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6 Abschließende Betrachtungen 6.1 Kontingenz und Bildung in der Migrationsgesellschaft. Ein Rückblick Ist die Welt aus den Fugen geraten? Mit dieser Frage habe ich in das Interesse der vorliegenden Arbeit eingeführt. Denn für ein Nachdenken über Bildung ist die Frage insofern von hoher Relevanz, als das Verhältnis zwischen Bildungssubjekt und den gesellschaftlichen Verhältnissen einer Zeit seit jeher im Zentrum bildungstheoretischer Überlegungen steht – unabhängig davon, ob Bildung als emanzipatorisches Versprechen der Überwindung von Vergesellschaftungszumutungen oder als funktionale Verheißung der individuellen Handhabbarkeit gesellschaftlicher Herausforderungen betrachtet wird. Die Frage nach den Fugen der Welt beantworte ich in den einleitenden Überlegungen mit der für die Arbeit kennzeichnenden Denkbewegung eines Sowohl-als-Auch (siehe Kap. 1.1). Die Welt ist sowohl aus den Fugen geraten als auch nicht. Die Antwort hängt von der Betrachtungsweise ab: Wird bspw. mit der Zeitdiagnose das Brüchigwerden der hegemonialen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und ihrer nicht-notwendigen Fundamente in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, kann mit hoher Plausibilität konstatiert werden, dass die Welt gegenwärtig wohl aus ihren Fugen geraten ist. Nimmt man aber die Abwesenheit grundlegender Fugen der Welt in den Blick, scheint die Rede eines Ausden-Fugen-Geratens obsolet zu werden. Denn: Die Welt gibt es nicht. Das heißt, sie ist grundlegend aus den Fugen. Was in diesem Zusammenhang vor allem bedeutet, dass es zumindest keine wesenhaften Fundamente gibt, auf denen soziale Wirklichkeit gründet, da die soziale Wirklichkeit konstitutiv unbestimmt ist. Doch genau diese Grundlosigkeit macht das Fugen »unfuger Fugen« notwendig, also die Einsetzung kontingenter Fundamente, die soziale Wirklichkeit bzw. »die Welt« in unbestimmter Weise vorläufig bestimmen. Denn die kontingenten Fundamente ermöglichen das vorläufige Erscheinen der Welt in Gestalt eines Gespensts, das weder Geist noch Körper des unmöglichen Objekts »Welt« vollständig zu repräsentieren vermag. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der grundlegenden Unverfugtheit und der vorläufigen Verfugtheit des Sozialen, das den entscheidenden Ausgangspunkt der Untersuchung darstellt, wird in der vorliegenden Arbeit im Kontingenzbegriff und hier konkreter in der Denkfigur der Un_Bestimmtheit gefasst. Von diesem Standort aus geht die Arbeit mittels der Untersuchung des Horizonts der Hegemonietheorie und der 260 Matthias Rangger: Kontingenz und Bildung Fokussierung auf migrationsgesellschaftliche Wirklichkeit der Frage nach, wie sich ein jeweils bestimmtes Gespenst vorläufig gegenüber anderen Möglichkeiten der spektralen, gespenstischen Repräsentation durchzusetzen vermag und welche Konsequenzen dies für ein Denken von Bildung hat. Um die komplex aufeinander bezogene und ineinander verschränkte Subvertierung und Ermöglichung von Unbestimmtheit und Bestimmtheit theoretisch zu fassen, bietet die Hegemonietheorie ein vielseitiges theoretisches Gerüst (siehe Kap. 2.3 und 3.4.3). Wesentlicher Bestandteil dieses Gerüsts ist der Antagonismusbegriff, der sich insbesondere aufgrund seiner Ausdifferenzierung in eine reale, eine imaginäre und eine symbolische Dimension als besonders geeignetes Konzept erweist, um die vorläufige hegemoniale Schließung des Sozialen postfundamentalistisch zu theoretisieren (siehe Kap. 2.3.4). Als abwesender Grund (radikale Unbestimmtheit) produziert der reale Antagonismus die Notwendigkeit der Artikulation heterogener und überdeterminierter Elemente zu einem Äquivalenzverhältnis differenzieller Momente (= in einem spezifischen Differenzverhältnis zueinander artikulierte Elemente). Diese Artikulation kann in hegemonietheoretischer Perspektive nur gelingen, indem ein partikulares Moment auf Basis der Etablierung imaginärer und symbolischer Antagonismen zum Repräsentanten der vermeintlichen Äquivalenz und Universalität einer Pluralität differenter Momente wird (siehe hierzu insbes. Kap. 2.3.3). In diesem Artikulationsgeschehen ist es jedoch keinem Moment möglich, die Heterogenität an Differenzen auf dem sedimentierten Terrain des Sozialen umfänglich und endgültig zu repräsentieren und zu stabilisieren (siehe Kap. 2.3.4). Und da Äquivalenz und Universalität nie als Reinform, sondern immer nur als Universalisierung und Entleerung eines partikularen Moments (= Hegemonie) vorliegen (siehe Kap. 2.3.6), bleibt die eigentliche Unbestimmtheit der kontextspezifischen Bestimmtheiten des Sozialen (und ihrer imaginären wie symbolischen Antagonismen) stets abwesend anwesend. Denn während Unbestimmtheit dementsprechend die kontingente Bestimmtheit des Sozialen erfordert und ermöglicht, verunmöglicht sie gleichzeitig dessen endgültige Schließung. Dabei stellen Unbestimmtheit und Bestimmtheit in dieser Betrachtungsweise keine feststehenden und diametral entgegengesetzten Polaritäten dar (das würde der Unbestimmtheit eine Bestimmtheit verleihen). Vielmehr ist Unbestimmtheit als radikale Negativität die nicht-symbolisierbare Grenze kontingenter Bestimmtheit, die als Spuk des Bestimmten stets anwesend bleibt. In dieser Sichtweise ist Gesellschaft ein unmögliches Objekt des Sozialen, das sich als und im Versuch konstituiert, die Grundlosigkeit des Sozialen vorläufig zu schließen. Gesellschaft kann also als ein imaginäres Objekt betrachtet werden, das in der symbolischen Praxis hervorgebracht wird. Über die erneuten Übersetzungen dieses imaginären Objekts Gesellschaft in den symbolischen Praktiken der Subjekte wirkt dieses allerdings auf die Konstitution einer widersprüchlichen, überdeterminierten und partiellen symbolischen Ordnung, die Gesellschaftlichkeit als allgemeinen Kontext gradueller, uneinheitlicher, pluraler und widersprüchlicher Gesellschaftseffekte produziert (siehe Kap. 2.4.2). In dieser Denkweise ermöglicht das Konzept des Antagonismus eine präzisere theoretische Bestimmung der grundlegenden Differenzialität von Gesellschaft(-lichkeit), als dies mit anderen differenztheoretischen Ansätzen des Sozialen möglich ist (etwa in Anlehnung an Saussures Sprachtheorie oder Luhmanns Systemtheorie). Denn 6 Abschließende Betrachtungen der Antagonismus theoretisiert die Instituierung und Deinstituierung der Grenze(n) bzw. des Fundaments differenzieller Formationen. Letztendlich zeichnet sich in dem antagonismus- und artikulationstheoretischen Denken der Hegemonietheorie eine grundlegend politische Perspektive auf das Soziale und seine imaginären wie symbolischen Objekte (Gesellschaft, Institutionen, Subjekte) ab, der zufolge alles im Sozialen auf unentscheidbaren Entscheidungen bzw. auf keinem wesenhaften Fundament gründet. Durch die Theoretisierung der grundlegenden Politizität des Sozialen verbleibt die Hegemonietheorie letztlich auf einer sehr allgemeinen Bestimmung der Notwendigkeit von Verhältnissen der Differenz und des Antagonismus, was, wie ich herausgearbeitet habe (siehe Kap. 3.4.3 und Kap. 4.3.2), mit der Gefahr einer Gleichsetzung und Nivellierung der unterschiedlichen Macht- und Gewaltförmigkeit verschiedener Differenz- und Antagonismusverhältnisse einhergeht (bspw. wenn das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen gleichgesetzt wird mit dem Verhältnis zwischen Kolonisierten und Kolonisator*innen). Aber selbst wenn die theoretische Berücksichtigung der Differenzialität unterschiedlicher Differenz- und Antagonismusverhältnisse vor dem Problem steht, ihre Betrachtungen nie absolut und endgültig für das eine oder das andere Verhältnis behaupten zu können, verweist die Fokussierung auf Migrationsgesellschaft(-lichkeit) auf die dringende Notwendigkeit einer systematischen Berücksichtigung der Differenzialität und Singularität von Macht und Herrschaft im sozialtheoretischen Nachdenken über unterschiedliche Phänomene und Wirklichkeiten (siehe Kap. 3 bzw. 3.4.3). Hinsichtlich einer migrationsgesellschaftlichen Analyse ist bspw. herauszustellen, dass die komplexe und ambivalente gesellschaftliche Wirklichkeit dominant über Nationalstaatlichkeit und Rassismen strukturiert wird (siehe Kap. 3.3), selbst wenn deren Funktionieren und Wirken nicht statisch vorausgesetzt werden kann. Denn Nationalstaatlichkeit und Rassismen vermitteln differenzielle Subjektpositionen, bspw. über die Differenzkategorien Migrationshintergrund oder illegale Migration (siehe Kap. 3.2), die mit unterschiedlichen Konsequenzen einhergehen. Und sie schreiben sowohl dem lokalen als auch dem globalen Alltagsgeschehen vielseitige (ökonomische, militärische, epistemische, demokratische…) Ungleichheitsverhältnisse ein (siehe Kap. 5.3.1), die die Subjekte in teils existenzielle Verhältnisse der Privilegierung und Deprivilegierung setzen und gemäß dieser zueinander anordnen. Da aber diese notwendigerweise in den Blick zu nehmenden und zu unterscheidenden Privilegierungen und Deprivilegierungen zum einen nicht absolut und endgültig festgestellt werden können sowie zum anderen stets von anderen dominanten Differenzordnungen vermittelt sind und diese vermitteln (siehe Kap. 3.3.5), habe ich in dieser Arbeit die Komplexität, Ambivalenz und Differenzialität von Macht und Herrschaft durch das Konstrukt der unverschuldeten polydifferenziellen (De-)Privilegiertheit gefasst (siehe Kap. 3.4.2). Für die Übersetzung der hegemonietheoretisch und migrationsgesellschaftlich spezifizierten Überlegungen zur Denkfigur der Un_Bestimmtheit in den Bildungsdiskurs ist es wichtig, das allgemeine Subjektverständnis zu präzisieren (siehe Kap. 4.2). Bei dieser Präzisierung rückt die politische Perspektive der Hegemonietheorie vor allem die rekursive Relationalität zwischen Gesellschaft(-lichkeit) und ihren Subjekten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese Relationalität besteht darin, dass die imaginären und symbolischen Ordnungen sozialer Wirklichkeit den Subjekten vorausgehen und die 261 262 Matthias Rangger: Kontingenz und Bildung Subjekte zunächst in eine differenzielle Subjektposition versetzen, die ihre Handlungsfähigkeit sowohl begrenzt als auch ermöglicht. Denn erst aus dieser differenziellen Subjektposition heraus ist es möglich, als intelligibles Subjekt des Sozialen in Erscheinung zu treten. Gleichzeitig bestehen aber die imaginären und symbolischen Ordnungen des Sozialen nicht unabhängig der (Re-)Produktion durch die symbolischen Praktiken der Subjekte. Und schließlich, und das vervollständigt die rekursive Relationalität, werden die imaginären und symbolischen Ordnungen des Sozialen lediglich durch die Praktiken der Subjekte hervorgebracht, aufrechterhalten und verändert. Das Verhältnis zwischen Gesellschaft(-lichkeit) und der Praxis der Subjekte ist also weder ein deterministisches Verhältnis noch eines der jeweiligen Autonomie. Vielmehr geht Gesellschaft(-lichkeit) den Subjekten als rekursives Verhältnis in Form polyzentrischer, sedimentierter Macht- und Herrschaftsverhältnisse voraus, die in und über die Praktiken der Subjekte produziert und reproduziert werden (siehe Kap. 2.3.6). Diese Rekursivität schreibt in den Prozess der Subjektkonstitution eine grundlegende soziale Immanenz ein, aufgrund derer Bildung in hegemonietheoretisch fundierten Perspektiven zumeist als eine nicht abschließend bestimmbare normativ präzisierte Subjektivierungsweise konzipiert wird, die sich nur im Vollzug einer un_möglichen Inverhältnissetzung zu den gesellschaftlichen Ordnungen bzw. der Alterität der Subjektkonstitution ereignet und zu einem »Mehr« an Unbestimmtheit der Bildungssubjekte beiträgt (siehe Kap. 4.3). Ein derartiges Bildungsverständnis kann als politisches verstanden werden, weil es die Nicht-Notwendigkeit der Verhältnisse und der eigenen Position in diesen Verhältnissen systematisch ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt. Gleichzeitig setzt sich allerdings auch in den hegemonie- und subjektivierungstheoretischen Bildungsverständnissen die tendenzielle Gleichsetzung und Nivellierung unterschiedlicher Differenz- und Antagonismusverhältnisse fort. Wie bereits herausgestellt wurde, müssen im Zuge der migrationsgesellschaftlichen Konkretisierung des hegemonietheoretischen Gesellschaftsbegriffs Subjektivierungsprozesse (als Ausgangspunkt und Medium von Bildungsprozessen) systematisch hinsichtlich der Relationalität und Differenzialität von unverschuldeten polydifferenziellen (De-)Privilegiertheiten betrachtet werden (siehe Kap. 3.4). Mit dieser Sichtweise geht auch eine Verschiebung der hegemonietheoretisch fundierten Ausrichtung von Bildungsprozessen einher, die dann weniger auf die Un_Möglichkeit der eigenen Unbestimmtheit in den bestehenden Verhältnissen zielen als auf die Un_Bestimmtheit der migrationsgesellschaftlichen Anderen als grundlegende Ermöglichungsbedingung von Bildungsprozessen. Wobei hierbei die Un_Bestimmtheit der Anderen als Ausgangspunkt für unbestimmtere Verhältnisse aller dient (siehe Kap. 5.1). Bildung wird in diesem Verständnis zu einer un_möglichen Suchbewegung, die von dem Anliegen getragen ist, sich in ein angemessenes Verhältnis der Verantwortung zu migrationsgesellschaftlicher Ungleichheit zu setzen (siehe Kap. 5.2). Dies bedeutet wiederum, Bildung als un_mögliche Suche zu verstehen, die keinem dogmatisch vorgegebenen Programm folgt. Dennoch können allgemeine Rahmenbedingungen einer Bildung, die permanent im Kommen bleibt, vorläufig festgelegt werden, und zwar auf Basis einer politischen Ethik, die ihre eigene Politizität systematisch hinsichtlich der kontextspezifischen Legitimität und Illegitimität ihrer eigenen Ausschlüsse in den Prozess der Reflexion hinein holt. Während jedoch Reflexion, Kontextrelationalität, Wissen und 6 Abschließende Betrachtungen eine postnormative (Herrschafts-)Kritik als allgemeine Elemente einer hegemonietheoretischen Bildung herausgestellt werden können (siehe Kap. 4.4), habe ich im Zuge der migrationsgesellschaftlichen und migrationspädagogischen Modifikation drei weitere Ermöglichungsbedingungen für eine Bildung in differenziell un_bestimmten Bedingungen hervorgehoben: erstens die Provinzialisierung des Selbst (siehe Kap. 5.4.1), zweitens die Praxis der kollaborativen Kollektivität (siehe Kap. 5.4.2) und drittens das politische Konzept der postkommunitären Solidarität (siehe Kap. 5.4.3). Die drei Elemente einer migrationspädagogisch erweiterten hegemonietheoretischen Bildung zielen vor allem auf (a) die Dezentrierung autonomer und universeller Selbstverständnisse, (b) die Anerkennung der differenziellen und antagonistischen Relationalität des Selbst sowie (c) den Einsatz für würdevollere Bedingungen spezifischer Anderer. Sie folgen dem Programm eines politischen Würdebegriffs (siehe Kap. 5.3.3) als postnormativen und rassismuskritischen Bezugspunkt einer migrationspädagogischen Verantwortung von Kontingenz als Un_Bestimmtheit des Sozialen (siehe Kap. 5.2). Die vorliegende Arbeit leistet einen hegemonietheoretischen und migrationsgesellschaftlich fokussierten Beitrag zur Bildungstheorie, der die in der Einleitung formulierten Herausforderungen des Verhältnisses von Bildung zu (a) Gesellschaft(-lichkeit), (b) Differenz, (c) Universalität/Partikularität sowie (d) Herrschaft(-lichkeit) systematisch aufnimmt (siehe Kap. 1.1). Bildung als Subjektivierung stellt das Bildungssubjekt in einen wechselseitig subvertierenden und ermöglichenden Zusammenhang mit den vorherrschenden sozialen Ordnungen und den sowohl imaginären als auch symbolischen Anderen. Da eine von Partikularität, Differenz und Ausschluss befreite Universalität nie vollständig erreichbar ist, wird Bildung zu einer unabschließbaren Suche nach angemesseneren Verhältnissen für alle (siehe Kap. 5.4) – einer Suche, die grundlegend auf die Reflexion und Kritik unüberwindbarer Spannungsverhältnisse und illegitimer Ausschlüsse angewiesen ist. Was ein solches Bildungsverständnis jedoch konkret für die unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfelder bedeutet, wurde in der vorliegenden Untersuchung nicht bearbeitet. Dies hat vor allem damit zu tun, dass ein allgemein gehaltener Bildungsbegriff eine wichtige disziplinäre Orientierungs-, Fundierungs- und Reflexionsperspektive der Erziehungswissenschaft darstellt (siehe Kap. 1.1). In dieser allgemeinen Betrachtung zeichnet sich aus dem modellierten politischen Bildungsbegriff die allgemeine Notwendigkeit einer politischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik ab (Geldner, 2020, S. 239–255; Schäfer, 2011a, S. 122–138; Shure, 2021, S. 288–292; Thompson, 2009, S. 214–216). Einer solchen, programmatisch politischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik, wie sie unten noch präzisiert werden wird, geht es vor allem darum, das Soziale immer wieder aus seinem Schlafzustand zu wecken (Politisierung) sowie nach Wegen zu suchen, die bessere Verhältnisse für alle ermöglichen (Herrschafts- und Diskriminierungskritik). Der Fokus liegt in diesem Zusammenhang weniger auf einer Suche nach der Unbestimmtheit des Eigenen oder der paternalistischen Ermächtigung Anderer. Politische Erziehungswissenschaft, Pädagogik und Bildung suchen vielmehr nach Möglichkeiten der Veränderung und Überwindung derjenigen Ordnungen, die das Eigene und das Andere in ein Verhältnis der (paternalistischen) (De-)Privilegiertheit setzen. 263 264 Matthias Rangger: Kontingenz und Bildung 6.2 Zum Geltungsstatus und zu den Grenzen der Arbeit Bevor ich die allgemeinen Konturen einer politischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik weiter ausführe, gilt es, die Grenzen und Möglichkeiten der vorliegenden Arbeit in den Blick zu nehmen und aus der Perspektive einer politischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik zu betrachten. Im Verlauf der Arbeit wurde vor allem die differenz- und antagonismustheoretische Notwendigkeit betont, Bildung nicht an der Unbestimmtheit des Eigenen zu orientieren. Dementsprechend wurde mit dem Blickwechsel zur Un_Bestimmtheit Anderer der Beitrag von Bildungsprozessen zu mehr Unbestimmtheit aller in den Vordergrund gerückt. Mit diesem Switch zur Un_Bestimmtheit Anderer geht allerdings nicht die Illusion und Absicht einher, zu einer un_bestimmten Bildungstheorie mit universeller Gültigkeit beitragen zu können. Denn auch die allgemein ausgerichtete Perspektive der Arbeit ist sowohl bezüglich der epistemischen Erkenntnisposition als auch hinsichtlich des imaginären (migrations-)gesellschaftlichen Bezugskontexts provinziell. Sie ist selbst kontingent, das heißt von einer kontextspezifisch differenziellen Betrachter*innenperspektive aus verfasst. Diese subjektive Erkenntnisposition von mir als Verfasser ist angesichts der globalen wie auch lokalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die meine Position konstituieren, als äußerst privilegiert zu kennzeichnen. Zudem ist auch der epistemische Erkenntniskontext der Arbeit, von dem aus der Untersuchungsgenstand einer un_bestimmten Bildung betrachtet wird, eindeutig »innerhalb des Bedeutungshorizonts westlicher Kosmologie und Epistemologie« verortet (Grosfoguel, 2019, S. 134). Doch selbst innerhalb dieses begrenzten Bedeutungshorizonts nimmt die Arbeit zusätzliche Begrenzungen vor. So fokussiert sie einerseits auf hegemonietheoretische Perspektiven und darauf, wie mit dieser Ausrichtung der Zusammenhang von Bildung und Un_Bestimmtheit gedacht werden kann. Andererseits ist die Arbeit, was den Bildungsbegriff angeht, stark auf den deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs reduziert. Neben diesen forschungspragmatischen Einschränkungen ist auch der konstruierte imaginäre gesellschaftliche Bezugskontext der Untersuchung auf eine europäisch-bundesdeutsche Provinzialität begrenzt. So wird Migrationsgesellschaft(-lichkeit) exemplarisch anhand der gleitenden Signifikanten Migrationshintergrund und illegale Migration im Kontext der Regime der Integration und der europäischen Grenzsicherung betrachtet und wie sich diese mit Fokus auf europäisch-bundesdeutsche Diskurse zeigen. Darüber hinaus fokussiert die Arbeit auf dominante, hegemoniale (Welt-)Ordnungen, ihre Regime und Praktiken. Denn weder deprivilegierte und subalterne Lebensweisen im Allgemeinen noch subversive und widerständige Praktiken und Subjekte im Speziellen werden in der Arbeit explizit in den Blick genommen. All diese aufgezählten Provinzialitäten sind jedoch nicht darauf zurückzuführen, dass andere Perspektiven innerhalb »der westlichen Kosmologie und Epistemologie« oder deprivilegierte und subalterne Perspektiven, Episteme, Lebensweisen, Praktiken und Subjekte für irrelevant erachtet werden oder ihnen mit der – zumindest für deprivilegierte und subalterne Positionen – gewohnten strukturellen Ignoranz (Spivak, 2013) begegnet werden soll. Um dies deutlich zu machen, setze ich mich im Folgenden in der gebotenen Kürze in ein Verhältnis zu den hier aufgezählten Ab- und Ausblendungen. 6 Abschließende Betrachtungen Bezogen auf die allgemeine Begrenzung der eigenen Erkenntnisperspektive gehe ich insbesondere aufgrund der Unmöglichkeit einer unbegrenzten und universellen Betrachter*innenposition von der Notwendigkeit aus, forschungspragmatische, gegenstandsorientierte Fokussierungen vornehmen zu müssen, die andere Perspektiven und Episteme vorerst aus der Betrachtung ausschließen. Diese notwendige Fokussierung erfordert m.E. nicht nur die begründete und ausgewogene Begrenzung in der Auswahl und damit die Selektion unterschiedlicher theoretischer Horizonte, sondern auch eine Vielzahl an ein- und ausschließenden Entscheidungen innerhalb eines spezifischen Kontexts. Wobei ich davon ausgehe, dass eine Fokussierung der Betrachtung, die ihre eigene Erkenntnisposition nicht als absolut setzt, ausgerechnet aufgrund der Grundlosigkeit des Sozialen eine präzisere Perspektivierung eines Gegenstands ermöglicht. Eine Präzisierung, ohne jedoch in diesem Zusammenhang die Vorstellung einer universellen Unbegrenztheit lediglich auf den Kopf stellen zu wollen – also ohne zum Ausdruck bringen zu wollen, dass durch die Fokussierung eine universelle Unbegrenztheit erreicht werden könnte. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen habe ich meine Untersuchung auf die eingeschränkten Möglichkeiten einer hegemonietheoretischen Fokussierung beschränkt und die Diskussion weiterer interessanter Perspektiven ausgeblendet. Eine kritische Betrachtung und Diskussion der vorliegenden Arbeit und ihrer Erkenntnisse aus anderen – sowohl hegemonial wie subaltern zu verortenden – theoretisch-epistemischen Betrachtungsweisen steht auch im Sinne einer politischen Erziehungswissenschaft, die ihre eigenen theoretischen Fundamente permanent befragt und ausweitet, aus und ist für zukünftige Diskussionen und Debatten überaus wünschenswert. Besonders was die Anerkennung subalterner Perspektiven und Episteme betrifft, performt die Arbeit einen grundlegenden Widerspruch: Während in der Arbeit selbst der Fokus auf – global betrachtet – hegemoniale Wissensformen gelegt wird, wird für eine angemessene Provinzialisierung des Selbst zugleich die Anerkennung anderer Wissensformen und die Erweiterung des imaginären Horizonts des Eigenen eingefordert (siehe Kap. 5.4.1). Zu diesem Widerspruch möchte ich jedoch herausstellen, dass die Anerkennung anderer Wissensformen m.E. nicht nur eine grundlegende Notwendigkeit ist, sondern immer auch ein widersprüchliches Unterfangen darstellt. Denn da Anerkennung nicht unabhängig der bestehenden (migrations-)gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse stattfindet, steht sie allgemein und insbesondere die Anerkennung subalterner Perspektiven aus einer hegemonialen Position immer in der Gefahr der machtvollen und repressiven Verkennung der Anderen sowie auch der kolonialen Vereinnahmung Anderer und ihrer Episteme (Castro Varela & Mecheril, 2010a). Zurückzuführen ist dies darauf, dass die Anerkennung anderer Wissensformen im Sinne einer Arbeit mit und an diesen immer eine Übersetzung von einem Bedeutungshorizont in einen anderen erfordert (siehe etwa auch Kap. 1.5). Und diese Praxis der Übersetzung steht ausgerechnet im Fall der Übertragung subalterner Episteme in hegemoniale Bedeutungskontexte vor der Herausforderung, dass sie sich auf einem Terrain vollzieht, das sich auf über Jahrhunderte hinweg tradierten Sedimenten der Ignoranz, der Unterwerfung, der Ausbeutung und der Gewalt gründet. Die Frage der Anerkennung subalterner Episteme wirft folglich auch die Frage der prinzipiellen Möglichkeit und der Gewalt der Übersetzung auf. Denn weder kann Übersetzung in diesem Zusammenhang 265 266 Matthias Rangger: Kontingenz und Bildung nicht einfach idealtypisch als eine hierarchiefreie Kommunikation zwischen sich in einem asymmetrischen Verhältnis befindlichen Positionen vorausgesetzt werden (Sousa Santos, 2018, S. 317f.).1 Noch kann die Möglichkeit und Notwendigkeit der dekolonialen Übersetzung hegemonialer Wissensformen durch subalterne Subjekte (Mignolo, 2012) einfach für den Übersetzungsvorgang aus hegemonialer Erkenntnisperspektive umgekehrt werden (Knobloch, 2019).2 Die Frage der Anerkennung anderer Wissensformen geht außerdem mit einer weiteren Schwierigkeit einher, wird doch eine klare Dichotomie zwischen hegemonialen und subalternen Wissensformen suggeriert, die in den für diese Arbeit grundlegenden Entanglement- (Randeria, 1999) und Dependenzkonzepten (Mignolo, 2012; Quijano, 2019) wie etwa auch dem Konzept der Provinzialisierung Europas (Chakrabarty, 2008) zu überwinden versucht wird. Mit der Suggestion einer Dichotomie von hegemonialen Wissensformen auf der einen Seite und subalternen auf der anderen geht die diskursive Gefahr einher, sowohl die strukturell und historisch dethematisierten Spuren subalternen Wissens in den Repräsentationen hegemonialer Episteme als auch die konstitutiven Verwobenheiten zwischen subalternen und hegemonialen Wissensformen stillschweigend fortzusetzen und darüber hinaus auch die vermeintlich »anderen Kosmologien und Episteme« in einem »Außerhalb« zu essenzialisieren und zu mystifizieren. Die Anerkennung anderer Wissensformen muss sich deshalb auch auf die Anerkennung anderer Wissensformen in den hegemonialen Wissensbeständen beziehen und die Verwobenheit und Relationalität von Wissensformen berücksichtigen. Gleichzeitig darf der Fokus auf die Entanglements innerhalb der hegemonialen Episteme m.E. jedoch auch nicht von der Notwendigkeit der Anerkennung subalternen Wissens »außerhalb«3 des hegemonialen Raums der Repräsentation »gültigen Wissens« ablenken. Die Frage der Anerkennung anderer Wissensformen sowohl im Inneren als auch im Äußeren dieses Raums ist vor allem aufgrund der grundlegenden Asymmetrie des hegemonialen Raums der Repräsentation nicht einfach auf den Einbezug subaltern gerahmter Perspektiven zu reduzieren. Denn auch wenn der behutsame Versuch der »wirklichen« (nicht-paternalistischen, nicht-kolonialistischen, nicht-essenzialistischen…) Repräsentation und Wahrnehmung anderer Wissensformen im hegemonialen Raum des Wissens sicherlich von großer Bedeutung und wünschenswert wäre, stellen sich daran aus der Perspektive der hegemonialen Erkenntnisposition mindestens drei zentra- 1 2 3 Für de Sousa Santos (2018, S. 317f.) fungiert das Ideal gleicher Machtverhältnisse jedoch als bedeutsamer »normativer Standard, angesichts dessen die konkreten Übersetzungspraktiken bewertet werden müssen.« Dies hat meines Erachtens auch mit dem im nachfolgenden Absatz ausgeführten Argument des Entanglements zu tun. Denn während davon ausgegangen werden kann, dass der hegemoniale Repräsentationsraum auch von subalterner Seite ein relativ »bekannter« Raum ist, der von seinen Grenzen und mittels subalterner Perspektiven aus subalterner Position befragt werden kann, kann dieses Entanglement, d.h. diese relative Vertrautheit von hegemonialen Subjekten mit den aus dem hegemonialen Repräsentationsraum ausgeschlossenen Epistemen und Perspektiven nicht vereinfacht vorausgesetzt werden. Ich setze außerhalb in Anführungszeichen, weil sich das Außerhalb zwar auf den Ausschluss aus der Repräsentation hegemonialer Wissensformen bezieht, nicht aber eine nicht-relationale Reinheit dieses Wissens suggerieren soll (vgl. Mignolo, 2012, S. 92). 6 Abschließende Betrachtungen le Herausforderungen: erstens, das Schaffen eines Raums bzw. der Bedingungen eines Raums, in dem subalternes Wissen überhaupt angemessen repräsentiert werden kann. Diese Herausforderung geht weniger mit der paternalistischen Repräsentation subalternen Wissens durch hegemoniale Akteur*innen einher als dass sie eine Provinzialisierung hegemonialer Wissensperspektiven erfordert, etwa mithilfe der Praktik der affirmativen Sabotage (siehe Kap. 5.4.1), die in erster Linie Raum für andere Perspektiven schafft. Anerkennung anderer Wissensformen bedeutet dann, mittels der Provinzialisierung des Eigenen nach Bedingungen zu suchen und an Bedingungen zu arbeiten, in denen mehr Handlungsfähigkeit und Unbestimmtheit Anderer möglich wird. Zweitens kann, aus der hegemonialen Erkenntnisposition betrachtet, die Bearbeitung der Frage nach der Un_Möglichkeit der Übersetzung und Aneignung subalternen Wissens nicht allein darin bestehen, subalterne Perspektiven einfach in den Raum hegemonialen Wissens einzubeziehen. Vielmehr kann und sollte die Auseinandersetzung mit den Un_Möglichkeiten der Anerkennung als grundlegende Bedingung für eine Suchbewegung danach verstanden werden, zukünftig das Ideal einer »hierarchiefreieren Kommunikation« zwischen unterschiedlichen Wissensformen und Epistemen möglicher werden zu lassen (Sousa Santos, 2018, S. 314–347). Drittens muss die Frage nach der Anerkennung mit dem Versuch einhergehen, die hegemonialen Macht- und Herrschaftsverhältnisse über die Praxis der Anerkennung nicht zu reproduzieren. Denn da die Praxis der Anerkennung konstitutiv auf asymmetrischen Positionen beruht, die innerhalb von Anerkennungspraktiken immer auch wiederholt und wiedereingesetzt werden (Balzer & Ricken, 2010; Castro Varela & Mecheril, 2010a), muss das »Raum-Schaffen« für andere Perspektiven durch die Sabotage und die Provinzialisierung des Eigenen folglich auch immer daraufhin befragt werden, inwiefern das Raum-Schaffen die hegemoniale Asymmetrie zwischen Eigenem und Anderem in einer Ausblendung des asymmetrischen Entanglements lediglich fortschreibt. Für eine politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik steht deshalb vielmehr die Dekonstruktion und Dezentrierung ihrer eigenen epistemischen (Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungs-)Grundlagen im Vordergrund, um einer (im schlimmsten Fall: paternalistischen, kulturalistischen und kolonialistischen) Anerkennung Anderer vorzubeugen, welche die asymmetrische Logik der Subalternität und der Hegemonialität unter dem Deckmantel der gutgemeinten Praxis der Anerkennung aufrecht erhält. Die oben aufgeworfene Frage der Ausblendung subalterner Lebensweisen, Praktiken und Subjekte zugunsten der verstärkten Einblendung hegemonialer Ordnungen, Regime, Praktiken und Subjektpositionen sehe ich ähnlich gelagert wie die Frage nach der Anerkennung und Repräsentation anderer Wissensformen. Die vorliegende Untersuchung fokussiert auf eine imaginäre, verallgemeinerte Subjektposition, die in den globalen Verhältnissen als relativ privilegiert erachtet werden kann (siehe Kap. 5.4.1), aber dennoch bei weitem keine homogene Position in einem einfachen, binären Raum von Regierenden und Regierten darstellt. Deshalb beschreibe ich die vielfältigen Positioniertheiten, welche die zugrunde liegende imaginäre Subjektposition – sowohl global aber insbesondere regional und lokal betrachtet – in komplexer und ambivalenter Weise kennzeichnen, mit dem Begriff der polydifferenziellen (De-)Privilegiertheit. Mit dem Blick auf Bildung ist dabei, wie Spivak (2004) hinsichtlich der globalen Ungleichheitsverhältnisse hervorhebt, zu beachten, dass sich an eine Bildung subalterner Subjekte 267 268 Matthias Rangger: Kontingenz und Bildung andere Anforderungen stellen als an eine Bildung privilegierter Subjekte: Während sie für subalterne Subjekte die Anforderung sieht, zu lernen, ihre Forderungen in hegemonialen Diskursen zu artikulieren, hebt sie für global privilegierte Subjektpositionen vielmehr ein Den-Anderen-Raum-Geben hervor – »for which the first condition and effect is a suspension of the conviction that I am necessarily better, I am necessarily indispensable, I am necessarily the one to right wrongs, I am necessarily the capital of the world« (ebd., S. 532). Diese unterschiedlichen Anforderungen betreffen aus meiner Sicht auch die Differenz zwischen privilegierten und deprivilegierten Subjektpositionen, die nicht unbedingt subaltern sind. Doch auf all diese Fragen im Zusammenhang mit einer deprivilegierten und subalternen Bildung gibt die Arbeit keine Antwort und erhebt auch keinen Anspruch darauf. Denn aufgrund der privilegierten Subjekt- und Erkenntnisposition, die ich selbst als Verfasser sowohl im lokalen als auch im globalen Maßstab einnehme, erschiene mir die Beschäftigung mit Fragen danach, wie Bildung, Kritik oder Widerstand aus deprivilegierter oder subalterner Position gedacht werden könnten, als eine unangemessene Anmaßung, die schlussendlich wiederum in der Gefahr stünde, im Paternalismus und in der Hybris zu münden. Trotz dieser Begrenzung kann das imaginäre Subjekt der Bildung, das den Überlegungen in der Arbeit zugrunde liegt, jedoch nicht einfach als »europäisches Subjekt« ohne die gewöhnlichen deprivilegierten Subjektpositionen (also etwa bezogen auf race, class, gender, ability) gedacht werden, also letztendlich als weißer, nicht-behinderter, heterosexueller und dem Bildungsbürgertum angehörender Mann. Denn auch dies würde einen vereinfachten binären Raum mit Regierten auf der einen und Regierenden auf der anderen Seite suggerieren und die komplexen und ambivalenten Verhältnisse der polydifferenziellen (De-)Privilegiertheit ausblenden. Aus diesem Grund beziehen die Überlegungen zu einer Provinzialisierung des Selbst den Punkt der Anerkennung und Reflexion der eigenen unverschuldeten (De-)Privilegiertheit als allgemeine Anforderung zwar ein, lassen diese aber (kontextuell) relativ unbestimmt (siehe Kap. 5.4.1). Bezogen auf einen globalen Maßstab verhält sich die Frage der relativen Privilegiertheit und Deprivilegiertheit aus meiner Perspektive zudem anders. Und zwar nicht, weil ich die globalen Verhältnisse auf eine vereinfachte binäre Gegenüberstellung des Westens und des Rests reduzieren möchte. Und auch nicht aufgrund dessen, dass ich suggerieren möchte, dass Menschen, die in Europa Rassismuserfahrungen machen, in anderen Kontexten auf diesem Planeten keine Diskriminierungserfahrungen aufgrund von rassialisierten Zuschreibungen machen oder dass sich die Diskriminierungsverhältnisse außerhalb westlicher Kontexte sogar umkehren würden. Sondern dieser Unterschied basiert darauf, dass sich trotz all dieser Relativierungen m.E. nicht nur der epistemische Bedeutungshorizont der Arbeit, sondern auch die polydifferenziellen Positionalitäten, auf die sich die Überlegungen mit Bezug auf die Un_Möglichkeiten von Bildung beziehen, in der Betrachtung der globalen Ungleichheitsverhältnisse angemessen in der »imaginären Figur« Europa verorten lassen (Chakrabarty, 2008, S. 4). Denn die tendenzielle Ab- und Ausblendung deprivilegierter und subalterner Lebensweisen, Praktiken und Subjektpositionen in dieser Arbeit haben weniger mit einer Bagatellisierung ihrer Bedeutung oder einer Ignoranz ihnen gegenüber zu tun. Und sie sind auch nicht nur dem Versuch geschuldet, der Anmaßung eines paternalistischen Fürsprechens für Andere zu entkommen. Vielmehr gehe ich wie auch bei der Frage nach der angemessenen Anerkennung 6 Abschließende Betrachtungen anderer Wissensformen auch in dieser Frage vor allem davon aus, dass eine politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik, die eine relativ privilegierte und hegemoniale Position einnehmen, insbesondere auf die Befragung und Sabotage der Grundlagen und Fundamente der gegebenen Verhältnisse auszurichten sind und wie diese Bedingungen würdevollere Verhältnisse für alle verhindern. Und gleichzeitig gilt es danach zu fragen (und das unternimmt der Versuch der Modellierung der drei Elemente Provinzialisierung, Kollaboration und Solidarität), wie aus der relativ privilegierten Position einer politischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik Bedingungen geschaffen werden können oder zumindest zu diesen beigetragen werden kann, die eine würdevollere Existenz aller möglicher machen. 6.3 Politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik Im Zuge des bildungspolitischen Versuchs, die Bildungswissenschaft durch die Umstellung auf eine evidenzbasierte Disziplin der bildungsbürokratischen Steuerung pädagogischer Prozesse zu entpolitisieren, hat sich die deutsche Bildungstheorie und -philosophie in den vergangenen Jahren vermehrt politisiert (Gelhard, 2018, S. 85f.) und »[d]abei die klassischen Positionen des bildungsphilosophischen Denkens zunehmend mit neueren Ansätzen der politischen Philosophie [verbunden], wie sie von Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Jacques Rancière und anderen entwickelt wurde« (ebd., S. 86). In diesem Denken des Politischen wird nicht mehr nach festen sozialen Strukturen und Regeln gesucht, an denen sich Bildungsprozesse orientieren können (Schäfer, 2011a, S. 122f.), sondern es wird die radikale Unabschließbarkeit und Kontingenz des Sozialen aufgezeigt, die auch das Bildungsversprechen zu einem unmöglichen und grundlosen Projekt der kritischen Reflexion und Distanzierung hegemonialer Ordnungen des Sozialen werden lässt (ebd., S. 135). Doch was bedeutet das für die Erziehungswissenschaft und die Pädagogik im Allgemeinen? Wenn das Soziale »als eine Form des Politischen im Schlafzustand« (Marchart, 2010, S. 216) verstanden wird, kann die Politisierung des Sozialen, also das Wachrütteln des Sozialen aus seinem Schlafzustand, als eines der zentralen Momente einer programmatisch politischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik herausgestellt werden. Jedoch vermag es eine bloße Politisierung unter den Bedingungen von Differenz und Antagonismus nicht, der Erziehungswissenschaft und Pädagogik eine dem Bildungsversprechen entsprechende normative Richtung zu geben, denn die Politisierung der Verhältnisse kann vieles bedeuten und zu allerlei instrumentalisiert werden. Aus diesem Grund muss der Politisierung des Bestehenden mindestens ein weiteres grundlegendes Moment hinzugefügt werden. Dieses stellt m.E. die Suche nach Wegen dar, wie bessere Verhältnisse für alle möglich sind. Diese Suchbewegung ist im Kontext einer negativen Sozialtheorie des Politischen weniger eine der positiven Imagination von Utopien, sondern sie wird vielmehr von der negativen Bewegung der Herrschafts- und Diskriminierungskritik angeleitet. Basierend auf diesen beiden grundlegenden Momenten der Politisierung der Verhältnisse sowie der Suche nach besseren Verhältnissen für alle auf Basis von Herrschafts- und Diskriminierungskritik konturiere ich im Folgenden und zum 269 270 Matthias Rangger: Kontingenz und Bildung Abschluss vier allgemeine Merkmale einer Erziehungswissenschaft und Pädagogik im Zeichen eines Denkens des Politischen4 : (1) Politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik befragt und problematisiert die kontingenten politischen Gründungen des Sozialen im Hinblick auf die (Il-)Legitimität von Ausschlüssen »Wenn man unter dem Politischen die Frage nach den Möglichkeiten und Strategien einer letztlich nicht möglichen Begründung des Sozialen versteht« (Schäfer, 2014, S. 67), rückt vor allem die Frage nach den kontingenten Gründungen des Sozialen in den Blick (ebd.). Eine programmatisch politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik verfolgt deshalb vor allem das Ziel, die sedimentierten Formen des Sozialen aus ihrem Schlafzustand zu wecken. Denn ihr geht es um die systematische Befragung, Dekonstruktion und Kritik der vorherrschenden sozialen Ordnungen. Die Politisierung der Verhältnisse ist jedoch kein Selbstzweck, um lediglich die bestehenden Verhältnisse zu befragen oder um darüber sogar illegitime Fundamentalismen oder Verschwörungstheorien als legitime Alternativen in den Diskurs einzuführen oder fortzuschreiben (Laclau & Mouffe, 2012, S. 218–238). Denn da jede Ordnung auf der Logik von Differenz und Antagonismus gründet, geht es im Zuge des Versprechens der Bildung immer auch um die nicht endgültig zu beantwortenden Fragen der Legitimität und Illegitimität kontingenter Gründungen des Sozialen. Bezogen auf eine politische und in migrationsgesellschaftlichem Sinne: rassismuskritische Erziehungswissenschaft und Pädagogik bedeutet dies etwa, systematisch »zum Thema [zu] machen, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse und Handlungsweisen von Individuen, Gruppen, Institutionen und Strukturen durch Rassismen vermittelt sind und Rassismen stärken« (Mecheril & Melter, 2010, S. 172). Darauf aufbauend bedeutet es zudem, nach Wegen zu suchen, hin »zu alternativen, ›gerechteren‹ Verhältnissen« (ebd.), ohne weder die Wege noch den konkreten Zielort bereits zu kennen. (2) Politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik gründen auf der konstitutiven Anerkennung und Reflexion ihrer eigenen Politizität Da sowohl die Erziehungswissenschaft als auch die Pädagogik selbst immer kontingent auf Basis von Differenz und Ausschluss gegründet sind, ist »der eigene Standpunkt niemals vom zu Kritisierenden ausgenommen« (Thompson, 2009, S. 220). Eine Erziehungswissenschaft und Pädagogik, die ihre grundlegende politische Dimension nicht anerkennt, überhöht daher ihre eigene Autonomie idealistisch und riskiert diese dadurch geradezu (Krenz-Dewe & Mecheril, 2014, S. 41f.). Denn: »Erst die Klarheit über die Unmöglichkeit von Neutralität und Objektivität der (Orte der) Bildung verhindert die Affirmation, das heißt die ›unhinterfragte Wiederholung des Immergleichen […]‹« (Shure, 2021, S. 291f.). Politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik müssen deshalb ihre eigene konstitutive Involviertheit in die kontingenten Macht- und Herrschaftsverhältnisse grundlegend anerkennen (Messerschmidt, 2009). Weshalb es dann auch weniger um die 4 Die vier Merkmale sind angelehnt an die bereits in einem anderen Zusammenhang (Rangger, 2022) mit Bezug auf eine politische Lehrer*innenbildung entworfenen Konturen. 6 Abschließende Betrachtungen positive Gründung erziehungswissenschaftlicher und pädagogischer Handlungskompetenzen und Normen geht, als vielmehr um die Frage, was die jeweiligen Definitionen und Festlegungen »jeweils konstitutiv ausschließen, wie diese stets von ihren konstitutiven Ausschlüssen eingeholt zu werden drohen und welche politischen Potenziale sich aus deren inneren Widersprüchen ergeben« (Geldner, 2020, S. 243). Wenn bspw. »Nie wieder Auschwitz« keine idealistische Phrase bleiben soll, so schreibt Adorno (2012, S. 88f.) mit Bezug auf die Gräuel des Nationalsozialismus5 , dann geht es bei einer Erziehung zur Mündigkeit vor allem auch um die Anerkennung und Reflexion des Antagonismus im Eigenen, etwa der Barbarei in der vermeintlichen Zivilisation. Neben der konstitutiven Anerkennung der eigenen grundlegenden Politizität ist deshalb die Selbstreflexion und -kritik der (Il-)Legitimität der eigenen Grundlagen eine grundlegende programmatische Voraussetzung für eine politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik. (3) Politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik sind rigoros kontextrelational In un_bestimmtheitstheoretischer Perspektive sind soziale Phänomene stets als kontextrelationale Artikulationen in den Blick zu nehmen, die durch die kontingenten Macht- und Herrschaftsverhältnisse (mit-)hervorgebracht werden. Ein erziehungswissenschaftlich und pädagogisch politisches »Sehen« ist deshalb mit individualistischen Reduktionen sozialer und pädagogischer Wirklichkeit unvereinbar. Ein politischer Blick wird vielmehr durch eine rigorose Kontextrelationalität gekennzeichnet (Gottuck, 2019). Daher geht es einer politischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik auch nicht um eine Moralisierung der einzelnen Subjekte (Mecheril & Melter, 2010, S. 171), auch wenn die Analyse der je subjektiven Verantwortungsverhältnisse sowie der begrenzten Veränderungsmöglichkeiten bedeutsam ist. Allerdings wird jede diesbezügliche Analyse stets von der Praxis der Kontextualisierung getragen. Im Zentrum der Reflexion und Kritik einer politischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik stehen folglich diejenigen kontingenten Ordnungen, die die Subjekte in ein Verhältnis der differenziellen (De-)Privilegiertheit setzen, sowie deren kontextrelationale Effekte und Konsequenzen in der sozialen Wirklichkeit. (4) Politische Erziehungswissenschaft und Pädagogik ermöglichen Räume der Auseinandersetzung mit der Kontingenz sozialer Wirklichkeit Für die Erziehungswissenschaft und Pädagogik ist trotz der kontextrelationalen Orientierung an der Macht der sozialen Ordnungen eine gewisse Subjektorientierung relevant. Da jedoch die Vermittlung gesicherten Wissens und mit Gewissheit ausgestatteter Normen im Horizont des Denkens des Politischen unmöglich ist, müssen alternative Möglichkeiten der Suche nach postautonomen kritischen Inverhältnissetzungen zur 5 »Millionen schuldloser Menschen – die Zahlen zu nennen oder gar darüber zu feilschen, ist bereits menschenunwürdig – wurden planvoll ermordet. Das ist von keinem Lebendigen als Oberflächenphänomen, als Abirrung vom Lauf der Geschichte abzutun, die gegenüber der großen Tendenz des Fortschritts, der Aufklärung, der vermeintlich zunehmenden Humanität nicht in Betracht käme. Daß es sich ereignete, ist selbst Ausdruck einer überaus mächtigen gesellschaftlichen Tendenz« (Adorno, 2012, S. 89). 271 272 Matthias Rangger: Kontingenz und Bildung Kontingenz der vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse erkundet werden. Eine Erziehungswissenschaft und Pädagogik, die von dem Interesse geleitet sind, illegitime Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu reduzieren, folgen deshalb dem Versuch, Räume zu ermöglichen, in denen über vorherrschende Herrschaftsverhältnisse und Alternativen reflektiert werden kann. Insofern sind Erziehungswissenschaft und Pädagogik auch weiterhin von der Notwendigkeit vorläufiger Schließungen des Sozialen abhängig – zum Beispiel von einem Wissen über die Politizität des Sozialen sowie über dominante Herrschaftsverhältnisse, deren Effekte und Erscheinungsformen (wie bspw. ein Wissen über Rassismen, Heterosexismen, Ableismen und Klassismen). Auch bleibt die Vermittlung eines kontingenten Wissens über die Politizität und Herrschaftlichkeit des Sozialen weiterhin bedeutsam. Vor allem aber gilt es einen Kontext zu schaffen, in dem eine herrschaftskritische Praxis (auch gegenüber den eigenen Wissenskonstruktionen) eingeübt, kultiviert und auch reflektiert werden kann. Die Einführung in und die kontinuierliche Einübung von Formen und Praktiken der kollektiven und entindividualisierten Reflexion erscheint mir diesbezüglich vielversprechend zu sein (Mecheril, 2010b), um einen Raum der Befremdung von dem vermeintlich Selbstverständlichen (etwa der nationalstaatlichen Ordnung oder von Rassismen) strukturell mit höherer Wahrscheinlichkeit zu ermöglichen. Politische Erziehungswissenschaft, Pädagogik und Bildung konstituieren sich schlussendlich als unabschließbare Suche nach Möglichkeiten der Veränderung derjenigen hegemonialen Ordnungen, die würdevollere Existenzbedingungen für alle systematisch verhindern. Im Anschluss an Antonio Gramsci ist diese Suche als eine intellektuelle Arbeit zu verstehen und nicht als eine bloß akademische Arbeit oder eine Tätigkeit einiger Weniger. Vielmehr meint sie die intellektuelle Arbeit sowohl organischer Intellektueller, die in einer besonderen Position der professionellen Verantwortung stehen, als auch aller Menschen in ihrer grundlegenden Intellektualität. Dieses Erfordernis der intellektuellen Arbeit kann niemandem abgenommen werden, wohl aber müssen Ermöglichungsbedingungen geschaffen werden. Insbesondere mit Bezug auf die professionellen Akteur*innen der Erziehungswissenschaft und Pädagogik fordert das Politische jedoch geradezu dazu auf, keine Abgeschlossenheit von Professionalisierungsprozessen anzunehmen. Professionelles Handeln ist vielmehr kontinuierlich zu befragen und zu überdenken. Die intellektuelle Arbeit, die hier gemeint ist, ist dabei auch nicht nur ein fiktives intellektuelles Gedankenspiel oder eine Praxis der Distinktion. Sondern sie ist »eine organische, intellektuelle politische Arbeit […], die nicht versucht, sich in die übergreifenden Metaerzählungen kanonisierten Wissens innerhalb der Institutionen einzuschreiben« (Hall, 2004a, S. 50). Sie ist letztlich eine »todernste« Praxis, die je nach migrationsgesellschaftlicher Positioniertheit nach umstrittenen und ungewissen Wegen der Veränderung und verantwortungsvollen Inverhältnissetzungen zu den (migrations-)gesellschaftlichen Konjunkturen einer Zeit sucht und gleichzeitig über ihre eigenen Interventionen nachdenkt (ebd., S. 50f.), »[e]ine Praxis schließlich, die das Bedürfnis nach intellektueller Bescheidenheit versteht« (ebd., S. 51).