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„(Filmische) Diskursivierung von Intersexualität“

Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit dem Thema Intersexualität und dessen Diskursivierung im Film des 21. Jahrhunderts. Intersexualität ist ein medizinischer Begriff für ein Zwischengeschlecht, wobei männlich und weiblich die Fixpunkte dieser Definition darstellen, zwischen welchen sich diese Kategorie befindet. Während der Arbeit wird unter anderem der Geschlechterfrage nachgegangen und aufgezeigt, wie eine Geschlechtskategorie durch gesellschaftlich Normen und Machtbeziehungen hergestellt wird. Weiters wird aufgezeigt, wie Wissen und Wahrheit durch Diskurse erzeugt werden und somit gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen sind – sie sind deshalb nie fixe und unumstößliche Ansichten. Dies kann sehr gut anhand des Intersex-Diskurses aufgezeigt werden, welcher sich in den letzten Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten gravierend verändert hat. Besonders seit den 1990- er hat einen Wiederbelebung des Themas stattgefunden, durch das Öffentlichwerden von intersexuellen Stimmen wurde ein jahrzehntelanges Tabu gebrochen. Davor bestimmte die Medizin zum Großteil über das Phänomen, pathologisierte es, tabuisierte es und brachte es somit zum gesellschaftlichen Verschwinden. Erst durch das Aufkommen des Intersex- Aktivismus wurde die Möglichkeit einer intersexuellen Identität thematisiert. Die Betroffenen selbst schafften einen Diskurs über Intersexualität und veränderten somit die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem Thema. Der „Krankheit“ wurde ein Gesicht gegeben, besser gesagt mehrere, die Anonymität wurde verlassen und Rechte wurden eingefordert. Der von intersexuellen Menschen geforderte Anspruch auf Wahlfreiheit regte den medizinischen Diskurs über Intersexualität der letzten 20 Jahre heftig an und führte zu Verbesserungen der Behandlungsmethoden. Hier kann sehr gut die machtvolle Wirkung von Diskursen nachgezeichnet werden. Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen oder in dieser nicht sichtbar sind, können Macht ergreifen, in dem sie selbst einen Diskurs schaffen, um ihre Lage (im besten Fall) zu verbessern.

DIPLOMARBEIT Titel der Diplomarbeit „(Filmische) Diskursivierung von Intersexualität“ Verfasserin Eva Rammesmayer angestrebter akademischer Grad Magistra der Philosophie (Mag.phil.) Wien, 2010 Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 317 Studienrichtung lt. Studienblatt: Theater-, Film- und Medienwissenschaft Betreuerin / Betreuer: Mag. Dr. Andrea B. Braidt, MLitt Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ...................................................................................................................... 1 2. Werkzeuge und Theorien ............................................................................................ 3 2.1. Foucault ............................................................................................................... 3 2.1.1. Diskursanalyse ............................................................................................... 4 2.1.2. Das Sexualitätsdispositiv ............................................................................... 9 2.2. Butler ................................................................................................................. 11 2.2.1. Macht ........................................................................................................... 11 2.2.2. Subjekt ......................................................................................................... 13 2.2.3. Geschlecht(s)/-identität/Begehren ............................................................... 13 2.2.4. Performativität ............................................................................................. 14 Materialisierte Körper .................................................................................. 18 2.2.5. Dekonstruktion............................................................................................. 20 2.2.6. Genealogie der Geschlechterontologie ........................................................ 21 Kulturelle Intelligibilität .............................................................................. 22 Phallogozentrismus und die heterosexuelle Matrix ..................................... 22 Identitäten außerhalb der heterosexuellen Norm ......................................... 23 3. 2.2.7. Resignifikation ............................................................................................. 25 2.2.8. Zusammenfassung ....................................................................................... 27 Intersexualität ............................................................................................................ 29 3.1. 3.1.1. 3.2. Hermaphroditismus – Vom Mythos zur Pathologisierung ................................ 30 Der Fall Herculine Barbin, genannt Alexina B. .......................................... 33 Vom pathologisierten Hermaphroditen zur Zuschneidepraxis an intersexuellen Körpern .............................................................................................................. 37 3.2.2. John Money.................................................................................................. 37 3.2.3. Der Fall Bruce/Branda - John/Joan .............................................................. 38 3.2.4. Behandlungsmethoden ab den 1950ern ....................................................... 40 3.3. Aktueller medizinischer Diskurs ....................................................................... 42 3.3.5. Häufigsten Formen von Intersexualität........................................................ 44 3.3.6. Geschlechtszuweisung und -anpassung ....................................................... 48 3.3.7. Intersex vs. Disorder of Sex Development ................................................... 51 3.4. 3.4.8. Rechtlicher Diskurs............................................................................................ 53 Aktuelles Zivil- und Strafrecht .................................................................... 55 3.4.9. 3.5. Der Fall Birgit_Michel Reiter ...................................................................... 58 Geschlechtsidentität: Intersexualität? ................................................................ 59 3.5.10. XY-Frau ....................................................................................................... 61 3.5.11. Frauen mit Stoffwechselstörung (AGS)....................................................... 63 3.5.12. Intersexaktivist_innen .................................................................................. 64 3.6. Intersex und Gender Studies .............................................................................. 65 3.6.13. 3.7. 4. Postgender ................................................................................................... 67 Abschließender Überblick.................................................................................. 67 Filmischer Diskurs ..................................................................................................... 69 4.1. Überblick über Dokumentationen des 21. Jahrhunderts .................................... 69 4.2. Tintenfischalarm ................................................................................................ 71 4.2.1. Anfangssequenz ........................................................................................... 72 4.2.2. Filmästhetik und -aufbau ............................................................................. 73 4.2.3. Hintergrund .................................................................................................. 75 4.2.4. Gender- und Identitätsdiskurs ...................................................................... 77 4.2.5. Medizinischer Diskurs ................................................................................. 78 4.2.6. Intersex-Gruppen und Aktivist_innen .......................................................... 82 4.2.7. Sexualität und Begehren .............................................................................. 83 4.2.8. Rechtlicher Diskurs ...................................................................................... 84 4.2.9. Elisabeth Scharangs Rolle im Film .............................................................. 85 4.3. XXY .................................................................................................................... 85 4.3.10. Story ............................................................................................................. 85 4.3.11. Hintergrund .................................................................................................. 86 4.3.12. Filmästhetik.................................................................................................. 87 4.3.13. Verkörperte Diskurse ................................................................................... 88 4.3.14. Symbolik ...................................................................................................... 93 4.3.15. Geschlecht und Sprache ............................................................................... 94 4.4. Gegenüberstellung Tintenfischalarm und XXY .................................................. 95 5. Resümee ...................................................................................................................... 97 6. Quellenverzeichnis ..................................................................................................... 99 7. Abstract ..................................................................................................................... 103 8. Lebenslauf ................................................................................................................. 104 1. Einleitung Der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Aufstellung der Forschungsthese, dass Intersexualität als Phänomen erst durch Diskurse, welche darüber geführt werden, konstruiert wird. Dadurch werden folgende Fragen aufgeworfen: Wie wird das Phänomen Intersexualität diskursiv hergestellt? Welche verschiedene Diskurse sind/waren daran beteiligt bzw. welche Institutionen haben/hatten die Definitionsmacht über den IntersexDiskurs? Um die oben aufgestellte Forschungsthese zu verifizieren und die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können, ist die Diplomarbeit in drei Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel werden geeignete Werkzeuge für diese Untersuchung der Thematik vorgestellt und erläutert. Es wird in die Diskursanalyse von Foucault und die Geschlechtertheorie von Butler eingeführt. Hier ist vor allem der Moment des konstruierten Geschlechts von Bedeutung. Dieses Kapitel setzt sich unter anderem und im weitesten Sinne auch mit gesellschaftlichen Normen, Machtstrukturen und der Entstehung von Wissen und Wahrheit auseinander, da sie eng mit dem Thema Intersexualität verwoben sind bzw. großen Einfluss auf dessen Konstruktion haben/hatten. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den verschiedenen Diskursen, welche über das Thema Intersexualität geführt werden/wurden. Der Aufbau ist chronologisch und zeichnet die Entwicklungen und Veränderungen des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Phänomen auf. Der historische Diskurs beginnt mit der Mythologie, geht über die Pathologisierung von Hermaphroditismus bis hin zur medizinischen „Normalisierung“ von intersexuellen Menschen. Danach wird näher auf die aktuellen medizinischen, rechtlichen, akademischen und gesellschaftspolitischen Diskurse eingegangen. Das dritte Kapitel widmet sich der filmischen Diskursivierung von Intersexualität. Hier werden kurz Dokumentarfilme der letzten 10 Jahre aus dem deutschsprachigen Raum vorgestellt und ausführlicher auf den Dokumentarfilm Tintenfischalarm und den Spielfilm XXY eingegangen. Wie gehen die Filme mit dem Thema Intersexualität um? Welche Diskurse werden in den Filmen angeführt? Wie werden die Personen als intersexuell im Film eingeführt bzw. erschaffen? Wie tragen die Filme zum Diskurs über Intersexualität bei? 1 Die Sprache ist ein machtvolles Instrument, durch sie können Annahmen reproduziert, zementiert und zur „Wahrheit“ erklärt werden. Andere Aussagen wiederum bekommen ihre Existenz abgesprochen, sie werden unsagbar und oft undenkbar, indem Ausdruckmöglichkeiten verwehrt werden. Aber Sprache ist veränderbar und einen stetigen Wandel unterworfen. Um über ein Thema verhandeln zu können, muss auch eine sprachliche Ebene existieren, deshalb verwende ich den _ um die zwanghafte Zweigeschlechtlichkeit aufzuzeigen und sie zu hinterfragen. Der _ soll jenen Menschen Platz bieten, welche sich nicht in das rigide Zweigeschlechtermodell einordnen kann oder will. Diese Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Wahrheit, es ist ein Auszug aus verschieden Thesen und Behauptungen unterschiedlichster Autor_innen, welche wie Puzzelstücke zu einem vermeintlichen Ganzen zusammengesetzt werden. Während dem Lesen sollte immer im Hinterkopf behalten werden, dass die vorliegende Arbeit selbst einen Diskurs über Intersexualität erschafft und somit das Phänomen mitkonstruiert. 2 2. Werkzeuge und Theorien 2.1. Foucault Michel Foucault (1926-1984) ist wohl der meist diskutierte Philosoph im Zusammenhang mit „Poststrukturalismus“ und „Postmoderne“. Ob er wirklich zu den Vertretern dieser philosophischen - Denkrichtungen gehört, ist jedoch ungewiss. Mit Sicherheit kann jedoch gesagt werden, dass er diese geistigen Strömungen vorbereitet hat und an ihrer Weiterentwicklung stets mitgewirkte. Seine Philosophie unterscheidet sich von denen der Poststrukturalist_innen und Postmodernen dadurch, dass sie eine Philosophie der Sozialund Kulturgeschichte ist. Foucault war Psychologe, Soziologe und Historiker, der sich mit konkreten Problemen der sozialgeschichtlichen, politischen und kulturellen Wirklichkeit befasste. Er war und blieb aber stets Philosoph. 1 Mit seinen Werken führte Foucault eine Ethnologie der Gegenwart durch. Er untersuchte, wie Wissen entsteht und sich etabliert, wie Macht funktioniert und in allen Bereichen Einfluss nimmt und wie sich das Subjekt in dieser Umgebung konstituiert. Foucault prägte mit seinen Arbeiten den Begriff des Diskurses und kann als Begründer der Diskursanalyse gesehen werden. Er bezeichnete in einen Interview seine Bücher als Werkzeugkisten, aus denen Sätze, Ideen oder Analysen als Werkzeuge herausgenommen werden können, um damit die Machtsysteme kurzzuschließen, zu zerlegen oder aufzubrechen. 2 Diesen Leitsatz folg(t)en viele Wissenschafter_innen in verschiedensten akademischen Bereichen um Machtsysteme zu analysieren oder sie aufzubrechen - Soziologie, Philosophie, Linguistik, Politikwissenschaften und Literaturwissenschaften sind nur einige davon. Besonders wegen seinen Studien zu Sexualität beeinflusste Foucault die feministische Theorie. Ludewig geht davon aus, dass er der am meist rezipierte „postmoderne“ Denker im Feld der Gender Studies ist und als Vordenker der daraus entstandenen Queer-Theorie verstanden werden kann. 3 1 Vgl. Fink-Eitel, Hinrich: Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius, 1992. S. 7-9. Vgl. Ludewig, Karin: Die Wiederkehr der Lust. Körperpolitik nach Foucault und Butler. Frankfurt/Main u.a.: Campus Verlag, 2002. S. 63. 3 Vgl. Ludewig (2002), S. 116. 2 3 2.1.1. Diskursanalyse Die Diskursanalyse untersucht die Wissensordnung in einem Bereich und wie die jeweilige Tiefenstruktur des Wissens beschaffen ist, welche den alltäglichen Subjekten verborgen bleibt und trotzdem ihr Denken strukturiert. Sie analysiert wie diskursive mit nichtdiskursiven Praktiken zusammenhängen und wie Wissensordnungen mit sozialen Strukturen und Einteilungen verbunden sind. 4 Der Diskurs ist ein zentraler und gleichzeitig wandelbarer Begriff in Foucaults Schriften. Er zieht sich unter ständiger Bedeutungsverschiebung durch dessen gesamte Schaffensphase. In der Diplomarbeit soll der Diskurs als ein Komplex von aufeinander verweisenden und sich gegenseitig bestätigenden Äußerungen über einen Objektbereich verstanden werden. 5 Der Diskurs ist kein explizites Wissen – wie z.B. der Bestand von Informationen zu einem Thema – sondern eine überindividuelle Praxis, welche die Art und Weise des Denkens und des Äußerns darstellt. Er besteht aus einem System von Aussagen in einem Feld, welche im Diskurs ermöglicht werden und Wirkungsmacht erzielen. Der Diskurs ist ein Aussagesystem, Wissenselemente hervorbringt. 6 welches die besagten Sachverhalte erst als Er ist eine regulierte Praxis von Aussagen, deren Bedeutung sich erst in einem diskursiven Raum erschließt. Der Sinn jeder Aussage ändert sich je nach dem diskursiven, gesellschaftspolitischen und geschichtlichen Zusammenhang in dem sie steht und je nach dem diskursiven Praxisfeld, in welches sie eingeflochten ist. Wird dieser Gedanke weitergesponnen, so existieren Gegenstände des Wissens nie vordiskursiv. Die Materialität von Diskursen liegt darin, dass sie ihre Gegenstände kategorial durch Aussagen hervorbringen, sogar bis in die Regulierung von institutionellen Praktiken hinein. 7 Der Diskursbegriff steht im Zentrum der foucaultschen Diskurs-„Theorie“ und ist ein strukturierendes Prinzip von Kultur und Gesellschaft, er prägt weiters die Beschaffenheit von „Theorie“ als geschichtliche (Re-)Konstruktion 4 von Diskursen und Vgl. Diaz-Bone, Rainer: Entwicklungen im Feld der foucaultschen Diskursanalyse. Historical Social Research, Vol. 28, No. 4 (2003), S. 65. 5 Vgl. Ludewig (2002), S. 91f. 6 Vgl. Diaz-Bone, Rainer: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse. Historical Social Research, Vol. 31, No. 2, (2006), S. 251. 7 Vgl. Bublitz, Hannelore: Diskursanalyse als Gesellschafts-‚Theorie’. „Diagnostik historischer Praktiken am Beispiel der ‚Kulturkrisen’-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende. In: Bublitz, Hannelore u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/Main u.a.: Campus Verlag, 1999a. S. 23. 4 Diskursformationen. 8 Theorie muss nach Foucault diskursiv und konstruktiv verstanden werden; sie wird an Diskursen entlang gebildet. Diskurse enthalten bereits alle Elemente von Theorien: sie haben Aussageformationen – Gegenstände, Begriffe, Subjektpositionen, strategische Wahl – welche immer örtlich bedingte und geschichtsspezifische Merkmale aufweisen. 9 Wissenschaftliche Diskurse – in denen ausgehandelt wird, was als wahr gelten kann – und sozikulturelle Machtkonstellationen sind nicht unabhängig voneinander. Die Wahrheit ist mit der Macht verwoben und die Theorie ist dadurch kein Ort der Herstellung eines reinen interessenlosen Wissens. Mit Foucaults Konzept des Diskurses wird die innige Verbundenheit von Macht und Wissen veranschaulicht. 10 Foucault konzipiert die Vorstellung einer strategisch-produktiven Macht. Sie wird nicht von einer gesellschaftlichen Instanz besessen und ausgeübt, sie existiert vielmehr im Verhältnis zwischen den Instanzen. Machtbeziehungen herrschen überall, wo es Gesellschaft gibt. 11 Im Diskurs zeigt sich Macht darin, dass etwas zum diskursiven Ereignis und damit zum Gegenstand des Wissens wird. Macht und Diskurs bedingen sich gegenseitig: „Es sind die gesellschaftlichen Machtbeziehungen, die den Diskurs in seiner spezifischen Form in die Welt setzen. In diesem Sinne setzt der Diskurs die Macht unmittelbar voraus. Zugleich produziert er aber auch Machtbeziehungen, indem er Gegenstände für soziales Handeln hervorbringt.“ 12 Diskurse erscheinen als geschichtlich verortete Problemstellungen des bis dato geltenden Wahren, mit dem Effekt, abermals Wahrheit zu erzeugen. Wahrheit erscheint dadurch als eine Wirkmöglichkeit der Macht, weil durch Diskurse Wahrheit produziert und somit soziale Wirklichkeit geschaffen wird. Jede Gesellschaft hat eine eigene Politik der Wahrheit, welche entscheidet, welche Diskurse wirken dürfen. Es gibt Instanzen, welche „wahre“ von „falschen“ Aussagen unterscheiden und jeweils spezifische Verfahren der Wahrheitsfindung anwenden. Wahrheit ist somit ein Ensemble von geregelten und 8 Vgl. Bublitz (1999a), S 27. Vgl. Bublitz (1999a), S 30. 10 Vgl. Ludewig (2002), S. 92. 11 Vgl. Bauer-Jelinek, Christine: Was ist Macht? http://www.bauer-jelinek.at/macht/machtdefinition 12 Seier, Andrea: Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster. In: Bublitz, Hannelore u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/Main u.a.: Campus Verlag, 1999. S. 75. 9 5 regelnden Verfahren für die Produktion, Verteilung, Zirkulation und Wirkungsweise von Aussagen. 13 Die foucaultsche Diskusanalyse dekonstruiert die Allgemeingültigkeit von Wissen als geschichtliche Ordnungsstrukturen von Gesellschaft, fachspezifische Wahrheiten sind demnach Effekte von Diskursen. Die Diskursanalyse hat somit deontologisierenden Charakter, da sie sichtbar macht, wie Wahrheiten jeweils historisch „erfunden“ und wie sie innerhalb sozialpolitischer, wirtschaftlicher und kultureller Hegemonie wirksam werden. 14 „Ich möchte zeigen, daß [sic!] viele Dinge, die Teil unserer Landschaft sind – und für universell gehalten werden -, das Ergebnis ganz bestimmter geschichtlicher Veränderungen sind. Alle meine Untersuchungen richten sich gegen Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein. Sie helfen entdecken, wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheiten wir immer noch haben und wie viel Wandel immer noch möglich ist.“ 15 Foucault zeigt auf, dass die Rekonstruktion einer „wahren“ Geschichte anstelle einer Geschichtsphilosophie tritt, dadurch werden jene Praktiken rekonstruiert, durch welche bestimmte Elemente so miteinander verwoben werden, dass rückblickend ein Objekt erscheint, das angeblich vor dem geschichtlichen Prozess existiert hat. Er ist sich sicher, dass kein komplettes oder unumstößliches Wissen über die historischen Grenzen erlangt werden kann. 16 Foucault ist der Annahme, dass die modernen Gesellschaften zu viel Respekt gegenüber dem Diskurs zeigen, dass sie die im Diskurs produzierten Wahrheiten verehren. Diese Verehrung führt er auf eine Angst vor dem Gesagten - der Masse aller Aussagen - zurück und dient als Tarnung vor dem ständigen ordnungslosen Wuchern des Diskurses. Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen. 17 Der Zugriff auf Diskurse erfolgt durch Verbote, durch Ritualisierung der Inhalte und durch Tabuisierung der Gegenstände, sowie durch die Eindämmung des im Diskurs immanenten 13 Vgl. Bublitz, Hannelore: Diskursanalyse – (k)eine Methode? Eine Einleitung. In: Bublitz, Hannelore u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/Main u.a.: Campus Verlag, 1999b. S. 11. 14 Vgl. Bublitz (1999b), S. 13f. 15 Foucault, Michel: Wahrheit, Macht und Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982). In: Foucault, Michel (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt/Main, 1993. S. 17. 16 Vgl. Bublitz (1999a), S 30f. 17 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. 8. Auflage, Frankfurt a. Main 2001. S. 10. 6 Willens zur Wahrheit. Die Regulierung erfolgt auf der Ebene des Diskurses, nicht außerhalb oder jenseits dessen. 18 Der Diskurs stellt Verbindung zwischen Aussageformationen, sozialen Gruppenformationen, alltäglichen Wertvorstellungen und institutionellen Praktiken her. Er ist ein statischer, die Ordnung bewahrender und zugleich dynamischer Moment. Der symbolische Ordnungscharakter des Diskurses besteht auf der Ebene des Wissens und auf der Ebene gesellschaftlicher Praktiken. Geschichtliche Kenntnisse und Annahmen werden als Wissen in „Bibliotheken“ (an)geordnet. Die Diskurse als gesellschaftliche Praxis übernehmen Ordnungsfunktionen, indem sie das Wahre vom Falschen, das Normale vom Nicht-Normalen trennen und somit den Prozess steuern, in dem sich die der Norm Entsprechenden gegen die Anderen verteidigt, welche erst durch den Diskurs geschaffen wurden. 19 Wegen der Verkettung des Diskurses mit Machtkonstellationen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht. Er kann nur durch den Diskurs und im Diskurs geleistet werden – auch auf die Gefahr hin, dass dieser unter einer Decke stecken könnte mit der zu bekämpfenden Macht. 20 Die Diskurse ebenso wenig wie das Schweigen sind ein für allemal der Macht unterworfen oder gegen sie gerichtet. Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und –effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam. 21 Somit ist die totale Abschaffung von Machtstrukturen als utopisches Ziel politischer Handlungen nicht möglich oder denkbar. Das Potenzial zum Umbruch bzw. zur Änderung dieser Machtverhältnisse schreibt Foucault der Vielfalt von (mikro)politischen Widerstandskräften zu. Es gibt nicht einen Ort der großen Verweigerung, sondern einzelne verschiedenartige Widerstände, welche nur im Feld der Machtbeziehungen existieren können. 22 Die Annahme einer grundsätzlichen Veränderbarkeit des Seienden ist der Ansatzpunkt für den politischen Widerstand gegen das Bestehende. 23 18 Vgl. Bublitz (1999b), S. 10f. Vgl. Bublitz (1999b), S. 12f. 20 Vgl. Ludewig (2002), S. 97. 21 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977. S. 122. 22 Vgl. Ludewig (2002), S. 100f. 23 Vgl. Ludewig (2002), S. 104. 19 7 Foucault geht davon aus, dass Menschen die Realität durch Diskurse und diskursive Strukturen hindurch wahrnehmen, dies führt nicht nur zu einer Verkleinerung des Blickfeldes, sondern gleichzeitig werden dadurch viele Dinge, Individuen und Phänomene ausgeschlossen, für real oder existent befunden zu werden. 24 Foucault fordert die Individuen, welche vom Macht-Wissen-Komplex zum Schweigen gebracht wurden, auf, nicht einbezogene Wissensarten zu thematisieren. Und zwar jene Wissensarten, die von der homogenen, theoretischen Instanz nicht legitimiert sind. Der genealogische Aufstand der einzelnen Wissensarten richtet sich gegen die zentralisierenden Machtwirkungen, welche mit der Institution und dem Funktionieren eines akademischen Diskurses verflochten sind. 25 In short, genealogy as resistance involves using history to give voice to the marginal and submerged voices which lie a little beneath history – the voices of the mad, the delinquent, the abnormal, the disempowerd […] These voices are the source of resistance, the creative subjects of history. 26 Die foucaultsche Variante des Widerstandes sind diese dem herrschenden Wissen widersprechende Stimmen. Das Sprechen dient als ein Werkzeug des Widerstandes vom Rande des Wissens; von der Position des Verdrängten her wird die eigene Sicht zum Ausdruck gebracht. 27 Die Diskursanalyse schafft sich ihre Gegenstände selbst, indem sie Diskurse untersucht, die sie selbst erst produziert und die sie als Diskurse nicht in der Gesellschaft vorfindet. Was sie zuerst antrifft sind Monumente in ihrer Besonderheit, Einzigartigkeit und Nebensächlichkeit. 28 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Diskurse Strukturmuster soziokultureller Ordnung sind, welche durch institutionelle Praktiken strukturiert werden und gleichzeitig Institutionen strukturieren. Diskursanalyse versucht die Diskurse als Element des geschichtlichen Archivs, des kulturimmanenten Wissensbestands und als in soziale, institutionelle und wirtschaftliche Normensysteme eingebundene strukturierte und strukturierende Praxis zu analysieren. 29 Oder anders gesagt, Diskurse strukturieren gesellschaftliche Ordnung, indem sie ein Wissen erschaffen, welches in einer historischen und kulturellen Situation verortet ist und fähig ist, sich institutionell zu etablieren und sich 24 Vgl. Bettinger, Frank: Diskurse – Konstitutionsbedingung des Sozialen. In: Anhorn, Roland u.a. (Hg.): Foucaults Machtanalytik und soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2007. S. 78. 25 Vgl. Ludewig (2002), S. 101. 26 Sawicki, Jana: Disciplining Foucault. Feminism, power, and the body. NY u.a.: Routledge, 1991. S. 28. 27 Vgl. Ludewig (2002), S. 102. 28 Vgl. Bublitz (1999a), S 29. 29 Vgl. Bublitz (1999a), S 24f. 8 somit mit Macht und Anerkennung auszustatten. 30 Die Diskursanalyse untersucht die Sachlage, das Auftauchen, die Institutionalisierung, die Funktions- und Transformationsbedingungen von diesen wissenschaftlichen Diskursen in historischer Hinsicht. 31 Somit kann Diskursanalyse als eine kritische Ontologie der Gegenwart und der Geschichte der Wahrheit bzw. des Denkens verstanden werden. 32 2.1.2. Das Sexualitätsdispositiv Der Körper des Individuums ist nach Foucault ein von Macht besetzter Ort. Foucault zeigt auf, dass im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts die menschlichen Körper, ihre Gesten und Bewegungen durch verschiedene Institutionen reguliert, einer Norm angepasst und einer Disziplinierung unterworfen wurden, deren Wirkung bis heute nicht nachgelassen hat. 33 Foucault macht den Körper zum Gegenstand seiner genealogischen Betrachtung. Mit seinen Thesen stachelt er die feministische Diskussion über den Körperbegriff an und macht diesen zu einem heiß umkämpften Themenfeld. Er führt auch den Begriff des sexes 34 in die philosophische Diskussion ein, welchem vorher das Ansehen eines philosophischen Begriffs vorenthalten war. Er verwendet ihn in Verbindung mit philosophisch-etablierten Kategorien wie der Macht und der Wahrheit. 35 Sexualität ist laut Foucault ein geschichtliches Konstrukt und ein politischer Zustand, ein Dispositiv – eine kulturspezifisch machtstrategische Verflechtung von Diskursen und Praktiken, Wissen und Macht. 36 „Die Sexualität ist keine zugrunde liegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten.“ 37 Im 18. und besonders im 19. Jahrhundert wurde Sexualität Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, staatlicher Kontrolle und gesellschaftspolitischer Sorge. Aus dem traditionellen Allianzdispositiv - die alte Form der Familienorganisation - entwickelte sich das moderne Sexualitätsdispositiv, in welchem Subjekte auf eine andere Art erzeugt werden - andere Wertemaßstäbe werden in dem Mittelpunkt der Selbst- und 30 Vgl. Ludewig (2002), S. 92. Vgl. Maset, Michael: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. Frankfurt/Main u.a.: Campus Verlag, 2002. S. 132. 32 Vgl. Bublitz (1999a), S 30f. 33 Vgl. Ludewig (2002), S. 103. 34 Das französische Wort sexe ist nur schwer ins Deutsche zu übersetzten, es umfasst sowohl die körperliche Aspekte des Geschlechts als auch die damit assoziierten Verhaltensweisen und Begehrensstrukturen. 35 Vgl. Ludewig (2002), S. 116. 36 Vgl. Fink-Eitel (1992), S. 80. 37 Foucault (1977), S. 128. 31 9 Fremdbeziehung gerückt. Die Subjekte definieren sich nicht mehr über den gesellschaftlichen Stand ihrer Familie und ihren innerfamiliären Status, sondern sie haben eine Sexualität anhand welcher sie sich definieren bzw. definiert werden. Die romantische Liebe und die sexuelle Anziehung bilden im Sexualitätsdispositiv die Grundlage für ein Ehebündnis und nicht mehr rein ökonomische, gesellschaftliche oder andere pragmatische Überlegungen des Allianzdispositivs. 38 Foucault zählt vier große strategische Komplexe auf, die sich zu einem umfassenden Dispositiv der Sexualität zusammenschließen: die Pädagogisierung des kindlichen Sexes, die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Psychiatrisierung der perversen Lust und die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhalten. Sie (das Kind, die Frau, die Perversen, das Ehe-/Paar) sind zur Zielscheibe von wissens- und machtspezifischen Praktiken geworden, welche überhaupt erst die Sexualität an sich produzieren. 39 „Der Sex ist das spekulativste, das idealste, das innerlichste Element in einem Sexualitätsdispositiv, das die Macht in ihren Zugriffen auf die Körper, ihre Materialität, ihre Kräfte, ihre Energien, ihre Empfindungen, ihre Lüste organisiert“ 40 Die Sexualität kam laut Foucault als wichtiger Bestandteil einer Machtstrategie auf, welche das Individuum und die Bevölkerung in die sich ausbreitende Bio-Macht einband. Die BioMacht ist die Ökonomisierung und Politisierung von Körpern zur Regulierung der Bevölkerung – Fortpflanzung, Gesundheitsniveau, Geburten- und Sterblichkeitsraten, etc. 41 Foucault ist der Annahme, dass die Sexualität in einem Geflecht aus Geständnis und wissenschaftlichen Verfahren wesentlich ist für die Konstitution von Subjektivität und Geschlecht in modernen Gesellschaften. Dies schließt er aus der Vielzahl geschichtlicher Diskurse und der Intensität der Diskursivierung von Sexualität seit dem 18. Jahrhundert. 42 Menschen definieren sich über das Sexualitätsdispositiv oder werden von diesem definiert. Die Annahme von Sexualität als Dispositiv aus Macht und Wissen schafft die Möglichkeit, diskursive Einflüsse zu analysieren, zu welchen das Sprechen über Sexualität, verschiedenste Praktiken und Gesetze zählen. 38 Vgl. Hauskeller, Christine: Das paradoxe Subjekt. Unterwerfung und Widerstand bei Judith Butler und Michel Foucault. Tübingen: edition diskord, 2000. S. 225-227. 39 Vgl. Fink-Eitel (1992), S. 86. 40 Foucault (1983), S. 184. 41 Vgl. Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim: Beltz, Athenäum, 1994. S. 1999. 42 Vgl. Bublitz (2002), S. 65. 10 2.2. Butler Judith Butler (1956*) provozierte in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts - wie keine andere Philosophin - mit ihren poststrukturalistischen Theorien. Sie hinterfragt in ihren Arbeiten langtradierte Grundannahmen und diskutiert verbreitete Standpunkte neu. Butlers Theorie führte zu einer neu entfachten Auseinandersetzung mit Kategorien, wie zum Beispiel der Identitätskategorie. 43 „Butlers Analysen erfolgen aus einer poststrukturalistischen und dekonstruktiven Untersuchungsperspektive.“ 44 Der Poststrukturalismus entstand als Reaktion auf den Strukturalismus und bezeichnet eine Theorierichtung, welche den Fokus stärker auf die Veränderbarkeit und die Wirkungskraft von Strukturen und (Zeichen-)Systeme richtet. Butler versucht ein sprachphilosophisches Konzept in die Theorie der gesellschaftlichen Praxis zu integrieren und entwirft ein interdisziplinäres Denkmodell, welches psychoanalytische, soziologische und politikwissenschaftliche Positionen mit philosophischen und linguistischen verknüpft. 45 2.2.1. Macht Butlers Theorem der Macht ist allumfassend, es durchdringt alles Seiende und bestimmt jedes Ereignis. Die Macht ist alles und außerhalb ihr kann nichts gedacht werden: 46 „Es gibt keine Position außerhalb dieses Gebiets.“ 47 Auch dem Subjekt gelingt es nicht sich jenseits dieses Feldes zu verorten, da die Macht die jeweils gegenwärtige Konstellation gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ist, welche die Möglichkeiten von Willensentschlüssen und Taten hervorbringt und zugleich reguliert. Somit kann Widerstand gegen die Macht nicht als ein ihr völlig Entgegengesetztes betrachtet werden. Erstens ist der Widerstand selbst eine sehr machtvolle Praxis und zweitens kann er nur gegen bestimmte Ausformungen der Macht angewendet werden, nicht gegen sie als solche. Einen machtfreien Raum anzustreben hat keinen Sinn, da dieser leer wäre, ohne jegliche Bewegung oder Existenz. 48 Butler bezeichnet die „Phantasie einer allumfassenden Überschreitung der Macht“ als „unmöglich“ und unrealistisch. 49 43 Vgl. Bublitz, Hannelore: Judith Butler zur Einführung. Hamburg: Junius, 2002. S. 7-8. Stockmeyer, Anne-Christin: Identität und Körper in der (post)modernen Gesellschaft. Zum Stellenwert der Körper/Leib-Thematik in der Identitätstheorie. Marburg: Tectum Verlag, 2004. S. 124. 45 Vgl. Müller, Anna-Lisa: Sprache, Subjekt und Macht bei Judith Butler. Marburg: Tectum, 2009. S. 14. 46 Vgl. Ludewig (2002), S. 151. 47 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991. S. 20. 48 Vgl. Ludewig (2002), S. 151. 49 Butler (1991), S. 184. 44 11 Butler ist sich stets der alles durchdringenden Macht bewusst und weist darauf hin, dass selbst die Theorie in die Macht verwickelt ist. Die Macht durchdringt sogar den Begriffsapparat, welcher versucht über die Macht zu verhandeln, ebenso wie die Subjektposition des Kritikers. 50 Ihre Theorie dekonstruiert auch den Begriff der Wahrheit, als eine Verschränkung von Wissensformen und Machtverhältnissen. Jeder Punkt der Entstehung von Wissen ist gleichzeitig ein Ort der Machtvollziehung. Wissen und Wahrheit sind miteinander verschränkt, sie bilden eine Einheit der Macht. Macht demonstriert sich darin, dass etwas zum Gegenstand des Wissens wird und Wahrheitswirkung hervorbringt. Somit ist Wahrheit ein diskursiver Effekt, der nicht unveränderlich und ursprünglich ist, sondern erst historisch-diskursiv hervorgebracht wird. 51 Butlers poststrukturalistische Kritik bringt nicht mehr die Voraussetzung eines stabilen Wissenssystems hervor, sondern stellt die andauernde Reflexion auf dessen Herstellungsbedingungen dar. Sie untersucht die Erzeugung des Normativen an sich, statt gegebene Kategorien durch andere zu ersetzten. 52 Sie ist der „Auffassung, dass die Produktivität diskursiver und sprachlicher Macht das fundamentale Konstruktionsprinzip von Wirklichkeit ist.“ 53 Butlers Verständnis von Macht ist eng verbunden mit der von Foucault, wobei ihr Hauptaugenmerk stärker auf der psychischen Dimension der Wirkung von Macht liegt. Sie geht der Frage nach, wie Machtverhältnisse auf das Subjekt wirken, beziehungsweise welche Auswirkungen diese auf das Subjekt haben und wie dadurch eine bestimmte Identität konstituiert wird. 54 Bei Butler ist Macht ein zweideutiger Begriff: Zum einen geht es um Machtbeziehungen und Prozesse, die von Außen diskursiv auf das Subjekts wirken und es somit hervorbringen. Zum anderen geht es um die vom Subjekt selbst ausgehende Macht, welche auf andere Subjekte und Diskurse wirkt. In beiden Fällen ist es eine konstituierende Macht, welche 50 Vgl. Butler, Judith: Kontingente Grundlagen. Der Feminismus und die Frage der „Postmoderne“. In: Benhabib, Seyla/Butler, Judith/ Cornell, Drucilla/Fraser, Nancy (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 1993. S. 35-36. 51 Vgl. Bublitz (2002), S. 25. 52 Vgl. Purtschert, Patricia: Judith Butler. Macht der Kontingenz - Begriff der Kritik. In: Munz, Regine (Hg.): Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. S. 183-185. 53 Bublitz (2002), S. 8. 54 Vgl. Müller (2009), S. 39. 12 aber immer auch eine regulierende Komponente besitzt. Die Tatsache, dass auch vom Subjekt Machtbeziehungen ausgehen, ist der Grund weshalb das Subjekt meistens als Urheber dieser Macht angesehen wird. Die Macht, die von diesem Subjekt ausgeübt wird, überträgt die diskursive Wirkung wieder auf andere Subjekte, welche somit durch diesen Diskurs auf eine bestimmte Weise hervorgebracht werden. Die Wechselwirkung der beiden Machtformen wird dabei verschleiert, doch gerade diese zirkuläre Beziehung ist zum einen die Existenzbedingung des Subjekts, zum Anderen das vom Subjekt Aufgenommene/Inkorporierte, welches im Handeln des Subjekts wiederholt und reproduziert wird. 55 2.2.2. Subjekt Butler teilt mit den Vertreter_innen des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus den Zweifel an der These, dass das menschliche Subjekt Gründer und Erschaffer aller Dinge ist. Es wird nicht versucht, das Subjekt insgesamt zu leugnen oder auszulöschen. Vielmehr geht es ihr darum das Subjekt, wie auch den Körper, aus seinem „metaphysischen Gehäuse“ 56 herauszuholen, „ihm seinen überhistorischen und 57 einzigartigen Stellenwert zu nehmen.“ Butler geht, wie schon im vorigen Unterkapitel erwähnt, von einem Subjektbegriff aus, welcher das Subjekt nicht als eigenständig und unveränderlich begreift, sondern es ist vielmehr von Diskursen abhängig und wird durch diese geprägt. 58 Durch die Inanspruchnahme des Menschen als kollektives Wesen wird ein Subjekt erkennbar, welches durch die Psyche (der Ort der ersten Objektbeziehungen und der Gewissensbildung), als Ort der Verankerung des Sozialen, bestimmt wird. Auch der Bereich des – moralischen – Bewusstseins und der Selbstreflexion, wo sich das Subjekt unverfälscht und eigenständig glaubt, ist durchdrungen von Macht. Moral wird bei Butler als bestimmte Art der Gewalt angesehen, die das Subjekt als Kultursubjekt etabliert und „es als reflexives Wesen moralischen Maßstäben eines sozialen Gewissens unterwirf.“ 59 2.2.3. Geschlecht(s)/-identität/Begehren Die Unterscheidung zwischen „biologischem“ (sex) und „sozialem“ (gender) Geschlecht dient als Werkzeug der feministischen Theorie um zu zeigen, dass Geschlechteridentität 55 Vgl. Müller (2009), S. 77f. Butler (1993), S. 52. 57 Bublitz (2002), S. 14. 58 Vgl. Müller (2009), S. 12. 59 Bublitz (2002), S. 20. 56 13 (gender) und –rollen durch soziokulturelle und historische Verhältnisse erzeugt werden und nicht durch das anatomische Geschlecht (sex) hergeleitet werden kann. Es wird an der biologischen Geschlechterdifferenz festgehalten, aber gleichzeitig die Möglichkeit geltend gemacht, die daraus folgende Herausbildung von gegensätzlichen Geschlechtercharakteren aufheben zu können. Hier setzt Butlers Kritik an: Sie ist der Meinung, dass bei dieser These die Metaphysik der Substanz nicht wirklich hinterfragt wird. Die Geschlechteridentität (gender) wird zwar als Attribut anerkannt, hänge aber immer noch einem vorausgesetzten Kern des Subjekts an. In diesem Kern verbirgt sich jedoch noch das biologische Geschlecht (sex). Deshalb plädiert Butler für die Dekonstruktion von Geschlechteridentitäten, es müsse neben dem sozialen Geschlecht auch das biologische und darüber hinaus auch das Begehren in die Analyse aufgenommen werden. 60 „Intelligible“ Geschlechtsidentitäten sind solche, die in bestimmtem Sinne Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren stiften und aufrechterhalten. 61 Butler subsumiert meist die sexuelle Praxis unter dem Begriff Begehren. Sie schlägt vor das Geschlecht als eine Trias, Geschlecht/Geschlechtsidentität/Begehren“ nämlich 62 als die „Zwangsordnung (engl.: sex/gender/desire) zu verstehen. Butler bricht nicht nur mit der Vorstellung, dass das soziale Geschlecht aus dem biologischen Geschlecht hergeleitet wird, sonder auch mit der Annahme, dass das biologische Geschlecht zwingend eine gegengeschlechtliche Form von Sexualität hervorbringt. Sie betrachtet den Zusammenhang zwischen Geschlecht und sexuellem Begehren als fließend, er ist nicht wie meist angenommen durch stabile Faktoren (des Geschlechtskörpers) kausal zurückzuführen. Der Zusammenhang von biologischkörperlichem Geschlecht, Geschlechtsidentität und Sexualität ist durch historische Praktiken hervorgebracht. 63 2.2.4. Performativität Wie schon im vorigen Kapitel erläutert existiert der Körper laut Butler nicht unabhängig von soziokulturellen Körperkonzepten und –bildern. Das „biologische Geschlecht“ ist keine Tatsache oder ein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein fortlaufender Prozess, „bei dem regulierende Normen das »biologische Geschlecht« materialisieren und diese Materialisierung durch eine erzwungene ständige Wiederholung jener Normen 60 Vgl. Ott, Cornelia: Die Spur der Lüste. Sexualität, Geschlecht und Macht. Opladen: Leske + Budrich, 1998. S. 103-104. 61 Butler (1991), S. 38. 62 Butler (1991), S. 22. 63 Vgl. Bublitz (2002), S. 50-53. 14 erzielen.“ 64 Dieser Wiederholungszwang lässt darauf schließen, dass die Materialisierung nie vollständig abgeschlossen ist und der Körper sich nie völlig den Normen fügt. Somit wird der Mensch mit seinem Körper zum möglichen Ort subversiver Strategien. Geschlechtsidentität wird durch Regulierungsverfahren und Diskurse performativ hervorgebracht und erzwungen. Sie ist demnach performativ, „d. h., sie selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich ist“ 65 Butler entlehnt den Performanzbegriff aus der Sprachwissenschaft/-philosophie und weist somit auf die Bedeutung der Sprache in diesem Prozess hin. Als performativer Sprechakt wird eine sprachliche Äußerung beschrieben, welche durch das Aussprechen gleichzeitig eine Handlung vollzieht, z. B. ein Richterspruch (Ich verurteile dich zu…) oder die Eheschließung (Ich erkläre euch zu…). Sie setzten das in Kraft, was sie benennen, somit fallen Bezeichnung und Vollziehung einer Sache zusammen. Der performative Sprechakt deutet auf dem Aspekt der Gleichzeitigkeit hin, nach der Realität und Konstruktion nicht mehr unterscheidbar sind, da (wahrnehmbare) Materialität und (Realität herstellende) Sprache zusammenfallen. 66 Voraussetzung für die realitätsstiftende Wirksamkeit diskursiver Performativität ist erstens die Bezugnahme auf vorhandene Zeichen- und Bedeutungsketten; der Sprechakt muss auf bereits bestehende sprachliche Konventionen verweisen. Zweitens muss die Person zur Handlung des performativen Sprechaktes autorisiert sein (z.B. ein/e Richter_in bei der Urteilsverkündung). 67 Butler verortet die Macht der Performativität in der Sprache selbst, in dem sie auf deren Historizität und damit auf die in ihr eingeschlossenen Traditionen und Rituale verweist. Im Moment des Sprechens wird ein Kollektiv der Sprecher_innen und deren_ihrer Geschichte aufgerufen und somit eine Konvention zitiert, welcher der Sprache die Macht verleiht, das zu erschaffen, was sie benennt. Selbst diese Konvention hat ihren Ursprung in der Sprache und somit ist sie selbst ein Produkt früherer Zitate, welche durch mehrfache Wiederholungen in ihr (der Sprache) abgelagert wurde. 68 64 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1997. S. 21. 65 Butler (1991), S. 49. 66 Vgl. Stockmeyer (2004), S. 131. 67 Vgl. Bublitz (2002), S. 27. 68 Vgl. Distelhorst, Lars: Umkämpfte Differenz. Hegemonietheoretische Perspektiven der Geschlechterpolitik mit Butler und Laclau. Berlin: Parados, 2007. S. 30. 15 Nach Butler wird auch Geschlechtsidentität performativ produziert, weil das, was als benannt und vorhanden ausgegeben wird, eigentlich erst durch die Benennung produziert wird und soziale Wirklichkeit schafft. Am Beispiel der Aussage der Eltern beim Anblick des neugeborenen Säuglings: „Es ist ein Mädchen!“ lässt sich feststellen, dass es dabei nicht um eine bloße Feststellung des Sachverhalts geht, sondern zugleich um eine Anweisung, ein weibliches Geschlecht zu sein; darin besteht die Performativität der Aussage. Solche diskursiv hergestellten Sachverhalte markieren den Körper durch (Geschlechts-)Zeichen, denen Akte der Inkarnation folgen. Diese Anrufung zitiert eine gesellschaftliche Ordnung, welche sich, auch gegen den Willen der betreffenden Person, in das Individuum einschreibt. 69 Performativität ist kein vereinzelter oder absichtsvoller Akt, sondern eine sich „ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkung erzeugt, die er benennt“ 70 . Zum Beispiel endet das „Zum-Mädchen- Machen“ nicht mit der Anrufung nach der Geburt, sondern wird von verschiedensten Autoritäten und über diverse Zeitabschnitte hinweg kontinuierlich wiederholt. Ein wichtiges Werkzeug hierfür ist die geschlechtsspezifische Namensgebung und die nach der Geburt einsetzende feminine oder maskuline Anrufung des Säuglings, als sie oder er. Die Benennung setzt zugleich eine Trennungslinie und wiederholt einprägend eine Norm. Dieser Prozess ist stets offen und unabgeschlossen. 71 Dennoch beinhaltet Performativität als Wiederholung auch die Möglichkeit der Umdeutung und Verschiebung von Bedeutungen. Normen sind soziale Kategorien und unterliegen somit historischen und psychischen Veränderungen. Die Veränderung des Kontexts, in dem eine Zuschreibung stattfindet, verändert auch ihre Bedeutung. Die notwenige Wiederholung von Normen verdeutlicht deren Instabilität und zeigt, dass „die Materialisierung nie ganz vollendet ist, daß [sic!] die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen wird.“ 72 Die Performativität des Geschlechts birgt die Verschiebung der Normen in sich, denn Normen werden nie auf die gleiche Weise zitiert. 73 Somit entlarvt Butler die „wahren“ Geschlechteridentitäten, Männlichkeit und Weiblichkeit, als diskursive Fiktionen, welche durch gesellschaftliche Performanzen hergestellt wurden. Sie sind Teil einer Strategie, welche die dahinter stehenden patriarchalen Machtverhältnisse und die Zwangsheterosexualität verschleiern. 74 69 Vgl. Bublitz (2002), S. 26. Butler (1997), S. 22. 71 Vgl. Butler (1997), S. 29. 72 Butler (1997), S. 21. 73 Vgl. Bublitz (2002), S. 73-74. 74 Vgl. Butler (1991), S. 208. 70 16 Butlers Theorem der Performativität soll das paradoxe Zusammenwirken von Zwang und Handlungsfähigkeit erfassen, welches nicht außerhalb des gegebenen Regimes gedacht werden kann. Das Subjekt etabliert sich inmitten eines Geflechts aus Macht und Diskurs, „das für Umdeutungen, Wiederentfaltungen und subversive Zitate von innen und für Unterbrechungen und unerwartete Übereinstimmungen mit anderen Netzwerken offen ist.“ 75 Die Subjektivation ist eine paradoxe Bewegung, welche das Subjekt durch Unterwerfung unter den gegebenen Normen erschafft, welche sich dann in existentielle Voraussetzungen verwandeln, die das Subjekt gleichzeitig befähigen Entscheidungen zu treffen und seine Handlungsfähigkeit zu entfalten. 76 eigene „Subjektivation besteht in eben dieser Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält.“ 77 Geschlecht ist das Erzeugnis performativ inszenierter Prozesse und deren institutioneller Festschreibung. Das besagt aber nicht, dass Geschlecht losgelöst von der biologischen Materialität des Körpers gedacht werden kann. Es verweist „nur“ darauf, dass auch das biologisch-anatomische Körpergeschlecht ein normatives Konstrukt ist. Die performative Eigenschaft des Geschlechtes schließt das Körpergeschlecht mit ein. 78 Die diskursive Performanz des biologischen Geschlechts produziert erst das, worauf sie sich zu beziehen scheint: ihre Materialität, deren Grenzen und Oberflächen. Die Performativität produziert nachträglich die Illusion eines inneren Geschlechterkerns. Diese nachträgliche Wirkung entsteht durch ritualisierte Wiederholung von Konventionen, welche gesellschaftlich erzwungen ist und die kulturell konstruierte, heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit voraussetzt. 79 Durch diesen diskursiven Prozess erscheint geschlechtliche Identität als Wirkung performativer Handlungen. Die Geschlechtsidentität geht diesem Effekt nicht als innerer Wesenskern eines Selbst voraus. Die performative Resonanz einer sprachlichen, beschreibenden Handlung beruht auf einem komplexen System sozialer Beziehungen und 75 Butler, Judith: Sorgfältiges Lesen. In: Benhabib, Seyla/Butler, Judith/ Cornell, Drucilla/Fraser, Nancy (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 1993b. S. 125. 76 Vgl. Distelhorst (2007), S. 31. 77 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001. S. 8. 78 Vgl. Bublitz (2002), S. 70. 79 Vgl. Bublitz (2002), S. 72. 17 der Matrix der (heterosexuellen) Zweigeschlechtlichkeit, welche bewirkt, dass die getroffene Zuschreibung von den Beteiligten angenommen wird. 80 Materialisierte Körper Butler geht davon aus, dass der Körper ohne seine kulturelle Form nicht existiert, dass er quasi erst durch die kulturelle Einschreibung zu existieren beginnt. Der physische Körper selbst wird zur Diskursstelle einer politischen Machtgeschichte, als Ort der Einschreibung historischer Eindrücke. Es ist keine Geschichte, die sich in den unversehrten Körper einschreibt, sondern der Körper wird erst durch die Geschichte als Kulturkörper hervorgebracht. 81 Das Subjekt muss sich ständig den gegeben Konventionen, sozikulturellen Codes und gesellschaftlichen Verordnungen unterwerfen, um als sozial erkennbar in Erscheinung zu treten, um überhaupt die sprachliche Kategorien des „Sein“ einnehmen zu können. Es geht diesen performativen Wiederholungen von Normen nicht voraus, sondern entsteht durch diesen Prozess und ist gleichzeitig dieser Prozess. Das Subjekt stellt ein Moment der Verfestigung bestehender Machtregime dar, in dem es soziale Normen inkorporiert, repetiert und reproduziert. 82 Für Butler ist der Körper eine erzwungene Materialisierung eines normalisierenden Ideals. Auch der physische Körper geht aus der Materialisierung regulierender Ideale hervor, „erweckt aber den Eindruck des Natürlichen und Naturgegebenen.“ 83 Er erscheint in seiner „Natürlichkeit“ als etwas Normatives, das nicht getrennt von seiner diskursivsymbolischen Bedeutung wahrgenommen werden kann. Als Beispiel führt Butler das biologische Geschlecht des Geschlechterkörpers an, welches sich als reglementierendes Ideal konstituiert hat. Was wir unter Natur verstehen, unterliegt nicht nur kulturellen Normen, „sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine Art produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren.“ 84 Macht ist gleichzeitig „Unterwerfungs- und Erzeugungsprinzip von körperlicher Materie und psychischer Struktur. […] Entwurf, Herstellung und Unterwerfung – der Materialität und Körperlichkeit – des Subjekts bilden einen Vorgang.“ 85 80 Vgl. Bublitz (2002), S. 73. Bublitz (2002), S. 10-11. 82 Vgl. Purtschert (2004), S.190-191. 83 Bublitz (2002), S. 9. 84 Butler (1997), S. 21. 85 Bublitz (2002), S. 10. 81 18 Die Vorstellung von Frau und Mann, als Natur der Geschlechter, rührt von soziokulturellen Gewohnheiten her, die in gesellschaftliche Machtregime eingebettet sind. Machtbeziehungen, in denen Diskurse mit Institutionen, Anstalten, Vorschriften etc. zu einem „strategischen Imperativ“ 86 verschmelzen. Diskursive Verfahren und Machttechnologien verfestigen sich zu materiellen Strukturen, dadurch wird der Körper als physische Einheit und somatische Materialität zur Naturressource des Geschlechts. Materie wird, laut Butlers dekonstruktivistische Lesart, durch Diskurse hergestellt, somit wird die Frage, was Materie und was der Körper als Materie ist, auf seine kulturelle Produktionsweise verschoben. 87 Butler rekonstruiert die Natürlichkeit des Körpers als Wirkung einer Macht, welche erst den Körper in seiner Materialität hervorbringt und formt. Er ist von Anfang an eine körperliche Materialität, welche einer sozialen Norm unterworfene ist. 88 Somit geht Butler noch einen Schritt weiter in der feministischen Theorie, nicht nur die Geschlechtsidentität (gender) ist kulturell hergestellt, auch der Geschlechtskörper (sex) ist diskursiv produziert. Der biologische Körper ist von Beginn an ein kulturell hergestellter Sozialkörper, deshalb ist er nur durch die in ihm eingeschlossenen und abgelegten Diskursschichten greifbar. Durch das Zitieren eines normativen, symbolischen Gesetzes und durch symbolische Unterwerfung materialisiert sich der Körper in seiner sozialen Existenz. Diese ist abhängig von normativen Entwürfen, die ihm vorgängig sind. Der Körper ist in seiner Materialität ein Normeffekt. Inspiriert durch Austins Sprechakttheorie und Foucaults Theorie diskursiver (Mach-)Formationen, vermutet Butler, dass der Körper selbst ein Stück Gesellschaft ist, welche sich im Körper manifestiert. Im Grund ist es also nicht der Körper, der performativ hergestellt wird, sondern Gesellschaft und ihre symbolische Ordnung materialisieren sich im Körper. Beide (re)produzieren sich durch Materialisierung des Körpers. Gesellschaft setzt sich fort bis in die Erzeugung körperlicher Materie, die als Natur erscheint. Auf diese Weise nimmt Gesellschaft körperliche, natürliche Dimensionen an. 89 In Körper von Gewicht weist Butler stärker als in Das Unbehagen der Geschlechter den Körper nicht als etwas rein durch die Sprache bestimmtes aus, sondern spricht ihm auch zu, 86 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag, 1978. S. 120. 87 Vgl. Bublitz (2002), S. 67. 88 Vgl. Bublitz (2002), S. 9. 89 Vgl. Bublitz (2002), S. 39-40. 19 außerhalb des Diskurses organisch zu existieren. Aber er ist so nicht fassbar, weil das kognitive körperliche Begreifen nur über und in der Sprache stattfindet. 90 2.2.5. Dekonstruktion Butler entlarvt allgemeingültige und konformistische Annahmen als Konstrukte historischer Prozesse und kultureller Konventionen. An die Stelle des Wahren rückt die historische Konstruktion. Dekonstruktivistisches Denken entmystifiziert nicht nur die Annahme einer inneren Wahrheit der Dinge, einer Zweck- bzw. Zielgerichtetheit von Geschichte und „die Idee eines transzendentalen, ahistorischen Subjekts.“ 91 Es bedeutet den Bruch mit metaphysischen Annahmen von Gleichheit und Einheit, Ursache und Wirkung, eine Abkehr von der Voraussetzung „eines durch alle historischen Zeiträume mit sich identischen Subjekts, eines dem Geist entgegengesetzten Körpers.“ 92 Die Dekonstruktion von Materie und Körper heißt nicht, diese zu verleugnen oder abzulehnen, sie soll zeigen, dass es keine von der symbolischen Ordnung unversehrte körperliche Materialität gibt. Diskurse bedingen die historische und soziale Erscheinung von Körper. In der Performativität liegt ein naturalisierender Effekt, somit erscheinen kulturelle Normen als Natur. Die immanente diskursive Macht operiert versteckt und erscheint als Natur der Dinge. Butler dekonstruiert somit die Naturhaftigkeit des Körpers als Konstrukt von Machtwirkung. Die Annahme, dass der Körper ein ahistorischer Allgemeinbegriff ist, entsteht durch die Wirkung von Macht, welche den Vorgang seiner kulturellen Erschaffung verschleiert. Dies gelingt durch diskursive Prozesse der Naturalisierung. 93 Die Dekonstruktion eines Begriffes bedeutet bei Butler, eine Genealogie dieses Begriffs zu schaffen, welche einen naiven Gebrauch untersagt und die darin angesammelten patriarchalen Machtverhältnisse aufzeigt. Dekonstruktion heißt eine Voraussetzung kritisch zu hinterfragen und nicht sie zu verneinen oder abzuschaffen. 94 Vielmehr beinhaltet die Dekonstruktion dieser Begriffe [Körper und Materialität], dass man sie weiterhin verwendet, sie wiederholt, subversiv wiederholt, und sie verschiebt bzw. aus dem Kontext herausnimmt, in dem sie als Instrument der Unterdrückungsmacht eingesetzt wurden. 95 90 Vgl. Müller (2009), S. 57. Bublitz (2002), S. 45. 92 Bublitz (2002), S. 46. 93 Vgl. Bublitz (2002), S. 40-43. 94 Vgl. Ludewig (2002), S. 186. 95 Butler (1993), S. 52. 91 20 2.2.6. Genealogie der Geschlechterontologie Butler stützt sich bei ihrer angewandten Methode der Genealogie auf Foucaults Theorie und nimmt angelehnt an diese ihre Analyse vor. Der von Foucault formulierte Begriff der Genealogie steht in der Tradition Nietzsches und bezeichnet eine Methode zur Analyse von Wissensformen, welche durch Diskurse hervorgebracht wurden. Es werden dabei die Naturalisierungsstrategien aufgedeckt, die innerhalb dieser Diskurse und Machtfelder wirken, um deren Wirkmechanismen zu verbergen. Die Genealogie untersucht also die Verschränkung der Regelungen des Wissens mit Machtverhältnissen, welche sie stärken oder destabilisieren. Der Unterschied bei Foucault und Butler liegt grundlegend darin, dass es Butler um eine ahistorische, rein sprachliche und semiotische Analyse von Kategorien geht. 96 Bei Butler wird die Materialität des Diskurses selbst zum Mittelpunkt der Analyse. 97 Butler befasst sich intensiv mit der Geschlechtsidentität und führt an ihr eine genealogische Kritik durch. Das heißt, dass nicht nach einer ursprünglichen Geschlechtsidentität, nach einem inneren Kern des männlichen/weiblichen Geschlechts oder nach einer authentischen Sexualität geforscht wird, sondern dass diese Phänomene als Folge gesellschaftlicher Praktiken anzusehen sind. Die Genealogie erforscht 98 […] die politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorien als Ursprung und Ursache bezeichnet werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfältigen diffusen Ursprungsorten sind. 99 Eine dieser geschlechtswissenschaftlichen Diskurse zur Geschlechtereinteilung findet durch humanwissenschaftliche Verfahren des 19. Jahrhunderts statt. Vor allem Disziplinen wie Gynäkologie und Sexualwissenschaft waren daran beteiligt eine strenge Verbundenheit zwischen dem anatomischen und sozialen Geschlecht und damit eine klare Geschlechtsdifferenz herzustellen. Aber gerade diese diskursive Explosion um das Wissen was Mann und was Frau ist, zeigt die Anstrengungen, die überwunden werden müssen, um ein präzises Wissen um Geschlechterdifferenz im Bereich der Humanwissenschaften zu bewirken. 100 96 Vgl. Müller (2009), S. 17. Vgl. Bublitz (2002), S. 42. 98 Vgl. Stockmeyer (2004), S. 125. 99 Butler (1991), S. 9. 100 Vgl. Bublitz (2002), S. 59. 97 21 Die Teilung des Geschlechtssubjekts in ein biologisches und ein soziales Geschlecht wird überflüssig, wenn sich herausstellt, dass bereits die biologische Determination des Körpergeschlechts einschließlich der binären Geschlechtszuweisung kulturellen Kategorien folgt. Die Geschlechtsidentität ist nun nicht mehr eine Folge des körperlichen Vorhandenseins anatomischer Merkmale. 101 Vielmehr wird sie als Wirkung intelligibler Vorgänge sichtbar, nicht zuletzt einer kulturellen „Matrix der Intelligibilität“ (UG: 39), die das Geschlecht auf einen Körper zurückführt, ihn auf ein und nur ein Geschlecht festlegt und ihn einer Norm der Heterosexualität unterwirft. 102 Kulturelle Intelligibilität „Intelligibel ist das, was entlang bestimmter historischer Regulierungspraktiken als wahrnehmbar, als normal, als Standard, als denkbar oder sagbar gilt.“ 103 Normative Anweisungen und gegebene Regeln legen fest, was ein intelligibles Geschlecht ist und stellen die Vorschriften auf, welche „die sexuell oder geschlechtlich bestimmten Körper (sexed or gendered bodies) erfüllen müssen, um ihre kulturelle Intelligibilität zu erlangen.“ 104 Dreh- und Angelpunkt der diskursiven Produktion von Subjekt und Identität ist die Sprache, die sich auf ein offenes Zeichensystem bezieht, welches die Intelligibilität immerwährend schafft und gleichzeitig entkräftet. 105 Butler hebt hervor, dass Personen erst kulturell intelligibel werden, wenn sie geschlechtlich markiert sind. 106 Phallogozentrismus und die heterosexuelle Matrix Butler bezeichnet weibliche und männliche Geschlechtsidentität als Effekt einer heterosexuellen Matrix und einer phallogozentrischen Ordnung. Mit dem Phallogozentrismus meint Butler eine maskuline Herrschaft, die ihre Durchsetzungskraft aus einer signifikanten Strukturierung von Sprache und Diskurs bezieht. Das phallogozentrische System teilt die Welt in binäre, hierarchische Oppositionen ein: Geist/Natur, Subjekt/Objekt, Selbst/Anderes, Mann/Frau. Das Männliche ist universeller Bezugspunkt und steht allem gegenüber. Das „Andere“, das den Herrschaftsanspruch bedroht – die Mutter, das Unbewusste, die Natur, das „Fremde“ - wird aus einer männlichen (westlichen) Perspektive bestimmt und betrachtet, es wird zum Unbedeutend 101 Vgl. Bublitz (2002), S. 54-55. Bublitz (2002), S. 57. 103 Lorey, Isabell: Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler. Tübingen: Ed. Diskord, 1996. S. 33. 104 Butler, (1991), S. 217. 105 Butler (1991), S. 212. 106 Vgl. Stockmeyer (2004) S. 127. 102 22 und Nichtidentischen deklariert. Der Mann ist zur Frau die binäre hierarchische Gegenposition - das Original, woraus das Weibliche abgeleitet wird. 107 Die heterosexuelle Matrix ist ein Raster der kulturellen Intelligibilität, wodurch die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert werden. Es charakterisiert ein hegemoniales diskursives Modell der Geschlechter-Intelligibilität, das ein festes biologisches Geschlecht voraussetzt, welches durch ein festes soziales Geschlecht zum Ausdruck gebracht wird, das durch die zwanghafte Ausübung der Heterosexualität antagonistisch und hierarchisch bestimmt ist. 108 Durch die kulturelle Matrix erscheint das Geschlecht als ein deterministisches Faktum. Das „wahre“ und „authentische“ Geschlecht ist grundlegend für die Einheit einer Identität. Somit wird die heterosexuelle Matrix zur Zwangseinteilung des Geschlechts. Dieses Ordnungssystem gibt die normativen Regeln vor, nach denen die Geschlechter gesellschaftlich produziert werden und sich als heterosexuelle Männer und Frauen aufeinander beziehen. Normabweichende Formen des Geschlechts und des Begehrens werden damit ausgegrenzt. 109 Butler unterscheidet zwischen Subjekt und Individuum. Eine Person, welche keinen Subjektstatus hat, verliert die Fähigkeit als anerkannter Mensch freie Entscheidungen zu treffen. Das Subjekt ist für Butler nicht gleichbedeutend mit Mensch, Person oder Individuum. Nicht intelligibel zu sein heißt nicht, keinen Körper zu haben oder nicht zu existieren, sondern weder Sinnhaftigkeit noch Einheit zu verkörpern. 110 Identitäten außerhalb der heterosexuellen Norm Wie schon oben erwähnt, gibt es auch nicht intelligibel Subjekte, die von der Vernunft nicht erfassbar sind. Was außerhalb der heterosexuellen Matrix liegt, ist ein elementares Außen, weil es nicht nur abseits von ihr liegt, sondern sie stabilisiert. Das Ausgeschlossene bildet die Grenzen der Signifikation des Intellegiblen und ist somit aktiv an seiner Konstruktion beteiligt. Es stört den Bereich des Intelligiblen in dem es als das Nichtlebbare/Nichterzählbare in Erscheinung tritt. Die Grenzen der Signifikation und damit der Bereich des Intelligiblen werden brüchig und drohen ständig sich zu verschieben, weil sie es nicht schaffen die Ausschlüsse, auf denen sie basieren, festzuschreiben und auf 107 Vgl. Ott (1998), S. 105f. Butler (1991), S. 219f - 6. Fußnote. 109 Vgl. Bublitz (2002), S. 65. 110 Vgl. Distelhorst (2007), S. 28./S. 297. - 3. Anmerkung. 108 23 genügen Abstand zu halten, damit sie nicht spürbar werden. Dies hat auf subjektiver, wie auf gesellschaftlicher Ebene Konsequenzen. Wie schon erwähnt, beruht die Existenz als Subjekt darauf geschlechtlich intelligibel markiert zu sein, dies setzt die Ausschließung des anderen Geschlechts als Identifikationsmöglichkeit und des eigenen Geschlechts als Objekt des Begehrens voraus. Das Subjekt kann nicht um das Verlorene trauen, ohne seinen Subjektstatus aufs Spiel zu setzten. Daher vollzieht sich die Rückkehr des verworfenen Ausgeschlossenen im Subjekt selbst, durch die Melancholie - hier bezieht sich Butler auf die psychoanalytische Theorie Freuds. Da nicht um den Verlust getrauert werden kann/darf, wird das Verworfene einverleibt und so im Inneren am Leben erhalten. Gesellschaftlich bedeutet dies, dass keine bestimmte Interpretation von Geschlecht für immer durchzusetzen ist. Da das Ausgeschlossene immer die Grenzen unterlaufen wird, wodurch der Begriff Geschlecht instabil und schwankend bleibt. 111 Butler sieht im durch die Melancholie inkorporierten Verworfenen eine subversive Kraft, da seine unterschwellige Existenz im „Ich“ - sozusagen als Spur im Selbst - erhalten bleibt, somit werden alternative Handlungs- und Identitätsformen im Inneren des Subjekts bewahrt. 112 Der Ausschluss von abweichenden Identitäten führt, laut Butler, zur Eröffnung „rivalisierender, subversiver Matrixen der Geschlechter-Unordnung (gender disorder)“ 113, „die mit den Hegemonien der Heterosexualität, der Fortpflanzung und des medizinischjuristischen Diskurses bricht“ 114 Es tauchen vielfältige Abweichungen von der heterosexuellen Norm auf: Körper, welche nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet sind, männliche Körper, die männliche Körper begehren, oder weibliche Körper, die sich männlich artikulieren. Das Unbehagen der Geschlechter handelt laut Butler von begehrenden Subjekten, welche aus der heterosexuellen Norm fallen oder als unlegitimierte Wesen in einem von ihren Sets von Normen operieren. Der ontologische Status der Geschlechtsidentität als Wirklichkeit wird durch diese verworfenen Subjekte in Frage gestellt. Vom unabgesicherten Ort dieser Ausgeschlossenen werden gesellschaftliche Bedingungen als Regulative erkennbar. Wie schon oben erwähnt haben die Außenstehenden nicht einen jenseitigen Status der völlig abgetrennt von der heterosexuellen Matrix ist, sondern einen stabilisierenden - sie sind daher aktiv an der Konstruktion dieser beteiligt. 115 Zum Beispiel verweisen auch Kategorien wie androgyn, bi-, inter-, trans- oder homosexuell immer 111 Vgl. Distelhorst (2007), S. 28. Vgl. Müller (2009), S. 80. 113 Butler (1991), S 39. 114 Butler (1991), S. 41. 115 Vgl. Purtschert (2004), S.189. 112 24 schon auf die Differenz einer Zweigeschlechtlichkeit von weiblich und männlich und die Unterscheidung von Homound Heterosexualität. 116 2.2.7. Resignifikation Wie schon im Kapitel 3.4. Performativität ausführlich erläutert, ist das Subjekt immer schon in eine Geschichtlichkeit des Diskurses verstrickt, welche seine eigene bei weitem überscheitet, es kann sich somit nicht von den Voraussetzungen seiner Anrufung lösen. Das politische Handlungsvermögen des Subjekts besteht darin, sich der eigenen diskursiven Bedingtheit bewusst zu sein, sowie „um die Unabgeschlossenheit der Sprache zu wissen und sich diese zunutzen zu machen, um die Stoßrichtung der performativen Kraft von Diskursen zu verschieben.“ 117 Diese Art der Handlungsmacht und die damit verbundene politische Praxis nennt Butler Resignifizierung. Sie verortet das Politische innerhalb der Bezeichnungsverfahren, welche den Körper als Substanz erscheinen lassen, die an bestimmte Formen der Geschlechtsidentität gebunden ist. 118 Politisch handeln bedeutet […] Resignifikationspraktiken zu mobilisieren, deren Ziel in der Überwindung der restriktiven Geschlechternormen liegt, von denen gesellschaftliche Anerkennung reguliert wird, um auch jene Menschen ein würdevolles leben zu ermöglichen, denen heute aufgrund ihrer abweichenden geschlechtlichen Identität der Status des Subjekts vorenthalten wird. 119 Laut Butler ist es durch Verschiebung von Diskursen möglich, die bestehenden starren Grenzen der Geschlechtsidentität zu destabilisieren, um so Raum für neue Möglichkeiten zu schaffen. Obwohl das Subjekt durch Diskurse konstituiert ist, wurde es dadurch gleichzeitig mit Handlungsfähigkeit ausgestattet, welche ermöglichen, dass es in den Diskurs eingreifen kann um ihn von seiner Richtung abzubringen. Es geht nicht nur darum Widerstand zu leisten, sondern diskursive Strukturen zu unterminieren und/oder zu verschieben, um Veränderungen der gegebenen Verhältnisse herbeizuführen, in dem die performative Wirkung des Diskurs umgelenkt wird. Für Butler ist der Diskurs ein sich aus geregelten (Sprach-)Strukturen entwickelnder Sinnzusammenhang, welcher sich auf Grund bestimmter kultureller, politischer und ideologischer Konzepte bildet. 120 Butler greift vor allem zwei Begriffsbeispiele für Resignifizierungspraktik auf, die Begriffe „queer“ und „nigger“. 116 Bublitz (2002), S. 66. Distelhorst (2007), S. 32. 118 Vgl. Distelhorst (2007), S. 32. 119 Distelhorst (2007), S. 35. 120 Vgl. Distelhorst (2007), S. 58-60. 117 25 die Auslegung ihrer Es kann durch eine Aneignung vormals negativ besetzter Begriffe, durch die mit diesem Begriff Ausgegrenzten eine Umwertung in der Sprache stattfinden, wie zum Beispiel der Begriff „queer“ im englischsprachigen Raum - hier vor allem in den USA - zeigt. Queer bedeutet im amerikanischen Englisch adjektivisch soviel wie »seltsam, sonderbar, leicht verrückt«, aber auch »gefälscht, fragwürdig«; als Verb wird es gebraucht für »jemanden irreführen, etwas verderben oder verpfuschen«, substantivisch steht es z.B. für »Falschgeld«. Umgangssprachlich ist queer ein Schimpfwort für Homosexuelle, spielt also mit der Assoziation, dass Homosexuelle so was wie Falschgeld sind, mit der die straight world, die Welt der »richtigen« Frauen und Männer, arglistig getäuscht werden soll. 121 „Queer“ wurde früher als Schimpfwort verwendet um homosexuelle Männer und Frauen zu erniedrigen, in den 80er und 90er des letzten Jahrhunderts wurde der Begriff durch die Homosexuellenbewegung aufgenommen und politisch neu umgedeutet. Heute wird der Begriff auch von Akademikern verwendet „to describe the broad, fluid, and ever-changing expanse of human sexualities.“ 122 Als queer kann jedes Individuum bezeichnet werden, welches nicht die heterosexuelle reproduzierende Monogamie lebt und sich somit der (westlichen) heterosexuellen Norm widersetzt. Diese Geschichtlichkeit von Begriffsbedeutungen zeigt deutlich, dass Zuordnungen bestimmter Körper in den Bereich der Intelligibilität zeitlichen Veränderungen unterworfen sind bzw. sein können. Das bedeutet für Subjekte, die als intelligibel gelten, dass sie immer der Gefahr ausgesetzt sind, durch die sich verändernde Machtbeziehungen ins „Außen“ des Diskurses verschoben zu werden und somit ihren Subjektstatus zu verlieren. Um dieser Gefahr zu entgehen, findet in vielen Fällen meist unbewusst eine explizite Ausgrenzung des jeweils Anderen/Verworfenen statt, um so die bestehende Einteilung zu stärken. 123 Für Butler liegt das Potential zum Widerstand gegen ausübende Machtverhältnisse und hegemoniale Diskurse in der Resignifizierung - in der Umdeutung und Aneignung von (Identitäts-)Zuschreibungen. 124 Bei der politischen Strategie der Resignifikation wird erneut die enorme Bedeutsamkeit der Sprache in Butlers Theorie sichtbar. 121 Hark, Sabine: Queer Intervention. In: Feministische Studien. Kritik an der Kategorie „Geschlecht“. H 2, Jg. 11 (1993), S. 103. 122 Benshoff, Harry (Hg.): Queer Cinema. The Film Reader. NY: Routledge, 2004. S. 1. 123 Vgl. Müller (2009), S. 64f. 124 Vgl. Müller (2009), S. 100. 26 2.2.8. Zusammenfassung Butlers Theorie kann mit der Trias Macht, Subjekt und Sprache zusammengefasst werden. Sie beeinflussen sich, bringen einander hervor, und bilden den Diskurs durch den sie bestimmt werden. Macht ist ein Überbegriff der Butler’schen Theorie, der überall wirkt, außerhalb davon gibt es nichts – er durchfließt jeden Bereich. Auch das Subjekt entsteht in einem Netz von Machtstrukturen, durch die Unterwerfung von gesellschaftlichen Normen. Durch die Subjektivation werden die intelligiblen Menschen mit Handlungsfähigkeit ausgestattet, sie sind somit als lebbare Menschen in der heterosexuellen Matrix verankert. Mit der Subjektwerdung wird der Mensch durch die Sprache mit Macht ausgestattet und kann dadurch andere Menschen beeinflussen, dadurch greift er selbst in den Diskurs ein und ist Teil der Macht. Sprache beschreibt nicht nur eine Realität, sondern stellt sie mit ihrer Benennung erst her. Die Sprache ist das Werkzeug mit dem die Menschen sich selbst und die Gegenstände der Welt benennen und dadurch erkennen können. Geschlecht existiert nicht einfach, sondern muss immer wieder hergestellt und mit Bedeutung besetzt werden. Frau- und Mannsein ist kein Sein, sondern ein andauerndes Tun: die Attribute „weiblich“ und „männlich“ bezeichnen nicht (nur) eine biologische Tatsache, sondern sie wirken vielmehr performativ. Das heißt, die sprachliche Bezeichnung schafft Bedeutung und hierdurch wird Realität hergestellt, welche angeblich schon immer vorzufinden war. Daher ist Geschlechtsidentität eine andauernde Nachahmung dessen, was als real und natürlich gilt. Es ist ein stilisierter Normeffekt, welcher durch die Wiederholung gegebener Regeln erzeugt wird. Die Natürlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit ist somit eine Illusion, welche sich selbst wahr macht. Butler geht es bei ihrem Performativitätsbegriff nicht um eine Entkörperung oder Auflösung des Körpers in der Sprache. Sie will damit verdeutlichen, dass es keinen Körper ohne Norm gibt, dass er immer schon mit Bedeutung besetzt und dadurch geformt ist. Sie widerspricht weiters der Annahme, dass der Körper ein Substrat, eine zugrunde liegende Materie ist, welche mit Bedeutung gefüllt wird. Für sie ist Materie kein Ort oder eine Oberfläche an sich, sondern ein Prozess der Materialisierung, welche mit der Zeit stabil wird, und auf diesem Wege eine Wirkung von Festigkeit, Begrenzung und Oberfläche herstellt. 27 Das Anerkennen der Künstlichkeit von Geschlechtsdistinktionen bedeutet zwar, dass ein fluktuierender Begriff von Geschlechtsidentität ohne strikte Grenzen denkbar ist, welche hypothetisch unendlich viele Variationen des Geschlechts ermöglicht, „praktisch aber durch die geschlechtsspezifische Matrix begrenzt wird. Sie geht als Bereich von Sprache und Verwandtschaft dem Subjekt voraus.“ 125 Das Subjekt ist zur Wiederholung der gegebenen Machtstruktur gezwungen. Doch die Vorstellung, dass Geschlecht performativ produziert wird, zeigt, dass sie eine Kopie einer Kopie und somit „nichts anderes als eine Parodie der Idee des Natürlichen und Ursprüngen ist.“ 126 Butler versucht mit ihren Arbeiten diskriminierte Menschen und Randgruppen, welche sie als „Ausgeschlossene“ und „Verworfene“ bezeichnet, wieder in den Diskurs der Intelligibilität mit einzubinden. Mit ihren Thesen versucht sie die Grenzen der heterosexuellen Matrix, und folglich die Kriterien der Intelligibilität, aufzuweichen, auszudehnen, zu verschieben oder sogar niederzureißen. Durch eine Veränderung der Grenzen wird es möglich „verworfene“ Identitäten weitgehend zu integrieren, die Vielfalt von Individuen und das Vorhandensein von Unterschieden als normal anzusehen und lediglich die Wertung des bedrohlichen „Anderen“ zu dekonstruieren. 125 126 Bublitz (2002), S. 70. Butler (1991), S. 58. 28 3. Intersexualität Intersexualität ist eine konstruierte Kategorie, welche im Laufe der Zeit vielen Veränderungen unterworfen war und ist – dieser diskursive Charakter von gesellschaftlich konstruierten Kategorien soll während dieser Arbeit nie aus dem Fokus geraten, denn auch diese Arbeit ist ein diskursives Werkzeug, dass Intersexualität als Phänomen überhaupt erst hervorbringt. Andreas Wacke geht dem Phänomen Hermaphroditismus bzw. Zwittertum aus genealogischer Sicht auf den Grund, und schafft mit seiner Arbeit einen geschichtlichen Diskurs über Intersexualität. Er dekonstruiert diese Begriffe nicht, sondern geht von der Naturhaftigkeit und Gegebenheit von Intersexualität aus. Intersexuelle Menschen wurden, Wacke zufolge früher Hermaphroditen oder (umgangssprachlich) Zwitter genannt. Der Begriff Hermaphrodit stammt vom griechischen Wort Hermaphroditos ab, welcher in die romanischen Sprachen übernommen wurde: hermaphrodite (frz.), ermafrodito (ital.), hermafrodita (span.). Auch das englische Wort hermaphrodite ist auf diesen Ursprung zurückzuführen. Der deutsche Ausdruck Zwitter ist stammesverwandt mit zwei und bezeichnet ein hybrides Wesen von zweierlei Abstammung. Wahrscheinlich wurde das Wort schon seit dem 13. Jahrhundert mit der Assoziation „zweigeschlechtlich“ in Verbindung gebracht, aber erst seit dem 16. Jahrhundert hat er die heutige ausschließliche Bedeutung. 127 Intersexuelle Personen sind Menschen, welche körperlich weder eindeutig Frau noch eindeutig Mann sind. Intersexualität ist in der Gesellschaft weiterhin ein großes Tabu, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass jede_r in ihrem_seinem weiteren Umfeld mindestens einen intersexuellen Menschen kennt. Von 2002 bis 2004 wurde in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Studie durchgeführt, um den Anteil an intersexuellen Menschen an der Gesamtbevölkerung zu erheben. Je nach dem welche Formen dazugezählt werden - um die Zahlen nach Interesse möglichst niedrig oder hoch zuhalten – liegt das Verhältnis intersexueller Menschen zu nicht intersexuellen Menschen zwischen einer von 6.900 und einer von 50 Geburten. Intersexuelle Menschen haben einen Geschlechtskörper für den es keine geschlechtliche Kategorie, sie sind Phänomen von deren Existenz die meisten Menschen nichts wissen. 128 127 Vgl. Wacke, Andreas: Vom Hermaphroditen zum Transsexuellen. Zur Stellung von Zwittern in der Rechtsgeschichte. In: Eyrich, Heinz/Odersky, Walter/Säcker, Franz Jürgen (Hg.): Festschrift für Kurt Rebmann zum 65. Geburtstag. München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1989. S. 874. 128 Vgl. Lang, Claudia: Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern. Frankfurt/Main: Campus Verlag. 2006. 11f. 29 Jedoch ist innerhalb den letzten fünfzehn Jahren ein Auftauchen intersexueller Stimmen zu verzeichnen, die zur zunehmenden Sichtbarkeit von Identitäten beitragen, welche der heterokonformen Normativität zuwiderlaufen. Lange Zeit wurde das Thema Intersexualität vor allem in naturwissenschaftlichen Analysen aufgegriffen, was die Fülle an medizinischen Veröffentlichungen gegenüber den wenigen geisteswissenschaftlichen Werken veranschaulicht, obwohl die Geisteswissenschaft an der Geschichte des Hermaphroditen als Mythos maßgeblich diskursiv beteiligt war. 129 3.1. Hermaphroditismus – Vom Mythos zur Pathologisierung Vor ungefähr 2000 Jahren tauchte Hermaphroditos, der Sohn von Hermes und Aphrodite, zum ersten Mal in den Metamorphosen des Dichters Ovid auf. Der Jüngling kam während eines Streifzuges an die Quelle der Nymphe Salmakis, welche sich unsterblich in ihn verliebte. Er konnte nichts mit ihren Avancen anfangen und stieß sie zurück. Als Hermaphroditos später in der Quelle badete, umschlang Salmakis den Jüngling und bat die Götter, sie für immer zu vereinen. Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt und die zwei Körper verschmolzen zu einem, mit männlichen und weiblichen Körpermerkmale. 130 Wacke zufolge bezieht sich der Hermaphroditos-Mythos wahrscheinlich auf orientalische Gottheiten, welche das männliche und weibliche Geschlecht in sich vereinte – die androgyne Himmelsgöttin Ištar wurde in Mesopotamien und die Göttin Astarte von Phöniziern und Syrern verehrt. Der Kult des androgynen Wesens kam von Syrien über Zypern nach Athen, wo dieser aber nicht sehr gepflegt wurde, eher widmeten sich die bildende Kunst und die Poesie dem zweigeschlechtlichen Geschöpf. Antike Bildhauer_innen modellierten androgyne Wesen in zahlreichen Varianten: als liegende oder stehende Statuen, in Steinsärge gehauen, auf Wandgemälde oder Schmuckstücken verewig. Der Hermaphrodit wurde besonders in der antiken griechischen und römischen Kunst verehrt. Eine edle Gestalt, mit weiblichen Oberkörper und schönen Brüsten, die Hüften manchmal knabenhaft, meist aber üppig, aber immer ist die Figur mit einem – oft erigierten – Penis ausgestattet. Der Hermaphrodit galt im antiken Mythos als vollkommene Vereinigung von Mann und Frau in einer Person, er wurde als in sich vollendete Ganzheit verehrt. 129 Vgl. Koch-Rein, Anne: Intersexuality – In the „I“ of the norm? Queer field notes from Eugenides’ Middlesex. In: Haschemi Yekani, Elehe/Michaelis, Beatrice (Hg.): Quer durch die Geisteswissenschaften. Perspektiven der Queer Theory. Berlin: Querverlag, 2005. S. 238. 130 Vgl. Fröhling, Ulla: Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität – Erfahrungen in einem Tabubereich. Berlin: Christoph Links Verlag. 2003. S. 13. 30 Im Mythos und Ritus der Antike sind Vorstellungen des zweigeschlechtlichen Wesens weit verbreitet. Am Beginn der Zeit steht meist eine androgyne Urgottheit – eine zweigeschlechtliche Einheit, gesehen als Fruchtbarkeitssymbol, das fähig ist aus sich selbst heraus zu zeugen und zu gebären. Erst später teilt sich die Gottheit in ihre elementaren Hälften, Himmel/Erde, Sonne/Mond, Mann/Frau. Auch das Yin und Yang der ostasiatischen Tradition symbolisieren die einander ergänzenden Gegensätzlichkeiten. 131 In Bezug zur Weltenstehungsgeschichte steht auch die Entstehungsgeschichte des Menschen. Aristophanes beschreibt in Platons Werk Symposion (dt. Das Gastmahl) den Mythos der Kugelmenschen und die Entstehungsgeschichte der Menschen, wie wir sie heute kennen. Am Anfang war der Mensch eine Kugel mit jeweils zwei Paar Armen und Beinen und zwei Gesichter auf dem Kopf. Es gab drei Geschlechter, das männliche stammte von der Sonne ab, das weibliche von der Erde und das gleichzeitig männliche und weibliche stammte vom Mond ab. Sie waren stark und schnell und wurden in ihrem Übermut den Göttern gefährlich. Als Strafe durchschnitt Zeus jeden von ihnen in zwei Hälften und verbannte sie aus seiner Nähe. Seit diesem Moment streben die auseinander geteilten Hälften wieder nach Vereinigung – dies ist die Entstehung der Liebe. 132 Der zweigeschlechtliche Gott und Urmensch ist auch der biblischen Schöpfungsgeschichte nicht fremd. Gott schuf Mann und Frau nach seinem Ebenbild, demzufolge ist er als Einheit ein zweigeschlechtliches Wesen. In älteren Bibelausgaben steht noch geschrieben, dass Gott Adam als Ebenbild seiner als männlich und weiblich schuf. Die Passage in welcher Gott Adam eine Rippe entnahm um Eva zu bilden, kann auch anders gelesen werden – „er nahm ihm seiner Seite eine“. 133 Tatsächlich wurde lange Zeit in der jüdischen und christlichen Theologie gelehrt, dass Adam ein Mannweib war. Obwohl Zwitterwesen in der Mythologie und Theologie weit verbreitet waren und verehrt wurden, erging es den real existierenden Zwittern in der griechischen und römischen Antike nicht sehr gut. Im Römischen Reich wurden sie als widernatürliche Gestalten, als monstra bezeichnet. Sie galten als Omen der Götter, welche baldiges Unheil ankündigten und wurden in einem Reinigungszeremoniell getötet. Ihre Existenz erschien beseitigungswürdig. Historisch sind elf Fälle von Zwittern bekannt, die zwischen 207 und 95 v.Ch. geboren wurden. Sie wurden auf priesterliche Anordnung zusammen mit einer Bestie (z.B. einer Schlange) in eine Kiste oder in einen Sack gesteckt und anschließende im Meer oder Fluss versenkt. In den darauf folgenden zweitausend Jahren wurde die Praxis 131 Vgl. Wacke (1989), S. 874-876. Vgl. Wacke (1989), S. 876. 133 Vgl. 1. Buch Mose, 2. Kapitel. 132 31 milder, es ist jedoch von der Antike bis zum 18. Jahrhundert nur sehr wenig über den juristischen und gesellschaftlichen Umgang mit Zwittern bekannt. 134 Im Mittelalter überließ die Rechtssprechung im Falle eines Kindes mit uneindeutigen Geschlechts dem Vater oder Paten die Aufgabe, dem Kind bei der Taufe ein Geschlecht zuzuweisen, welches beibehalten werden sollte. Bei Uneindeutigkeit wurde geraten, das Geschlecht zu nehmen, welches überwog. An der Schwelle zum Erwachsenenalter wurde es dem Hermaphroditen freigestellt, das Geschlecht weiter zu behalten, oder in das andere zu wechseln. Die einzige Vorschrift war, dass der Vollzug endgültig war bis zu seinem Tode, ansonst lief er Gefahr als Sodomit zu gelten, dies konnte zu einer Verurteilung bis hin zur Hinrichtung führen. 135 Seit dem 18. Jahrhundert haben in modernen Staaten biologische Sexualtheorien, das Individuum betreffende juristische Bestimmungen und administrative Kontrollorgane nach und nach dazu beigetragen, die Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in einem Körper abzulehnen und die freie Entscheidung des uneindeutigen Individuums wurde durch sie beschränkt. Daraus folgte, dass jedem Individuum ein und nur ein eindeutiges Geschlecht zugewiesen wurde. Aus medizinischer Sicht bedeutete das im Falle eines uneindeutigen Geschlechts, das „wahre“ Geschlecht zu erkennen; sich nicht vor der Anatomie irreführen zu lassen, welche die Form des entgegengesetzten Geschlechts angenommen hatte, sondern hinter den Organen das einzig wahre Geschlecht zu entdecken. Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich die Behauptung durch, dass Geschlechtermischungen lediglich Maskeraden der Natur sind, unter denen sich das „wahre Geschlecht“ versteckte, somit waren alle Hermaphroditen immer Pseudo-Hermaphroditen. Dies führte zum Verschwinden der freien Entscheidung in der Rechtssprechung – die vom Gesetz mit Entscheidungskraft ausgestatteten Experten entschieden nun über das Geschlecht, welches die Natur für das Individuum ausgewählt und an welches es sich zu halten hatte. Als Experten traten Mediziner erst seit Ende des 19. Jahrhunderts auf den Plan, um Hermaphroditen zu Pseudohermaphroditen zu erklären und sie dem vermeintlich wahren Geschlecht […] auch entgegen ihrem Selbstempfinden und äußeren Erscheinungsbild zuzuordnen. Der Begriff „Hermaphrodit“ wurde nur für den äußerst seltenen Fall von Menschen mit Hoden und Eierstöcken, also „männlichen“ und „weiblichen“ Gonaden, reserviert. 136 Das moralische Interesse an der medizinischen Diagnose rührte aus der Befürchtung, Hermaphroditen seien imstande ihre „Irrungen der Natur“ für Ausschweifungen zu 134 Vgl. Wacke (1989), S. 876-879. Auf den rechtliche Diskurs wird in einem extra Kapitel näher eingegangen. 136 Lang (2006), S. 77f. 135 32 verwenden, dass sie bewusst ihr „wahres“ Geschlecht verschleiern könnten um Vorteile daraus zu schlagen. 137 Für Foucault ist der Körper der ultimative Ort für ideologische Kontrolle, für Überwachung und Reglementierungen. Er ist seit dem 18. Jahrhundert zum Gegenstand der Disziplinarmächte geworden. Institutionen wie die Medizin oder Rechtsprechung bestrafen jene Körper, welche die etablierten Normen und Grenzen verletzten und somit wird der Körper produktiv und wirtschaftliche nutzbar gemacht. Die Medizin spielt dabei als machtvolle Institution eine bedeutende Rolle, da sie Körper als normal/abweichend, gesund/krank, als diszipliniert oder kontrollbedürftig klassifiziert. Infolgedessen wurde der Medizin auch die Definitionsmacht über intersexuelle Körper übertragen. 138 Pseudohermaphroditismus bzw. Hermaphroditismus wurde zwar noch nicht medizinisch behandelt, galten aber durch die medizinische Übernahme als Missbildung, später als Krankheit, Fehlbildung oder Störung der „normalen“ zweigeschlechtlichen Entwicklung. 3.1.1. Der Fall Herculine Barbin, genannt Alexina B. Während der Forschungsarbeit zu Sexualität und Wahrheit stieß Foucault auf den intersexuellen Fall Herculine Barbin 139 (1838-1868), genannt Alexina B., welchen Foucault 1978 in Paris veröffentlichte, die erste amerikanische Übersetzung erschien 1980 mit einer 11-seitigen Einleitung zum Thema Hermaphroditismus. Foucault stellt die persönlichen Tagebucheintragungen Alexinas_Abels, die medizinischen Untersuchungen ihres_seines Körpers – inklusive des Obduktionsbericht - Pressemeldungen und amtliche Dokumente der fiktionalen Kurzgeschichte Ein scandalöser Fall von Oskar Panizza gegenüber, welcher Elemente von Alexinas_Abels Leben in seine Erzählung einarbeitete und sie_ihn in reißerischer Weise als monströses, absonderliches Wesen und teuflische Verführer_in darstellt. „Wenn ich diese beiden Texte [Barbins Erinnerungen und Panizzas Ein scandalöser Fall] nebeneinandergestellt habe und dachte, daß [sic!] sie es verdienen, zusammen neu veröffentlicht zu werden, so zunächst, weil sie zu jenem Ausgang des 19. Jahrhunderts gehören, das so heftig vom Thema des Hermaphroditen heimgesucht wurde – etwa wie das 18. Jahrhundert von dem des Transvestiten.“ 140 137 Vgl. Foucault, Michel: Das wahre Geschlecht. In: Barbin, Herculine/Foucault, Michel: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Hrsg. v. Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Frankfurt/Main: 1998. S. 8-10. 138 Vgl. Lang (2006), S. 43. 139 Adélaїde Herculine Barbin wurde am 8. November 1838 in Saint-Jean-d’Angély geboren. 140 Foucault (1998), S. 18. 33 Foucault leitet mit diesem Buch einen Diskurs über Hermaphroditismus an, der viel weiter reichte als in medizinischen Fachbüchern dieser Zeit. Das Besondere und Wesentliche am Fall Barbin war für Foucault vor allem die Zeit: In dem Jahren zwischen 1860 und 1870 befindet man sich gerade in einer jener Epochen, in der man die Suche nach der Identität in der Ordnung der Sexualität sehr intensiv betrieb: wahres Geschlecht der Hermaphroditen, aber auch Identifizierung der verschiedenen Perversionen, ihre Klassifizierung, ihre Charakterisierung etc.; kurz, das Problem von Individuum und Gattung in der Ordnung der sexuellen Anomalien. 141 In dieser Zeit der wuchernden Diskurse über Sexualität befand sich Alexina_Abel. Ihr_Sein Leben zeigt wie machtvoll Institutionen wie Medizin und Jurisprudenz auf das Leben des Individuums einwirken und ein Person – den Hermaphrodit, PseudoHermaphrodit - diskursiv herstellen. Alexina_Abel war ein Hermaphrodit, der als Mädchen in kirchlicher Obhut erzogen und als Lehrer_in ausgebildet wurde. Obwohl sie_er schon mit Ende der Kindheit eine Abneigung gegen die Welt an sich und das Gefühl des Fremd- bzw. Anderssein verspürte, fühlte sie_er sich in dem religiösen Umfeld der Frauenkloster wohl und wurde von Mitschülerinnen und Lehrerinnen sehr geschätzt. Während der Pubertät bemerkte sie_er die ungeheure Distanz zwischen ihrem_seinem Körper und den Körpern der Mitschülerinnen. Während sich bei den anderen Mädchen die Reize der Frauen entwickelten, entdeckte Alexina_Abel an sich eine für Mädchen untypische Statur, eine gewisse Härte in den Gesichtszügen und einen Flaum auf der Oberlippe und Teilen der Wangen. 142 Trotz den augenscheinlichen Unterschieden war sie_er bei den Mitschülerinnen und Lehrerinnen sehr beliebt. Kurz nach der Ausbildung bekam sie_er eine Stelle als Hilfslehrerin an einem Pensionat. Die Leiterin behandelte sie_ihn wie ihr eigenes Kind, und ihre Tochter Sara, welche auch im Pensionat arbeitete, wurde ihre_seine Gefährtin. Sie unternahmen ausschweifende Spaziergänge, nach dem Zubettschicken der Schülerinnen plauderten sie noch stundenlang und bald entwickelte sich aus der engen Freundschaft eine leidenschaftliche Beziehung. Ihre Liebesgeschichte stand immer unter einen ungünstigen Stern - die Gefahr des Entdecktwerdens ist oft in Barbins Erinnerungen gegenwärtig. So wie die Schuldgefühle, Sara in diese missliche Situation gebracht zu haben, oder auch die Schuldgefühle Saras Mutter gegenüber, welche in ihr_ihm nur die Freundin ihrer Tochter sah und nicht ihre_n Liebhaber_in. Und welche Rolle spielte sie_er 141 Foucault, Michel (1998), S. 12. Vgl. Barbin, Herculine: Meine Erinnerungen In: Barbin, Herculine/Foucault, Michel: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Hrsg. v. Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Frankfurt/Main: 1998. S. 43. 142 34 selbst: „War ich schuldig oder ein Verbrecher, weil ein grober Irrtum mir in der Welt einen Platz zugewiesen hatte, der nicht meiner hätte sein dürfen?“ 143 Die innige Freundschaft zwischen ihnen und die öffentlichen Bekundungen ihrer Liebe – durch Liebkosungen vor allem von Seiten Alexinas_Abels - wurden anfangs von der Gesellschaft bewundert, dann als übertrieben angesehen bis hin zu verdächtig kritisiert. Ihr_Sein Gesundheitszustand und auch ein „gewisses Ausbleiben“ mit achtzehn, welches nicht mehr natürlich nachzuvollziehen war, beunruhigte ihr_sein Umfeld. 144 Eines Tages wurde aufgrund heftiger Bauchschmerzen ein Arzt an Alexinas_Abels Bett gerufen, welcher sie_ihn untersuchte und dabei Ungereimtheiten bei ihrem_seinem Geschlecht feststellte. Der Arzt informierte auch die Leiterin über den gesundheitlichen Zustand, welche ihm darauf weitere Untersuchungen untersagte. Alexina_Abel wurde ab diesen Tag noch mehr von Schuldgefühlen und moralischen Bedenken beplagt. Begeht sie_er jetzt wissentlich eine Straftat, wenn sie_er dem Leben wie gewohnt nachging? Alexina_Abel suchte seelische Unterstützung bei einem Bischof und beichtete ihm die ganze Geschichte. Sie_er wurde von ihm an einen bekannten Arzt verwiesen, welcher die ganze Tragweite der ihm anvertrauten Aufgabe erkannte - er untersuchte sie_ihn sehr gründlich, denn es durfte kein Zweifel gegenüber dem Gesetz entstehen, welches ihn als Zeugen anrufen würde. Er verlangte von Alexina_Abel ihn nicht nur als Arzt zu sehen, sondern auch als Beichtvater. „Ich muß [sic!] alles sehen, also muß [sic!] ich auch alle wissen“ 145 Aufgrund des ärztlichen Attests wurde Alexinas_Abels Geschlechtszuweisung als Irrtum angesehen, welcher bereinigt werden musste. Nach der Diagnose entgegnete der Arzt Alexinas_Abels Mutter, welche ziemlich bestürzt war, dass sie zwar ihre Tochter verloren hat, aber dafür unerwartet einen Sohn bekommen hat. Ihre_Seine Stellung als Lehrer_in im Pensionat war dadurch verloren und somit auch ihr_sein gewohntes Leben mit Sara. Die letzten Tage vereint mit ihrer_seiner Geliebten beschrieb Alexina_Abel als die schönsten Tage ihres_seines Lebens, denen nur Verlassenheit und einsame Kälte folgten. 146 Das Standesamt änderte ihren_seinen Personenstand und Namen und forderte nun Alexina_Abel auf zu jener Hälfte der Menschen zu gehörten, welche das „starke Geschlecht“ genannt wird. In der kleinen Stadt kursierten bald die unglaublichsten Geschichten und so beschloss sie_er, in der anonymen Großstadt Paris einen Neustart zu wagen. Die Suche nach einer Anstellung gestaltete sich schwieriger als angenommen und die Großstadt wurde ein feindlicher gefühlskalter Ort, fernab von Freunden und Familie. 143 Barbin (1998), S. 69. Vgl. Barbin (1998), S. 56. 145 Barbin (1998), S. 91. 146 Vgl. Barbin (1998), S. 100. 144 35 Alexina_Abel verübte acht Jahre nach ihrer_seiner Personenstandsänderung vereinsamt und verarmt Selbstmord. Ihre_Seine Memoiren, welche kurz vor dem Suizid verfasst wurden, zeichnen das gefühlsvolle Leben - die schönen Mädchenjahre und den harten Bruch zum jungen Mann – von Alexina_Abel nach. Sie_er hatte nach ihrer_seiner Aussage die „wahre“ Religion gelebt – Aufopferung und Entsagung bestimmten ihr_sein Leben. 147 Diese Äußerung spiegelt unter anderen die religiösen Normen und Werten wider, die einen starken Einfluss auf ihr_sein Leben hatten und die den Zwiespalt in ihr_ihm nur verstärkten bzw. vielleicht sogar hervorriefen. Alexinas_Abels Lebens- und Fallgeschichte übte viel Faszination aus – dies spiegelt sich auch in den medizinischen und literarischen Publikationen wider, welche ihr_sein Leben als Vorbild nahmen. Die französische Unterhaltungsliteratur des Fin-de-Siècle ließ sich narrativ wie inhaltlich von medizinischen Sensationen und von der Wechselbeziehung von Lebens- und Fallgeschichte inspirieren. Ein „männlicher“ Hermaphrodit, welcher unbemerkt in einem weiblichen Milieu lebt und die späte Enthüllung seines „wahren“ Geschlechts machen Skandal sowie Ironie des späten Zwitterromans aus. 148 Der Fall Barbin dekonstruiert auf einer erkenntnistheoretischen Ebene die biologischen Argumente für eindeutige Körper, da ihr_sein Körper dem Regime der Zweigeschlechtlichkeit widersprach und dennoch gewaltsam in ebendieses eingeordnet wurde. Der Fall Barbin kann als Metapher für die Vergeschlechtlichung der Moderne verstanden werden, darüber hinaus aber auch als archäologisches Artefakt der Medizin als Zuschneidefabrik von Geschlecht. Alexinas_Abels Fall markiert den Beginn der Pathologisierung von Intersexualität. Hermaphroditismus wird in Folge (chirurgisch) zum Verschwinden gebracht, jedoch nicht die Leiden der Menschen, die dieses Verschwinden am eigenen Leib durchleben müssen. Alexina_Abel Barbin zeigt auf, dass der Zwang, eines von zwei Geschlechtern sein zu müssen, den (sozialen) Tod bedeuten kann. 149 147 Vgl. Barbin (1998), S. 21f. Vgl. Runte, Annette: Über die Grenze. Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst. Bielefeld: transcript Verlag, 2006. S. 100. 149 Vgl. Dietze, Gabriele: Schnittpunkte. Gender Studies und Hermaphroditismus. In: Dietze, Gabriele/Hark, Sabine (Hg.): Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2006. S. 64. 148 36 3.2. Vom pathologisierten Hermaphroditen zur Zuschneidepraxis an intersexuellen Körpern Im 19. und 20. Jahrhundert wurden grobe Vereinfachungen in der Medizin – alle Hermaphroditen sind Pseudohermaphroditen - korrigiert, es wurde auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass ein Individuum ein Geschlecht annimmt, welches nicht sein biologisches ist. Die Vorstellung eines „wahren“ Geschlechts blieb jedoch erhalten, uneindeutige bzw. nicht normkonforme Geschlechter werden auch heute noch schnell als Irrung der Natur angesehen. Es wurde bzw. wird nur schwer von dem Verdacht losgelassen, es seien unnütze „Erfindungen“, die beseitigt werden müssen. 150 In den 1950ern ändere sich der medizinische Umgang mit dem Thema Intersexualität einschlägig. Eine einflussreiche Rolle im Bezug auf die Behandlung von intersexuellen Menschen nahm John Money ein. 3.2.2. John Money John Money - Psychologe und Sexologie an der John-Hopkins-Universität - führte 1955 einen Versuch an sechzig Hermaphroditen durch. Er teilte sie in zusammenpassende Paare (matched pairs) ein, welche die gleiche Geschlechtervariation besaßen, aber bei Geburt entweder als Frauen oder Männern deklariert wurden. Die Studie ergab, dass der wichtigste Faktor für die gelungene Geschlechtszugehörigkeit nicht die biologisch vorherrschenden Aspekte waren, sondern die einmal vorgenommene psycho-soziale Zuweisung des Geschlechts (gender assignment). Das sogenannte „Erziehungsgeschlecht“ dominiert über die körperlichen Geschlechtsmerkmale. Die Matched-Pair-Untersuchung bewies eine auffallende Anpassung der beteiligten Hermaphroditen an das zugewiesene Geschlecht und nur wenig psychische Störungen wurden registriert. Dies führte zur Annahme, dass unkorrigierte Intersexualität soziale Stigmatisierung nach sich zieht und die Betroffenen dadurch traumatisiert werden. Umso früher der operative Eingriff stattfand umso positiver wurde die psycho-soziale Entwicklung des Kindes prognostiziert. Money führte den Begriff Gender – welchen er von der Sprachwissenschaft entnahm - für das soziale Geschlecht ein um eine Trennung zur Biologie durchzuführen. Die Konstruktionsthese des sozialen Geschlechts hatte gewaltige Auswirkungen für den medizinischen Umgang mit intersexuellen Menschen. Moneys Forschungsergebnis öffnete die Türe für medizinische Experimente bei (chirurgischen) Korrekturen intersexueller Säuglinge, da bei NichtEingriffen von einer schweren psychischen Störung des Kindes ausgegangen wurde. Den Eltern wurde ein Behandlungskonzept angeboten, welches eine normale psychische 150 Vgl. Foucault (1998), S. 10f. 37 Entwicklung des Kindes versprach, auch wenn die körperlichen Veränderungen weitreichend waren und das zunächst überwiegende Geschlecht ins Gegenteil geänderten wurde - zu Beginn der Intersexualitätskorrekturen wurde meist feminisiert, weil davon ausgegangen wurde, dass es leichter ist ein Vaginaltrakt zu schaffen, als einen Phallus zu konstruieren. Eine psychische Geschlechterneutralität wurde bis zum achtzehnten Lebensmonat vorausgesetzt und stellte die Grundannahme von Moneys Thesen dar: 1. Das Erziehungsgeschlecht dominiert über das „biologische“ Geschlecht, 2. eine frühe Zuweisung des Geschlechts ist notwendig und 3. bei Beibehaltung uneindeutiger Genitalien ist eine Traumatisierung des Kindes unvermeidbar. Diese Annahmen stellen auch die Eckpunkte der im gleichen Jahr (1955) erschienenen Behandlungsrichtlinien für intersexuelle Fälle dar. Für die nächsten vierzig Jahre bildeten sie die Grundlage der medizinischen Praxis intersexuelle Menschen betreffend. 151 3.2.3. Der Fall Bruce/Branda - John/Joan Der Fall Bruce/Branda wurde unter dem Pseudonym John/Joan medial und wissenschaftlich bekannt, es ist die Geschichte von David Reimer. Er kam als ganz „normaler“ XY-Junge zu Welt, trotzdem beeinflusste seine Geschichte den Umgang mit intersexuellen Kindern über Jahrzehnte hinweg. Sein Fall diente als Experiment um Moneys Thesen zu untermauern, diesmal mit einen biologisch „gesunden“ Zwillingspaar. Am 27. April 1966 sollte in einer kanadischen Kinderklinik bei dem eineigenen Zwillingspaar Bruce und Brian Reimer ein chirurgischer Eingriff durchgeführt werden. Die Operation sollte der Korrektur einer Vorhautverengung bei den achtmonatigen Babys dienen. Während der Operation wurde aus ärztlichen und/oder technischen Versagen der Penis von Bruce verbrannt und abgetrennt. Die Eltern waren nach dem Vorfall entsetzt und wussten nicht was sie tun sollten. Ungefähr ein Jahr nach dem verheerenden Eingriff sahen die Eltern John Money im Fernsehen, der über die Behandlung von transsexuellen und intersexuellen Menschen sprach. Er vertrat die Meinung, dass das Geschlecht, mit dem ein Baby geboren wird, keine Rolle spielt, dass ein chirurgisch behandeltes Kind, welches mit dem neu zugewiesen Geschlecht sozialisiert wird, sich ganz normal entwickelt und sich an die neue Geschlechtsidentität anpasst und ein glückliches Leben führen kann. Die Eltern sahen einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft ihres Sohnes und kontaktierten Money, der sie nach Baltimore einlud. Dort wurde Bruce an der John-Hopkins-Universität untersucht und 151 Money riet den Eltern ihn Vgl. Dietze (2006), S. 48-50. 38 als Mädchen zu erziehen, die Geschlechtsumwandlung hätte aber in den ersten zweieinhalb Lebensjahren zu geschehen. Die Eltern willigten ein und die Ärzte entfernten Bruces Hoden und bereiteten die Konstruktion einer Vagina vor. Diese Operation sollte jedoch erst geschehen, wenn Branda – der neue Namen des Kindes – selbst einwilligen konnte. Bruce erwachte nach der Operation als Branda, das Mädchen, es folgten Kontrolluntersuchungen und in regelmäßigen Abständen wurde sie Moneys „Institut für Geschlechtsidentität“ übergeben um die Anpassung zum Mädchensein zu unterstützen. Die Eltern bekamen die strikte Anweisung, ihrem Kind niemals die Wahrheit zu sagen. Im Alter zwischen 9 und 11 wurde ihr klar, dass sie kein Mädchen war, diese Erkenntnis fiel mit dem Verlangen nach „geschlechteruntypischen“ Spielsachen zusammen und sie urinierte gerne im Stehen. Das psychiatrische Team, welches ihre Anpassung überwachte, bot ihr zu dieser Zeit Östrogene an, welche sie ablehnte. Money wollte ihr die Konstruktion einer echten Vagina schmackhaft machen – er zeigte ihr detailgetreue Bilder von Vaginas und gebärenden Frauen –, den Vorschlag lehnte sich ab indem sie schreiend aus dem Zimmer rannte. Er verlangte weiters, dass sie mit ihrem Bruder auf Kommando Übungen machen sollten, die den Geschlechtsverkehr nachstellten, was das Geschwisterpaar verängstigte und verwirrte. 152 Brenda gefiel das Wachstum ihrer Brust nicht und bevorzugte allgemein Aktivitäten, welche als männlich gelten. Diese Beobachtungen Branda betreffend waren Zuschreibungen eines weiteren Ärzteteams, welches eingriff, da sie der Überzeugung waren, dass die Geschlechtsumwandlung ein Fehler war. Der Fall wurde von dem Sexualforscher Milton Diamond erneut begutachtet. Er vertrat die Meinung, dass die Geschlechtsidentität von der hormonellen Grundlage abhängig ist und bekämpfte Moneys Theorie seit Jahren. Das neue Ärzteteam bot Brenda die Änderung des eingeschlagen Weg an, welcher sie einwilligte - mit vierzehn begann sie ein Leben als Junge mit dem Namen David. Er bat um männliche Hormone, ließ seine Brüste entfernen und im Alter von fünfzehn wurde ihm eine Phallus konstruiert. 153 Er lebte seit 1990 mit seiner Frau und seinen drei Adoptivkindern zusammen. 2004 nahm sich David mit 38 Jahren das Leben, zwei Jahr zuvor starb sein Bruder. Warum er Selbstmord beginn ist nicht genau bekannt (in manchen Pressemitteilungen wurde von Geldsorgen berichtet). Zweifellos gab es jedoch eine Frage, die sich ihm immer stellte […]: ob mit seinem Gender ein Überleben möglich sein würde. Es ist nicht klar ob sein Gender das Problem war oder ob es an der „Behandlung“ dauerhaft litt. Die Normen, die darüber befinden, was es heißt, ein achtbares, anerkennenswertes und 152 Vgl. Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 2009. S. 99-101. 153 Butler (2009), S. 101-102 39 erhaltenswertes Menschenleben zu sein, stützten sein Leben jedenfalls nicht in seiner stetigen oder stabilen Weise. Das Leben war für ihn immer eine Wette und Wagnis eine kühne und zerbrechliche Errungenschaft. 154 John Money publizierte bereits ab 1972 wissenschaftliche Stellungnahmen zu diesem Fall, welchen er als Erfolg verbuchte. Er beharrte darauf, dass sich beide Zwillinge normal und glücklich zu ihrem jeweiligen (zugewiesenen) gender entwickelten, unveröffentlichte Aufzeichnung lassen jedoch an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Branda war fast nie glücklich und weigerte sich, „mädchenhafte“ Verhaltensweisen anzunehmen. Der Fall galt in den 1970er als Erfolg, verschwand in den Achtzigern aus Publikationen zum Thema und wurde erst Ende der 1990er unter andern Vorzeichen wieder aufgegriffen. Als der Fall medial diskutiert wurde, geschah dies vor allem, um die Rolle von Moneys Institut zu kritisieren, welches von der gender-Neutralität der frühen Kindheit und der Formbarkeit der Geschlechtsidentität überzeugt waren. Der Fall Bruce/Brenda wird nun von Kritiker_innen verwendet, um die Theorie der Geschlechtsentwicklung neu aufzustellen und zu regeln – und zwar, dass die Geschlechtsidentität an die Anatomie und an ein „deterministisches Biologieverständnis“ geknüpft ist. Diamond nutzte den Fall, um die operative Behandlung bei intersexuellen Menschen zu begründen – er führt aus, dass intersexuelle Kleinkinder in der Regel ein Y-Chromosom haben und dies sei wiederum eine angemessen Grundlage, um Kinder als Jungen zu erziehen. Zu dieser Zeit wurde noch überwiegend zum weiblichen Geschlecht hinoperiert. Der Fall wurde durch BBC und populäre psychologische und medizinische Zeitschriften an die Öffentlichkeit gebracht. John Colapinto, ein ehemaliger Reporter des Rolling Stones Magazins, veröffentlichte 1998 eine preisgekrönte Reportage über den Fall und verfasste anschließend das Buch „Der Junge der als Mädchen aufwuchs“. 155 3.2.4. Behandlungsmethoden ab den 1950ern Moneys Richtlinien zur Behandlung von Intersexuellen wurde in den 1950ern in den USA, Kanada, Europa und anderen weißen, westlichen Kulturen übernommen und setzte zeitgleich mit dem Aufkommen der Kindergynäkologie, pädiatrischen Endokrinologie und der plastischen Chirurgie ein. Ab 1957 wurden an verschiedenen deutschen Kliniken Klitorisreduktionen vorgenommen, Scheiden vergrößert und Neovaginen neu konstruiert. Es wurde nur wenig Rücksicht auf den Erhalt der sexuellen Empfindungsfähigkeit gelegt das Ziel war ein normkonformes Aussehen und die Funktionsfähigkeit für heterosexuellen 154 155 Butler (2009), S. 122. Vgl. Butler (2009), S. 102-105. 40 Geschlechtsverkehr. 156 Diese gravierenden Eingriffe in den intersexuellen Körper wurden schon im Säuglingsalter durchgeführt – sie wurden zurechtgeschnipselt und angepasst. Die Operationen – meist waren mehrere nötig um das gewünschte Resultat zu erhalten – und die darauf folgenden Kontrolluntersuchungen kamen manchen Erfahrungsberichten zufolge sexueller Gewalt und Missbrauch gleich. Die Operationen in dieser Zeit hatten nur selten mit der Verbesserung der Lebensqualität intersexueller Kinder zu tun. Die benötigte Haut zur Konstruktion einer Neovagina wurde dem Kind vom Rücken und Po abgelöst. Aufgrund der großen Rückenverletzung wurde das Kind hängend gelagert, wie das auch bei Brandopfern der Fall ist. Der schmerzhafte Heilungsprozess wurde der „geplanten Frau“ auferlegt, um eine Scheide herzustellen, welche meist keinerlei sexuelle Empfindsamkeit aufwies – zumal während der Operation oft die vergrößerte Klitoris amputiert wurde, da sie nicht zum weiblichen Gesamtbild passte. Damit sich die künstliche Vagina nicht verengte, wurde sie in regelmäßigen Abständen bourgiert. Unter Bourgierung wird ein Prozess verstanden, bei dem Stäbe unterschiedlicher Dicke eingeführt werden um die Vagina zu weiten. Diese schmerzhafte Prozedur – welche fortschrittliche Kinderärzt_innen als überholt bezeichnen und ablehnen - hat viele Generationen intersexueller Menschen traumatisiert. Den Betroffenen und deren Eltern wurde ein Sprechverbot über diese Taten auferlegt. Die Ärzt_innen und Student_innen hingegen tauschten sich über die Ergebnisse und Behandlungen von intersexuellen Fällen aus, publizierten darüber oder verwendeten diese Fälle auch für ihre Doktorarbeit oder Habilitationsschrift. Einige intersexuelle Erwachsene entdeckten sich nach jahrelangem Schweigen und Nichtwissen in diesen medizinischen Fachbüchern wider. In diesen Exemplaren wurden sie als Kinder mit schwarzem Balken über dem Gesicht abgebildet, meist auch mit einer detailgetreuen Großaufnahme der Genitalien. Die Diagnose über ihre Körper erfuhren sie aus dem danebenstehenden Text – Informationen, die ihnen in der Kindheit, Jugend und meist auch im Erwachsenenalter verwehrt wurden. 157 Die Operationen, welche in früher Kindheit durchgeführt wurden, das auferlegte Schweigegebot und die überforderten Eltern, welche meist keine angemessene (psychologische) Unterstützung erhielten, sind Indikatoren, welche das Risiko zur Entwicklung einer posttraumatischen Störung bei Kindern erhöhen. Nicht die individuelle 156 157 Vgl. Fröhling (2003), S. 33. Vgl. Fröhling (2003), S. 21. 41 Eigenart, sondern der gesellschaftliche Umgang damit traumatisierte viele intersexuelle Menschen. 158 Nur wenige, die bei der Geburt als intersexuell eingestuft wurden, entgingen dem Zwang der Angleichung. In den 1990ern traten die ersten intersexuellen Stimmen an die Öffentlichkeit und protestierten gegen die medizinischen Behandlungsmethoden bei intersexuellen Kindern. Erst die Proteste von intersexuellen Menschen, welche in ihrer Kindheit selbst gravierenden Eingriffe an ihren Körper ausgesetzt waren, brachten den medizinischen Diskurs über Intersexualität erneut ins Rollen, schärfte die Wahrnehmung der Ärzt_innen und führte zu Verbesserungen bei der Behandlung von intersexuellen Menschen. Die alten Behandlungsmethoden und Operationen werden heute zunehmende von den Ärzt_innen kritisiert und als überholt angesehen. 159 3.3. Aktueller medizinischer Diskurs Intersexualität ist in der westlichen Kultur pathologisiert und stand bzw. steht oft im Fokus der Medizin. Auch der Begriff „Intersexualität“ stammt aus dem biomedizinischen Kontext und beschreibt phänotypisch – das Erscheinungsbild betreffend - nicht eindeutige Männer und Frauen und auch andere Menschen mit eindeutigem Erscheinungsbild, bei denen jedoch das genetische, das gonadale - die Keimdrüsen betreffend - und das innere und äußere genitale Geschlecht nicht übereinstimmt. Intersexualität wird in der Medizin als Störung, Krankheit und Fehlentwicklung angesehen, welche erkannt, behandelt und die Ursache dafür erforscht werden muss. 160 Die Medizin besitzt das Deutungsmonopol und hat die Definitionsmacht über intersexuelle Körper. Sie ist in kulturelle Wertesysteme und gesellschaftliche Normen eingebunden, stellt aber gleichzeitig deren ausführendes Organ dar. So entsteht die Klassifizierung als Störung des Geschlechtskörpers nur in Bezug auf das gesellschaftlich etablierte Zweigeschlechterordnungssystem, welches abermals keine natürlichen Tatsachen widerspiegelt, sondern selbst eine soziokulturelle Norm verkörpert. 161 Wissenschaftliche Beschreibungen von Körpern und deren Prozesse sind nie objektiv, sondern immer kulturell geprägt und konstruiert. Die Medizin wurde und wird instrumentalisiert, um das gesellschaftliche „Idealbild“ Menschen aufzuzwingen, die aus 158 Vgl. Fröhling (2003), S. 67. Vgl. Fröhling (2003), S. 22. 160 Vgl. Lang (2006), S. 64. 161 Vgl. Lang (2006), S. 65. 159 42 der Norm fallen. Im „biologischen“ Körper werden sozialgesellschaftliche Gedankenkonstrukte in natürliche Fakten verwandelt, wodurch eine Norm erschaffen wird, die eine Verschiedenheit und Andersartigkeit nicht zulässt, unsichtbar macht und/oder ausgrenzt. Als Beispiel hierfür kann die embryonale geschlechtliche Differenzierung dienen, weil soziokulturelle Vorstellungen mit medizinischen Beschreibungen von Körperprozessen verwoben sind. Bis zur fünften Schwangerschaftswoche besitzen Embryos die gleichen Keimdrüsen und inneren Geschlechtsorgane und bis zur neunten Schwangerschaftswoche unterscheidet sich das äußerliche Genital beider Geschlechter nicht. Die geschlechtliche Differenzierung beginnt hingegen schon bei der Befruchtung, wo sich entweder das X- oder Y-Chromosom des Spermiums mit einem X-Chromosom der Eizelle vereint. Dadurch entsteht das chromosomale Geschlecht XY für männlich und XX für weiblich. Für die Entwicklung in die männliche Richtung sind verschiedene Faktoren notwendig, ohne die sich der Embryo in die weibliche Richtung verändert. Durch diese Beobachtung wurde angenommen, dass die männliche Entwicklung eine aktiv und die weibliche eine rein passive ist. Diese Annahme der aktiven männlichen Entwicklung und der passiven weiblichen Entwicklung spiegelt das westliche Verständnis von Männern als aktiv und Frauen als passiv wider. Dieses Modell ist in Teilen überholt – auch die weibliche Entwicklung erfordert Aktivität gewisser Faktoren auf dem X-Chromosom. Trotzdem hält sich das beschriebene Modell im medizinischen Diskurs immer noch. Während der verschiedenen Entwicklungsstufen des Embryos kann es zu Variationen kommen, welche die zweigeschlechtliche Ausdifferenzierung verhindern. In der Biologie werden diese Variationen neutral dargestellt, vom medizinischen Diskurs übernommen bekommen sie jedoch die Bedeutung von Fehlbildungen oder Krankheiten, weil hier die geschlechtliche Entwicklung einer Wertung unterzogen und an Normen gemessen wird. Ein weiteres Beispiel für den kulturellen Einfluss auf medizinische Begriffe sind die Bezeichnungen untervirilisierte bzw. virilisierte Genitalien. Ein „männlicher Pseudohermaphrodit“ hat zu wenig Männliches – ist untervirilisiert. Ein „weiblicher Pseudohermaphrodit“ hat hingegen zu viel Männliches – ist virilisiert. Im medizinischen Diskurs wir immer nur von einem virilisierten oder untervirilisierten Genital gesprochen, aber nie von einem feminisierten oder unterfeminisierten Genital. 162 Außerdem gibt es Schwierigkeiten bei der Größenbeschreibung von Genitalien ohne auf Geschlechtszuweisungen zurückzugreifen, es gibt keinen neutralen geschlechtslosen Begriff, entweder ist eine „Klitoris“ zu groß oder ein „Penis“ zu klein. 163 162 163 Vgl. Lang (2006), S. 69-71. Vgl. Lang (2006), S. 92. 43 Medizinisch setzt sich das „biologische“ Geschlecht aus mehreren Bestandteilen zusammen, und zwar aus: • • dem chromosomalen Geschlecht (Karyotyp XX bzw. XY) • dem hormonellen Geschlecht • • dem gonadalen Geschlecht (die Keimdrüsen betreffend: Eierstöcke bzw. Hoden) dem inneren genitalen Geschlecht (Vagina, Uterus und Eileiter bzw. Prostata und Samenleiter) und dem äußeren genitalen Geschlecht (Klitoris, kleine und große Schamlippen bzw. Penis und Skrotum). Grob können diese Bestandteile des Geschlechtskörpers nach drei disziplinären Anschauungen aufgeteilt werden: nach dem anatomischen, dem endokrinologischen (die Hormone betreffend) und dem genetischen Geschlecht. 164 In den meisten Fällen stimmen alle Bestandteile des Geschlechtskörpers überein – alle Geschlechtsmerkmale weisen in dieselbe Richtung. Bei intersexuellen Körpern zeigen diese Merkmale jedoch nicht in dieselbe Richtung. 165 3.3.5. Häufigsten Formen von Intersexualität Intersexualität stellt einen Überbegriff für verschiedene Variationen von nichtnormativen geschlechtlichen Differenzierungen da und umfasst verschiedenste Diagnosen mit unterschiedlichen Erscheinungsbildern. Die medizinische Diagnose ist auch für viele intersexuelle Menschen sehr wichtig für das Verständnis und die Deutung ihres eigenen Körpers und für die Entwicklung ihrer verkörperlichten Identität. Welche Phänomene zu Intersexualität gezählt werden änderte sich in den letzten Jahren/Jahrzehnten, neue Arten wurden klassifiziert, andere wurden aus dem intersexuellen Kontext genommen. Auch die Verwendung des Begriffs an sich ist nun einem Wandel unterzogen, manche Betroffene fühlen sich durch den medizinischen Begriff „Intersexualität“ stigmatisiert und bevorzugen die Bezeichnung ihrer Diagnose oder die neuen Begrifflichkeiten „Störung der Geschlechtsdifferenzierung“ (engl. Disorders of Sex Development – DSD) oder „Besonderheit der Geschlechtsentwicklung“. Andere wiederum distanzieren sie von medizinischen Begriffen und Krankheitszuschreibung und bezeichnen oder identifizieren sich als Zwitter oder Hermaphrodit. 164 Bei der Geschlechtsbestimmung von intersexuellen Menschen widersprechen sind diese drei Disziplinen in Hinblick auf das „wahre“ Geschlecht. Dies wird näher im nächsten Kapitel Geschlechtszuweisung und anpassung beschrieben. 165 Vgl. Lang (2006), S. 68f. 44 Im Folgenden werden die bekanntesten und häufigsten Intersex-Diagnosen beschrieben. Die unterschiedlichen Arten haben große Auswirkungen auf die Behandlungsmethode von Betroffenen und auch auf deren Identitätsbildung. • AGS – Andrenogenitales Syndrom AGS bei einem XX-Chromosomensatz ist die häufigste Form der Intersexualität, in 60 Prozent der Fälle geht sie mit einem lebensbedrohlichen Salzverlust einher. 95 Prozent der Fälle von AGS werden durch einen Defekt der 21-Hydoxylase in der Nebennierenrinde verursacht. AGS kann bei Menschen mit XY- und XX-Chromosomen auftreten, jedoch nur bei XX-Menschen bedeutet AGS Intersexualität. Von manchen wird sie auch als rein endokrine Stoffwechselerkrankung angesehen. AGS führt zur „Vermännlichung“ des äußeren Genitales – die Klitoris ist leicht bis stark vergrößert. Ohne hormonelle Behandlung setzt die Pubertät bei Betroffenen zwischen 4 und 7 Jahren ein, in der Kindheit wachsen sie sehr hoch, jedoch durch frühzeitiges Aufhören des Knochenwachstums bleiben sie eher klein. AGS mit Aldosteronmangel geht mit einem Salzverlust einher, der zum Schock führt und ohne Behandlung zum Tode führen kann. 166 • Androgenresistenz – AIS (Androgene Insensitivity Syndrome) AIS ist die häufigste Form von Intersexualität mit einem XY-Chromosomensatz und wurde früher bzw. wird manchmal noch immer „testikuläre Feminisierung“ genannt. Durch eine genetische Mutation kann der Androgenrezeptor die Androgene nicht (komplette Androgenresistenz) oder nur teilweise (partielle Androgenresistenz oder ReifensteinSyndrom) binden. Bei der kompletten Variante kommt das Kind mit einem weiblichen äußeren Genital zur Welt und fällt entweder erst durch einen Leistenbruch in der Kindheit, in denen sich Hoden befinden oder durch das Fernbleiben der Menstruation in der Pubertät, da kein Uterus vorhanden ist, auf. Trotz äußerer weiblicher Erscheinung haben die Betroffenen keine Eierstöcke, Eileiter und Gebärmutter und ihre Vagina kann verkürzt sein. Dafür besitzen sie Hoden, welche Testosteron produzieren, dieses wird vom Körper teilweise in Östrogen umgewandelt, welches wiederum für die Knochendichte und für das psychische Wohlergehen wichtig ist. Keine Scham- und Achselbehaarung sind die einzigen äußerlichen Auffälligkeiten bei der kompletten Androgenresistenz. Bei der partiellen Variante/dem Reifenstein-Syndrom reagiert der Körper teilweise auf Androgene. Grad 1 - männlich mit leichter Androgenresistenz / Grad 3 und 4 - intersexuelle Genitalien, schwierige Geschlechtszuordnung / bis Grad 7 - komplette Androgenresistenz. Die 166 Vgl. Lang (2006), S. 89-91. 45 Klitoris/der Phallus kann von Geburt an vergrößert sein, oder erst in der Pubertät zu wachsen anfangen. 167 • Gonadendysgenesien Die reine/komplette Gonadendysgenesie tritt bei einem XY-Chromosomensatz auf, die gemischt/partielle bei einem Chromosomenmosaik – d.h. in verschieden Körperzellen befinden sich unterschiedliche Chromosomensätze - je nach Chromosomensatz lassen sich verschiedene Syndrome beschreiben. Aufgrund einer fehlenden oder mangelhaften Entwicklung der Gonaden kommt es bei der reinen GD zu keiner Ausbildung der männlichen Geschlechtsorgane, bei der gemischten GD zu einer teilweisen Vermännlichung der Genitalien. Das Swyer-Syndrom ist die reine GD, durch das Fehlen bestimmter Hormone werden bei einem XY-Chromosomensatz die Gonaden nicht zu Hoden entwickelt – sie besitzen keine Keimzellen. Dadurch kann auch das Anti-Müllersche Hormon nicht produziert werden, welches die Entwicklung der weiblichen Geschlechtsorgane (Uterus, Eileiter – Eierstöcke hingegen entwickeln sich nur bei XX-Individuen) verhindert. Diese Menschen werden immer dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Das Swyer-Syndrom wird meist erst in der Pubertät entdeckt, da die Menstruation ausbleibt und sich keine sekundären Geschlechtsmerkmale – Brustwachstum und Schambehaarung - entwickeln. Die gemischte/partielle GD ist nach AGS die zweithäufigste Ursache eines intersexuellen Genitals. Bei dieser Form sind in manchen Körperzellen XY-, in anderen XOChromosomen vorhanden. Auf einer Körperseite kann sich ein normal- oder unterentwickelter Hoden im Hodensack oder Bauchraum befinden, auf der anderen Seite eine Stranggonade – eine unausgereifte Keimdrüse. Je nach dem wie funktionsfähig die Hoden sind, entwickeln sich die inneren Strukturen (Uterus, Eileiter, Prostata) und ein mehr oder weniger intersexuelles Genital. Dysgenetische Hoden und Stranggonaden sind wie beim Swyer-Syndrom erhöht tumoranfällig. Die tatsächliche Höhe dieses Risikos ist nicht bekannt, es wir von einem bis zu 30-prozentigen Risiko ausgegangen. Die gemischte GD führt bei einem Drittel der Fälle zu Kleinwuchs und sehr häufig zur Unfruchtbarkeit. 168 167 Vgl. Homepage der Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität. http://www.intersexforschung.de/glossar.html letzter Zugriff 8. Mai 2010. 168 Vgl. Homepage der Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität. http://www.intersexforschung.de/glossar.html letzter Zugriff 8. Mai 2010. 46 • Androgenbiosynthesestörung 5-Alpha-Reduktase- und 17-Beta-HSD-Mangel sind Enzymmangel bei einem XYChromosomensatz, welche eine Störung der Umwandlung „männlicher“ Geschlechtshormone verursachen und dies führt zu einer unzureichenden Vermännlichung des äußeren Genitales. Diese Kinder wachsen meist als Mädchen auf, in der Pubertät findet durch eine erhöhte Testosteronausschüttung eine Vermännlichung statt – männlicher Phänotyp, Klitoriswachstum, Bartwuchs, Stimmbruch, etc. 169 • Hermaphroditismus verus Ein „echter“ Hermaphrodit weist Keimdrüsengewebe beider Geschlechter auf. Es können dabei die Keimdrüsenanlagen getrennt sein, Eierstock auf einer und Hoden auf der anderen Körperseite, oder eine Mischgewebe von beiden Anteilen – Ovotestis - auf jeder Seite. Der Chromosomensatz kann entweder XX oder ein Chromosomenmosaik – hier vor allem eine Kombination aus XX- und XY-Chromosomen (Chimärismus), seltener auch nur XY sein. Hermaphroditismus verus geht fast immer mit uneindeutigen Genitalien einher, welche aber unterschiedlich ausgeprägt sein können. Auch das äußere Erscheinungsbild reicht von fast „weiblich“ über androgyn bis hin zu fast „männlich“. 170 • Klinefelter-Syndrom Diese Form ist eine Chromosomenaberration, bei dem zu dem XY-Chromosomensatz ein zusätzliches X-Chromosom in allen oder allen größeren Körperzellen nachzuweisen ist. Diese Genmutation hat keine erblichen Ursachen sondern entsteht bei der Verschmelzung der elterlichen Keimzellen. Bei einem 47, XXY Karyotyp ist das Genital männlich mit unterentwickelten Hoden, die Pubertät tritt unbehandelt verzögert auf oder bleibt ganz aus, oft kommt es zu übermäßigem Brustwachstum. Ob das Klinefelter-Syndrom eine intersexuelle Variation ist, wird im medizinischen Diskurs heftig diskutiert. Welche Diagnosen zu Intersexualität gezählt werden unterscheidet sich je nach individueller Definition des Begriffs durch Ärzt_innen, Betroffenen, etc. Somit kommen sehr unterschiedliche Zahlen über die Verbreitung von Intersexualität zustande. Die Konstituierung von Intersexualität ist ein fortlaufender Prozess, welcher immer einem Wandel unterworfen ist. 169 Vgl. Interview 1-0-1_intersex mit der Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität. http://www.intersexforschung.de/interview.pdf letzter Zugriff 8. Mai 2010. 170 Vgl. Homepage der Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität. http://www.intersexforschung.de/glossar.html letzter Zugriff 8. Mai 2010. 47 3.3.6. Geschlechtszuweisung und -anpassung Unmittelbar nach der Geburt vollzieht sich die Zuordnung zu einer Geschlechterkategorie. Die Behauptung, es gibt nur zwei Genitalien, welche sich gegenseitig ausschließen und die darauf aufbauenden Geschlechter, erscheint als natürlich. Genitalien, Chromosome und Hormone werden dabei als Geschlechtsmarker für entweder das weibliche oder das männliche Geschlecht angesehen. Obwohl bekannt ist, dass manche Neugeborene uneindeutige Genitalien haben, gibt es im westlichen Geschlechtermodell keine Kategorie für diese Menschen. 171 Die Geburt eines intersexuellen Menschen stellt in der Medizin einen psychosozialen Notfall dar, nicht weil das Leben des Kindes in Gefahr ist (außer bei AGS mit Salzverlust), sondern weil das Geschlecht des Kindes unklar ist, was sich traumatisch auf die Eltern auswirken kann. Die ideale Behandlungsbedingung des aktuellen medizinischpsychologische Diskurses sieht vor, dass nach der Geburt eines intersexuellen Säuglings dieses einem Spezialistenteam aus Mediziner_innen und Psycholog_innen übergeben wird, welche eine möglichst schnelle und exakte Diagnose inklusive einer Prognose der zukünftigen Geschlechtsidentität stellen und gleichzeitig auch die Eltern in ihrem Trauma psychisch begleiten. 172 Je nach Diagnose und Zuweisung des Geschlechts wird eine bestimmte Behandlung angeboten. Die Geschlechtsfestlegung folgt nicht einem festgelegten verbindlichen Schema, sondern erscheint willkürlich – manchmal dominiert der Phänotyp über den Chromosomensatz, ein anderes mal hat das Erscheinungsbild keine Bedeutung für die Einteilung, manchmal hingegen bestimmt die hormonelle Situation den intersexuellen Körpers. Nach dem Phänotyp entscheidet vor allem die Klitoris- bzw. Penisgröße des Kindes über dessen Geschlecht, diese dürfen nicht größer oder kleiner sein als die Norm, wenn sie jedoch aus der Norm fallen sind sie medizinisch gesehen korrekturbedürftig. Die Virilisierung des äußeren Genitals wird in 5 Praderstufen eingeteilt. Das Pradersystem gestellt ein Kontinuum dar, deren Eckpunkte die idealtypischen männlichen und weiblichen Genitale sind. Ein Phallus, der kleiner als einen Zentimeter ist gilt als Klitoris, bei einer Größe über 2,5 Zentimeter ist er ein Penis, liegt er dazwischen besteht die „Notwendigkeit“ das Geschlecht zu „vereindeutigen“. Diese Richtwerte sind willkürliche Maßstäbe, welche auf keiner wissenschaftlichen Grundlage beruhen. 171 172 Vgl. Lang (2006), S. 39. Vgl. Lang (2006), S. 88. 48 Bei den Chromosomen stellen die X und Y Chromosomen die Marker für ein Geschlecht dar – X wird als das weibliche und Y als das männliche Geschlechtschromosom angesehen. Bei der endokrinologischen Bestimmung sind vor allem die vorhanden Keimdrüsen von Bedeutung und welche Hormone im Körper produziert und aufgenommen werden. Es wird angenommen dass Männer und Frauen eine geschlechtsspezifische Zusammensetzung an Hormone haben, obwohl bekannt ist, dass die Menge der Geschlechtshormone in einem Körper und innerhalb einer Geschlechterkategorie variabel ist. Auf der Suche nach dem „wahren“ Geschlecht geraten somit der anatomische, endokrinologische und genetische Körper in einen Wettstreit. Zum Beispiel spielen bei der kompletten Androgenresistenz (CAIS) die XY-Chromosomen, das Vorhandensein von Hoden und die „männlichen“ Hormone, welche aber auf Grund des funktionsunfähigen Rezeptors nicht aufgenommen werden können, keine Rolle bei der Geschlechterwahl. Menschen mit CAIS werden aufgrund des Phänotyps (Körperbau, Brustwachstum in der Pubertät) und der Unmöglichkeit der Behandlung in die männliche Richtung, dem weiblichen Geschlecht zugewiesen. Bei einem Kind mit XY/XO-Gemischter Gonadendysgenesie, welches dem männlichen Geschlecht zugewiesen wird, entscheidet der rudimentäre Penis, ein Hoden, ein gespaltenes Skrotum – der Hodensack - sowie die Existenz von XY-Chromosomen. In diesem Fall haben die körperlichen Merkmale, wie Vagina, Uterus und Eileiter keine Bedeutung. Hingegen bei einer weiblichen Geschlechtszuweisung bei Menschen mit gemischter Gonadendysgenesie und XY/XO – die vor Jahren noch üblich war aber jetzt immer seltener gemacht wird – verhält es sich umgekehrt. Hier zählt das Vorhandensein von Vagina, Uterus und Eileiter als Merkmal des weiblichen Geschlechts, während die vergrößerte Klitoris, die zusammengewachsenen Schamlippen und die XY-Chromosomen keine Rolle spielen. 173 Diese Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Bedeutung von Geschlechtsmarkern für die Geschlechtszuweisung ausfallen kann. Nach der Erkennung des „wahren“ Geschlechts und der Zustimmung der Eltern beginnen meist schon die geschlechtsanpassenden Operationen und Behandlungen, bei welchen meist alle Geschlechtsmarker entfernt werden, welche nicht dem zugewiesenen Geschlecht entsprechen. Die Idee der Abtrennbarkeit von Körperteilen einer Person steht im Kontext des biomedizinischen Körperbildes. Erst die Entpersonalisierung von Genitalien und Gonaden schafft die Rahmenbedingung zur Entfernung dieser als falsch oder funktionslos betrachteten Körperteile – sie sind nicht ein Teil der Person. 174 173 174 Vgl. Lang (2006), S. 106-109. Vgl. Lang (2006), S. 125. 49 Zum Beispiel werden auch oft verkümmerte Keimdrüsen entfern, weil sie eine Krebsrisiko darstellen können – es wird von einem 30%-igen Risiko ausgegangen, obwohl die tatsächliche Höhe der Wahrscheinlichkeit nicht genau bekannt ist. Bei Menschen mit AIS werden meist die „männlichen“ Keimdrüsen entfernt, obwohl der Körper das Testosteron in Östrogen – welches wichtig ist für den Knochenbau und das Wohlbefinden – umwandelt. Die Betroffenen werden durch die Entfernung der Keimdrüsen in einen chronischen Krankheitszustand versetzt, weil sie dadurch auf lebenslange Hormoneinnahme angewiesen sind. 175 Mediziner_innen begreifen ihr Tun meist als Korrektur einer Fehlbildung, der Eingriff soll die Betroffenen vor Traumatisierung durch psychische Probleme und sozialer Diskriminierung schützen. Ärzt_innen sehen sich nicht als Mitgestalter_innen geschlechtskörperlicher Normen, sondern sie sehen die Verantwortung bei den Eltern und der Gesellschaft, welche diese Eingriffe fordern. Das „locker room“-Argument wird von Mediziner_innen oft herangezogen um die mögliche Traumatisierung aufgrund eines uneindeutigen Geschlechts zu veranschaulichen. Intersexuelle Kinder wären nämlich beim Umziehen vor anderen Mädchen und Jungen in einer Sammelumkleidekabine Spott, Hänseleien und Diskriminierung ausgesetzt. Warum sich die Kinder völlig nackt ausziehen und sich zwischen die Beinen schauen sollten, wird nicht näher erläutert. Wäre es nach diesem Argument auch nötig, bei übergewichtigen Kindern - welche oft Hänseleien in der Umkleidekabine ausgesetzt sind – eine zwingende Fettabsaugung durchzuführen? Die psychische Traumatisierung durch uneindeutige Genitalien ist allerdings eine empirisch unbelegte These. Jedoch ist aus medizinischer Sicht der Versuch, intersexuelle Kinder vor einem Außenseiterstatus zu schützen, ein ausreichendes Argument um schwerwiegende Operationen an Kindern durchzuführen. 176 Der Versuch die Betroffenen vor Traumatisierung durch ihr uneindeutiges Geschlecht zu schützen, führt meist schon durch den chirurgischen Eingriff zur Traumatisierung von intersexuellen Menschen. Schwerwiegende Eingriffe in den Körper – durch künstlich zugeführte Hormone oder geschlechtsangleichende Operationen - ohne die Zustimmung der Patient_innen, führen bei den meisten Betroffenen zu einem Gefühl der zerstörten Ganzheit und Entfremdung. Nach nicht gewünschten chirurgischen Anpassungen können einzelne Körperteile von Betroffenen als nicht dazugehörig empfunden werden, sie werden 175 176 Vgl. Lang (2006), S. 175. Vgl. Lang (2006), S. 119. 50 als künstlich hergestellt angesehen. Über den Verlust der körperlichen Integrität wird auch von nicht-intersexuellen Menschen berichtet, welche sich nach der operativen Entfernung von Organen oder Amputationen in ihrer Geschlechtsidentität als Mann und Frau bedroht fühlen. Das passiert vor allem, wenn gesellschaftlich konnotierte Geschlechtsmarker entfernt werden, wie Prostata, Uterus, Eierstöcken, Brüste, etc. Die Entfernung von vergeschlechtlichten Körperteilen führt also auch bei eindeutigen Frauen und Männern zu Verunsicherungen in ihrer Geschlechtsidentität. 177 Kritiker_innen werfen der Medizin vor, dass die Operationen an intersexuellen Kindern rein kosmetische und normierende Engriffe sind und keine notwendigen medizinischen Heilbehandlungen. Im medizinischen Diskurs werden oft kosmetische und echte medizinische Indikationen für chirurgische Eingriffe vermischt. Auf der anderen Seite werden im medizinkritischen und depathologisierenden Diskurs über Intersexualität die gesundheitsgefährdenden Aspekte kaum thematisiert. Dies kann zu einem Widerspruch der Argumente und damit zur Verunsicherung bei Betroffenen und deren Eltern führen. Um dem entgegenzuwirken ist es sinnvoll, echte medizinische Indikationen von kosmetischen zu trennen, in dem die Lebens- oder Gesundheitsgefährdung jenseits der angenommen Traumatisierung durch uneindeutige Genitalien wahrgenommen wird. 178 3.3.7. Intersex vs. Disorder of Sex Development Der medizinische Intersexdiskurs in Nordamerika distanziert sich immer mehr vom Begriff „Intersexualität“, welcher Anfang des 20. Jahrhunderts vom Biologen Richard Goldschmidt geprägt wurde. Er verwendete ihn um ein biologisches Geschlecht zu bezeichnen, welches zwischen männlich und weiblich lag. Im Laufe des 20. Jahrhundert wurde der Begriff gelegentlich von Mediziner_innen übergenommen um sich auf Fälle zu beziehen, welche sie eher Hermaphroditismus oder Pseudohermaphroditismus nannten. Frühe Intersexaktivisten und Fürsprecher bevorzugten den Begriff Intersexualität gegenüber der stigmatisierenden und oft verwirrenden Bezeichnung Hermaphroditismus, obwohl Hermaphrodit von manchen auch als selbstbewusste Identifikation verwendet wurde. 179 Die Ablehnung des Begriffes „Intersexualität“ durch intersexuelle Personen und viele Eltern von Betroffenen führte zu der Einführung eines neuen Überbegriffs für uneindeutige 177 Vgl. Lang (2006), S. 176-180. Vgl. Lang (2006), S. 127. 179 Vgl. Dreger, Alice D./Herndon, April M.: Progress and Politics in the Intersex Rights Movement. Feminist Theory in Action. In: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies. Intersex and After. Edited by Iain Morland, vol. 15, no. 2 (March 2009), S. 208. 178 51 Geschlechtsentwicklung. Auf den Begriff Disorder of Sex Development (DSD) einigte sich 2005 eine Arbeitsgruppe, an welcher Mitglieder vieler wichtiger Interessensgruppen und Selbsthilfegruppen mitwirkten. Die Arbeitsgruppe einigte sich weiters auf ein Patient_innenorientiertes Behandlungsmodel, welches früher nicht von allen befürwortet wurde. Alice Dreger und April Herndon sind sich sicher, dass diese Einigung nur anhand der terminologischen Änderung von Intersexualität zu DSD möglich war und haben deswegen der Änderung zugestimmt. 180 „[T]he shift to this terminology clearly has allowed serious progress toward patient-centered care, in part because it has allowed alliance building across support and advocacy groups, and the clinicians.” 181 Das patient_innenorientierte Behandlungsmodel, welches von der DSD-Arbeitsgruppe ausgearbeitet wurde und die damit vereinbarten medizinischen Richtlinien für die Behandlung von intersexuellen Menschen konzentrieren sich auf das Wohlergehen eines_einer jeden individuellen Patient_in. Zum Beispiel sehen die Richtlinien vor, operative und hormonelle Behandlungen so lange hinauszuschieben, bis der_die Patient_in selbst darüber entscheiden kann. Davor soll nur eingegriffen werden, wenn ohne Behandlung eine Gefahr für die Person entstehen könnte. Weiters sollen die Patient_innen psychologisch betreut werden und ein respektabler, empathischer, ehrlicher Umgang mit ihnen und deren Eltern soll gewährleistet werden. Stigmatisierende Terminologien, wie Pseudohermaphroditismus, sollen vermieden werden, sowie die Verwendung von medizinischen Abbildungen. Das Ziel ist ein offener und ehrlicher Umgang mit den Betroffenen und deren Eltern. 182 Durch die Änderung der medizinischen Bezeichnung von Intersexualität zu DSD soll der Fokus auf die medizinischen Behandlungsmethoden gelegt werden. Dadurch distanziert sich der (medizinische) Diskurs vom Begriff Intersexualität, welche in den letzten Jahren für manche intersexuellen Personen die Bedeutung einer Geschlechtskategorie angenommen hat. DSD bezeichnet eine pathologische Störung, welche keine Möglichkeit zu einer Selbstidentifikation bietet. Die Kritik an der neuen Terminologie sowie die Annahme der Neuerung gehen auf zwei unterschiedliche Anschauungspunkte zurück. Die einen kritisieren die verstärkte Pathologisierung, weil sie Intersexualität als soziales und gesellschaftliches Problem sehen. Die anderen sehen es als rein medizinisches Problem an, welches durch die DSD-Nomenklatur positive Auswirkungen haben könnte, da die 180 Vgl. Dreger/Herndon (2009), S. 211. Dreger/Herndon (2009), S. 212. 182 Vgl. Dreger/Herndon (2009), S. 206. 181 52 Aufmerksamkeit auf angemessene und ethisch vertretbare Behandlungen gerichtet wird weg vom Identitätsaspekt, welcher in der Medizin nichts verloren hat. 183 3.4. Rechtlicher Diskurs Nach Artikel 3 (3) 184 des deutschen Grundgesetztes ist jede Diskriminierung, insbesondere die aufgrund des Geschlechts, verboten. Aber je weiter in die Geschichte zurückgeschaut wird, um so mehr unterscheiden sich Mann und Frau aus rechtlicher Sicht. Frauen unterstanden im germanischen, wie auch im altrömischen Recht der Geschlechtervormundschaft des Ehemannes oder des nächsten männlichen Verwandten. Sie durften bei Rechtsgeschäften und auch bei Rechtsstreitigkeiten vor Gericht keine Zeuginnen sein. Sie konnten keine Bürgschaft übernehmen und waren aus öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Mütter hatten gegenüber den Vaters der Kinder, auch bei unehelichen, keinen Anspruch auf diese. Mädchen wurden schon mit 12 als geschlechtsreif und ehefähig angesehen, Knaben hingegen erst mit 14 Jahren. Das waren nur einige gesetzliche Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Die erwähnten Rechtsnachteile für Frauen sind Geschichte, geblieben ist hingegen das grundlegende Einteilungsprinzip. Auf Grund des Verbots gleichgeschlechtlicher Ehen, der Verpflichtung von Männern zum Bundeswehrdienst und das Vorhandensein einzelner geschlechtsspezifischen Sexualdelikte zeigt, dass die Geschlechtszuweisung männlich/weiblich aus rechtlicher Sicht nicht egal ist. Die geschlechtliche Zuweisung eines Neugeborenen ist elementar für die gesamte Rechtsordnung. Schon bei der Aufnahme ins Geburtenregister muss ein Geschlecht und ein dazupassender – geschlechtsspezifischer - Name angegeben werden. Die Entscheidungsmacht der Geschlechtszuweisung hat die Medizin inne. Das diese Aufgabe nicht immer leicht ist, war Fachleuten aufgrund der Existenz von intersexuellen Menschen schon länger bewusst, was sich aber nur selten durch spezifische Regelungen in den Gesetzen niederschlug. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert ist nur sehr wenig über den rechtlichen Umgang mit Zwittern bekannt. Das römische Recht unterschied bei Testamenterrichtungen als auch bei Erbschaftsfragen zwischen Frauen und Männer. Ulpians 185 erste allgemein Äußerung zur intersexuellen Thematik bezog sich vermutlich auf eine erbrechtliche Frage: „Bei einem Zwitter fragt sich, welchem Geschlecht er 183 Feder, Ellen K.: Imperatives of Normality. From “Intersex” to “Disorders of Sex Development”. In: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies. Intersex and After. Edited by Iain Morland, vol. 15, no. 2 (March 2009), S. 240. 184 „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat oder Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ 185 Domitius Ulpianus – kurz Ulpian - war ein römischer Jurist der um 170 bis 223 n.Chr. lebte. 53 gleichzustellen sei. Ich glaube eher demjenigen, das bei ihm überwiegt.“ 186 Die vom römischen Recht beeinflusste Reichsnotariatsordnung von 1512 erhielt den älteren entsprechenden Zustand aufrecht. Wonach „Frauen oder Hermaphroditen, das seind, die männlich und fräulich Gemächt haben und in dem fräulichen Gemächt fürtreffen“ 187 nicht als Testamentszeugen fungieren durften. Kreittmayrs Bayrischer Codex Maximilianeus Civilis von 1756 enthielt eine schon vorher gültige Lösung: „Hermaphroditen werden dem Geschlecht beygezehlt, welches nach Rath und Meinung deren Verständigen vordringt; falls sich aber die Gleichheit hierin bezeigt, sollen sie selbst eins erwählen und von dem Erwählten sub Poena Falsi nicht abweichen.“ 188 Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 sah für eine_n Neugeborene_n mit uneindeutigen Geschlecht vor: 189 § 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Aeltern, zu welchem Geschlecht sie erzogen werden sollen. § 20. Jedoch steht einem solchen Menschen, nach zurückgelegtem achtzehnten Jahren, die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle. § 21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurtheilt. § 22. sind aber Rechte eines Dritten von dem Geschlechte eines vermeintlichen Zwitters abhängig, so kann ersterer auf Untersuchung durch Sachverständige antragen. § 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet, auch gegen die Wahl des Zwitters und seiner Aeltern. 190 Der § 46. des sächsischen BGB von 1863/65 besagt: „Die Verschiedenheit des Geschlechts begründet in der Regel keine Verschiedenheit der bürgerlichen Rechte. Eine Person, deren Geschlecht zweifelhaft ist, wird dem bei ihr vorherrschenden Geschlechte beigezählt.“ 191 Die oben aufgezählten Regelungen waren die einzigen rechtlichen Bestimmungen im deutschsprachigen Raum intersexuelle Menschen betreffend. Hier lassen sich wesentliche Unterschiede zu dem seit 1900 in Kraft getretenen deutschen Bundesgesetzbuches finden. Aus juristischer Sicht existieren in Deutschland und Österreich die Kategorien Intersexualität, Hermaphrodit, Zwitter oder Menschen mit uneindeutigem Geschlecht nicht. Es gibt keine personenstandsrechtlichen und strafrechtlichen Regelungen und auch keine entsprechende gender-Kategorie für intersexuelle Menschen. Was passiert also zum Beispiel mit einem Hermaphrodit der als Mädchen aufgezogen wurde, aber im Laufe des Erwachsenwerdens feststellt, dass er_sie lieber als Mann leben will, wenn es schon keine offizielle Kategorie für Intersexualität gibt? In Deutschland ist 186 Wacke (1989), S. 879. Wacke (1989), S. 883. 188 Wacke (1989), S. 883. 189 Vgl. Wacke, (1989), S. 861-887. 190 Wacke (1989), S. 887. 191 Wacke (1989), S. 883. 187 54 die einzig existierende Regelung für einen Geschlechterwechsel im Transsexuellen-Gesetz (TSG) verankert, welches 1980 in Kraft getreten ist. Es gibt die kleine Lösung, die lediglich den geschlechtsspezifischen Namen aufgrund von transsexueller Prägung ändert, dafür ist ein Gutachten notwendig, welches bestätigt, dass die Person seit mindestens drei Jahren im „anderen“ Geschlecht lebt und es auch zukünftig machen wird. Für die große Lösung des Geschlechterwandels mit Änderung des Geschlechtseintrags muss die Person zusätzlich fortpflanzungsunfähig sein und sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen haben. Eine spezielle Regelung für intersexuelle Menschen, welche einen Geschlechtswechsel durchführen wollen gibt es nicht. 192 „Zu beantragen wäre somit nicht eine neue Geschlechtszuschreibung, sondern die Korrektur einer ursprünglich „falschen“ Zuschreibung, also eines Irrtums.“ – die einfachste Möglichkeit für unsere fiktive Person, ihr Geschlecht zu „wechseln“, wäre die Aussage eines Arztes_einer Ärztin vor dem Gericht, die ursprüngliche Geschlechterzuschreibung sei ein Irrtum gewesen. – dann braucht es keine psychologischen Gutachten mehr. Die Medizin allein entscheidet hier. 3.4.8. Aktuelles Zivil- und Strafrecht Zur intersexuellen Thematik treten drei rechtliche Hauptprobleme in drei verschiedenen Rechtsbereichen auf – im Arztrecht, im Recht der elterlichen Sorge und im Personenstandsregister. • Arztrecht Ärztliche Heileingriffe sind nur dann anzuwenden, wenn der Eingriff auf Heilung gerichtet ist. Da die Heilung eine Diagnose voraussetzt, ist zu klären, ob eine fehlende Eindeutigkeit des Geschlechts als Krankheit an sich zu bewerten ist oder ob von drei oder mehreren Geschlechtern ausgegangen werden muss. Im letzteren Fall wäre nicht mehr von einer Krankheit auszugehen, sondern von einem falschen sozialen Umgang mit geschlechtlicher Mehrdeutigkeit und somit ist durch die nicht existierende Krankheit der Person auch keine Heilung möglich. Ein Argument für eine frühzeitige Geschlechtsanpassung kommt aus der Psychiatrie, die annimmt, dass eine eindeutige Geschlechtszuweisung für eine gesunde Identitätsentwicklung maßgeblich ist. Belege für diese Theorie existieren jedoch nicht. Empirische Daten zum Langzeitverlauf früherer chirurgischer Anpassungen zeigen eher ein anderes Bild, nämlich dass die frühe chirurgische Intervention keinen positiven 192 Vgl. Lang (2006), S. 130f. 55 Einfluss auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität und der Sozialisation hat. Auch lässt sich nicht nachweisen, ob intersexuelle Kinder eine geglückte Identitätsentwicklung durchleben könnten, wenn sie aufgrund ihres Andersseins nicht diskriminiert würden, wenn das gesellschaftliche Tabu gebrochen wäre und öffentliche Vorbilder existieren würden. Der oberste Gerichtshof von Kolumbien, hat schon dreimal über die Frage der Zulässigkeit von Geschlechtsoperationen bei Kindern entschieden und ist bisher das einzige Gericht weltweit, welches sich dieser Frage widmete. Ein Totalverbot von operativen Geschlechtsangleichungen bei Säuglingen wurde aber fallengelassen mit der Begründung, dass dies einem staatlich verordneten Sozialexperiment gleichkäme. Ob die aktuellen Behandlungsstandards bei intersexuellen Menschen das bessere Humanexperiment ist, muss allerdings weiter hinterfragt werden. Die Belastung durch die Operationen am Genital und die Kontrolluntersuchungen scheinen die Betroffenen stärker zu traumatisieren als die Normabweichung des äußeren Genitals. Beim operierten äußerlichen Genital ist zum anderen von einem späteren sexuellen Empfindlichkeitsverlust auszugehen. Die Chirurgie sollte nach Funktionsbeeinträchtigung Rothärmel im nur Genitalbereich eingreifen führen wenn oder die Fehlbildungen Gefahr zu weiterer Komplikationen besteht. 193 • Recht der elterlichen Sorge – Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung Bei Fällen, die keinen gesundheitlichen Notfall darstellen, haben allein die Eltern das Entscheidungsrecht über Behandlung oder Nichtbehandlung des Neugeborenen. Rothärmel meint, dass die Wirksamkeit der elterlichen Entscheidung von einer qualifizierten Aufklärung abhängig gemacht werden sollte –das entschied auch der oberste Gerichtshof von Kolumbien. Die Eltern müssen umfassend über die Ursachen der „Störung“, über Therapiealternativen und ggf. über den ungewissen Ausgang einer operativen Korrektur aufgeklärt werden. Zur Therapiealternative gehört auch der Aufschub von Operationen, bis das Kind selbst entscheiden kann, welchem Geschlecht es sich zugehörig fühlt. Ferner sollte den Eltern die Chance gegeben werden, sich durch Gesprächen mit professionellen Therapeut_innen und mit Selbsthilfegruppen sich eine eigene Meinung zu bilden. Es sollte auf jeden Fall soviel Zeit vergehen, dass sich die Eltern mit dem ersten Schock nach Geburt eines geschlechtlich uneindeutigen Kindes auseinandersetzten können. Sie sollten die Möglichkeit haben sich über die Thematik zu informieren und Gelegenheit haben, 193 Vgl. Rothärmel, Sonja: Rechtsfragen der medizinischen Intervention bei Intersexualität. IN: MedR 2006, Heft 5. S. 278f. 56 zunächst ihr Kind so anzunehmen wie es ist. Rechtliche Regelungen für eine ideale Behandlungsmethode bei intersexuellen Neugeborenen gibt es nicht. Das Recht sieht aber den Schutz von Einwilligungsunfähigen vor, wie z.B. die Pflicht einer richterlichen Genehmigung bei lebensgefährdenden Eingriffen - manche weitreichende Eingriffe sind gänzlich verboten. So steht der_dem Nichtentscheidungsmündigen immer ein Vetorecht gegen die Sterilisation zu. An Minderjährigen sind Eingriffe, die gezielt die Fruchtbarkeit aufheben sollen, ausnahmslos verboten. Die Beschneidung von Mädchen ist auch dann verboten, wenn dies zum Ausschluss des Kindes aus der religiösen Gemeinschaft führen kann. Diese Regelungen könnten auch bei der Behandlung von Intersexualität angewendet werden. Hier stellt sich die Frage nach der Grenze von Femdbestimmungsbefugnissen. Nach der deutschen Verfassung in Art. 6 GG wird jedoch der Schutz der Privatsphäre der Familie über den staatlichen Schutz des Kinderwohls gestellt, der Staat greift nur bei groben Sorgerechtsverstößen ein. Durch die enge Verbundenheit der Eltern mit dem Kind sind auch die Interessen der Eltern als mittelbare Interessen des Kindes zu verstehen. 194 • Personenstandsgesetz Das Personenstandsgesetz ist in den letzten Jahren unter heftige Kritik durch viele intersexuelle Menschen geraten. Der Zwang der schnellen und eindeutigen Geschlechterzuordnung kurz nach der Geburt eines Kindes führt bei vielen intersexuellen Kindern zu unnötigen geschlechtsanpassenden Operationen im Säuglingsalter. Binnen einer Woche muss die Geburt des Kindes beim Standesamt gemeldet werden. Die Geburtsstunde, der Namen und das Geschlechts des Kindes sind meldepflichtige Daten. Die Verhängung eines Ordnungsgeldes bei Verstoß liegt im Ermessen des jeweiligen Standesamtes. Also würde auch keine Grund für eine Geldstrafe bestehen, wenn aus medizinischen Gründen die Geschlechtseinteilung in Falle eines intersexuellen Kindes nicht so schnell durchgeführt werden kann. Aus rechtlicher Sicht können Ärzt_innen durch gute Informationspolitik gegenüber dem Standesamt den zeitlichen Druck aufgrund der frühen Meldepflicht reduzieren bzw. aufheben, dieser Vorgang kann den Eltern einen zeitlichen Spielraum geben, damit sie ihr Kind zunächst so annehmen können, wir es geboren wurde und alles Weitere wohl bedacht später entscheiden können. Für zukünftige gesetzliche Regelungen wäre eine Änderung des Personenstandsgesetz zu fordern, welche intersexuellen Menschen das endgültige Entscheidungsrecht mit eintretender Volljährigkeit überlässt und das durch die Eltern zugewiesen Geschlecht nur als ein vorläufiges betrachtet. Intersexuelle Mensche wären dann von der Last befreit, vor 194 Vgl. Rothärmel (2006), S. 279-283. 57 Gericht einen Antrag auf Berichtigung des Geschlechts zu stellen und müssten somit auch nicht den Beweis bringen, dass sie bei der Geburt dem falschen Geschlecht zugewiesen wurden. Weiters wäre die Existenz der grundsätzlichen Geschlechtertrennung im Recht zu hinterfragen. 195 Michel 3.4.9. Der Fall Birgit_Michel Reiter Reiter ist ein deutscher Intersex-Aktivist und Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie, welche gegen operative Geschlechtszuweisung an intersexuellen Säuglingen und Kindern kämpft. Er gehört in Deutschland zu den Ersten, die das Thema Intersexualität an die Öffentlichkeit brachten. 196 Michel Reiter hat vor kurzem versucht das juristische Zweigeschlechtersystem in Deutschland auszuhebeln. Er_Sie hat 2001 am Münchner Amtsgericht einen Antrag gestellt, um sein Geschlecht von weiblich auf intersexuell zu korrigieren. Der Begriff Geschlecht wird vom Recht nicht definiert - es setzt ihn als selbstverständlich voraus. Es gibt im deutschen Personenstandsgesetz keine Vorschrift, die den Eintrag Zwitter oder intersexuell verbieten würde; es findet sich aber auch kein Eintrag der diesen Vorgang für zulässig erklären würde. 197 Das Verfahren wurde zweimal abgelehnt, zuletzt 2002. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Hermaphroditen bzw. Zwitter zweigeschlechtliche Lebewesen sind, welche männliche und weibliche Gonaden besitzen (also im medizinischen Sinne echte Hermaphroditen), dies ist aber bei Michel Reiter nicht der Fall, da er_sie mit AGS diagnostiziert wurde. Die alternative Option – intersexuell als Geschlechtsbezeichnung im Personenstandsregister eintragen zu lassen – kam nicht in Betracht, da Intersexualität vom Gericht nicht als eigenes Geschlecht angesehen wurde, sondern als Sammelbegriff für eine Reihe von Störungen der sexuellen Differenzierung. Somit übernahm das Gericht die medizinische Bezeichnung von intersexuell als Fehlentwicklung, Krankheit oder Störung und nicht als eigene Geschlechtsbestimmung. Die Einführung eines 5-Geschlechter-Modell a là Anne Fausto-Sterling oder die Forderung nach einem dritten Geschlecht wurde abgelehnt, weil dies nach Meinung des Gerichts eine Minderheitenmeinung darstelle. Die Errichtung eines dritten Geschlechts würde weiters zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten und Rechtsunsicherheiten führen, da die Zugehörigkeit völlig unklar sei, so das Urteil. „Wehrpflicht und Ehe sind […] nur zwei der 195 Vgl. Rothärmel (2006), S. 284. Vgl. Fröhling (2003), S. 47. 197 Vgl. Holzleithner, Elisabeth: Variation als Abweichung. Zur medizinischen und juristischen Herstellung des Geschlechts von Intersexuellen. http://homepage.univie.ac.at/elisabeth.holzleithner/HolzleithnerVariation.pdf letzter Zugriff 3. Mai 2010. 196 58 wesentlichen Institute, die ein Zuordnung des Menschen zu einem der beiden Geschlechter voraussetzen.“ 198 Intersexualität werde weiters von dem_der Antragssteller_in unberechtigterweise von einer medizinischen zu einer Identitäts- bzw. gender-Kategorie umgedeutet. Mit dieser Äußerung wurde das Anliegen vom zuständigen Gericht entpolitisiert und damit aufs Individuum verlegt. 199 3.5. Geschlechtsidentität: Intersexualität? Viele intersexuelle Menschen betonen das Recht auf Selbstinterpretation des körperlichen Selbst. Wer Intersexuelle, Hermaphroditen, Zwitter, etc. sind, bleibt eine Selbstdefinition – jede_r kann sich so begreifen und bezeichnen, wie sie_er will. Jedoch ist die medizinische Diagnose des intersexuellen Körpers für intersexuelle Menschen die Voraussetzung um zu dieser Kategorie zu gehören. Viele intersexuelle Menschen gehen von einem inneren geschlechtlichen Selbst als autonomen Kern von Identität aus, der völlig unabhängig von sozialisatorischen Einflüssen existiert. Sie begründen ihre Identität mit ihrem „natürlichen“ Körper. Somit werden äußere gesellschaftliche Kräfte und Zwänge diesem inneren Selbst gegenübergestellt. Aber kann wirklich von einem unberührten inneren Identitätskern ausgegangen werden? Körper werden immer nur in ihren gesellschaftlichen Interpretationen wahrgenommen, genauso wie sich Identitäten innerhalb kulturell verstehbaren Kategorien entwickeln. Intersexualität wird durch verschiedene Diskurse, die darüber geführt werden, erst hergestellt. Diese Diskurse wiederum ermöglichen intersexuellen Menschen, ihren Körper und die darauf aufbauende Identität wahrzunehmen und auszudrücken – immer wenn sich Mitglieder einer Gesellschaft ausdrücken, sind Diskurse daran beteiligt. Widerstand und auch Neuinterpretationen von Körpern spielen sich daher immer vor einem gesellschaftlich diskursiven Hintergrund ab und nehmen Bezug auf etablierte Gesellschaftsnormen. Um kulturell intelligibel 200 zu sein, müssen daher bestimmte kulturelle Grundannahmen teilweise übernommen werden. 201 Die Signifikanz des Geschlechtskörpers in der westlichen Gesellschaft, durch welchen die Menschen in zwei Geschlechter eingeteilt werden, spielt auch bei der Suche der Identität bei intersexuellen Menschen eine wichtige Rolle. Der ursprüngliche natürliche Körper – das „wahre“ Geschlecht - wird zum Fundament des individuellen Selbst. Durch den 198 Amtsgericht München, 722 UR III 302/00 zitiert nach Holzleithner, Elisabeth. http://homepage.univie.ac.at/elisabeth.holzleithner/HolzleithnerVariation.pdf 199 Vgl. Lang (2006), S. 134f. 200 nachzulesen im Kapitel 3.6.2 Kulturelle Intelligibilität 201 Vgl. Lang (2006), S. 58-60. 59 operativen Eingriff in ihren Körper fühlen sich viele intersexuelle Menschen nicht mehr als ganz, es kann dadurch eine Gefühl der zerstörten körperlichen Unversehrtheit entstehen, welcher von vielen als nie wieder rückgängig zu machender Verlust erlebt wird. „Angepasste“ intersexuelle Menschen beschäftigt auch die Frage, was aus ihnen ohne Operationen geworden wäre. Manche fühlen sich der Möglichkeit beraubt, mittels des eigenen Körper das eigene Selbst zu erkennen. Die Eingriffe werden von ihnen nicht als Korrektur angesehen, sondern als Umbau und Zerstörung des eigenen Körpers. Der medizinisch korrigierte Körper wird als unnatürlich und künstlich hergestellt erlebt. Der nicht mehr vorhandene ursprüngliche Körper wird von vielen als Begründung des eigentlichen Wesens und der gegenwärtigen Identität betrachtet. 202 Eine zentrale Rolle im Leben vieler intersexueller Menschen stellt die Erreichung einer positiven Selbstdefinition dar. Das Internet bietet eine effektive Plattform zur Verbreitung von nicht-hegemonialen, subkulturellen Orientierungsmustern jenseits der Medizin, welche ihre Körper meist als mangelhaft oder fehlerhaft einordnet. Das virtuelle Netz bietet auch den geeigneten Raum um mit Geschlechtsidentitäten und sexuellen Identitäten frei zu spielen, daraus können sich auch neue Identitätskategorien und kollektive Identitäten für Minderheiten herausbilden, denn die Identitätskategorien, in die sich intersexuelle Menschen einzuordnen versuchen, sind fließend und nicht sehr stabil. 203 Die Auslegung von Intersexualität als Störung und Krankheit gerät immer mehr in den Hintergrund, wahrscheinlich auch dadurch beeinflusst, dass die Medizin immer mehr die diagnostischen Begriffe der verschieden Arten verwenden und Abstand vom Intersexualitätsbegriff nimmt. Als Identitätskategorie oder sogar Geschlechtskategorie wird der Begriff Intersexualität hingegen immer bedeutender. Es wurde/wird eine Resignifizierung des Wortes durchgeführt, der frühere rein medizinische Begriff wird nun von einigen intersexuellen Menschen übernommen, jedoch ohne der pathologisierenden Bedeutung. Dadurch wird Intersexualität eine positive Identitätskategorie, welche die zwischengeschlechtlichen körperlichen Gegebenheiten nicht mehr als Mangel auffasst, sondern als Besonderheit oder als ganz normal. Viele intersexuelle Menschen finden den Begriff intersexuell – im wörtlichen Sinn zwischen den Geschlechtern - durchaus passend, da er ihr körperliches „Dazwischensein“ und/oder ihr Selbstempfindungen widerspiegelt. Sie sind der 202 203 Vgl. Lang (2006), S. 168-173. Vgl. Lang (2006), S. 145. 60 Auffassung, dass Geschlecht nicht bipolar ist sondern als Kontinuum besteht und sie befinden sich zwischen Mann und Frau. Die Eckpfeiler sind sehr weibliche und sehr männliche Individuen und dazwischen ergibt sie ein Zwischenraum, der Platz für viele verschiedene Variationen zulässt. Die positive Selbstdefinition als intersexuell für eine Geschlechtsbezeichnung kann als ersten Schritt in Richtung gesellschaftliche Etablierung gesehen werden. Der intersexuelle Identitätsdiskurs ist jedoch weiterhin von der Definitionsmacht der Medizin geprägt, er ist bei der Einordnung der Körper als intersexuell vom medizinischen Diskurs abhängig, von dem er sich vehement distanzieren will. Ohne die medizinische Kategorisierung bestimmter Körper als intersexuell gäbe es keine Deutung des eigenen Körpers als zwischen den Geschlechtern und des eigenen intersexuellen Selbst. 204 Für andere intersexuelle Menschen stellt Intersexualität nur eine Körperbeschreibung oder medizinische Diagnose dar und hat nichts mit Identität zutun. Selbsthilfegruppen liefern machtvolle Ressourcen für Betroffen von Intersexualität, deren Eltern und nahe stehenden Personen. Sie helfen beim Aufbau einer positiven Identität und eines emanzipierten Umgangs mit einer bestimmten körperlichen Gegebenheit. Für manche ist es ein wichtiger Ort um Erfahrungen und Information auszutauschen, für andere ist es ein Ort politischer Auseinandersetzung mit dem Ziel normative Grenzen ins Wanken zu bringen. In den meisten Fällen spielen sie eine wichtige Rolle bei der Identitätsfindung und Selbstakzeptanz von Betroffenen. 3.5.10. XY-Frau Die „XY-Frau“ ist eine Identitätskategorie im deutschsprachigen Raum, welche in enger Verbindung mit der Selbsthilfegruppe für XY-Frauen steht, welche 1997 gegründet wurde. Die Geschlechtsidentität als XY-Frauen stellt die biomedizinische Geschlechtskonzeption in Frage, nachdem ein XY-Chromosomensatz und Hoden Bestimmungsmarker für Männlichkeit sind. Aus medizinischer Sicht sind sie aufgrund ihres chromosomalen „Kerngeschlechts“ Männer mit einer geschlechtlichen Differenzierungsstörung (z.B. komplette oder partielle Androgenresistenz, Gonadendysgenesie oder Androgenbiosynthesestörungen). Die meisten XY-Frauen haben einen weiblichen Phänotyp und eine weibliche Geschlechtsidentität. Die Konnotation von Hoden mit Männlichkeit kann XY-Frauen in ihrer Weiblichkeit verunsichern. Manche XY-Frauen bezweifeln, ob überhaupt von Hoden gesprochen werden kann, wenn diese sich nicht im 204 Vgl. Lang (2006), S. 153-155. 61 Skrotum befinden und keine Spermien produzieren können. Das gleiche gilt für die XYChromosomen als männliche Geschlechtschromosomen. Können sie überhaupt als Geschlechtschromosomen bezeichnet werden, wenn auf ihnen auch andere, geschlechtsunspezifische Informationen zu finden sind? Es gibt bekanntlich auch andere Gene, in denen geschlechtsspezifische Informationen angesiedelt sind und nicht als Geschlechtschromosomen bezeichnet werden. 205 Der grundlegende körperliche Unterschied zwischen XY-Frauen ist, dass bei unbehandelter partieller Androgenresistenz (PAIS), 5-Alpha-Reduktasemangel, 17 beta HSD u.a. die körperliche Zwischengeschlechtlichkeit äußerlich sichtbar ist, während bei der kompletten Androgenresistenz (CAIS) die Intersexualität in inneren Merkmalen verborgen bleibt. Dies führt unter CAIS-Betroffenen zu einer vergleichsweise flacheren und nicht so tief greifenden Diskussion in Bezug auf die Geschlechterthematik, im Gegensatz zu PAIS-Betroffenen, welche das Grundverständnis von Zweigeschlechtlichkeit durch ihr uneindeutiges äußerliches Geschlecht erschüttern. Viele Menschen mit PAIS und anderen Formen mit äußerlich wahrnehmbarer Zwischengeschlechtlichkeit sehen sich schneller mit der Thematik Hermaphrodit, Zwitter und „halber Mann“ konfrontiert. Ein weiterer großer Unterschied bei XY-Frauen besteht bei der Beurteilung von chirurgischen Eingriffen. Von den meisten CAIS-Frauen (aber nicht von allen) wird die Gonadektomie – Entfernung der Keimdrüsen - nicht als Zerstörung ihres eigentlichen Körpers gesehen, jedoch wird vermehrt die positive Auswirkung der Hoden durch die Umwandlung von Testosteron in Östrogen und die unnötige Entfernung derer diskutiert, weil die Gonadektomie Menschen an eine lebenslange Hormonersatztherapie bindet. Dagegen fühlen sich viele Betroffene mit PAIS, 17 beta HSD, 5-Alpha-Reduktasemangel u.a. durch die Entfernung der Gonaden körperlich manipuliert und der Möglichkeit beraubt, sich so zu entwickeln, wie sie eigentlich geworden wären. Alle XY-Frauen lehnen aber einen rein kosmetischen Eingriff ohne gesundheitsbedrohliche Indikation ab, wenn dieser Eingriff ohne Selbstbestimmung durchgeführt wird. Es geht nicht darum, solche Operationen zu verbieten, sondern um das Recht selbst entscheiden zu können. 206 Einige von der Medizin definierte XY-Frauen mit kompletter Androgenresistenz (CAIS) begreifen sich im Gegensatz zu nicht intersexuellen XX-Frauen als weiblichere Frauen und begründen dies mit der Tatsache, dass ihr Körper frei von „männlichen“ Hormonen ist, 205 206 Vgl. Lang (2006), S. 156-159. Vgl. Lang (2006), S. 272-275. 62 welche Auswirkungen auf die Psyche und das Verhalten haben. Sie sehen sich als „SuperFrauen“ frei von männlichen Substanzen. Für sie sind eher XX-Frauen als intersexuell anzusehen, da auf sie „weibliche“ und „männliche“ Hormone wirken. Mit ihrer Argumentation greifen sie endokrinologisches Wissen auf und versehen es mit neuer Bedeutung, sie betrachten dieses Wissen aus anderem Blickwinkel. 207 3.5.11. Frauen mit Stoffwechselstörung (AGS) Viele Menschen mit XX-Chromosomen und AGS identifizieren sich eindeutig als Frauen mit einer Stoffwechselkrankheit und distanzieren sich von einer intersexuellen Identitätskategorie. Diese Ansicht spiegelt die 1993 von Mediziner_innen initiierte Selbsthilfegruppe für Patient_innen mit AGS und deren Eltern wieder. Die Betroffenen haben eine lebensbedrohliche Stoffwechselkrankheit, welche sie als rein endokrinologisch verstehen, ohne Bezug auf ihr Geschlecht. Die Nebennierenüberfunktion bewirkt ein vermeintlich intersexuelles äußeres Genital. Das innere Genitale (Gonaden, Uterus) und die Möglichkeit durch richtige hormonelle Einstellung ein Kind auszutragen zeichnen sie jedoch als eindeutige Frauen aus. AGS als reine Stoffwechselerkrankung fordert somit das Zweigeschlechtersystem nicht heraus und wird nicht im Zusammenhang mit der Geschlechterfrage diskutiert – das Thema Intersexualität wird außen vor gelassen. Da setzen Kritiker_innen an, welche darin ein Indiz zur Fortführung des Tabus Intersexualität sehen. Die Eltern- und Patient_inneninitiative fordert hingegen eine Enttabuisierung von der Krankheit AGS. Die Selbsteinordnung von AGS als Krankheit ist einerseits das Resultat der gesundheitlichen Probleme die mit AGS in Verbindung stehen können - wie Kortisolmangel oder Salzverlust - und wird andererseits von der Entstehungsgeschichte der Gruppe aus dem medizinischen Kontext begründet. Die Gruppe stellt die chirurgischen Korrekturen des rein äußerlich vermännlichten Genitales nicht in Frage, setzt sich aber für eine psychologische Betreuung ein, ist gegen Bougierung und für die Einhaltung von neuesten medizinischen Standards bei den Operationen. Diese Gruppe grenzt sich vehement von allen anderen Gruppen ab, welche die gesellschaftliche Akzeptanz von Intersexualität oder Hermaphroditismus als Geschlechterkategorie fordern, oder sich für ein drittes Geschlecht einsetzen. 208 Andere Betroffene von AGS sehen sich sehr wohl als intersexuelle Menschen, ein bekanntes Beispiel ist Michel Reiter, nach seiner Geburt wurde er mit AGS mit Salzverlust diagnostiziert. 207 208 Vgl. Lang (2006), S. 160. Vgl. Lang (2006), S. 161. 63 3.5.12. Intersexaktivist_innen Die Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG) distanziert sich sehr stark von der Medizin und deren Standardbehandlungen bei intersexuellen Menschen. Die AGGPG ist eine non-profit-Initiative welche sich im Anschluss an eine Diskussionsrunde zur genitalen Verstümmelung in afrikanischen Ländern gründete. Michel Reiter und Heike Bödeker sind die Gründer_innen dieser Gruppe, sie wurden als Kinder selbst dem medizinischen Normierungsapparat unterworfen, mit dem Ziel ihnen ein eindeutiges Geschlecht zuzuweisen, welches sie jedoch als Erwachsene ablehnten. Die AGGPG setzt sich für einen Stopp von geschlechtsnormierenden chirurgischen Eingriffen an intersexuellen Kindern ein. Diese Gruppe thematisiert vor allem die medizinische Gewalt an intersexuellen Kindern sowie die gesellschaftliche Nicht-Existenz von Hermaphroditen und kurbelt somit die Debatte um Intersexualität als Drittes Geschlecht an. Sie kritisiert die medizinische Pathologisierung von Intersexualität als Machtinstrument und lehnt deshalb jegliche Zusammenarbeit mit medizinischen Institutionen ab, welche sie als Quell allen Übels identifiziert. Die Mediziner_innen werden nicht nur als Vollstrecker_innen der kulturellen geschlechtlichen Körpernormen begriffen, sondern auch als deren Profiteur_innen – die deutsche Krankenkassa zahlt bis zu 800.000 Euro pro Geschlechtsanpassung bei intersexuellen Kindern. Obwohl Intersexualität von dieser Gruppe nicht nach diagnostischen Formen unterteilt wird, weil das die Übernahme von Krankheitskategorien bedeuten würde, ist die Grundlage ihrer Selbstbezeichnung als intersexuell oder hermaphroditisch ihrer Ansicht nach nur Menschen vorbehalten, welche auch im medizinischen Sinne intersexuelle Menschen sind. Die AGGPG wirft der AGS Eltern- und Patienteninitiative e.V. vor, Teil des machtvollen medizinischen Diskurses zu sein, da sie AGS als reine Krankheit ansehen und sich als Frauen identifizieren, welche an einer Stoffwechselstörung leiden. Den XYFrauen werfen sie fehlende Radikalität bei der Kritisierung der Medizin vor. 209 Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) tritt im medizinischen Diskurs nicht in Erscheinung, erstens weil ihre Ziele fernab vom medizinischen Diskurs liegen und zweitens weil sie eine Koalition von intersexuellen und nicht-intersexuellen Menschen darstellt und so für die Medizin weder als Selbsthilfegruppe noch als Aktivistengruppe für intersexuelle Menschen gilt. Die dgti begreift Intersexualität im 209 Diskurszusammenhang mit der Transgender-Bewegung. Vgl. Lang (2006), S. 269f. 64 Ihr Ziel ist, der Stigmatisierung dieser Personen mit sozialer Akzeptanz entgegenzutreten. Sie thematisieren vor allem die Vielfältigkeit von geschlechtlicher Identität, welche durch die existierende Zweigeschlechternorm beschnitten wird. Dgti vereint die Interessen von intersexuellen Menschen mit denen von Transgendern, die sich weder als Männer noch als Frauen bezeichnen und sich gegen die zweigeschlechtliche Normierung von Geschlechtskörpern und Geschlechtsidentitäten wehren. Sie plädieren für das Recht, eine Identität jenseits gesellschaftlicher Zwänge entwickeln zu können. 210 In der politischen Intersex-Bewegung wird über die Möglichkeit einer zukünftigen Koalition mit andern Bewegungen (Homosexuellen-Bewegung, Trans-Bewegung, etc.) diskutiert. Zwei gegenläufige Hauptargumente lassen sich darin herauslesen: Das Argument für eine Koalition ist, dass der Zusammenschluss eine Mobilisierung von Kräften bedeuten würde, dadurch wären sie politisch schlagkräftiger. Das Gegenargument ist, dass die Intersex-Bewegung an spezifischen körperlichen Grundlagen und damit auch an der Abgrenzung von anderen beharren sollte, um das Wesentliche für Intersexualität nicht aus dem Fokus zu verlieren. 211 Allgemein unterscheiden sich die oben genannten Gruppen untereinander hinsichtlich ihres Verständnisses der intersexuellen Thematik. Je nach spezifischer Deutung des intersexuellen Körpers innerhalb der Gruppen stellt Intersexualität eine Krankheit, eine Gesellschaftskategorie, eine körperliche Besonderheit oder einen Teil der queeren Körperthematik dar. Deshalb unterscheiden sich die Gruppen auch hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Ziele und in ihrem Verständnis von gesellschaftlicher Akzeptanz von Intersexualität. 212 3.6. Intersex und Gender Studies Intersexualität ist in Bezug zu Gender Studies ein interessantes Forschungsfeld. Schon die Grundthese der Geschlechterforschung – soziales Geschlecht ist konstruiert– und die daraus entwickelte Kategorie gender ist eng verknüpft mit der Intersexualitätsthematik. Gayle Rubin unterschied 1975 das sex/gender-System und schaffte damit die Basis der Kategorie gender, welche die gegenüber dem körperlichen Geschlecht (sex) veränderbar ist. Das Wort gender in der heutigen Bedeutung – als soziales Geschlecht – wurde zum ersten Mal vom Psychologen Robert Stoller in seinem Buch Sex and Gender (1968) benutzt, 210 Vgl. Lang (2006), S. 270-272. Vgl. Lang (2006), S. 290. 212 Vgl. Lang (2006), S. 291. 211 65 welcher sich dabei auf die Idee des Soziologen Harold Garfinkel (1967) stützte. Garfinkel und Stoller waren Mitglieder eines Ärzteteams, welches sich mit dem Fallmanagement von Intersexualität beschäftigte. Sie griffen dafür auf Thesen des umstrittenen Sexualwissenschaftlers John Money zurück. Aus genealogischer Sicht ist die genderKategorie im Behandlungsdiskurs von Intersexualität verwurzelt. Erst die Problematisierung und Politisierung von Behandlungspraxen an intersexuellen Menschen (in den 1990ern) hat zu einer Reflexion der Herkunft der gender-Kategorie geführt. 213 Seit Beginn der 1990er wird das körperliche Geschlecht (sex) - in Anschluss an Bulter - als Produkt eines normierenden Diskurses über gender gedeutet. Die Oberflächen von Körpern werden diskursiv markiert und mit Bedeutungen ausgestattet. Intersex – wie auch die Kategorien Frau und Mann - werden durch verschiedene Diskurse hergestellt. Die Bedeutungen und Auslegungen dieser Kategorien sind nicht starr und festgeschrieben und können so immer wieder Sinnverschiebungen unterzogen werden. Das geschlechtliche Subjekt und der Geschlechtskörper werden weiters durch die heterosexuelle Matrix hervorgebracht. Der gesellschaftlich normierte Geschlechtskörper macht den Menschen erst kulturell erfassbar. Ein Körper mit uneindeutigem Geschlecht ist demnach nicht sozial lebensfähig - er ist ein verworfener Körper ohne Gewicht. Die Tabuisierung von Intersexualität hat massiv dazu beigetragen, dass intersexuelle Menschen in der Gesellschaft nicht sichtbar sind. Es gibt für sie keine lebbare Kategorie und in die existierenden Einteilungen (Mann oder Frau) passen sie nicht. Der Geschlechterdimorphismus in den Gender Studies wird durch die Thematisierung von Intersexualität erneut herausgefordert. Die Geschlechterforschung muss in Bezug auf Intersexualität einerseits die Körper als diskursive Konstrukte ansehen und andererseits ihre konkrete Präsenz theoretisch erfassen. Durch eine Neuthematisierung des erlebbaren materiellen Körpers könnte eine Aufweichung der körperlichen Zweigeschlechtlichkeit erzielt werden und diese somit als kulturelles Dogma enthüllen. Herausforderung von Zweigeschlechtlichkeit stünde das 214 „Mit einer Ordnungssystem der geschlechtlich definierten Binarität selbst zur Diskussion, nämlich in einem seiner wichtigsten Zeichensysteme, der Übereinkunft, dass es nur zwei mögliche Körper gibt.“ 215 213 Vgl. Dietze (2006), S. 48. Vgl. Lang (2006), S. 31-33. 215 Dietze (2006), S.66. 214 66 3.6.13. Postgender Postgender ist ein Konzept, welches Körper und Identitäten als fließend betrachtet. Es unterscheidet sich von den Theorien die Geschlecht als Kontinuum ansehen, wo quasi männlich und weiblich als Eckpunkte beibehalten werden. Hier fallen Kategorisierungen und Fixpunkte völlig weg. Postgender würde allen Menschen die Möglichkeit bieten, ihre eigene Individualität unabhängig von aufgezwungen Normen zu leben und auch andere in deren Besonderheit wahrzunehmen. Die Komplexität und Einzigartigkeit jeder_jedes Einzelnen würde so besser erfasst werden. Denn auch gender stellt wie andere Kategorien zur Einordnung und Normierung einen Zwang dar. Der Grundstein des postgenderDiskurses ist der medizinische Intersex-Diskurs. Postgender baut auf dem postsex-Konzept auf, welches die Abschaffung der körperlichen, geschlechtlichen Kategorisierung fordert. Die Loslösung von allen geschlechtlichen Kategorien ist auf jeden Fall als emanzipatorisch anzusehen, wenn sie auf eigenen Wunsch passiert. Bei der vermeintlichen Befreiung von Normen durch die Eltern von intersexuellen Kindern kann dies wiederum zu einem neuen Zwang führen – denn solang die Zweigeschlechtlichkeit in der Gesellschaft als Normalität angesehen wird, wäre das Kind ständig mit der eigenen Andersartigkeit konfrontiert. Besorgte Eltern vermuten, dass dadurch das Geschlecht des Kindes immer im Vordergrund stehen würde und das Kind so kein normales Leben führen könnte. 216 3.7. Abschließender Überblick Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Phänomen Intersexualität erst durch die verschiedenen Diskurse um Intersexualität hervorgebracht wird. Wacke konstruierte einen geschichtlichen, genealogischen Diskurs um Intersexualität, welcher den Mythos des zweigeschlechtlichen Wesens nachzieht und auch die historischen, rechtlichen Bestimmungen in realen Fällen von Hermaphroditismus bzw. Zwittertum aufzeigt. Seit dem 19. Jahrhundert hat die Medizin die Definitionsmacht über den (uneindeutigen Geschlechts-)Körper und nimmt somit eine bedeutende Funktion bei der Bestimmung von Intersexualität ein. Im Laufe der Vergeschlechtlichung der Moderne entwickelt sich das Phänomen Hermaphroditismus bzw. Zwittertum als eine normabweichende Krankheit. Die Konstruktion des Zweigeschlechtersystems als natürliche Tatsache erschaffte erst das Phänomen Intersexualität als Abweichung, Störung oder Irrung der Natur. Intersexualität wurde in Laufe der Zeit zum Verschwinden gebracht – erst gesellschaftlich durch die 216 Vgl. Lang (2006), S. 223-229. 67 Tabuisierung, dann aus rechtlicher Sicht bis hin zur medizinischen Anpassung uneindeutiger Geschlechtskörper. Am medizinischen Diskurs kann gut aufgezeigt werden, dass Diskurse nie fixe Konstrukte sind, sondern einem ständigen Bedeutungswandel unterliegen. Die Einteilungskriterien und die Bestimmungen der verschieden Arten von Intersexualität veränderten sich im Laufe der Geschichte. Die Bestimmung des „wahren“ Geschlechts wurde anhand verschiedener Kriterien durchgeführt, welche durch den geschichtlichen und kulturellen Hintergrund geprägt waren und sind. Wer ein weiblicher oder männlicher Pseudohermaphrodit, ein „echter“ Hermaphrodit ist, wurde im 19. Jahrhundert an den äußeren und inneren (ertastbaren) Geschlechtsmerkmalen bestimmt, im Laufe der Zeit gewann durch neu technische Errungenschaften der hormonelle Haushalt sowie die geschlechtsspezifischen Chromosomen an Bedeutung. So wurden Menschen die in der Vergangenheit nicht als intersexuell eingestuft wurden und durch das Erkennungsraster fielen, mit dem Aufkommen neuerer medizinischen Verfahren als intersexuell entlarvt. Im heutigen medizinischen Diskurs um Intersexualität stehen verschiedene medizinische Disziplinen – Anatomie, Endokrinologie und Genetik – im Wettstreit bei der Bestimmung des „wahren“ Geschlechts. Bei den verschiedensten Faktoren nimmt die medizinische Diagnose der Intersexualität eine große Bedeutung ein, wobei auch diese einem diskursiven Wandel unterliegen. Welche Syndrome als intersexuell klassifiziert werden und was das ausschlaggebende Kriterium für Intersexualität ist, ist je nach individueller Definition verschieden. Die Medizin, welche bislang die Definitionsmacht über Intersexualität hatte, wird nun von verschiedenen Gegendiskursen herausgefordert. Intersexuelle Menschen werden aktiv und ergreifen selbst das Wort und schaffen somit einen subversiven Gegendiskurs zum medizinischen. 217 Der Intersex-Aktivismus, die Selbsthilfegruppen von intersexuellen Menschen, die Öffentlichmachung des Themas in Zeitschriften und audiovisuellen Medien und unter anderen die akademische Auseinandersetzung von Intersexualität erzeugen verschieden Diskurse um Intersexualität. Diese wiederum schaffen Raum für intersexuelle Menschen, ihren Körper und eine darauf aufbauende Identität wahrzunehmen und auszudrücken. 218 217 218 Vgl. Lang (2006), S. 330. Vgl. Lang (2006), S. 60. 68 4. Filmischer Diskurs Das Thema Intersexualität hat in den letzten 15 Jahren Einzug in Zeitschriften und Zeitungen gefunden, Fernsehsender strahlen Dokumentationen über intersexuelle Menschen aus und Bücher mit intersexueller Thematik, wie das mit dem Publitzerpreis ausgezeichnete Werk Middlesex von Jeffrey Eugenides, werden zu Bestsellern. Auch die Filmindustrie hat das Thema für sich entdeckt. Im Anschluss werden im Kapitel Überblick über Dokumentationen des 21. Jahrhunderts verschiedene Dokumentarfilme aus Deutschland und Österreich der letzten 10 Jahr vorgestellt bevor näher auf den österreichischen Film Tintenfischalarm eingegangen wird. Wie wird mit dem Thema Intersexualität umgegangen? Welche Diskurse werden im Film behandelt? Wie werden die Personen als intersexuell in den Film eingeführt bzw. konstituiert? Das sind auch die Ausgangsfragen meiner zweiten Filmanalyse über den argentinischen Spielfilm XXY, der einzige fiktionale Film welcher sich dem Intersex-Thema annimmt. Die verschieden Zugangsweisen der beiden Filme werden im Anschluss gegenübergestellt. Die Filme werden nicht anhand filmtechnischer Aspekte miteinander verglichen, da sie verschiedener Filmgattungen angehören, sie werden anhand ihres Inhaltes und der verschiedenen intersexuellen Diskurse analysiert. 4.1. Überblick über Dokumentationen des 21. Jahrhunderts Das verordnete Geschlecht Das verordnete Geschlecht ist ein deutscher Dokumentarfilm aus dem Jahre 2001 von Oliver Tolmein und Bertram Rotermund. Der Film handelt von den individuellen Erzählungen Michel Reiters und Elisabeth Müllers – zwei Menschen, die sich als Zwitter identifizieren und für die rechtliche und gesellschaftliche Annerkennung ihrer Identität kämpfen. Ihren Geschichten werden Aussagen von Ärzt_innen und Eltern von intersexuellen Kindern gegenübergestellt, welche die normalisierenden Operationen meist befürworten. Der Film ergreift deutlich Partei für die Interessen von intersexuellen Menschen und kritisiert die Geschlechterpolitik in Deutschland. Er fordert, dass Unterschiedlichkeit anerkannt und Gleichbehandlung sichergestellt wird. 219 219 Vgl. Filmhomepage von Das verordnete Geschlecht http://www.das-verordnetegeschlecht.de/kritiken.htm letzter Zugriff 3. Juni 2010. 69 Erik(A) Erika Schinegger gewann 1966 mit 18 die Schiweltmeisterschaft in der Abfahrt. Während den Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen 1968 wird bei einem neu eingeführten Speicheltest ein XY-Chromosomensatz bei Erika nachgewiesen. Erika unterzieht sich daraufhin mehreren Operationen, die ihr_sein Geschlecht „richtigstellen“ und kehrt als Erik in sein Heimatdorf zurück. Nach dem vergeblichen Versuch, bei der Männerschinationalmannschaft Fuß zu fassen, eröffnet Schinegger eine Skischule. Die Geschichte Erik Schineggers wird von Kurt Mayer im österreichischen Dokumentarfilm Erik(A) – Der Mann, der Weltmeisterin wurde aus dem Jahre 2005 dargestellt. Auf das Thema Intersexualität wird im Film nicht eingegangen, das Hauptthema ist die individuelle Lebensgeschichte von Erik Schinegger. 220 Between the Lines Der Dokumentarfilm Between the Lines – Indiens drittes Geschlecht vom deutschen Reisejournalist und Regisseur Thomas Wartmann aus dem Jahre 2005 gibt Einblick in das Leben dreier indischer Hijras. Der Film berichtet von „Indiens drittem Geschlecht zwischen Mystik, Spiritualität und Prostitution“ – wie der Untertitel des Films auch lautet – und begleitet dafür die indische Photographin Anita Khemka zu ihren Treffen mit Laxmi, Rhamba und Asha, den drei Hijras aus Mumbai. Er porträtiert die Hijras in ihrem alltäglichen Leben, bei Festen und anderen Gelegenheiten. Diese Wandler_innen zwischen den Geschlechtern nehmen in der indischen Gesellschaft eine zwiespältige Position ein, einerseits sind sie bei Festen gern gesehen, weil ihnen nachgesagt wird, dass sie durch ihre mystischen und spirituellen Fähigkeiten Segen und Fruchtbarkeit bringen können – obwohl sie meist selbst unfruchtbar sind; auf der anderen Seite sind sie gesellschaftlich geächtet und leben am Rande der Gesellschaft und verdienen ihren Lebensunterhalt nicht selten mit Prostitution. 221 Die Katze wäre eher ein Vogel Die Katze wäre eher ein Vogel ist ein visuelles Hörspiel und dokumentarisches Experiment der jungen Medienkünstlerin Melanie Jilg aus dem Jahre 2007. In fünf (Kamera)Einstellungen erzählen vier intersexuelle Menschen von ihren Gedanken, Gefühlen und 220 Vgl. Erik(A)-Filmkritik von Rochus Wolff http://www.critic.de/film/erika-384/ letzter Zugriff 3. Juni 2010. 221 Vgl. Anderson, Marie: Die irritierende Freiheit der Uneindeutigkeit http://www.kinozeit.de/filme/between-the-lines-indiens-drittes-geschlecht letzter Zugriff 3. Juni 2010. 70 Erfahrungen. Es ist ein „schlichter Versuch zuzuhören, da wo lange geschwiegen wurde und wovon es sich zu lernen lohnt.“ 222 4.2. Tintenfischalarm Tintenfischalarm ist ein österreichischer Dokumentarfilm aus dem Jahre 2006 von der Film-/Fernsehregisseurin und Radio-/Fernsehmoderatorin Elisabeth Scharang. Der Film dokumentiert die intime Lebensgeschichte von Alex Jürgen 223 , einem intersexuellen Menschen auf der Suche nach seiner_ihrer Identität. Elisabeth Scharang begleite Alex Jürgen drei Jahre lang auf dieser Reise, sie unternehmen auch im Film viele Reisen – nach Deutschland, ans holländische Wattenmeer und in die Vereinigten Staaten, wo er_sie in Kontakt mit anderen intersexuellen Menschen kommt. In Interviews und Gesprächen mit Elisabeth Scharang oder auch bei persönlichen Videotagebuchaufnahmen gibt Alex Jürgen mit viel Charme und Witz sehr intime Einblicke in sein_ihr Leben. Sehr offen berichtet er_sie von seinem_ihren langen Kampf mit sich selbst und seinem_ihrem Körper. Nach jahrelanger Unzufriedenheit und Depression erkrankt Alex Jürgen mit 20 an Leukämie, nach überstandener Krankheit entschließt er_sie sich, einen neuen Weg einzuschlagen – das Schweigen zu brechen und mit seiner_ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Als Experten treten Alex Jürgen, andere Betroffene und ein Psychologe aus Berlin, welcher intersexuelle Kinder und deren Eltern betreut, auf. Chirurg_innen, Kinderärzt_innen oder Endokrinolog_innen, welche sich auf Intersexualität spezialisiert haben, kommen im Film nicht zu Wort, der Film soll lediglich als Sprachrohr für intersexuelle Personen dienen. Der Film hat das Anliegen, aufzuklären und das Thema Intersexualität in die Öffentlichkeit zu bringen. Durch die mitreißende Offenheit in den oft sehr intimen Szenen gelingt es Alex Jürgen, die Dringlichkeit seines_ihres Anliegens – geschlechtsanpassende Operationen an intersexuellen Kindern zu unterbinden – einleuchtend zu vermitteln, auch aufgrund der Tragweite, welche diese Eingriffe in seinen_ihren Körper und Leben hatten und haben. 224 Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Intersex-Thema und mit sich selbst verändert sich Alex Jürgen während dem Film, dies können die Zuseher_innen sehr gut mitverfolgen. Das neue Körperwissen und der Kontakt mit anderen intersexuellen bzw. transgender Personen 222 Jilg, Melanie http://www.die-katze-ist-kein-vogel.de/film/film.htm letzter Zugriff 3. Juni 2010. Ich verwende „Alex Jürgen“, wenn er_sie im Film von sich selbst berichtet und Alexi_Alex Jürgen, wenn es um die Person vor der Selbstbenennung und –definiton als „Alex Jürgen“ geht, also um ihre_seine Kinderund Jugendzeit; als Alex Jürgen als Alexi aufwuchs und lebte. 224 Vgl. Seitz, Alexandra April 2006. http://www.ray-magazin.at/0604/tintenfischalarm.htm letzter Zugriff 31. Mai 2010. 223 71 schaffen einen anderen Zugang zu seinem_ihrem Körper und beeinflussen seine_ihre Körperwahrnehmung. 4.2.1. Anfangssequenz Der Film beginnt mit einer Homevideoszene von einem zirka 10-jährigen Kind mit einer Krähe auf dem Arm – gefilmt wurde der Moment vom Vater, welcher die Szene aus dem Off kommentiert: „Die Alexandra und da Krau’“ 225 . Diese Szene stellt das einzige Filmmaterial dar, welche nicht in den 3 ½ Jahren der Filmproduktion entstanden ist, alle anderen Szenen stammen aus dieser Zeitspanne. Die Homevideoszene wird langsam ins Schwarz geblendet, wobei die Tonebene bestehen bleibt. Die Stimmen und die Laute der Krähe gehen in ein Möwengeschrei und Meeresrauschen über, welches durch die Aufblende erklärt wird – die Kamera befindet sich jetzt am Meer und filmt zwei schwarze Gestalten in einer Weitwinkel-Ansicht, welche sich langsam der Kamera nähern. Es folgt eine weitere Schwarzblende und die Einblende des in Weiß geschrieben Filmtitels Tintenfischalarm, welcher eine weitere Einblende folgt „ein Film mit alex jürgen und elisabeth scharang“ – danach verschwinden die Zeilen und das Bild bleibt schwarz; eine Stimme ist zu hören, die jemanden fragt, wie sich diese Person selbst beschreiben würde. Danach folgt ein Schnitt auf die befragte Person, welche auf einer Couch sitzt und auf diese Frage mit: „abissal dazwischen“ - „zwischen den Geschlechtern“ antwortet. Nach ein paar weiteren Fragen, welche ebenfalls aus dem Off gestellt und von der Person im Bild beantwortet werden, folgt eine Blende ins Schwarze und ein weißer Zwischentitel führt diese Person als intersexuell ein. „Jürgen kommt mit nichteindeutigem Geschlecht zur Welt. Auf Anraten der Ärzte wird das Kind als Mädchen erzogen.“ 226 Dach folgt eine Aufzählung der verschiedenen chirurgischen Eingriffe, bevor der Text erklärt, dass das Kind als Alexandra in einem Dorf in Oberösterreich aufgewachsen ist. Dieser Zwischentafel folgt eine weitere, welche die Zuschauer informierte, dass sich Alex im Hebst 2002 in einer Radiosendung als intersexueller Mensch geoutet hat und dadurch die Filmemacherin und Radiomoderatorin Elisabeth Scharang kennengelernt hat. Nach dieser textuellen Einführung begegnet die_der Zuseher_in Alex Jürgen mit der Kamera in der Hand vor einem Badezimmerspiegel, welche_r mit einer kurzen Vorstellung „Ich bin Alex Jürgen“, „Geschlecht: uneindeutig“ 227 in die Szene einführt. Nach einer kurzen örtlichen Beschreibung, Alex Jürgen befindet sich in der Wohnung von Elisabeth Scharang im 5. Wiener Gemeindebezirk, folgt eine Rundschau in der Wohnung bis zum Wohnzimmer, in 225 Tintenfischalarm. Buch und Regie: Elisabeth Scharang. DVD. Österreich: wega Filmproduktionsges.m.b.h, 2006. 00:18f. 226 227 Tintenfischalarm. 02:54. Tintenfischalarm. 03:22f. 72 welchem Elisabeth Scharang auf der Couch sitzt. Elisabeth Scharang stellt eine Frage an Alex Jürgen, der Ton ist in dieser Szene nicht synchron – er ist vorgezogen und stammt aus der nächsten Szene, aus der Interviewszene auf der Couch. Im Zuge der Befragung von Alex Jürgen durch Elisabeth Scharang beschreibt er_sie die Situation, mit seinen_ihren Eltern über das Thema Intersexualität zu sprechen, als zu intim und vergleicht es mit einer fiktiven Situation, in welcher Elisabeth Scharang ihrer Mutter vom Sexleben mit ihrem Freund erzählen müsste. 228 In dieser Szene wird Elisabeth Scharang indirekt als heterosexuelle Frau in den Film eingeführt. Ein Klavierspiel ertönt, welches die nächste Einstellung musikalisch untermalt. Elisabeth Scharang macht in dieser Szene Aktphotographien von Alex Jürgen, wobei auch der O-Ton dieser Szene neben der nichtdiegetischen Musik zu hören ist. Die Musik folgt Alex Jürgen auf der Reise zum holländischen Wattenmeer bis zu den Dünen am Strand; die nächste Sequenz wird mit einem im unteren Bild eingeblendeten Text: „Ameland – im holländischen Wattenmeer“ eingeleitet, in welcher Alex Jürgen über die Dünen auf die Kamera zugeht. 4.2.2. Filmästhetik und -aufbau Der Film stellt sich aus verschiedensten Sequenzen zusammen, welche in ihrer Eigenart sehr unterschiedlich aufgebaut sind. Die mit Handkamera gedrehten Videotagebuchszenen von Alex Jürgen wechseln mit interviewartigen Gesprächen von Alex Jürgen und Elisabeth Scharang, bei welchen manchmal beide im Bild sind und manchmal nur eine_r von beiden. Bei anderen Einstellungen werden sie von einer_einem Dritte_n gefilmt. Der Positionswechsel vor und hinter der Kamera und der offensive Umgang mit dem Medium verleihen dem Film eine besondere Bildsprache und Direktheit, wobei gegen Ende hin die Zwiegespräche der beiden meist von Elisabeth Scharang bzw. durch eine_n Dritte_n dokumentiert werden. 229 Alex Jürgen legt durch Beschreibungen von persönlichen Ereignissen und Situationen Zeugnis vor der Kamera ab. Ob in Gesprächen mit anderen oder allein vor der Kamera, Alex Jürgen befindet sich immer im Dialog mit einem unsichtbaren Publikum. Bei einzelnen Szenen wendet sich Alex Jürgen direkt an die Zuschauer_innen, dies geschieht meist bei den Videotagebuchszenen, vor allem wenn er_sie alleine im Raum ist. Alex Jürgen blickt dabei direkt in die Kamera oder wendet sich an Eltern von intersexuellen Kindern, welche vielleicht den Film sehen könnten. Der offenen und direkte Umgang mit 228 Vgl. Tintenfischalarm. 07:44f. Vgl. Programmheft der Berlinale 2006 http://www.berlinale.de/external/de/filmarchiv/doku_pdf/20060735.pdf letzter Zugriff 31. Mai 2010. 229 73 den Zuseher_innen führt zu einer schnellen Identifikation und Empathie mit Alex Jürgen. Durch die direkte Einbeziehung wird der_die Zuseher_in in den Film hineingezogen und bekommt den Eindruck, Augenzeug_in des Geschehens zu sein. Der Ton ist im Film meist synchron zu den Bildern, bei den Zwiegesprächen von Alex Jürgen und Elisabeth Scharang befindet sich manchmal Alex Jürgen auch hinter der Kamera und seine_ihre Stimme ist aus dem Off zu hören. Doch meist ist Alex Jürgen im Bild und Elisabeth Scharangs Kommentare kommen aus dem Off. In manchen Szenen werden sie von einer statischen Kamera aufgenommen, wobei beide im Filmkader abgebildet sind; dies ist meist der Fall, wenn sie sich in Elisabeth Scharangs oder Alex Jürgens Wohnung befinden oder auch bei der Hotelzimmer Szene am holländischen Wattenmeer 230 . Die statische Kameraeinstellung kommt auch bei Alex Jürgens Videotagebuchszenen zum Einsatz, z. B. bei der Szene, in welcher sich Alex Jürgen ein Frühstück in seiner_ihrer Küche macht. 231 Für diese Szene positioniert er_sie die Kamera auf der gegenüberliegenden Seite der Küche, damit das Geschehen aufgezeichnet werden kann. Bei den Reisen ist meist Elisabeth Scharang hinter der Kamera und Alex Jürgen im Bild, die Besuchsszenen sind meist so aufgebaut, dass sich Alex Jürgen im Bildausschnitt mit den besuchten Personen befindet. In diesen Sequenzen gibt es auch viele Gegenschnitte, meist ist die Person in Großaufnahme, welche gerade spricht. Weiters werden die neueingeführten Personen nach kurzer bildlicher Darstellung in einem Zwischentitel (weiße Schrift auf schwarzen Hintergrund) vorgestellt. Für die Einführung zur örtlichen Orientierung wird der Bilderfluss nicht unterbrochen, die Ortsangaben werden Unten rechtes im Bild eingeblendet. Neben diesen Hilfestellungen zur örtlichen Orientierung, gibt es noch vereinzelt zeitliche Angaben, welche den Zuschauer_innen helfen, sich in der 3 1/2-jährigen Zeitspanne zu orientieren. Diese Zwischentitel stehen auf schwarzen Hintergrund, die Jahreszeit (Frühling, Sommer, Herbst, Winter) und das Jahr sind im rechten unteren Rand eingeblendet. Diese Zwischentitel sind jeweils mit drei weißen Blättern verziert, welche der Jahreszeitatmosphäre angepasst sind. Nur der letzte Zwischentitel fällt aus der Reihe, da er kurz nach einem Zwischentitel („herbst 2004“ 232) erscheint, es steht nur „ein jahr später“ 233 ohne jegliche Verziehrungen geschrieben. 230 Vgl. Tintenfischalarm. 10:15f. Vgl. Tintenfischalarm. 36:30f. 232 Tintenfischalarm. 1:35:38. 233 Tintenfischalarm. 1:40:18. 231 74 Einen Bruch zu den informativen Aufnahmen der Videobuchaufnahmen, Interviews und Besuchsszenen stellen die inszenierten Naturaufnahmen oder Außenaufnahmen dar, welche musikalisch untermalt wurden. Dies sind eine der wenigen Szenen, wo der Ton nicht-diegetisch ist – die Musik wurde erst bei der Montage hinzugefügt. Die melancholischen Lieder der Band Garish als Untermalung zu den inszenierten Landschaftsaufnahmen wirken oft befremdlich und irritierend. Sie stellen einen Bruch zu der direkten Erzählweise des Films dar und stören eher die Annäherung der Zuseher_innen mit Alex Jürgen, als dass sie eine Reflexion hervorbringen. 234 Die Musikeinlagen bilden oft eine Überleitung zu einer anderen Szene. Bei der Grill-Szene mit Freund_innen in Oberösterreich wird Alex Jürgen bei Beginn eines Liedes auf einer Decke liegend von Oben gefilmt. Es folgt eine langsame Kranfahrt nach oben – die Kamera distanziert sich immer mehr von Alex Jürgen in einer drehenden Bewegung, durch die langsame Entfernung kommen auch Alex Jürgens Freund_innen ins Bild. Danach schwenkt die Kamera von ihnen weg über den danebenliegenden See bis zu einem Baumwipfel, die Kamera bleibt stehen und filmt die Baumkrone bevor nach einem harten Schnitt eine Weide in einen ähnlichen Kadrierung von unten abgefilmt wird. Es folgen Großaufnahmen von Elisabeth Scharangs Gesicht, Alex Jürgen wird in einer Totalen an einem Seeufer abgebildet, die Umgebung hat sich verändert. In dieser Sequenz fand ein Ortswechsel vom Grillplatz bei einem oberösterreichischen See zum Ufer des burgenländischen Neusiedlersees statt. 235 Die jeweiligen musikalisch untermalten Szenen scheinen auf die Lieder von Garish abgestimmt zu sein, manchmal passt der Liedtext zu der gezeigten Umgebung: es wird im Lied von Wolken gesungen und der Film zeigt einen bewölkten Himmel oder es wird das Meeresrauschen besungen und die Kamera filmt die Wellen am holländischen Wattenmeer. Neben den Liedern von Garish kommt bei manchen Szenen auch andere nicht-diegetische Musik hinzu – wie bei der Fotoshooting-Szene, oder bei andern ruhigen Szenen, wo kein bzw. nur wenig Dialog vorkommen. Diese Szenen werden mit Klaviermusik unterlegt, wobei aber auch der O-Ton zu hören ist. 4.2.3. Hintergrund Alex Jürgen wird nach seiner_ihrer Geburt am 7. September 1976 dem männlichen Geschlecht zugewiesen und erhielt den Namen Jürgen. Ab zwei Jahren wird er_sie 234 Vgl. Kamalzadeh, Dominik: Jenseits beider Geschlechter. In: DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9.4.2006. http://derstandard.at/2406904/Jenseits-beider-Geschlechter?_lexikaGroup=21 letzter Zugriff 31. Mai 2010. 235 Vgl. Tintenfischalarm. 45:11-47:10. 75 aufgrund einer intersexuellen Diagnose als Mädchen sozialisiert und wächst von diesem Zeitpunkt an in einem kleinen Dorf in Oberösterreich unter dem Namen Alexi auf. Im Alter von sechs Jahren, wird ihm_ihr der Penis chirurgisch entfernt, mit zehn folgt eine Hodenamputation und als 15-Jährige_r wird ihm_ihr eine künstliche Vagina konstruiert. Weiters werden ihm_ihr Hormone verabreicht um das äußerliche Erscheinungsbild dem weiblichen Geschlecht anzupassen. Der Grund der vielen Operationen und Untersuchungen wird während seiner_ihrer Kindheit von den Eltern nicht näher angesprochen. Es sei lediglich was falsch angewachsen und musste daher entfernt werden. Diese Erklärung führte bei Alexi_Alex Jürgen zum Gefühl des Abartigseins, wie „eine Missgeburt“, bei welcher etwas Falsches angewachsen sei. 236 Die Aufdeckung des Familiengeheimnisses wird im Film nicht thematisiert, in einem Artikel geht jedoch Elisabeth Scharang näher auf dieses Ereignis ein: Im Alter von zwölf Jahren erhielten die Schülerinnen im Aufklärungsunterricht ein Tampon für Übungszwecke – beim Versuch das Tampon einzuführen, wurde Alex Jürgen bewusst, dass mit ihr_ihm was nicht stimmt und wendet sich an die Mutter. Erst zu diesem Zeitpunkt wird er_sie von den Eltern in das lang gehütete Familiengeheimnis eingeweiht. 237 Alex Jürgen schlittert während der Pubertät in eine schwere Identitätskrise. Bei Alex Jürgen wird mit 20 Leukämie diagnostiziert, er_sie fällt für 13 Wochen ins Koma, erst nach der lebensrettenden Stammzellentransplantation beginnt die monatelange Rehabilitation. 2002 outet sich Alex Jürgen während einer Radiosendung bei dem österreichischen Radiosender FM4 als intersexuell. Beim Interview mit Elisabeth Scharang in der Radiosendung Jugendzimmer erzählt Alex Jürgen von seinem_ihrem Leben und klärt die Zuhörer_innen über das Thema Intersexualität auf. Während dieser Begegnung und weiteren Treffen von Elisabeth und Alex Jürgen entsteht die Idee zu einem gemeinsamen Film. Der Film folgt Alex Jürgen drei Jahre bei seiner_ihrer Identitätssuche, er zeigt die Transformation von Alexi zum intersexuellen Mann Alex Jürgen, denn während der Dreharbeiten entschließt er_sie sich von nun an als intersexueller Mann zu leben. Alex Jürgen führt sich Testosteron zu und lässt sich im Herbst 2004 als letzten Schritt zu seiner_ihrer neuen Männlichkeit die Brüste operativ entfernen. 236 Tintenfischalarm. Buch und Regie: Elisabeth Scharang. DVD. Österreich: wega Filmproduktionsges.m.b.h, 2006. 1:09f. 237 Vgl. Scharang, Elisabeth: Ein Fisch lernt fliegen. http://fm4v2.orf.at/scharang/212954/main letzter Zugriff 1. Juni 2010. 76 Der Titel des Films Tintenfischalarm steht für die stressigen Situationen, welchen Alexi_Alex Jürgen als 14jährige_r ausgesetzt war; und zwar beim Versuch, die forschenden Hände der Burschen, welche wie Tentakeln zwischen ihre_seine Schenkel drängen wollten, abzuwehren. Diese ersten sexuellen Ereignisse waren mit der Angst verbunden, andere könnten sein_ihr Anderssein entdecken. 238 4.2.4. Gender- und Identitätsdiskurs Am Beginn des Filmes kritisiert Alex Jürgen die Zwangseinteilung in zwei Geschlechter, er_sie will sich den Geschlechterrollen nicht mehr fügen und einfach nur „Ich-sein“ dürfen. Lange Haare zu tragen, sich „schönzumachen“, Schminke zu verwenden, Kleider und Röcke zu tragen lehnt er_sie für sich ab. Seiner_Ihrer Wahrnehmung nach sind das Attribute, die seine_ihre Mutter bzw. die Gesellschaft von ihm_ihr verlangen, um als Frau anerkannt zu werden. Weiters will er_sie vom Arbeitsgeber wie ein Mann entlohnt werden und sich selbst den Namen wählen dürfen, mit dem er_sie leben will. Aus diesen Aussagen sind drei unterschiedliche Aspekte herauszulesen. Erstens verbindet Alex Jürgen das Frausein mit dem Kleidung, Schmuck und Schminke, also mit dem äußeren Erscheinungsbild. Zweitens prangert er_sie die unterschiedliche Bezahlung aufgrund des Geschlechts an – oder eher, fordert für sich die Privilegien des männlichen Geschlechts. Drittens, verweist der Wunsch nach der freien Wahl des Namens auf die rechtliche Situation zu dieser Zeit in Österreich, wo eine geschlechtsspezifische Namensänderung ins andere Geschlecht nur mit geschlechtsanpassender Operation gestattet wurde. Alex Jürgen trinkt in der Früh Kakao zum Frühstück, welchen er_sie im Videotagebuch als sehr unmännlich kommentiert im Gegensatz zu Kaffee. 239 Kaffeetrinken wird somit mit Männlichkeit und Kakaotrinken mit Weiblichsein in Verbindung gebracht, obwohl die Aussage sarkastisch gemeint war, werden hier Trinkgewohnheiten mit einem gewissen Geschlecht konnotiert. Wie auch die Bekleidung: Nach dem Entschluss der Eltern, Alex Jürgen als Mädchen aufzuziehen, wurden ihm_ihr nur mehr „weibliche“ Kleidung angezogen – Kleider, Röcke, Häubchen und Strumpfhosen. Das äußere Erscheinungsbild änderte sich schlagartig von burschikos zu feminin, dieser Bruch kann anhand von Familienfotos aufgezeigt werden, berichtet Alex Jürgen im zweiten Jugendzimmer, ein Jahr nach Drehbeginn. Die gesellschaftliche Unterscheidung von „männlicher“ und 238 Vgl. Filmhomepage von Tintenfischalarm http://www.wega-film.at/tintenfischalarm/?id=film letzter Zugriff 1. Juni 2010. 239 Vgl. Tintenfischalarm. 00:36f. 77 „weiblicher“ Bekleidung kommt hier zum Tragen, wobei auch in diesem Zusammenhang zu beachten ist, dass geschlechtsspezifische Zuweisungen von Bekleidung einem historischen Diskurs unterliegen. Die geschlechtskonnotierte Bedeutung von Bekleidung wird auch am Ende des Films deutlich, nach Alex Jürgens Entschluss als Mann zu leben: Er_Sie putzt sich für die Geburtstagsfeier der Oma schick heraus – ein feiner Anzug unterstreicht nun seine neue Identität als Mann. Elisabeth Scharang ist beim Anblick von Alex Jürgen im Anzug überzeugt, dass nun Alex Jürgens Vater ihm_sie nicht mehr mit Alexandra ansprechen wird. 240 Die männliche Bekleidung wird durch eine gender-performance unterstrichen. Alex Jürgen berichtet von trans-Workshops in welchen der männliche Gang trainiert wird. Langes bedachtes Gehen wird dort mit Männlichkeit assoziiert. Die diskursive und performative Eigenschaft von Geschlechtsverhalten ist in diesem filmischen Moment, in welchem Alex Jürgen den vorher beschriebnen „männlichen“ Gang imitiert, sehr präsent. 241 Die Möglichkeit zur Aneignung dieser geschlechtsbezogenen Attribute, durch das bewusste Trainieren von geschlechtlichen Eigenschaften wird hier veranschaulicht. Trotz dem Wunsch nicht in eine Rolle gedrängt zu werden, entscheidet sich Alex Jürgen dennoch für eine Rolle. Er_Sie ist quasi gezwungen in eine männliche Rolle zu schlüpfen, da das Leben als Frau für ihn_sie nicht denkbar ist und eine Rolle, welche nicht in das Zweigeschlechtersystem passt, für ihn_sie gesellschaftlich nicht möglich ist. Er_Sie wäre also – wie es Butler formuliert –nicht intelligibel. 242 Das heißt, dass er_sie gesellschaftlich nicht denkbar und sichtbar ist. Intersexualität ist somit (noch) nicht lebbar. Dies ist auch einer der Beweggrunde um sich seine_ihre Brüste operativ entfernen zu lassen, denn mit Brüsten wird er_sie automatisch dem weiblichen Geschlecht zugewiesen. 4.2.5. Medizinischer Diskurs Die Motivation für Alex Jürgen, den Film zu machen war der Wunsch, über das Thema Intersexualität aufzuklären, die gravierenden medizinischen Eingriffe und die daraus resultierten physischen und psychischen Schäden, die seiner_ihrer Meinung nach entstehen, anzuprangern. Im Film wird nicht näher auf die medizinische Diagnose von Alex Jürgens Intersexualität eingegangen. In der Programmvorschau für das Jugendzimmer erwähnt Alex Jürgen seine 240 Vgl. Tintenfischalarm. 1:45f. Tintenfischalarm. 1:44f. 242 Siehe Kapitel 3.6.2 Kulturelle Intelligibilität. 241 78 Diagnose: Er_Sie kam mit 5-Alpha-Reduktasemangel auf die Welt. 243 Bei einem XYChromosomensatz konnte sein_ihr Körper durch einen Enzymmangel die „männlichen“ Geschlechtshormone nicht komplett umwandeln und dies führte zu einem „untervirilisierten“ äußeren Genital. 244 Im Film kritisiert Alex Jürgen die chirurgischen Eingriffe und medizinischen Behandlungen an intersexuellen Kindern vehement, welche auch auf seinen_ihren Körper gravierende Auswirkungen gehabt haben – sie manipulierten ihn durch künstlich zugeführte Hormone, amputierte den Penis und die Hoden und konstruierte eine Neovagina. Durch die Amputation der Hoden im Alter von zehn wurde die Möglichkeit zur Vermännlichung – d.h. männlicher Phänotyp, Klitoriswachstum, Bartwuchs, Stimmbruch –, welche durch eine erhöhte Testosteronausschüttung während der Pubertät möglicherweise eingetreten wäre, unterbunden. Um die verheerenden Auswirkungen der geschlechtsanpassenden Operationen zu veranschaulichen, zeigt Alex Jürgen in einer Videotagebuchszene die Narben auf seinem_ihrem Unterleib, welche sich über den ganzen Bauch ziehen und laut Alex Jürgens Erfahrungsbericht meist entzündet und rot sind. Zum Zweck der Aufklärung und Abschreckung für Eltern von betroffenen Kindern zeigt Alex Jürgen auch seine_ihre Phantome, welche er_sie davor noch niemanden gezeigt hatte. Phantome werden nach einer Scheidenoperation verwendet um die Scheide gedehnt zu halten bzw. weiter zu dehnen. Nach der Operation müssen sie sich im ersten Jahr 24 Stunden täglich in der konstruierten Vagina befinden, danach müssen sie jeden Abend prophylaktisch vorm Schlafengehen eingeführt werden, um eine Verengung der Neovagina zu verhindern. Die Alternative zu den Phantomen wäre zwei- bis dreimal wöchentlicher Geschlechtsverkehr gewesen, dies riet der behandelnde Arzt der_dem Fünfzehnjährigen Alexi_Alex Jürgen in Anwesenheit ihrer_seiner Mutter. Die Prozedur der Vaginadehnung wurde von Alexi_Alex Jürgen als sehr unangenehm und schmerzhaft empfunden. Sie_Er hatte das Gefühl innerlich zerrissen zu werden und die Kanten der Phantome waren hart, somit war sie_er die meiste Zeit zwischen den Schenkeln offen und auch das Sitzen wurde eine schmerzhafte Angelegenheit. Besonders problematisch und belastende wurde es für Alexi_Alex Jürgen bei Schiwochen oder mehrtägigen Schulausflügen. Am Abend unbemerkt – still und heimlich – die Phantome auszupacken, sie einzucremen und einzuführen; und in der Früh, bevor alle aufwachen, sie wieder herauszunehmen – waren stressige Erfahrungen für die_den Jugendliche_n. Alex Jürgen erklärt im Film, dass intersexuelle Kinder/Jugendliche von Haus aus viel zu verheimlichen haben und dass die 243 Vgl. Scharang, Elisabeth: Ist es ein Mädchen oder ein Junge? http://fm4v2.orf.at/scharang/101358/main letzter Zugriff 27. Mai 2010. 244 Siehe Kapitel Häufigste Formen von Intersexualität 79 Phantome ihr Leben nicht unkomplizierter machen. Am Ende dieser Videotagebuchszene appelliert er_sie an alle Mütter von intersexuellen Menschen, dass diese ihren Kindern das ersparen sollen. Alex Jürgen will durch den Film aufklären und abschrecken – die Folgen von medizinischen Eingriffen an intersexuellen Kinder aufzeigen, damit sie in Zukunft nicht mehr angewendet werden. Die Geheimhaltung ihres_seines körperlichen Zustandes setzte sich in der Jugend fort. Dem ersten Freund erzählte sie_er, dass sie_er Gebärmutterkrebs hatte und die Ärzte haben ihr_ihn die Gebärmutter von oben und unten rausgeholt und dabei die Scheide zerfetzt. Diese Notlüge war der Erklärungsversuch für die vielen Narben am Bauch und im Intimbereich. Nach eigenen Angaben wusste sie_er in dieser Zeit nicht, „wie schlimm es ist da unten“ 245 und schmückte deshalb die Erzählung bildhaft aus. Der Freund hingegen war nur froh, dass sie_er keine Kinder bekommen konnte. Hier wird im Film deutlich, dass eine geschlechtsanpassende Operation, nicht das „Problem“ Intersexualität zum Verschwinden bringt, sondern auch der postoperativen Körper, die Person als intersexuell konstituieren kann. Alex Jürgens negatives Bild die Institution Medizin betreffend, beruht auf den Erfahrungen in und Erinnerungen an seine_ihre Kindheit und Jugend, welche in Alexi_Alex Jürgen den Eindruck erweckten, ein medizinisches Experiment und Versuchsobjekt zu sein. Alex Jürgen erinnert sich an Untersuchungen, bei denen ihr_ihm die Ärzt_innen als erstes die Hose herunterzogen um ihr_ihm zwischen den Beinen zu schauen. Oft wurden auch mehrere Assistenzärzt_innen herbeigeholt, manchmal wurde die Untersuchung auch mit der Kamera festgehalten. 246 Diese Erfahrungen manifestierten sich in Alexis_Alex Jürgens Körperempfinden und Selbstwahrnehmung, sie_er fühlte sich abnormal und anders und hatte das Gefühl eine Missgeburt zu sein. Die Erklärung für die vielen Untersuchungen und Operationen erhielt sie_er erst im Alter von zwölf Jahren, nach einer Reihe von einschneidenden medizinischen Behandlungen und Untersuchungen. Im Laufe des Films greift er_sie trotz der traumatisierenden Erfahrungen wieder auf medizinische Behandlungsmethoden und Institutionen zurück. Die Zuführung von Testosteron ab Frühling 2004 und die chirurgische Entfernung der Brüste im Herbst 2004 sind die gravierendsten medizinischen Eingriffe in seinen_ihren Körper, für die er_sie sich selbst entscheidet. Diese werden von Alex Jürgen aber nicht als künstliche oder 245 246 Tintenfischalarm 1:03f. Vgl. Tintenfischalarm. 1:00f. 80 verfälschende Eingriffe gesehen, sondern sind Mittel um den Urzustand wiederherzustellen bzw. sich dem Urzustand anzunähern, wie sich der Körper ohne medizinische Behandlungen entwickelt hätte. Das täglich auf die Haut aufgetragene Testosteron ersetzt jenes, welches durch die Entfernung der Hoden nicht mehr im Körper produziert werden kann. Die Zufuhr von Testosteron kompensiert also den Verlust der Gonaden. Die Brüste, welche durch künstlich zugeführte „weibliche“ Hormone gewachsen sind, werden entfernt – weil sie von Alex Jürgen nicht als natürlich zum Körper gehörend angesehen werden. Die baldige Befreiung von diesen wird auch im Film durch eine zeremonielle BHVerbrennung im Wald zelebriert. Die Konstruktion eines Penis lehnt er_sie hingegen ab, im Intimbereich darf keiner mehr hin, „dort tut mir keiner mehr was.“ 247 Im obigen Abschnitt ist die Definiten von natürlich und künstlich, von bösen und guten medizinischen Behandlungen aus Sicht von Alex Jürgen gut nachzuvollziehen. Die Zufuhr von Hormonen wird einerseits bei den „weiblichen“ Hormonen in der Pubertät als unnatürlich und künstlich betrachtet; andererseits in Bezug auf die „männlichen“ Hormone als Mittel für die Wiederherstellung des ursprünglichen Körpers angesehen. Die Bedeutung von Eigen- und Fremdbestimmung ist bei diesem medizinischen Diskurs sehr wichtig. Die Hormone, welche zu einer Verweiblichung des Phänotyps führten, wurden fremdbestimmt von Alexi_Alex Jürgen eingenommen. Das Testosteron wird von Alex Jürgen gewollt und selbstbestimmt im Erwachsenenalter eingenommen, nach langen Überlegungen und Reflexionen für das Für und Wider. Im Film nimmt Testosteron eine wesentliche Rolle ein – die Überlegungen es einzunehmen, die Veränderungen des Körpers durch die Zufuhr und die Rechtfertigungen warum es zugeführt wird tauchen während dem Film immer wieder auf. Alex Jürgen entschließt sich Testosteron zuzuführen, um seine_ihrer seelische und körperliche Situation zu verändern. Er_Sie erhofft sich mehr Energie und Lebensfreude daraus zu schöpfen und dadurch die jahrelangen Depressionen zu überwinden. Es ist ein Versuch die Lebensbedingungen ins Positive zu verändern. Durch das Testosteron erhofft sich Alex Jürgen weniger gekünstelt zu wirken, authentischer zu sein und endlich das Gefühl zu verlieren, nicht sich selbst zu sein, da etwas fehlt. Nach dreiwöchiger Hormontherapie im Frühling 2004 fühlt sich Alex Jürgen wesentlich aktiver, das könnte seiner_ihrer Meinung nach aber auch Einbildung oder der Frühlingsbeginn sein. Seine_ihre Träume haben sich verändert seit Zufuhr von Testosteron. Er_Sie berichtet von einem Traum, in dem ihm_ihr etwas zwischen den Beinen gewachsen 247 Vgl. Tintenfischalarm. 0:30, 0:49f. 81 ist – kein Penis, sondern eher eine kleine Knospe. Dieser Traum brachte in Alex Jürgen Glücksgefühle hervor und er spiegelt die Hoffnung wieder, dass ihm_ihr ein Penis/Phallus wachsen könnte. Elisabeth Scharang fragt im Gespräch, ob sich sein_ihr Körpergeruch durch das Testosteron verändert hat. Alex Jürgen entgegnet, dass die Schweißproduktion zugenommen hat, aber er_sie sich im Allgemeinen selbst gut richten kann. „Die Frau in mir wird geil auf den männlichen Geruch“. In San Franscisco tauschen sich Alex Jürgen und der Transsexuelle Max Wolf Valerio über ihre Erfahrungen mit Testosteron aus. Alex Jürgen berichtet von der Steigerung der Libido („most of the time horny“) und Hautproblemen (pimples) durch die nunmehr über einmonatige Hormontherapie. Max versichert ihm_ihr, dass sich Alex Jürgens Körper stetig verändern wird durch die Testosteronzufuhr und das es wahrscheinlich zu einem Bartwuchs, einer Veränderung der Haarlinie und einer tieferen Stimme kommen wird. 4.2.6. Intersex-Gruppen und Aktivist_innen Alex Jürgen kommt während den Dreharbeiten zum Film mit verschieden intersexuellen und transgender Menschen in Kontakt. Er_Sie nimmt an einem Treffen der XY-Frauen in Deutschland teil, bei welchem er_sie überhaupt das erste Mal in Kontakt mit intersexuellen Menschen kommt. Beim Treffen der Selbsthilfegruppe werden Erfahrungen von Betroffenen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetauscht. Alex Jürgen ist nach dem Treffen positiv beeindruckt von dem Kontakt mit den anderen Betroffenen. Ärzt_innen, Psychotherapeut_innen und Betroffene sind sich einig, dass das Reden über die eigenen Erfahrungen und der Austausch untereinander die Betroffenen stärken, hier wird die Wichtigkeit von Selbsthilfegruppen für intersexuelle Menschen deutlich. Sie sind ein geschützter Ort für den Austausch von oft sehr intimen Lebenserfahrungen und schaffen weiters einen Raum für intersexuelle Menschen, um sich und ihre Körper abseits des Normierungssystems zu definieren. Später im Film besucht Alex Jürgen zwei XY-Frauen in Deutschland, mit welchen er_sie nach dem Treffen Kontakt gehalten hat. Sie treten nun auch an die Öffentlichkeit und outen sich als intersexuell. Dieser Schritt des Sich-Outens ist ein wichtiges Werkzeug für die Sichtbarmachung von intersexuellen Menschen. Intersexualität bekommt dadurch ein repräsentatives Gesicht, besser gesagt, sehr viele unterschiedliche Gesichter mit oft ähnlichen, manchmal auch sehr unterschiedlichen Erfahrungsberichten. Die anonymen medizinischen Patient_innen werden so zu sichtbaren Individuen, welche nun selbst machtvoll auf den Intersex-Diskurs wirken (können). Seit die ersten intersexuellen 82 Stimmen in den 1990er Jahren öffentlich wurden, hat sich der medizinische IntersexDiskurs stark verändert, welcher von den Kritiker_innen angeprangert wurde. Im Sommer 2004 fliegen Alex Jürgen und Elisabeth Scharang nach San Francisco, wo sie Mitwirkende des Dokumentarfilms Gendernauts treffen, welche sich selbst als FTMTranssexuelle bezeichnen. In diesem Sommer findet die ersten Trans/Intersex-Pride statt, auf welcher auch Alex Jürgen mitmarschieren will, um ein politisches Zeichen zu setzen. Alex Jürgen fordert auf seinem selbstbeschriebenen T-Shirt den Stopp von geschlechtsangleichenden Operationen an intersexuellen Kindern. Max Wolf Valerio ist ein Transsexueller, welcher bist 1989 als Lesbe lebte und Darsteller_in in Gendernauts und Female Misbehavior war. Beide Filme dokumentieren die queere Subkultur und den offenen Umgang mit Geschlecherrollen in der Bay-Area. Die Reise nach San Francisco und der Austausch mit Max und Marti – auch ein Transsexueller, welcher bei Gendernauts mitwirkte – stärkt Alex Jürgens Entschluss als Mann zu leben. Sie dienen Alex Jürgen quasi als Vorbilder – ihr gelungener Geschlechterrollenwandel, ihre positive Erfahrung damit und ihre Zuversicht, weiter in dieser zu leben, geben Alex Jürgen den Mut sich weiter in die „männliche“ Richtung zu entwickeln. Nach der San Francisco-Reise und dem Treffen mit Max und Marti lässt sich Alex Jürgen im Herbst 2004 seine Brüste entfernen – für ihn_sie ist das der Vollendungsakt für seine neu gewonnene Männlichkeit. Beim letzten dokumentierten Besuch von Elisabeth Scharang bei Alex Jürgen in Wien, ein Jahr nach der Brustoperation, plädiert Alex Jürgen für ein offeneres Geschlechterbild. Er_Sie erzählt von Bekannten, welche die Grenze von Frau und Mann überschritten haben, keine Rollenklischees leben und glücklicher damit sind als unter den Deckmantel Mann oder Frau zu sein. Jede_r braucht einen Bereich in dem er_sie glücklich ist, die Fixierung auf das Geschlecht ist seiner_ihrer Meinung nach nicht ein Bereich, in welchem man_frau sein Glück finden kann. 4.2.7. Sexualität und Begehren Sexuelle Lust und Empfindsamkeit werden im Film auch thematisiert. Alex Jürgen erzählt ganz offen, ohne jede Scheu, von seinen_ihren sexuellen Wünschen und Gelüsten. Durch die medizinischen Eingriffe in seinen_ihren Körper ist der Intimbereich für sexuelle Stimulierung unempfindsam geworden, an manchen Stellen sind Berührungen mit Schmerz verbunden. Alex Jürgen berichtet später im Film von einem neuentdeckten Ziehen und Pulsieren im Intimbereich bei sexueller Erregung und stellt sich vor, dass dieses Gefühl mit einem 83 erigierten Penis vergleichbar sein könnte. Die Ärzte haben bei den Operationen den Phallus nur äußerlich weggeschnitten und haben laut Alex Jürgens Erklärung nicht alles rausgekratzt, denn der Penis/Phallus bzw. die Klitoris reichen wesentlich weiter in den Körper hinein, als von Außen ersichtlich. Durch die neuerlebten sexuellen Empfindungen erhofft sich Alex Jürgen ein Ansteigen und einer Verstärkung dieser. Er_Sie ordnet die sexuelle Empfindung einem Geschlecht zu – dem männlichen. Alex Jürgen stellt sich vor, dass das Ziehen und Pulsieren einem steifen Penis ähnlich ist. Einige Mediziner und Sexualwissenschaftler sind jedoch der Meinung, dass sich die sexuellen Empfindungen beim männlichen_und_weiblichen Geschlecht ähnlich sind, da sich die Geschlechtsteile aus den gleichen Bausteinen entwickeln. Genauso wie der männliche Schwellkörper (sichtbar) steif wird, schwillt auch der weibliche Schwellkörper, der tief in den Körper reicht, an. Das Gefühl der sexuellen Erregung und das Orgasmuserlebnis werden von sexuell aktiven Menschen ähnlich beschrieben. Alex Jürgen hingegen bringt das pulsierende Ziehen nur mit dem männlichen Geschlecht in Verbindung. Eine Veränderung bei seiner_ihrer sexuellen Phantasie erkennt Alex Jürgen ebenfalls – er_sie hat das Verlangen mit einem Umschnall-Dildo eine Frau zu penetrieren. Diese Vorstellung der aktiven Penetration wird gesellschaftlich mit dem „männlichen“ Part im Geschlechtsverkehr assoziierte. Diese Phantasie könnte mit Alex Jürgens Entscheidung, als intersexueller Mann leben zu wollen, in Verbindung stehen. Er_Sie fühlt sich zu dem weiblichen Geschlechts hingezogen, für ihn_sie ist eine Beziehung mit einer Frau eher vorstellbar, denn sein_ihr „Penisneid“ macht eine Beziehung mit einem Mann für ihn_sie unvorstellbar. Hier kann eine Veränderung in der Beziehungspartner_innenwahl aufgezeigt werden, Alex Jürgen berichtet während dem Film von einem Ex-Freund, mit welchen sie_er eine sexuelle Beziehung gehabt hat, von diesen Standpunkt aus hat sich die sexuelle Orientierung und das bevorzugte Geschlecht der_des Partner_in verändert. 4.2.8. Rechtlicher Diskurs Am 18. Feber 2004 gibt es für Alex Jürgen etwas zu feiern – die Entdeckung, dass er_sie in der Geburtsurkunde dem männlichen Geschlecht zugewiesen wurde. Die Mutter hat anscheinend vergessen, das Geschlecht nach den geschlechtsanpassenden Operationen ändern zu lassen, deshalb stößt Alex Jürgen in der Videotagebuchszene dieses Tages auf seine_ihre wiedergewonnene Männlichkeit an. Hier bleibt die Frage offen, wie der Geschlechtseintrag all die Jahre unbemerkt blieb und welches Geschlecht in Alex Jürgens Führerschein und Pass steht? Sind diese Dokumente ungültig, falls sie Alex Jürgen dem weiblichen Geschlecht zuordnen und wie können diese Dokumente ein anderes Geschlecht als das in der Geburtsurkunde aufweisen? In diesen Zusammenhang muss auch die Kritik 84 bei einem Nichteintrag des Geschlechts bei intersexuellen Neugeborenen zurückgewiesen werden, da anscheinend die Geschlechtszuweisung in der Geburtsurkunde für das weitere Leben nicht notwendig prägend sein muss, oder liegt im Fall Alex Jürgens ein Versehen vor, welches Jahrzehnte nicht bemerkt wurde? 4.2.9. Elisabeth Scharangs Rolle im Film Die Rolle der Regisseurin Elisabeth Scharang ist im Film nicht genau definiert. Sie wird am Anfang des Films, nach dem Titel, als Mitwirkende in den Film eingeführt. In den Zwiegesprächen nimmt sie die Position einer Moderatorin oder Interviewerin ein, wobei sie sich nicht nur darauf beschränkt, Fragen zu stellen, sonder auch Alex Jürgens Antworten kommentiert, infragestellt oder sogar als nicht richtig bezeichnet. Für eine objektive Interviewpartnerin greift sie zu stark in das Filmgeschehen ein, sie lenkt die Gespräche in eine gewünscht Richtung oder spricht Alex Jürgen seine_ihre eigene Meinung ab. In manchen Gesprächssituationen wirkt Elisabeth Scharang wie eine Psychotherapeutin, welche durch nachhackende Fragen Alex Jürgen auf eine bestimmte Spur führen will, um eine Reflexion seines_ihres Seelenlebens hervorzurufen. Im Film selbst stellt sich Elisabeth Scharang eher als Freundin und Begleiterin dar, welche mit Alex Jürgen intime Details aus ihrem Leben teilt, welche den Zuschauer_innen aber verwehrt bleiben. Elisabeth Scharang stört im Film manchmal durch ihr offensives Eingreifen und ihre Position der verstehenden Freundin gefährdet die Annäherung der Zuseher_innen an Alex Jürgen, da sie sich als gesellschaftlich anerkanntes Identifikationsangebot dazwischenschiebt. 248 4.3. XXY XXY ist das Spielfilmdebüt der argentinischen Regisseurin und Autorin Lucía Puenzo. Das Drehbuch basiert auf der Kurzgeschichte Cinismo des argentinischen Schriftstellers Sergio Bizzio. Es ist ein Film über das Erwachsenwerden, über die ersten sexuellen Erfahrungen und Suche nach der eigenen Identität. 4.3.10. Story Alex ist ein 15-jähriger intersexueller Teenager. Nach ihrer_seiner Geburt wurden an ihrem_seinem Körper keine „normalisierenden“ geschlechtsanpassenden Operationen durchgeführt, da sich ihre_seine Eltern dagegen verwehrten. Die Eltern zogen von Buenos Aires in ein abgeschiedenes Küstengebiet Uruguays, wo Alex’ Vater, Kraken genannt, als Biologe arbeitet und sich für den Schutz von Meeresschildkröten einsetzt. Die Eltern 248 Vgl. Salzburger Nachrichten, Print-Ausgabe, 4.7.2006, S. 12. http://search.salzburg.com/articles/1892556?highlight=tintenfischalarm letzter Zugriff 31. Mai 2010. 85 suchten die Abgeschiedenheit, um Alex zu schützen und sie_ihn unbeschwert aufwachsen zu lassen. Alex wird von ihrer_seiner Geburt an als Mädchen erzogen. Mit 15 entschließt sich Alex die Hormontabletten nicht mehr zu nehmen, welche eine männliche Entwicklung unterdrücken. Die Mutter Suli lädt eine alte Freundin mit deren Mann und Sohn Alvero auf Besuch zu sich ein. Ramiro, der Gatte der Freundin, ist Schönheitschirurg, welcher sich auf „Missbildungen“ spezialisiert hat. Der Hauptgrund für den Besuch ist, eine mögliche geschlechtsanpassende Operation für Alex in Erwägung zu ziehen – Alex und ihr_sein Vater wurden nicht in den Plan eingeweiht. Zwischen Alvero und Alex entwickelt sich eine Liebesgeschichte, welche der Hauptstrang der Handlung ist. Das Thema Intersexualität ist zwar immer präsent, stellt sich aber nie in den Vordergrund; dieser ist für die Protagonist_innen und deren Beziehungen zwischen einander, welche sich während des Films langsam entwickeln, reserviert. 4.3.11. Hintergrund Puenzo erzählt in einem Interview, dass der Konflikt eine Wahl treffen zu müssen, sie am meisten an der Kurzgeschichte von Bizzio interessierte. Nicht nur die Entscheidung zwischen Frausein und Mannsein, sondern auch die Möglichkeit zur Wahl einer explizit intersexuellen Identität. Eine Wahl muss ihrer Meinung getroffen werden, auch das Nichteingreifen in die Entwicklung des Körpers ist eine Entscheidung und somit eine bewusste Wahl. Puenzo recherchierte monatelang für das Drehbuch, sie hat dafür mit Mediziner_innen, intersexuellen Menschen und mit Eltern von intersexuellen Kindern zusammengearbeitet. Trotzdem wollte sie den Film nicht an einen medizinischen Realismus festmachen und Intersexualität anhand einer Fallstudie dokumentieren, sondern eine fiktionale Liebesgeschichte zwischen zwei Heranwachsenden zeigen. Ein wichtiger Aspekt des Films ist das Recht auf Selbstbestimmung über den Körper und die eigene Identität. 249 Der internationale Filmtitel XXY ist laut der Filmhomepage eine dichterische Metapher für Intersexualität; die Chromosomenpaare XX und XY stehen für eindeutige weibliche bzw. männliche Geschlechter, die Vermischung dieser Buchstaben-Paare zum Trio XXY fungieren als Metapher für ein geheimnisvolles, mehrdeutiges Zwischengeschlecht. Der Titel spielt also nicht auf die tatsächliche chromosomale Trisomie an, welche genotypisch für das Klinefelter-Syndrom verantwortlich ist, sondern ist ein künstlerisches Sinnbild für die Geschlechtervermischung. Das Klinefelter-Syndrom kann (zwar auch) zu den 249 Vgl. Interview mit Lucía Puenzo auf der deutschen Filmhomepage von XXY http://www.xxyfilm.de/05_interviews.html letzter Zugriff 31. Mai 2010. 86 intersexuellen Formen gezählt werden, doch der Film skizziert unausgesprochen eine andere (intersexuelle) Diagnose – das Androgenitale Syndrom (AGS). 250 Bei diesem kommt es bei einem XX-Chromosomensatz durch eine Störung der Hormonsynthese in der Nebennierenrinde zu einer erhöhten Androgenausschüttung, welche für eine „Vermännlichung“ der äußeren Genitalien verantwortlich ist. 251 Die Diagnose von Alex wird im Film nie explizit erwähnt, es kann aber anhand der von ihr_ihm einzunehmenden Tabletten – des Hydrocortisons – auf diese rückgeschlossen werden. 4.3.12. Filmästhetik Die Dialoge im Film sind spärlich gesät, jedoch sind sie meist sehr intim und emotionsgeladen. Der Film wird mehr getragen von dem Gezeigten als vom Gesprochenen. Die Gesten und Blicke zwischen den Protagonist_innen schaffen eine filmische Tiefe und porträtieren die intimen zwischenmenschlichen Beziehungen. Meist werden die Protagonist_innen in Großaufnahmen gefilmt, was eine Nähe zu den Figuren herstellt und eine schnelle Identifikation mit den Protagonist_innen ermöglicht. Jede kleine Veränderung ihrer Mimik ist erkennbar, anhand der Gesichtsausdrücke sind ihre Gedanken und Gefühle abzulesen. Die in Halbtotale und Totale geschossenen Landschaftsaufnahmen stehen im Kontrast zu den Großaufnahmen. Die wilden, weiten Landschaften sind der konfliktgeladenen Intimität der Charaktere entgegengesetzt. 252 Die weiten Aufnahmen bringen immer wieder Ruhe in die Erzählung und bieten Platz für die Zuseher_innen, durchzuatmen und die Gedanken schweifen lassen zu können. Die Weiten der wilden Natur – das Motiv des Meeres und des Waldes – symbolisieren die selbstverständliche Freiheit, in welcher alles natürlich erscheint. Die Bilder sind in ein diffuses blau-graues Licht getaucht, welche die filmische Atmosphäre von Distanz und Kälte aufzeigt. Diese kühle Bildatmosphäre spiegelt die Liebesbeziehung zwischen Alex und Alvero wider, welche nie zärtlich ist und bei welcher kein Gefühl von Wärme aufkommt. Beide befinden sich noch auf der Such nach sich selbst und wissen noch nicht mit ihren Gefühlen umzugehen oder sich auf sie einzulassen. Die Bilder unterstreichen auch die Sprachlosigkeit der Darsteller_innen und heben deren sehnsüchtige Blicke auf die endlose Weite der Landschaften hervor. 250 Vgl. Deutsche Filmhomepage von XXY http://www.xxy-film.de/06_background.html letzter Zugriff 31. Mai 2010. 251 Siehe Kapitel Häufigste Formen von Intersexualität 252 Vgl. Interview mit Lucía Puenzo auf der deutschen Filmhomepage von XXY http://www.xxyfilm.de/05_interviews.html letzter Zugriff 31. Mai 2010. 87 4.3.13. Verkörperte Diskurse Die Protagonist_innen im Film nehmen verschiedene Sichtweisen und Standpunkte in Bezug auf Intersexualität ein, welche die unterschiedlichen Diskurse, die darüber geführt werden, sichtbar machen. Deshalb ist nachfolgend das Kapitel in die Hauptprotagonist_innen, mit den zu ihnen dazugehörigen Diskursen, unterteilt. Alex Vor dem ersten persönlichen Kontakt mit Alex erblickt Alvero, welcher nichts über Alex weiß, im Auto bei der Überfahrt ein Foto eines Teenagers in einer medizinischen Mappe, welche sein Vater auf dem Schoß liegen hat, während dieser in einem Buch über den Ursprung der Geschlechter liest. Im Film wird mit dieser Szene Alex als medizinischer Fall eingeführt, sie_er besitzt eine Krankenmappe, welche von einem Chirurgen studiert wird. Dies spiegelt auch die Realität von intersexuellen Personen wider, wo die Medizin mit ihrer bisher alleinigen Definitionsmacht Intersexualität bestimmt. Obwohl Alex im Film als Mensch mit einer Krankenakte, als medizinischer Fall, eingeführt wird vermeidet der Film eine Pathologisierung der Hauptfigur indem er zum Beispiel ungezwungen mit deren Sexualität umgeht. Alex spricht von Anfang an ihre sexuellen Bedürfnisse aus. Beim ersten Gespräch zwischen Alex und Alvero, spricht sie_er ihn offen und direkt auf seine Onaniegewohnheiten an. Während dieser Unterhaltung fragt sie_er ihn, ob er mit ihr_ihm schlafen würde, da sie_er es noch nie getan hat. Alex übernimmt bei dem Gespräch die aktive dominante Rolle, sie_er wirkt sehr ungezwungen und selbstbewusst. Alvero betrachtet beim Betreten des Hauses Kinderfotos von Alex, welche auf einer Kommode stehen; die Bilder zeigen die gleiche Person, welche er davor in den medizinischen Unterlagen seines Vaters gesehen hat. In den älteren Kindheitsaufnahmen ist Alex gut zu erkennen und schaut meist in die Kamera, mit dem Älterwerden entzieht sich Alex immer mehr den Fotos; sie schützt sich vom Abgebildetwerden durch ihre Hand, welche sie vor die Linse hält oder wendet ihr Gesicht im Moment der Aufnahme ab. Die Bildästhetik schafft eine mystische und geheimnisvolle Aura um die Hauptfigur, welche noch mehr Rätsel aufwirft, als Alvero in Alex Zimmer schaut, in welchem Puppen ohne Arme, mit ausgestochenen Augen, aufgeklebten Brüsten und Penissen zu sehen sind. Die Puppen haben eine leicht verstörende Wirkung, ihnen hängt eine Horrorfilmästhetik an. Eine Puppe trägt auf ihrer Brust den Namen Alex und kann als Indiz gesehen werden, dass 88 die Hauptprotagonist_in sich als nicht zugehörig zur „heilen (Puppen-)Welt“ sieht; sie_er fühlt sich dort nicht hineinpassend und anders. Alvero entdeckt auch viele medizinische Fläschchen, ihm wird erklärt, dass diese homöopathische Mitteln gegen Angstzustände, welche Alex öfter plagen, sind; ein Fläschchen ist z.B. gegen Angst vor Überfällen. Im Film wird eine Phase von Alex Leben gezeigt, die sehr von ihrer_seiner Identitätssuche bestimmt ist. Sie_Er hat die Hormontabletten abgesetzt, dadurch trifft sie_er die Entscheidung, nicht Frau und nicht Mann sein zu wollen, sondern ihren_seinen Körper so entwickeln zu lassen, wie er sich ohne künstliches Zutun verändern wird. Die selbstbewusste Seite geht auch mit einer sehr verzweifelten Seite einher, die verletzbar ist und geschützt werden muss, die Angst hat und dies nicht unbegründet, wie im Verlauf des Films dargestellt wird. Alex ist sich ihres_seines „Anderessein“ bewusst, aber sie_er steht dazu, doch das Verhalten der Menschen ihr_ihm gegenüber, mit all den Anfeindungen und Ausgrenzungen, macht es Alex nicht leicht mit ihrem_seinem „Anderssein“ zu leben. Alex Intersexualität wird durch das Vorhandensein eines Penis thematisiert, wobei der Film darauf verzichtet, diesen explizit zu zeigen. Die Puppen in Alex Zimmer haben einen Penis und Brüste angeklebt bekommen. Ihr_sein Skizzenbuch, welches Alvero im Film durchblättert, zeigen nackte Selbstporträts, bei welchen der Penis eine markante Rolle einnimmt. Am deutlichsten wird das Vorhandensein des Penis bei einer Schlüsselszene im Film, bei welcher Alex Alvero beim sexuellen Akt anal penetriert. Der Film spielt mit der Erwartungshaltung und Neugier der Zuseher_innen, welche den Penis sehen wollen. Bei der Gewaltszene, in welcher die Fischerjungen Alex Genitalien sehen wollen, wird der_die Zuseher_in mit dem eigenen Wunsch konfrontiert, die Andersartigkeit von Alex Körper sehen zu wollen. Die Szene ist aus der Vogelperspektive gefilmt, zwei Jungen halten Alex links und rechts fest, ein dritter ist über sie_ihn gebeugt und verdeckt dadurch den Blick auf ihren_seinen Unterkörper. Die Ambiguität der Genitalien wird durch den Gewalttäter bestätigt und kommentiert. Das Interesse an Alex Genitalien wird von der Hauptfigur selbst im Film kritisiert, Alex spricht Alvero in ihrer gemeinsamen Schlussszene am Hafen seine Gefühle für sie_ihm ab, er liebt sie_ihm nicht wirklich, sondern ist nur traurig, weil er „das“ nicht mehr sehen kann. Alex zieht sich die Hose runter und zeigt Alvero ihren_seine Intimbereich, auch in dieser Einstellung ist der Blick darauf den Zuseher_innen verwehrt. Alveros Neugier und 89 Faszination an Alex Genitalien und indirekt auch die der Zuschauer_innen wird hier kritisch aufgezeigt. Im Film gibt es eine weitere Szene, in der das Vorhandensein des Penis evident ist. Am Abend vor der Abreise der Gäste sitzen Alex, Alvero und Vando am Strand vor einem Lagerfeuer. Alex steht auf und geht auf das Meer zu, Vando erhebt sich auch, gibt Alvero den Ratschlag Alex zu vergessen, „sie ist zuviel für dich“ 253 und folgt ihr_ihm Richtung Meer. Vando und Alex stehen nebeneinander am Strand und pinkeln in den Sand. Sie werden von Hinten gefilmt, der Urinstrahl beider ist trotz der Dunkelheit zu erkennen. Hier wird das „zuviel“ von Alex durch das im Stehen pinkeln dargestellt. Alvero Alvero wird im Film als schüchterner und linkischer Teenager dargestellt, welcher von seiner Mutter umsorgt und von seinem Vater, welchen er bewundert, mehr oder weniger ignoriert wird. Auch er befindet sich wie Alex in einer Umbruchszeit seines Lebens und auf der Suche nach seiner Identität. Alvero ist im Film der Einzige, welcher nicht in das Geheimnis um Alex Körper/Geschlechteridentität eingeweiht ist. Die Zuseher_innen sind am Beginn des Films auf dem gleichen Wissensstand wie Alvero, welcher im Laufe des Films langsam hinter das Geheimnis kommt. Er findet schnell Interesse an Alex aufgrund ihrer_seiner unbeschwerten, direkten Art. Alvero wird ab dem ersten Treffen mit Alex von ihr_ihm umworben. Er merkt zwar, dass mit ihr_ihm etwas „nicht stimmt“, in einer Szene sagt er ihr_ihm: „Du bist seltsam und du weißt es. Warum sehen dich so an? Warum? Was hast du?“ 254, trotzdem begehrt er Alex und geht auch eine sexuelle Beziehung mit ihr_ihm ein. Nach diesem sexuellen Akt ist Alvero etwas verstört, weil er sich nicht auskennt; er weiß nicht, ob Alex ein Mädchen oder ein Junge ist. Alex entgegnet ihm auf sein Ansprechen darauf: „Ich bin beides“. 255 Alvero hat damit kein Problem und will diese Intimität noch einmal mit Alex erleben. Mit Alvero wird ein Protagonist eingeführt, welcher eine intersexuelle Person, trotz ihrer_seiner Uneindeutigkeit, begehrt. Es geht im Film nicht nur darum, mit intersexuellen Menschen respektvoll umzugehen, sondern sie auch als begehrenswert darzustellen. 253 XXY. Regie und Buch: Lucia Puenzo. DVD. Argentinien/Frankreich/Spanien: Pyramide Films, 2007. 1:11. XXY, 0:30. 255 XXY, 0:57. 254 90 Kraken und Suli Kraken wird als unterstützender und liebevoller Vater porträtiert. Er ist ein Meeresbiologe, welcher sich für vom Aussterben bedrohte Tiere einsetzt und ein Buch über die Entstehung der Geschlechter geschrieben hat. Kraken akzeptiert Alex, wie sie_er geboren wurde und fand sie_ihm vom ersten Augenblick an perfekt, so wie sie_er war. Suli wird als besorgte Mutter dargestellt, welche nur das Beste für ihr Kind will. Sie ist sich nicht sicher, ob eine Operation Alex Leben in der Gesellschaft erleichtern würde, zieht es aber in Betracht und vermutet es. Die Eltern nehmen, obwohl sie beide das Beste für ihr Kind wollen, verschieden Positionen ein. Kraken will Alex selbst entscheiden lassen und sie_ihn auf ihrem_seinem selbstgewählten Weg unterstützen. Suli will Alex vor der Gesellschaft schützen, in dem sie eine anpassende Operation in Erwägung zieht. Kraken und Suli stehen für viele Eltern von intersexuellen Menschen, welche mit der Entscheidung leben müssen eine Operation zuzulassen oder zu verwehren. In beiden Fällen werden viele Eltern von Schuldgefühl geplagt und sind sich nie sicher, ob sie die beste Entscheidung für ihr Kind getroffen haben. Ramiro Ramiro wird als selbstgefällig und arrogant dargestellt. Er ist ein Vater, der seinem Sohn unter anderem wegen dessen vermeintlicher Homosexualität schon seit Längerem keine Beachtung schenkt und ihm keinen Respekt und Liebe entgegen bringt. Dadurch steht er im krassen Gegensatz zu Alex Vater Kraken. Ramiro ist ein Schönheitschirurg, welcher sich auf Missbildungen spezialisiert hat, deshalb ist das Thema Intersexualität für ihn ein rein medizinisches Phänomen. Er ist nur auf Besuch gekommen, um mit Alex und deren_seinen Eltern über eine geschlechtsangleichende, „normalisierende“ Operation zu sprechen. Ramiro macht sich im Film Notizen und Skizzen zu Alex Fallgeschichte. Im Film scheint es, als wäre die Operation an Alex eine Profilierung seiner chirurgischen Fähigkeiten. Ramiro steht im Film für den medizinischen Diskurs, welcher Intersexualität als Störung sieht, die angepasst werden sollte. Er drängt auf eine baldige Operation, da der Vermännlichungsprozess durch die abgesetzten Hormone bald einsetzen wird und dieser danach irreversibel ist. Ramiro geht davon aus, dass ein chirurgischer Eingriff bei intersexuellen Menschen sinnvoll und notwendig ist um in der (zweigeschlechtlichen) Gesellschaft leben zu können. Dadurch vertritt er die Meinung vieler Ärzt_innen, welche 91 sich für „normalisierende“ Operationen aussprechen, auch wenn es keine gesundheitliche Notwendigkeit dafür gibt. Küstenbewohner Die Küstenbewohner spiegeln im Allgemeinen die Gesellschaft und deren Umgang mit Intersexualität wider. Eine Gruppe von Fischerjungen haben von Alex Geheimnis erfahren und wollen „es“ nun auch sehen. Sie verfolgen Alex am Strand, drängen sie_ihn zu den Sanddünen und einer reißt ihr_ihm die Hose runter, während die anderen sie_ihn festhalten. Die Jungen reagieren verschieden auf das zu Gesicht Bekommene. Während sich die einen über die Abartigkeit auslassen und es als widerlich empfinden, findet es ein anderer aufregend anders, sieht es als Kuriosum an, welches wert ist, erforscht zu werden, auch gegen den Willen von Alex. Diese Reaktionen zeigen zwei konträre Sichtweisen, einerseits Abartigkeit und Ekel, andererseits Spektakel und voyeuristisches Interesse an der Andersartigkeit, beides mitverursacht durch die gesellschaftliche Tabuisierung von Intersexualität. Vando ist der beste Freund von Alex. Es hat eine nicht näher beschriebene Auseinadersetzung zwischen ihnen stattgefunden, bei welcher Alex Vando die Nase gebrochen hat. Die Zuseher_innen erfahren zwar, dass es mit Alex Intersexualität zu tun hatte, um was es dabei genau ging, bleibt ungeklärt. Alex hat Vando ihr Geheimnis anvertraut, welches er weitererzählt hat, dadurch wurde Alex der Neugier der Fischerjungen ausgesetzt. Nach der Vergewaltigungsszene, welche Vando vereiteln konnte, findet eine erneute Annäherung der Freunde statt. Für ihn stellt die körperliche Kondition von Alex keinen Grund dar, die Freundschaft zu ihr_ihm abzubrechen. Die anfängliche Verwirrung ist einem Respekt vor der Person gewichen. Für Vando, wie auch für Alvero, stellt Alex Intersexualität kein Problem dar, sie sehen den Menschen hinter der medizinischen Diagnose. Tankwart In der Einführungsszene des Tankwarts fragt dieser misstrauisch Kraken, welcher ihn aufsucht, ob er Arzt oder Journalist sei. Kraken entgegnete ihm darauf, dass er eine Tochter, einen Sohn hat, wodurch seine ablehnende Haltung verschwindet. Der Tankwart wurde intersexuell geboren, operiert und als Mädchen erzogen. Mit 16 beschloss er, sich zum Mann umzuwandeln, inklusive Hormone, Operation und Namensänderung. Mit dem 92 Tankwart wird ein weiterer intersexueller Mensch eingeführt, seine Erfahrungen und Tipps helfen Kraken und bestätigen ihn in seinem Entschluss, Alex selbst entscheiden zu lassen, was sie_er will. Hier wird durch den Film die Wichtigkeit des Austauschs von Betroffenen und deren Eltern veranschaulicht; der Tankwart steht für die Relevanz und Tragweite von Selbsthilfegruppen. Die Szene mit dem Tankwart zeigt auch die unterschiedlichen, individuellen Entscheidungen von intersexuellen Menschen auf; für ihn war eine Umwandlung zum Mann die richtige Entscheidung. Alex hingegen will keine Wahl zwischen den beiden gesellschaftlich anerkannten Geschlechtern treffen. Was für jemanden richtig ist, muss für den anderen nicht der Fall sein. Durch die Einführungsszene wird auch das Interesse der Medizin und der Medien am Thema Intersexualität verdeutlicht. 4.3.14. Symbolik Der Film arbeitet viel mit Symbolen, deshalb werden nachfolgend einige dieser interpretiert. Im Film sind die immer wieder auftauchenden Meeresschildkröten ein Symbol der Identitätssuche von Alex. Kraken setzt sich als Biologe für deren Schutz ein, so wie er auch Alex beschützen will, bis sie_er ihre_seine eigene Entscheidung treffen kann. Am Anfang des Films wird eine Geschlechtsbestimmung an einer toten Schildkröte gefilmt, dafür muss der Panzer aufgeschnitten werden, denn das Geschlecht ist von Außen nicht ersichtlich. Alex Geschlecht ist von Außen auch nur schwer zu entziffern, die Kleidung ist geschlechtsneutral – kurze Hose, ein lockersitzendes Leibchen, eine Kapuzenweste und Gummistiefel; ihre_seine Körperhaltung und Gang ist bestimmt und selbstbewusst. Ihr impulsives Temperament, kommt mehrmals zum Vorschein, wenn sie_er zum Beispiel Vando schupst oder Alvero von sich wegstößt. Oberflächlich betrachtet hat Alex eine harte Schale – einen robusten Panzer, der ihren_seinen weichen Kern beschützt, welcher in traurigen Blicken und in der Angst vor Verletzungen sichtbar wird. Die Meeresschildkröten werden von Kraken mit einer Marke gekennzeichnet, anhand welcher ihre Reise verfolgen werden kann. Alex trägt auch eine dieser Marken um den Hals, sie befindet sich somit auch auf einer Reise, einer Reise zum Erwachsenwerden. Alex schenkt Alvero eine dieser Erkennungsmarken, die gleiche, die sie_er trägt. Nach der Überreichung steckt er sie in seine Hosentasche, er ist sich noch nicht sicher, ob er diese Reise antreten will. In ihrer letzten gemeinsamen Filmszene bei Alveros Abreise am Hafen, zeigt er Alex, dass er sie jetzt auch um den Hals trägt. Ein Zeichen, dass Alvero sich wagt, die Suche nach seiner Identität anzutreten. 93 Kraken und ein Mitarbeiter verarzten eine verletzte Meeresschildkröte, welche sich im Netz eines Fischers verfangen und dabei eine Flosse verloren hat. Alvero fragt Alex, welche die Szene mitverfolgen, ob das Tier überleben wird. Es wird überleben, kann aber nie mehr zurück ins Meer, antwortet Alex. Die abgetrennte Flosse steht hier für die mögliche Amputation von Alex Penis, diese Operation wäre endgültig und kann nie wieder rückgängig gemacht werden. Das Meer symbolisiert die Suche nach einer intersexuellen Identität bzw. die Freiheit nach Selbstbestimmung. Die Metapher der Schildkröte als bedrohte Art und als seltenes Tier kommt im Film auch des Öfteren zur Anwendung und steht synonym für das Phänomen Intersexualität. Die Fischerjungen laden leere Schildkrötenpanzer vor der Hütte der Familie Kraken ab. Es ist ein Zeichen, dass die Fischer kein Interesse an den Schutz bedrohter Arten haben und somit auch Alex durch ihre_seine „Andersheit“ bedroht ist. Diese Szene ereignet sich kurz vor der Vergewaltigungsszene, wo sich diese Bedrohung bestätigt. In einer Szene schneidet Ramiro luftgetrocknetes Fleisch dünn mit einem scharfen Messer auf. Alex betritt die Küche, nimmt sich ein Stück, beißt davon ab und fragt ihn, ob er gerne Körper aufschneidet. Dieser antwortet ihr_ihm, dass es sein Beruf ist. Hier wird das Aufschneiden des Luftgetrockneten in direkter Verbindung zu Ramiros chirurgischer Arbeit gesetzt. 4.3.15. Geschlecht und Sprache XXY spiegelt sehr gut wider, wie gesellschaftliche Kategorien durch binäre Sprach- und Denkstrukturen geprägt sind. Die Einteilung der Menschen in Mann und Frau, in weiblich und männlich, und der Zwang, diesen binären Kategorien zu entsprechen, ist im Film sehr präsent. Am Anfang des Films wird Alex als weiblich angesehen und angesprochen, sie_er ist Krakens Tochter. Nachdem aber Kraken Alex und Alvero beim sexuellen Akt sieht, bei welchen Alex die dominante – penetrierende Position einnimmt und nach der Unterhaltung mit dem intersexuellen Tankwart verändert sich die Anrufung des Vaters. In der Szene, in welcher Kraken die Fischerjungen konfrontiert, welche Alex Gewalt zugeführt haben, droht er ihnen, dass sie seinen Sohn nicht mehr anfassen sollen. Diese Stelle ist im Film sehr markant, Kraken spricht von Alex als seinen Sohn. Es hat eine Transformation stattgefunden, von weiblich zu männlich, für Kraken gibt es nur zwei Möglichkeiten, entweder Tochter oder Sohn. Er ist in dem Bereich sprachlos, weil es keine alternativen Begrifflichkeiten gibt. Dieser Zwang der Zweigeschlechtlichkeit ist durch die Sprache offensichtlich, welche keinen Platz für ein anderes Geschlecht hat, welches nicht in die dichotome Aufteilung passt. 94 Alex selbst beansprucht für sich nie eine männliche Kategorie und ist sogar der Meinung, dass es vielleicht nichts zu entscheiden gibt. Sie_er entschließt sich für eine intersexuelle Identität bzw. trifft die Entscheidung keine dezidierte Wahl für eines der beiden gesellschaftlich anerkannten Geschlechter zu treffen. 4.4. Gegenüberstellung Tintenfischalarm und XXY Abgesehen von der filmästhetischen Ebene und der Tatsache, dass ein dokumentarischer Film mit einem fiktionalen verglichen wird, unterscheiden sich die zwei Filme vor allem im Umgang mit Intersexualität durch die verschiedenen Ausgangssituationen der Hauptprotagonist_innen. Alex Jürgen wurde als Kind der gesellschaftlichen Geschlechternorm operativ angepasst, seine_ihre intersexuelle Identität definiert sich durch den postoperativen Körper, durch die Narben und das was nicht mehr dar ist. Alex hingegen wird durch ihre_seine vorhanden geschlechtliche Ambiguität als intersexueller Mensch identifiziert. In beiden Filmen treten, abgesehen von den Hauptfiguren, noch andere intersexuelle Personen auf. In beiden Fällen verkörpern sie die Wichtigkeit von Erfahrungsaustausch vieler Betroffener – sie sind Experten des Themas, weil sie es selbst durchlebt haben. Trotz der verschieden Ausgangssituationen plädieren beide Filme für das Recht auf freie Entscheidung und zeichnen den oft harten und schmerzhaften Weg der Identitätsfindung nach, wobei diese bei XXY in Alex Pubertät stattfindet und bei Tintenfischalarm erst bei der „zweiten, künstlich eingeleiteten Pubertät“ in Alex Jürgens 20igern. In Tintenfischalarm wird der medizinische Diskurs über Intersexualität durch die Betroffenen thematisiert, meist wird er in einem negativen Licht gezeigt aufgrund der früheren Behandlungsmethoden. Trotzdem wird auf die medizinische Institution zurückgegriffen, Alex Jürgen nimmt Hormone ein und lässt sich die Brüste chirurgisch entfernen. In XXY wird der medizinische Diskurs durch Ramiro verkörpert, welcher auf eine normalisierende Operation drängt. Weiters kann durch die im Film gezeigten Hormone, dem Hydrocortison, auf Alex Diagnose geschlossen werden, welche im Film – wie auch bei Tintenfischalarm – nicht explizit erwähnt wird. Partien_inne mit AGS müssen ein Leben lang Hormone substituieren, da sie im Körper nicht produzierte werden können. Im Film werden die Hormone nur in Verbindung einer möglichen Vermännlichung gebracht und nicht mit der Verbindung von gesundheitsgefährdenden Auswirkungen aufgrund eines Mangels. Wie schon erwähnt, wollte Puenzo keine medizinische Fallstudie präsentieren und legte keinen oder nur wenig Wert auf medizinischen Realismus. 95 Alex setzt die Hormone selbstständig ab, sie_er will nicht mehr künstlich in die Entwicklung des Körpers eingreifen. In XXY werden die Hormone als Eingriff in den Körper gesehen, als künstliche Veränderung der Natur. Auch in Tintenfischalarm werden die in der Kindheit eingenommenen Hormone als künstliche Veränderung wahrgenommen. Alex Jürgen spricht immer von einem Urzustand, der durch die Operationen und Hormone zerstört wurde, welchen er_sie aber gern wiederherstellen würde. Dies versucht er_sie durch die Substituierung von Testosteron, welches aufgrund der entfernten Gonaden nicht mehr im Körper produziert werden können. Ein bedeutender Unterschied der beiden Filme ist die Einbindung von intersexuellen Menschen in dem Film. Alex Jürgen wirkt als intersexuelle Person aktiv im Film mit, während bei XXY, intersexuelle Personen zwar an der Recherche von Puenzo beteiligt waren, aber nicht direkt im Film mitwirkten. Die Selbstidentifikation der Hauptfiguren ist unterschiedlich. Alex Jürgen bezeichnet sich als dazwischen – zwischen den Geschlechtern – oder auch als uneindeutig und entscheidet sich aufgrund der Nichtlebbarkeit einer intersexuellen Identität für das männliche Geschlecht, wobei er_sie sich als intersexueller Mann identifiziert. Alex hingegen verweist im Film darauf, dass sie beides ist, als männlich und weiblich und sich nicht für eines entscheiden will. Hier muss noch mal aufgezeigt werden, dass es sich bei Alex um eine fiktive Figur handelt und keine real existierende Person porträtiert. In beiden der Filme wird sehr offen mit dem Thema Sexualität umgegangen. Die Hauptprotagonist_innen reden unbeschwert über ihr sexuelles Begehren, welches bei beiden erst zum Erblühen beginnt. 96 5. Resümee Die Ausgangsthese, dass Intersexualität erst durch Diskurse konstruiert wird, kann anhand der historischen Analyse des Phänomens bestätigt werden. Wie in der Untersuchung veranschaulicht wurde, haben sich die Einflüsse der Diskurse untereinander immer wieder verändert, somit sind die Bedeutungssysteme als ständig in Bewegung anzusehen und nie fix und unveränderbar. Die Medizin hat seit dem 19. Jahrhundert die Definitionsmacht über den Körper; im Laufe der Vergeschlechtlichung der Moderne konstituierte sie das Phänomen Hermaphroditismus bzw. Zwittertum als normabweichende Krankheit. Erst durch die Etablierung des Zweigeschlechtersystems als natürliche Tatsache wurde das Phänomen Intersexualität als dessen Abweichung und Störung erschaffen, da es eine Bedrohung für die konstituierte Gesellschaftsstruktur darstellte; es wurde von der Norm abgegrenzt um diese wiederum zu bestätigen. Erst die über Intersexualität geführten Diskurse konstituieren das Phänomen als solches. Es unterliegt, wie jede gesellschaftliche Kategorie, einem Wandel und kann nicht als festgeschrieben verstanden werden. Das Wissen über und der Wahrheitsanspruch bezüglich dieses Themas sind geprägt von machtvollen Diskursen – wie zum Beispiel vom medizinischen Diskurs – und können nicht als absolut begriffen werden. Die neu angefachte Diskursivierung von Intersexualität und die wuchernden Diskurse zu diesem Thema können als Chance gesehen werden, die Lebensbedingungen von intersexuellen Menschen zu verbessern. Durch das zu bröckeln beginnende Tabu über Intersexualität wird das Thema gesellschaftlich sichtbar. Betroffene beeinflussen durch ihr in die Öffentlichkeit Treten den Diskurs, der darüber geführt wird. Die öffentliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik veränderte die Wahrnehmung der Gesellschaft im Umgang mit intersexuellen Menschen. Einen wichtigen Beitrag zur Diskursivierung leisten auch die Filme über Intersexualität, welche die Lebensumstände von Betroffenen veranschaulichen und Menschen hinter der pathologisierenden Diagnose porträtieren. Der medizinischen „Krankheit“ werden Einzelschicksale und Lebenserfahrungen gegenübergestellt, welche dadurch ein Identifizierung und Empathisierung mit den Betroffenen ermöglicht. Dies kann anhand der analysierten Filme nachgezogen werden, welche einen respektvollen Umgang mit intersexuellen Menschen propagieren und sich für Selbstbestimmung und Wahlfreiheit einsetzen. Weiters nehmen die Filme eine aufklärende Funktion ein, indem sie über das gesellschaftlich nicht sichtbare Thema informieren oder es thematisieren. 97 Interessant zu beobachten wird sein, welche Auswirkungen die akademische und filmische Auseinandersetzung und die von den Betroffenen geführte in Zukunft auf medizinische, gesellschaftspolitische und rechtliche Aspekte haben wird. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen ist der Diskurs über Intersexualität in einer Umbruchsphase. Zu wünschen ist, dass durch einen toleranteren und respektvollen Umgang mit diesem Thema die realen Lebensbedingungen von intersexuellen Menschen optimiert werden. Im Feld der Gender und Queer Studies kann Intersexualität einen wichtigen Beitrag leisten, da die Thematik das Potenzial hat, die festgefahrene zweigeschlechtliche Gesellschaftsstruktur aufzubrechen bzw. aufzuweichen. Das Thema ist ein fruchtbares Forschungsfeld um Geschlechtszuweisungen kritisch zu hinterfragen und Identitätsfragen neu zu diskutieren, da es an den bestehenden Normen der Gesellschaft rüttelt. 98 6. Quellenverzeichnis Barbin, Herculine: Meine Erinnerungen In: Barbin, Herculine/Foucault, Michel: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Hrsg. v. Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Frankfurt/Main: 1998. Benshoff, Harry (Hg.): Queer Cinema. The Film Reader. NY: Routledge, 2004. 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Weiters wird aufgezeigt, wie Wissen und Wahrheit durch Diskurse erzeugt werden und somit gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen sind – sie sind deshalb nie fixe und unumstößliche Ansichten. Dies kann sehr gut anhand des Intersex-Diskurses aufgezeigt werden, welcher sich in den letzten Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten gravierend verändert hat. Besonders seit den 1990er hat einen Wiederbelebung des Themas stattgefunden, durch das Öffentlichwerden von intersexuellen Stimmen wurde ein jahrzehntelanges Tabu gebrochen. Davor bestimmte die Medizin zum Großteil über das Phänomen, pathologisierte es, tabuisierte es und brachte es somit zum gesellschaftlichen Verschwinden. Erst durch das Aufkommen des IntersexAktivismus wurde die Möglichkeit einer intersexuellen Identität thematisiert. Die Betroffenen selbst schafften einen Diskurs über Intersexualität und veränderten somit die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem Thema. Der „Krankheit“ wurde ein Gesicht gegeben, besser gesagt mehrere, die Anonymität wurde verlassen und Rechte wurden eingefordert. Der von intersexuellen Menschen geforderte Anspruch auf Wahlfreiheit regte den medizinischen Diskurs über Intersexualität der letzten 20 Jahre heftig an und führte zu Verbesserungen der Behandlungsmethoden. Hier kann sehr gut die machtvolle Wirkung von Diskursen nachgezeichnet werden. Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen oder in dieser nicht sichtbar sind, können Macht ergreifen, in dem sie selbst einen Diskurs schaffen, um ihre Lage (im besten Fall) zu verbessern. 103