvernementale Mächte ihre Regierung, woraus eine umso schwerwiegendere ökonomische Überlastung der Einzelnen resultiert. In der Konsequenz
erweist sich die liberal berechtigte Passivität der Subjekte als ohnmächtige
Anpassung an bestehende Herrschaftsverhältnisse (vgl. Kap. 2.4.4). In Ab-
152
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
grenzung von diesem Verständnis einer Berechtigung subjektiver Passivität
durch die politische Freisetzung der gesamten bürgerlichen Gesellschaft
entwirft Hegel in seiner Bestimmung der komischen Berechtigung subjektiver Passivität ein Verständnis phasenweiser Entlastung, das sich nicht
als Preisgabe an äußerlich vorgegebene Verhältnisse realisiert, sondern
als Preisgabe, die die Subjekte gegenüber ihrer eigenen Innerlichkeit vollziehen. Politisch ausgeführt bedeutet dies, dass Passivität nicht länger
positivistisch mit der Gegebenheit der bürgerlichen Gesellschaft gleichgesetzt, sondern als vorübergehendes und wiedergehendes Moment der
»Kraft, Unruhe oder Negativität« (Menke 2015: 381) verstanden wird, das
in einem dialektischen Verwirklichungsverhältnis zur selbstbestimmten
Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse steht. Das Subjekt würde nicht
länger im Zeichen der »in Wahrheit historische[n] Kategorie« (Adorno 1966:
262) eines (arbeits)rechtlich kodierten Individuums adressiert, sondern
als unbestimmbares Selbst, das sich immer wieder neu zusammensetzt
– nicht, weil es zur permanenten Selbstoptimierung gezwungen wäre,
sondern weil es frei ist, sich in ein passives Spiel mit den eigenen Bedürfnissen, Erfahrungen und Interessen einzulassen, aus dem unterschiedlichste
Selbstverständnisse und politische Forderungen erwachsen können.
Hegel begreift die Komödie als höchste Form des Dramas, weil sie die
passiv-aktivierende Formierung selbstbestimmter Handlung nicht länger
in der strukturell tragischen Form eines Tugendkatalogs einfordert, der
einer entpolitisierten Gesellschaft gegenübergestellt wird (vgl. Kap. 2.2.4),
sondern die Konstitutionsweise solcher Handlung auf der objektiven Ebene
ihrer Ordnungsbildung reflektiert. Anders als in der Handlungsordnung
des politischen Liberalismus wird das einzelne Subjekt nicht länger mit
kulturellen Appellen dieser oder jener Selbsteinschränkung überfrachtet. In
der strukturell komischen Handlungsordnung wird die Etablierung einer
auf vorübergehenden Momenten der Nichtteilhabe basierenden Teilhabe als
Prozess einer Subjektivierung ausgewiesen, die ihrerseits politisch hervorgebracht werden muss. Gemäß Hegel ist die komische Handlungsordnung
dadurch definiert, dass sie die »reale Gegenwart des Substantiellen«, die vermeintliche Natürlichkeit gegebener Verhältnisse objektiv zum Verschwinden bringt und die Subjekte »dieser Auflösung Meister« werden lässt. So
bringt sie die »durchgängige Verkehrtheit« gesellschaftlicher Verhältnisse
als Resultat ihrer vergangenen politischen Gestaltung zum Ausdruck. Dies
bedeutet, dass die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse in der komischen Handlungsordnung so verfasst sind, dass ihre »eigentliche Sache«,
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
153
d.h. ihre naturalistische oder göttliche Legitimation, »schon von Hause
aus nicht mehr vorhanden ist, so daß [diese Sache] dem ungeheuchelten
Spiele der Subjektivität offen kann bloßgegeben werden« (ÄIII 554 f.). Den
komischen Subjekten kann es daher nur möglich sein, »unangefochten und
wohlgemut« (ÄIII 531) in ihrer Passivität zu verbleiben, ohne sich dadurch
übergeordneten Mächten auszuliefern, weil sie die gegebenen Verhältnisse
als veränderbare erfahren haben werden. Die Perspektive einer komisch
politisierten Gesellschaft wäre daher eine, in der die partielle Ohnmacht
der Einzelnen so geschützt würde, dass diese ihrer subjektiven »Entfaltung« gefahrlos »überdrüssig« werden und »aus Freiheit Möglichkeiten
ungenützt« lassen können, »anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne
einzustürmen« (Adorno 2003b: 179).
In dieser Beschreibung spiegelt sich die Gegenseitigkeit des von Marx
nur angekündigten Voraussetzungsverhältnisses von subjektiver Freiheit
und objektiver Ordnung: Die subjektive Freiheitserfahrung eines Verschwindens vermeintlicher Substantialität gründet auf der praktischen
Erfahrung einer objektiv garantierten Teilhabe an der kollektiven selbstbestimmten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse (vgl. Menke 2015:
341). Nur wo die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst so verfasst sind, dass
sie tanzend nach ihrer Veränderung verlangen, ist es nicht länger gouvernementalen Mächten, sondern dem freien Spiel der Subjekte überlassen,
immer wieder aufs Neue zu bestimmen, was ihre vorübergehend geltende
Funktion sein soll. Eine passive Teilhabeverweigerung kann entsprechend
nur unter der Voraussetzung gelingen, dass dem Vollzug auftretender Konflikte keine uneingestandene Bedrohung des Entzugs künftiger Teilhabe
mehr innewohnt. In Adornos Formulierung lautet dieselbe These, dass mit
»der äußeren Repression […,] wahrscheinlich nach langen Fristen und unter
der permanenten Drohung des Rückfalls, die innere« verschwände. Erst
wo die Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse objektiv gesichert wäre,
würde eine »angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen [möglich]: in
einem Ganzen, welches die Teilnahme nicht mehr institutionell verhärtet,
worin sie aber reale Folgen hätte« (1966: 261). Die Einzelnen können »die
Auflösung ihrer Zwecke und Realisationen« nur in »Seligkeit und Wohligkeit« ertragen und »durchaus erhaben über [ihren] eigenen Widerspruch
und nicht etwa bitter und unglücklich darin« (ÄIII 528) sein, wo sie die
objektiven Verhältnisse, in denen sie leben, als selbstbestimmt gestaltete
und selbstbestimmt gestaltbare erfahren. Dass sie nicht bitter werden,
ist entsprechend nicht auf ihre ethische Haltung zurückzuführen, son-
154
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
dern darauf, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie leben,
bereits politisiert worden sind.9 Erst die Erfahrung einer auf objektiver
Ebene der Handlungsordnung garantierten politischen Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, die den Subjekten die Sicherheit vermittelt,
dass sie auch nach vorübergehenden Phasen der Abstinenz wieder teilhaben
können, ermöglicht das Hervortreten einer neuen, strukturell komischen
Praxis subjektiver Passivität, die sich von der ubiquitären Ohnmacht der
politischen Gegenwart abhebt.
4.3.4 Komische Rechte
Doch was kann es bedeuten, die Erfahrung gleicher Teilhabe objektiv auf
Ebene der politischen Handlungsordnung sicherzustellen? Wie sich gezeigt
hat, wird der objektive Zusammenhalt zwischen bürgerlicher Gesellschaft
und Staat im politischen Liberalismus durch die Form subjektiver Rechte sichergestellt (vgl. Kap. 2.2.2). Dementsprechend wäre auch eine wahrhaft demokratische Garantie gleicher Teilhabe und subjektiver Passivität in Form
von Rechten zu gewährleisten, deren Rolle und Praxis sich durch eine Politisierung der Gesellschaft allerdings wesentlich verändert würde: Marx’ These
vom Untergang des liberalen Staates zufolge würde die Funktion des Rechts
als vom Staat ausgehende ordnungsbildende Vermittlung von Staat und Gesellschaft durch eine umgekehrt von der politisierten Gesellschaft ausgehende Berechtigungspraxis abgelöst.10
Mit Menke gesprochen untersteht die strukturell komische Handlungsordnung der wahren Demokratie »einem strikten, unbedingt herrschenden
Grundgesetz: dem Gesetz, daß sie zugleich alle als Urteilsmächtige beteiligen und jeden als Ohnmächtigen berücksichtigen muß« (2015: 400).
Wie Menke in seiner Kritik der Rechte ausführt, wäre die Etablierung dieses
Grundgesetzes dahingehend als Fortführung der liberalen Rechtspraxis
zu verstehen, als die Form moderner Rechte dadurch gekennzeichnet ist,
9 Ansätze, die das emanzipatorische Potenzial der Komödie, anders als Hegel, nicht auf Ebene der
Handlungsordnung diskutieren, sondern für die individualisierte Ethik eines subjektiven Widerstands gehen objektive Herrschaftsverhältnisse zu mobilisieren suchen (vgl. u.a. Critchley 1999;
Dolar 2017; Donougho 2016; Lee 2016; Mascat 2019; Pfaller 2005; White 2014), drohen denn auch
im defätistischen Reformismus bürgerlicher Lächerlichkeit aufzugehen (vgl. Kap. 3.4.3).
10 Vgl. für eine konzeptuelle Ausführung des an Marx’ Anspruch demokratischer Selbstregierung
gemessenen Emanzipationspotentials des Rechts, Buckel 2007: 309–322.
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
155
dass sie die Berücksichtigung jener garantiert, die nicht an der politischen
Praxis teilnehmen: »Die Rechte sind, als Rechte moderner Form, die Rechte
– nur – des Ohnmächtigen« (2015: 385). Doch im Unterschied zur liberalen Sicherstellung subjektiver Rechte würde in der wahren Demokratie
nicht länger die Ohnmacht einer entpolitisierten Gesellschaft gegenüber
der politischen Regierungsmacht des Staates geschützt, sondern die Ohnmacht einer vorübergehenden und wiederkehrenden subjektiven Passivität
durch und innerhalb einer sich fortwährend politisierenden Gesellschaft.
»Berücksichtigung und damit Rechte braucht« in diesem Modell nicht
die bürgerliche Gesellschaft als gesonderte Sphäre, sondern das einzelne
Subjekt, das momentweise nicht an der selbstbestimmten kollektiven Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse »teilnehmen kann« (Menke 2015:
385). Die ordnungsbildende Einheit zwischen subjektiver Freiheit und objektiver Ordnung würde damit nicht mehr durch die umfassende politische
Freisetzung des Subjekts in einer entpolitisierten Gesellschaft, sondern
durch die bloß vorübergehende Freisetzung des Subjekts von einer politisierten Gesellschaft gegen diese politisierte Gesellschaft hergestellt. Damit
würde die komische Handlungsordnung einlösen, was bereits der politische
Liberalismus gefordert hatte: ein Primat subjektiver Freiheit. Allerdings
nicht in der scheiternden, weil gouvernementalen Mächten ausgelieferten
Form der positivistischen Voraussetzung einer bürgerlichen Gesellschaft,
sondern in der Form einer bloß momenthaften Passivität, die als innere
Voraussetzung einer politisch selbstbestimmten gesellschaftlichen Praxis
gleicher Teilhabe bejaht wird. Subjektive Passivität würde in der komischen
Handlungsordnung der wahren Demokratie als das Unordentliche in der
objektiven Ordnung, als Moment im Prozess ihrer politischen Gestaltung
berücksichtigt, ohne dass sie dadurch zu einer tragisch entkoppelten,
entpolitisierten Gegebenheit vor dieser Ordnung naturalisiert würde (vgl.
Menke 2015: 395).
Um dieses Modell einer phasenweisen Berechtigung subjektiver Passivität einlösen zu können, muss sich die Komödie, wie es bei Hamacher heißt,
auf die gebrochenen Versprechen der ihr vorausgehenden Tragödie beziehen. Wahrhaft komisch ist sie nur, sofern sie
die Komödie der Tragödie aufführt. Komödie ist sie nur in der Weise, dass sie den Betrug
[…] der Tragödie […] exponiert und an die Selbstvergessenheit erinnert, aus der dieser Betrug resultiert und in der er gesühnt wird. (2000: 139)
156
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
Politisch ausgeführt bedeutet dies, dass die strukturell komische Handlungsordnung der wahren Demokratie der tragischen Handlungsordnung
des politischen Liberalismus darin ähnlich bleibt, dass sie subjektive Freiheit
nicht nur positiv als subjektive Freiheit zur gleichen Teilhabe, sondern auch
negativ als subjektive Freiheit von der gleichen Teilhabe berechtigt (vgl. Bayer
2021: 157). Dies tut sie allerdings ganz anders als der politische Liberalismus: Statt subjektive Freiheit in der unpolitischen, nur vermeintlich freien
Passivität der bürgerlichen Gesellschaft durch staatlich garantierte Rechte sicherstellen zu wollen, zeigt sie den liberalen Betrug am Versprechen
subjektiver Freiheit auf, indem sie eine objektiv abgesicherte Subjektivierungskultur hervorbringt, die unter der gegenseitigen Voraussetzung
subjektiver Freiheit und gleicher Teilhabe an einem anderen Ort – der
politisierten Gesellschaft – operiert. An die Stelle ökonomisch permanent
aktivierter (neo)liberaler Subjekte, die selbst die alleinige Verantwortung
für ihre individuelle Stellung in der gesellschaftlich vermittelten Arbeitsteilung übernehmen müssen, treten komische Subjekte, die sich ohne Angst
vor einem Verlust ihrer Teilhabe von der aktiven politischen Gestaltung
gesellschaftlicher Verhältnisse zurückziehen können.
4.4 Zwischen revolutionärem Sprung und komischer
Politisierung
Obschon im Zuge einer solchen strukturell komischen Politisierung alles
»nur um ein Geringes anders [wäre,] als es ist«, lässt sich, um erneut Adorno
zu zitieren, gleichwohl »nicht das Geringste […] so […] vorstellen, wie es
dann wäre« (1966: 294). Dass sich trotz der ausgeführten philosophisch bestimmbaren Fluchtlinien einer Neuordnung der politischen Moderne kaum
ausmalen lässt, wie es in der wahren Demokratie wäre, gründet in der tiefgreifenden Naturalisierung der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft,
die keine Grundlage für die Erfahrung ihrer politischen Gestaltbarkeit bietet. Wie Schulte festhält, fehlt der »Hintergrund, vor dem die Komödie in
ihrem affirmativen Sinne spielen kann« (1992: 272). Es fehlt an ebenjener
komödienkompatiblen nicht länger peinlichen Welt, die bereits Hegel als
Voraussetzung für ein – wahrhaft demokratisches – Gelingen komischer
Konfliktvollzüge ausgewiesen hatte (vgl. Kap. 4.1).
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
157
Aus diesem Grund setzt Marx seiner Forderung einer Politisierung der
Gesellschaft einen revolutionären Sprung voraus, der die gesellschaftlichen Verhältnisse für ihre selbstbestimmte Gestaltung öffnen soll. Seine
Beschreibung der ausstehenden Revolution im Achtzehnten Brumaire ist
nicht als Darstellung des Ordnungsmodells der wahren Demokratie zu
verstehen, sondern als Bestimmung des Versuchs eines ihr vorausgesetzten
revolutionären Sprungs, der darauf zielt, die Situation der wahren Demokratie überhaupt erst herzustellen (vgl. Menke 2022: 579). Anders als Brecht
in seiner Diskussion der Komödie behauptet, ist es nicht Hegel, sondern
Marx, der sich für das »Sprunghafte« interessiert, dafür wie »alles ganz
ruhig und pomadig vorgeht und plötzlich kommt der Krach« (1967: 1460).
Eine Begründung der Notwendigkeit eines solchen Sprungs findet sich,
messianisch gedeutet, in Benjamins Marx-Lektüre. Darin heißt es:
Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert. Und das war gut so. Das Unheil setzt damit ein, daß die Sozialdemokratie diese Vorstellung zum »Ideal« erhob. Das Ideal wurde in der neukantischen
Lehre als eine »unendliche Aufgabe« definiert. Und diese Lehre war die Schulphilosophie
der sozialdemokratischen Partei […]. War die klassenlose Gesellschaft erst einmal als unendliche Aufgabe definiert, so verwandelte sich die leere und homogene Zeit sozusagen
in ein Vorzimmer, in dem man mit mehr oder weniger Gelassenheit auf den Eintritt der
revolutionären Situation warten konnte. (1974: 1231)
Benjamin zeigt auf, wogegen sich Marx’ Insistieren auf einen revolutionären
Sprung richtet: Nicht die Bestimmung und Ausrichtung an der wahren Demokratie ist falsch, sondern ihre liberale – in diesem Fall genauer: sozialdemokratische – Stilisierung zu einem Ideal, die auf der Fehlannahme beruht,
dass die bestehenden Verhältnisse bereits für ihre selbstbestimmte Gestaltung geöffnet seien, woraus die gleichermaßen falsche Überzeugung rührt,
dass eine Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft innerhalb der Handlungsordnung des politischen Liberalismus möglich wäre, wenn sie nur geduldig genug abgewartet wird. Benjamin hält demgegenüber fest, dass es
nicht einen Augenblick [gibt], der s e i n e revolutionäre Chance nicht mit sich führte – sie
will nur als eine spezifische definiert sein, nämlich als Chance einer ganz neuen Lösung
im Angesicht einer ganz neuen Aufgabe. Dem revolutionären Denker bestätigt sich die eigentümliche revolutionäre Chance jedes geschichtlichen Augenblicks aus der politischen
Situation heraus. (1974: 1231)
Wie Löschenkohl darlegt, handelt es sich um bei diesem Sprung um einen
»hypothetischen Moment, an dem die alte Ordnung tatsächlich überwunden
158
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
wird [; um] eine plötzliche und unkontrollierte Bewegung« (2018: 60). Die von
Marx antizipierte Neuordnung der politischen Moderne kann
nicht von heute auf morgen geschehen – allerdings kann sie sich ebenso wenig evolutionär entwickeln und aus einer kontinuierlichen Schrittfolge ergeben, denn sie soll mit der
bisherigen Kontinuität im Geschichtsverlauf brechen. (2018: 61)
Der Vorschlag lautet, das Verhältnis dieses revolutionären Sprungs zur Möglichkeit einer selbstbestimmten Politisierung der Gesellschaft nach dem Modell der wahren Demokratie mit Balibar als Voraussetzung einer unkalkulierbaren und unprognostizierbaren »Insurrektion, eine[s] ›aufständischen‹
Akt[s]« zu verstehen,
genau in dem Sinne, wie ein Aufstand (der mehr ist als eine Revolte und etwas ganz anderes als Rebellion) sich der Stabilität einer Verfassung entgegenstellt und sie dennoch
zugleich begründet und vorbereitet. (1992: 219).
Es handelt sich nicht um einen undefinierbaren Sprung in ein Chaos permanenter Insurrektion, sondern um einen zielgerichteten Sprung in eine anders geordnete Zukunft, um einen Sprung, der sich der (neo)liberalen Ordnung der politischen Gegenwart in bestimmter Negation entgegenstellt und
ihre Ablösung an der Zukunftspoesie der Komödie ausrichtet.
Im Unterschied zu diesem revolutionären Sprung, der die gouvernementale Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse in der politischen
Gegenwart auf einen Schlag zu überwinden suchte, würden Veränderungen
innerhalb einer einmal etablierten strukturell komischen Handlungsordnung durch die beständige Wiederholung sozialer Praktiken implementiert.
Diese ordnungsimmanente Praxis der gesellschaftlichen Politisierung muss
sich in zweierlei Hinsicht auf den ihr vorausgesetzten revolutionären
Sprung beziehen: Einerseits grenzt sie sich von seiner ungeordneten, ereignishaften Kontingenz ab, anderseits affirmiert sie diese Kontingenz als
innere Voraussetzung ihrer eigenen Ordnungsbildung, indem sie die Potentialität subjektiver Freiheit in Form des strukturell komischen Vollzugs
auftretender Konflikte berechtigt (vgl. Menke 2022: 530–538). Auf der einen
Seite steht der revolutionäre Sprung in einem unversöhnlichen Verhältnis
der Äußerlichkeit gegenüber der auf Allgemeinheit zielenden Politisierung
der Gesellschaft in der wahren Demokratie, die nicht auf eine prinzipielle
Überwindung sozial verbindlicher Normen, Regeln und Gesetze, sondern
auf deren selbstbestimmte Befragung und Umgestaltung zielt. Zugleich
wird die Potentialität subjektiver Freiheit, die den revolutionären Sprung
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
159
motiviert und seine Kontingenz auszeichnet, in der wahren Demokratie
offen anerkannt, indem sie in die Form eines objektiv gesicherten, freien
Spiels der Subjekte mit immer neuen Zwecken überführt wird.
Die strukturell komische Handlungsordnung der wahren Demokratie
unterscheidet sich dadurch von der tragischen Handlungsordnung des
politischen Liberalismus, dass sie es zugleich vermag, sich von ihrer revolutionären Voraussetzung abzusetzen und diese als ihre unabdingbare
Voraussetzung zu bejahen. Wie Marx darlegt, bedurfte bereits die historische Etablierung des politischen Liberalismus im Zuge der Französischen
Revolution eines Sprunges, der zwar retrospektiv erklärt werden kann,
präskriptiv aber weder kalkulier- noch absehbar war (vgl. Kap. 1.3). Anders
als das liberale Selbstverständnis, das diesen Sprung zur »bloße[n] Explizitmachung« eines vermeintlich »gegebenen Naturrechts« (Raimondi 2011:
98) verklärt, bleibe sich die strukturell komische Handlungsordnung der
wahren Demokratie der revolutionären Bedingtheit ihrer Etablierung bewusst. Ihr Selbstverständnis würde sich, mit Balibar gesprochen, durch das
Bewusstsein auszeichnen, dass sie nur durch einen revolutionären Sprung
ins Leben gerufen worden sein konnte, der den bis dahin bestehenden,
liberalen »Bereich der bloßen Organisation« verlassen und dadurch die
grundsätzlichen »Bedingungen der Möglichkeit« unterschiedlicher Modelle
politischer Ordnung offengelegt hat. Damit geht die Einsicht einher, dass
revolutionäre Sprünge stets auch die »bestimmte wesentliche Begrenztheit
zum Ausdruck« bringen, die jede politische Ordnung – auch die der wahren
Demokratie – »kennzeichnet (und die gesamte Schwierigkeit ihrer Institutionalisierung ausmacht)« (1992: 203). Was die wahre Demokratie von sich
selbst weiß, ist, dass sie durch einen revolutionären Sprung etabliert wurde,
der sich jederzeit wiederholen könnte, um sie durch eine andere politische
Ordnung zu ersetzen. »Die Aporie oder zumindest die Schwierigkeit« liegt,
mit einer weiteren Formulierung Balibars gesprochen, »darin, daß auf
gewagte Weise die Macht ins Spiel gebracht wird, die verfassungsmäßige
Ordnungen hervorbringt oder auch auflöst« (1992: 219).
Anders als Marx suggeriert, wenn er im Achtzehnten Brumaire behauptet,
dass im Zuge der ausstehenden Revolution eine »Situation« geschaffen
würde, die »jede Umkehr unmöglich« macht, könnte auch eine wahre
Demokratie ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht abschließend
garantieren (vgl. Kap. 2.2.3). Im Unterschied zum liberalen Staat, der seine
Voraussetzungen nicht garantieren kann, weil er sie der Selbstregierung
durch gouvernementale Mächte überlässt, bestünde die von der Gesell-
160
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
schaft ausgehende Gefährdung der komischen Handlungsordnung in einer
revolutionären Radikalisierung ihrer Politisierung. In komischer Wendung
bestünde das von Böckenförde herausgestellte politische Wagnis nicht länger im Ausbleiben einer liberal erhofften Solidaritätskultur (vgl. Kap. 2.2.3),
sondern in der Gefahr eines erneuten revolutionären Sprungs, der sich regressiv gegen die wahre Demokratie richten würde, indem er eine politische
Ordnung retabliert, die hinter den strukturell komischen Anspruch einer
subjektiv freien Praxis gleicher Teilhabe zurückfällt. Der Unterschied zum
politischen Liberalismus und seinem krisenhaften Umschlag in die Farce
bestünde entsprechend nicht darin, dass keine Gefährdung der politischen
Ordnung seitens der Gesellschaft mehr ausginge, sondern darin, dass diese
Gesellschaft als potentiell revolutionäre erkannt würde.
Auf die Erkenntnis dieser Gefahr reagiert die wahre Demokratie, indem sie den revolutionären Sprung innerhalb ihrer Handlungsordnung
dadurch affirmiert und berechtigt, dass sie ihn in der Form komischer
Konfliktvollzüge auf eine entschärfte und geordnete Weise wiederholt, die
nicht mehr revolutionär ist in ihrer »äußeren Gestalt«, sondern »in ihrem
Gehalt und Antrieb« (Menke 2004: 297). Die strukturell komische Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse spaltet sich in selbst: »in eine Tat,
die gegenwärtig frei vollzogen wird, und ein immer schon vergangenes«
revolutionäres Geschehen, auf das sich diese Tat affirmativ bezieht. Im
Bewusstsein ihrer revolutionären Bedingtheit kann sie sich nur erhalten,
»wenn sie sich selbst vorausgeht. Also wenn sie sich selbst« in anderer Form
»wiederholt« (Menke 2018: 69). Um ihrer drohenden Absetzung präventiv
entgegenzuwirken, bringt die wahre Demokratie die im revolutionären
Sprung aufgehobene Potentialität subjektiver Freiheit, die in allen anderen
politischen Ordnungen einzig als äußerliche Negativität revolutionären
Widerstands in Erscheinung treten kann, als innere Voraussetzung ihres
ordnungsimmanenten Erhalts zur Darstellung. Der affirmative Bezug auf
ihren revolutionären Ur-Sprung, von dessen chaotischer Form sie sich zugleich distanziert, ist entsprechend nicht als lobenswerte, prinzipiell auch
verzichtbare Ausrichtung einer strukturell komischen Handlungsordnung
zu verstehen, sondern als direktes Erfordernis ihres politischen Selbsterhalts, das durch ihre Einsicht in die revolutionäre Bedingtheit ihrer eigenen
Entstehungsgeschichte in ihr praktisches Bewusstsein tritt.
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
161
4.5 Ein komischer Ausblick
Auf die Frage, ob und unter welchen Umständen ein solcher Sprung tatsächlich zur Öffnung gesellschaftlicher Verhältnisse für ihre selbstbestimmte Politisierung beitragen oder sie nur zusätzlich verstellen würde, lässt sich keine philosophische Antwort formulieren. Zwar lassen sich spekulative Urteile
über historische Tendenzen in der gegenwärtigen Vergesellschaftung fällen,
es lässt sich aber weder abschließend sagen, ob irgendwann ein revolutionärer Sprung eintreten wird, noch auf welche Neuordnung er praktisch ausgerichtet wäre.
Es kann kein geschichtsphilosophischer, kein polittheoretischer und
auch kein der kapitalistischen Verwertungslogik immanenter Grund angegeben werden, warum die Verkehrung der liberalen Tragödie in die
neoliberale, libertäre Farce der politischen Gegenwart nicht unendlich
weitergesponnen werden könnte, ohne dass zum revolutionären Sprung in
einen Tanz politisierter Verhältnisse jemals überhaupt nur angesetzt würde.
Die Zukunft der Geschichte politischer Ordnungsbildung bleibt offen, offen
auch dafür, dass die Wirklichkeit für immer hinter dem hier in Anschluss an
Hegel und Marx begründeten Gelingensbegriff einer komisch geordneten
wahren Demokratie zurückbleiben wird.
Auch wenn klar ist, dass die »Entwicklung abstrakter Gegenentwürfe«
(Hirsch 1995: 187) keinen revolutionären Sprung herbeiführen wird, ist die
theoretische Ausführung ordnungstheoretischer Alternativen zur omnipräsenten Erfahrung liberaler Alternativlosigkeit gleichwohl von entscheidender Bedeutung dafür, dass die »Rückkehr der Geschichte«, »die Besinnung
auf das Destruktive des [liberalen] Fortschritts«, wie es zu Beginn der Dialektik der Aufklärung heißt, »nicht den Feinden überlassen« (Adorno, Horkheimer 2006: 3) wird. Was sich philosophisch anzeigen lässt, ist nicht nur,
dass ein solcher Sprung jederzeit möglich ist, so unrealistisch er auch scheinen mag. Es lässt sich auch begründen, wie seine ordnungstheoretische Ausrichtung verfasst sein müsste, damit er zu einer Einlösung der während der
Französischen Revolution erstmals deklarierten Versprechen der politischen
Moderne beitragen könnte. Auf Grundlage einer kritischen Analyse liberaler Ordnungsbildung ist es möglich, die Fluchtlinien dessen zu skizzieren,
was ihre bestimmte Negation auf Ebene der politischen Ordnung bedeuteten müsste.
162
4. Die revolutionäre Zukunftspoesie der Komödie
In so doing, negative critique points to the necessity of the emancipatory abolition of these
social relations and institutions in order to end the fate that befalls us in this social reality
of permanent catastrophe and holds that this process can happen at any time. (O’Kane
2022: 177)
Benjamins Aufforderung Folge zu leisten, die prinzipiell immer gegebene
Möglichkeit eines revolutionären Sprungs zu konkretisieren, indem die
Chance des historischen Augenblicks durch eine bestimmte Negation liberaler Ordnungsbildung als politisch spezifische Chance definiert wird,
bedeutet jene ordnungstheoretische Alternative zur liberalen Alternativlosigkeit zu entwickeln, von der der autoritäre Libertarismus nur behauptet,
er würde sie anbieten. Aus der politischen Situation der gegenwärtigen
Farce heraus lässt sich die Aufgabe politischer Ordnungsbildung als Chance
zur Komödie neu denken. Wo der revolutionäre Sprung gleichwohl aussteht, bleibt die so erlangte Perspektive auf die Möglichkeit einer wahren
Demokratie nicht mehr und nicht weniger als ein auf diese Neuordnung
ausgerichteter, ein komischer Antifaschismus.
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Dank
Dass ich dieses Büchlein schreiben konnte, wurde durch die langjährige Unterstützung und lehrreiche Begleitung von Christoph Menke und Juliane Rebentisch ermöglicht. Dafür möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Für die
grosszügige Förderung der Publikation danke ich dem Schweizerischen Nationalfonds, insbesondere Regula Graf und Adina Staicov für die unterstützende Zusammenarbeit. Ich danke Malte Schefer, Eva Janetzko, Catharina
Heppner und Julia Flechtner vom Campus Verlag und dem Istituto Svizzero für die Möglichkeit, die Arbeit in Rom zum Abschluss bringen zu dürfen.
Stets und immer danke ich für alles meinen charmanten und hochintelligenten Begleiter:innen: Bea Adam, Giuanna Beeli, Lina Berling, Maria Böhmer, Evelyne Bucherer-Romero, Peter Burleigh, Francesca Colesanti, Alexandra Colligs, Michelle von Dach, Anne Gräfe, Regina Hunter, Theo Hunter,
Sophie Jung, Luzia Knobel, Mithra Lehn, Val Minnig, Gioia Dal Molin, Marie
Petersmann, Christoph Roost, Franca Schaad, Leila Tichy, Maureen Winter,
Nina Wood und allen voran Tobias Ertl.
Leonie Hunter
Frankfurt, im November 2023