DIPLOMARBEIT
Titel der Diplomarbeit
„(Filmische) Diskursivierung von Intersexualität“
Verfasserin
Eva Rammesmayer
angestrebter akademischer Grad
Magistra der Philosophie (Mag.phil.)
Wien, 2010
Studienkennzahl lt. Studienblatt:
A 317
Studienrichtung lt. Studienblatt:
Theater-, Film- und Medienwissenschaft
Betreuerin / Betreuer:
Mag. Dr. Andrea B. Braidt, MLitt
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung ...................................................................................................................... 1
2.
Werkzeuge und Theorien ............................................................................................ 3
2.1.
Foucault ............................................................................................................... 3
2.1.1.
Diskursanalyse ............................................................................................... 4
2.1.2.
Das Sexualitätsdispositiv ............................................................................... 9
2.2.
Butler ................................................................................................................. 11
2.2.1.
Macht ........................................................................................................... 11
2.2.2.
Subjekt ......................................................................................................... 13
2.2.3.
Geschlecht(s)/-identität/Begehren ............................................................... 13
2.2.4.
Performativität ............................................................................................. 14
Materialisierte Körper .................................................................................. 18
2.2.5.
Dekonstruktion............................................................................................. 20
2.2.6.
Genealogie der Geschlechterontologie ........................................................ 21
Kulturelle Intelligibilität .............................................................................. 22
Phallogozentrismus und die heterosexuelle Matrix ..................................... 22
Identitäten außerhalb der heterosexuellen Norm ......................................... 23
3.
2.2.7.
Resignifikation ............................................................................................. 25
2.2.8.
Zusammenfassung ....................................................................................... 27
Intersexualität ............................................................................................................ 29
3.1.
3.1.1.
3.2.
Hermaphroditismus – Vom Mythos zur Pathologisierung ................................ 30
Der Fall Herculine Barbin, genannt Alexina B. .......................................... 33
Vom pathologisierten Hermaphroditen zur Zuschneidepraxis an intersexuellen
Körpern .............................................................................................................. 37
3.2.2.
John Money.................................................................................................. 37
3.2.3.
Der Fall Bruce/Branda - John/Joan .............................................................. 38
3.2.4.
Behandlungsmethoden ab den 1950ern ....................................................... 40
3.3.
Aktueller medizinischer Diskurs ....................................................................... 42
3.3.5.
Häufigsten Formen von Intersexualität........................................................ 44
3.3.6.
Geschlechtszuweisung und -anpassung ....................................................... 48
3.3.7.
Intersex vs. Disorder of Sex Development ................................................... 51
3.4.
3.4.8.
Rechtlicher Diskurs............................................................................................ 53
Aktuelles Zivil- und Strafrecht .................................................................... 55
3.4.9.
3.5.
Der Fall Birgit_Michel Reiter ...................................................................... 58
Geschlechtsidentität: Intersexualität? ................................................................ 59
3.5.10.
XY-Frau ....................................................................................................... 61
3.5.11.
Frauen mit Stoffwechselstörung (AGS)....................................................... 63
3.5.12.
Intersexaktivist_innen .................................................................................. 64
3.6.
Intersex und Gender Studies .............................................................................. 65
3.6.13.
3.7.
4.
Postgender ................................................................................................... 67
Abschließender Überblick.................................................................................. 67
Filmischer Diskurs ..................................................................................................... 69
4.1.
Überblick über Dokumentationen des 21. Jahrhunderts .................................... 69
4.2.
Tintenfischalarm ................................................................................................ 71
4.2.1.
Anfangssequenz ........................................................................................... 72
4.2.2.
Filmästhetik und -aufbau ............................................................................. 73
4.2.3.
Hintergrund .................................................................................................. 75
4.2.4.
Gender- und Identitätsdiskurs ...................................................................... 77
4.2.5.
Medizinischer Diskurs ................................................................................. 78
4.2.6.
Intersex-Gruppen und Aktivist_innen .......................................................... 82
4.2.7.
Sexualität und Begehren .............................................................................. 83
4.2.8.
Rechtlicher Diskurs ...................................................................................... 84
4.2.9.
Elisabeth Scharangs Rolle im Film .............................................................. 85
4.3.
XXY .................................................................................................................... 85
4.3.10.
Story ............................................................................................................. 85
4.3.11.
Hintergrund .................................................................................................. 86
4.3.12.
Filmästhetik.................................................................................................. 87
4.3.13.
Verkörperte Diskurse ................................................................................... 88
4.3.14.
Symbolik ...................................................................................................... 93
4.3.15.
Geschlecht und Sprache ............................................................................... 94
4.4.
Gegenüberstellung Tintenfischalarm und XXY .................................................. 95
5.
Resümee ...................................................................................................................... 97
6.
Quellenverzeichnis ..................................................................................................... 99
7.
Abstract ..................................................................................................................... 103
8.
Lebenslauf ................................................................................................................. 104
1. Einleitung
Der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Aufstellung der Forschungsthese, dass
Intersexualität als Phänomen erst durch Diskurse, welche darüber geführt werden,
konstruiert wird. Dadurch werden folgende Fragen aufgeworfen: Wie wird das Phänomen
Intersexualität diskursiv hergestellt? Welche verschiedene Diskurse sind/waren daran
beteiligt bzw. welche Institutionen haben/hatten die Definitionsmacht über den IntersexDiskurs?
Um die oben aufgestellte Forschungsthese zu verifizieren und die aufgeworfenen Fragen
beantworten zu können, ist die Diplomarbeit in drei Kapitel unterteilt.
Im ersten Kapitel werden geeignete Werkzeuge für diese Untersuchung der Thematik
vorgestellt und erläutert. Es wird in die Diskursanalyse von Foucault und die
Geschlechtertheorie von Butler eingeführt. Hier ist vor allem der Moment des
konstruierten Geschlechts von Bedeutung. Dieses Kapitel setzt sich unter anderem und im
weitesten Sinne auch mit gesellschaftlichen Normen, Machtstrukturen und der Entstehung
von Wissen und Wahrheit auseinander, da sie eng mit dem Thema Intersexualität
verwoben sind bzw. großen Einfluss auf dessen Konstruktion haben/hatten.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den verschiedenen Diskursen, welche über das
Thema Intersexualität geführt werden/wurden. Der Aufbau ist chronologisch und zeichnet
die Entwicklungen und Veränderungen des gesellschaftlichen Umgangs mit dem
Phänomen auf. Der historische Diskurs beginnt mit der Mythologie, geht über die
Pathologisierung von Hermaphroditismus bis hin zur medizinischen „Normalisierung“ von
intersexuellen Menschen. Danach wird näher auf die aktuellen medizinischen, rechtlichen,
akademischen und gesellschaftspolitischen Diskurse eingegangen.
Das dritte Kapitel widmet sich der filmischen Diskursivierung von Intersexualität. Hier
werden kurz Dokumentarfilme der letzten 10 Jahre aus dem deutschsprachigen Raum
vorgestellt und ausführlicher auf den Dokumentarfilm Tintenfischalarm und den Spielfilm
XXY eingegangen. Wie gehen die Filme mit dem Thema Intersexualität um? Welche
Diskurse werden in den Filmen angeführt? Wie werden die Personen als intersexuell im
Film eingeführt bzw. erschaffen? Wie tragen die Filme zum Diskurs über Intersexualität
bei?
1
Die Sprache ist ein machtvolles Instrument, durch sie können Annahmen reproduziert,
zementiert und zur „Wahrheit“ erklärt werden. Andere Aussagen wiederum bekommen
ihre Existenz abgesprochen, sie werden unsagbar und oft undenkbar, indem
Ausdruckmöglichkeiten verwehrt werden. Aber Sprache ist veränderbar und einen stetigen
Wandel unterworfen. Um über ein Thema verhandeln zu können, muss auch eine
sprachliche Ebene existieren, deshalb verwende ich den _ um die zwanghafte
Zweigeschlechtlichkeit aufzuzeigen und sie zu hinterfragen. Der _ soll jenen Menschen
Platz bieten, welche sich nicht in das rigide Zweigeschlechtermodell einordnen kann oder
will.
Diese Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Wahrheit, es ist ein Auszug
aus verschieden Thesen und Behauptungen unterschiedlichster Autor_innen, welche wie
Puzzelstücke zu einem vermeintlichen Ganzen zusammengesetzt werden. Während dem
Lesen sollte immer im Hinterkopf behalten werden, dass die vorliegende Arbeit selbst
einen Diskurs über Intersexualität erschafft und somit das Phänomen mitkonstruiert.
2
2. Werkzeuge und Theorien
2.1. Foucault
Michel Foucault (1926-1984) ist wohl der meist diskutierte Philosoph im Zusammenhang
mit „Poststrukturalismus“ und „Postmoderne“. Ob er wirklich zu den Vertretern dieser philosophischen - Denkrichtungen gehört, ist jedoch ungewiss. Mit Sicherheit kann jedoch
gesagt werden, dass er diese geistigen Strömungen vorbereitet hat und an ihrer
Weiterentwicklung stets mitgewirkte. Seine Philosophie unterscheidet sich von denen der
Poststrukturalist_innen und Postmodernen dadurch, dass sie eine Philosophie der Sozialund Kulturgeschichte ist. Foucault war Psychologe, Soziologe und Historiker, der sich mit
konkreten Problemen der sozialgeschichtlichen, politischen und kulturellen Wirklichkeit
befasste. Er war und blieb aber stets Philosoph. 1
Mit seinen Werken führte Foucault eine Ethnologie der Gegenwart durch. Er untersuchte,
wie Wissen entsteht und sich etabliert, wie Macht funktioniert und in allen Bereichen
Einfluss nimmt und wie sich das Subjekt in dieser Umgebung konstituiert. Foucault prägte
mit seinen Arbeiten den Begriff des Diskurses und kann als Begründer der Diskursanalyse
gesehen werden.
Er bezeichnete in einen Interview seine Bücher als Werkzeugkisten, aus denen Sätze, Ideen
oder Analysen als Werkzeuge herausgenommen werden können, um damit die
Machtsysteme kurzzuschließen, zu zerlegen oder aufzubrechen. 2
Diesen Leitsatz folg(t)en viele Wissenschafter_innen in verschiedensten akademischen
Bereichen um Machtsysteme zu analysieren oder sie aufzubrechen - Soziologie,
Philosophie, Linguistik, Politikwissenschaften und Literaturwissenschaften sind nur einige
davon. Besonders wegen seinen Studien zu Sexualität beeinflusste Foucault die
feministische Theorie. Ludewig geht davon aus, dass er der am meist rezipierte
„postmoderne“ Denker im Feld der Gender Studies ist und als Vordenker der daraus
entstandenen Queer-Theorie verstanden werden kann. 3
1
Vgl. Fink-Eitel, Hinrich: Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius, 1992. S. 7-9.
Vgl. Ludewig, Karin: Die Wiederkehr der Lust. Körperpolitik nach Foucault und Butler. Frankfurt/Main
u.a.: Campus Verlag, 2002. S. 63.
3
Vgl. Ludewig (2002), S. 116.
2
3
2.1.1. Diskursanalyse
Die Diskursanalyse untersucht die Wissensordnung in einem Bereich und wie die jeweilige
Tiefenstruktur des Wissens beschaffen ist, welche den alltäglichen Subjekten verborgen
bleibt und trotzdem ihr Denken strukturiert. Sie analysiert wie diskursive mit nichtdiskursiven Praktiken zusammenhängen und wie Wissensordnungen mit sozialen
Strukturen und Einteilungen verbunden sind. 4
Der Diskurs ist ein zentraler und gleichzeitig wandelbarer Begriff in Foucaults Schriften.
Er
zieht
sich
unter
ständiger
Bedeutungsverschiebung
durch
dessen
gesamte
Schaffensphase. In der Diplomarbeit soll der Diskurs als ein Komplex von aufeinander
verweisenden und sich gegenseitig bestätigenden Äußerungen über einen Objektbereich
verstanden werden. 5 Der Diskurs ist kein explizites Wissen – wie z.B. der Bestand von
Informationen zu einem Thema – sondern eine überindividuelle Praxis, welche die Art und
Weise des Denkens und des Äußerns darstellt. Er besteht aus einem System von Aussagen
in einem Feld, welche im Diskurs ermöglicht werden und Wirkungsmacht erzielen. Der
Diskurs
ist
ein
Aussagesystem,
Wissenselemente hervorbringt.
6
welches
die
besagten
Sachverhalte
erst
als
Er ist eine regulierte Praxis von Aussagen, deren
Bedeutung sich erst in einem diskursiven Raum erschließt. Der Sinn jeder Aussage ändert
sich je nach dem diskursiven, gesellschaftspolitischen und geschichtlichen Zusammenhang
in dem sie steht und je nach dem diskursiven Praxisfeld, in welches sie eingeflochten ist.
Wird dieser Gedanke weitergesponnen, so existieren Gegenstände des Wissens nie
vordiskursiv. Die Materialität von Diskursen liegt darin, dass sie ihre Gegenstände
kategorial durch Aussagen hervorbringen, sogar bis in die Regulierung von institutionellen
Praktiken hinein. 7
Der Diskursbegriff steht im Zentrum der foucaultschen Diskurs-„Theorie“ und ist ein
strukturierendes Prinzip von Kultur und Gesellschaft, er prägt weiters die Beschaffenheit
von
„Theorie“
als
geschichtliche
(Re-)Konstruktion
4
von
Diskursen
und
Vgl. Diaz-Bone, Rainer: Entwicklungen im Feld der foucaultschen Diskursanalyse. Historical Social
Research, Vol. 28, No. 4 (2003), S. 65.
5
Vgl. Ludewig (2002), S. 91f.
6
Vgl. Diaz-Bone, Rainer: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse. Historical Social
Research, Vol. 31, No. 2, (2006), S. 251.
7
Vgl. Bublitz, Hannelore: Diskursanalyse als Gesellschafts-‚Theorie’. „Diagnostik historischer Praktiken am
Beispiel der ‚Kulturkrisen’-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende. In: Bublitz,
Hannelore u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/Main
u.a.: Campus Verlag, 1999a. S. 23.
4
Diskursformationen. 8 Theorie muss nach Foucault diskursiv und konstruktiv verstanden
werden; sie wird an Diskursen entlang gebildet. Diskurse enthalten bereits alle Elemente
von Theorien: sie haben Aussageformationen – Gegenstände, Begriffe, Subjektpositionen,
strategische Wahl – welche immer örtlich bedingte und geschichtsspezifische Merkmale
aufweisen. 9
Wissenschaftliche Diskurse – in denen ausgehandelt wird, was als wahr gelten kann – und
sozikulturelle Machtkonstellationen sind nicht unabhängig voneinander. Die Wahrheit ist
mit der Macht verwoben und die Theorie ist dadurch kein Ort der Herstellung eines reinen
interessenlosen Wissens. Mit Foucaults Konzept des Diskurses wird die innige
Verbundenheit von Macht und Wissen veranschaulicht. 10
Foucault konzipiert die Vorstellung einer strategisch-produktiven Macht. Sie wird nicht
von einer gesellschaftlichen Instanz besessen und ausgeübt, sie existiert vielmehr im
Verhältnis zwischen den Instanzen. Machtbeziehungen herrschen überall, wo es
Gesellschaft gibt. 11 Im Diskurs zeigt sich Macht darin, dass etwas zum diskursiven
Ereignis und damit zum Gegenstand des Wissens wird. Macht und Diskurs bedingen sich
gegenseitig: „Es sind die gesellschaftlichen Machtbeziehungen, die den Diskurs in seiner
spezifischen Form in die Welt setzen. In diesem Sinne setzt der Diskurs die Macht
unmittelbar voraus. Zugleich produziert er aber auch Machtbeziehungen, indem er
Gegenstände für soziales Handeln hervorbringt.“ 12
Diskurse erscheinen als geschichtlich verortete Problemstellungen des bis dato geltenden
Wahren, mit dem Effekt, abermals Wahrheit zu erzeugen. Wahrheit erscheint dadurch als
eine Wirkmöglichkeit der Macht, weil durch Diskurse Wahrheit produziert und somit
soziale Wirklichkeit geschaffen wird. Jede Gesellschaft hat eine eigene Politik der
Wahrheit, welche entscheidet, welche Diskurse wirken dürfen. Es gibt Instanzen, welche
„wahre“ von „falschen“ Aussagen unterscheiden und jeweils spezifische Verfahren der
Wahrheitsfindung anwenden. Wahrheit ist somit ein Ensemble von geregelten und
8
Vgl. Bublitz (1999a), S 27.
Vgl. Bublitz (1999a), S 30.
10
Vgl. Ludewig (2002), S. 92.
11
Vgl. Bauer-Jelinek, Christine: Was ist Macht? http://www.bauer-jelinek.at/macht/machtdefinition
12
Seier, Andrea: Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster. In: Bublitz, Hannelore
u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/Main u.a.:
Campus Verlag, 1999. S. 75.
9
5
regelnden Verfahren für die Produktion, Verteilung, Zirkulation und Wirkungsweise von
Aussagen. 13
Die foucaultsche Diskusanalyse dekonstruiert die Allgemeingültigkeit von Wissen als
geschichtliche Ordnungsstrukturen von Gesellschaft, fachspezifische Wahrheiten sind
demnach Effekte von Diskursen. Die Diskursanalyse hat somit deontologisierenden
Charakter, da sie sichtbar macht, wie Wahrheiten jeweils historisch „erfunden“ und wie sie
innerhalb sozialpolitischer, wirtschaftlicher und kultureller Hegemonie wirksam werden. 14
„Ich möchte zeigen, daß [sic!] viele Dinge, die Teil unserer Landschaft sind – und
für universell gehalten werden -, das Ergebnis ganz bestimmter geschichtlicher
Veränderungen sind. Alle meine Untersuchungen richten sich gegen Gedanken
universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein. Sie helfen entdecken, wie
willkürlich Institutionen sind, welche Freiheiten wir immer noch haben und wie viel
Wandel immer noch möglich ist.“ 15
Foucault zeigt auf, dass die Rekonstruktion einer „wahren“ Geschichte anstelle einer
Geschichtsphilosophie tritt, dadurch werden jene Praktiken rekonstruiert, durch welche
bestimmte Elemente so miteinander verwoben werden, dass rückblickend ein Objekt
erscheint, das angeblich vor dem geschichtlichen Prozess existiert hat. Er ist sich sicher,
dass kein komplettes oder unumstößliches Wissen über die historischen Grenzen erlangt
werden kann. 16
Foucault ist der Annahme, dass die modernen Gesellschaften zu viel Respekt gegenüber
dem Diskurs zeigen, dass sie die im Diskurs produzierten Wahrheiten verehren. Diese
Verehrung führt er auf eine Angst vor dem Gesagten - der Masse aller Aussagen - zurück
und dient als Tarnung vor dem ständigen ordnungslosen Wuchern des Diskurses.
Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich
kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse
Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu
bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und
bedrohliche Materialität zu umgehen. 17
Der Zugriff auf Diskurse erfolgt durch Verbote, durch Ritualisierung der Inhalte und durch
Tabuisierung der Gegenstände, sowie durch die Eindämmung des im Diskurs immanenten
13
Vgl. Bublitz, Hannelore: Diskursanalyse – (k)eine Methode? Eine Einleitung. In: Bublitz, Hannelore u.a.
(Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/Main u.a.: Campus
Verlag, 1999b. S. 11.
14
Vgl. Bublitz (1999b), S. 13f.
15
Foucault, Michel: Wahrheit, Macht und Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault
(25. Oktober 1982). In: Foucault, Michel (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt/Main, 1993. S. 17.
16
Vgl. Bublitz (1999a), S 30f.
17
Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. 8. Auflage, Frankfurt a. Main 2001. S. 10.
6
Willens zur Wahrheit. Die Regulierung erfolgt auf der Ebene des Diskurses, nicht
außerhalb oder jenseits dessen. 18
Der
Diskurs
stellt
Verbindung
zwischen
Aussageformationen,
sozialen
Gruppenformationen, alltäglichen Wertvorstellungen und institutionellen Praktiken her. Er
ist ein statischer, die Ordnung bewahrender und zugleich dynamischer Moment. Der
symbolische Ordnungscharakter des Diskurses besteht auf der Ebene des Wissens und auf
der Ebene gesellschaftlicher Praktiken. Geschichtliche Kenntnisse und Annahmen werden
als Wissen in „Bibliotheken“ (an)geordnet. Die Diskurse als gesellschaftliche Praxis
übernehmen Ordnungsfunktionen, indem sie das Wahre vom Falschen, das Normale vom
Nicht-Normalen trennen und somit den Prozess steuern, in dem sich die der Norm
Entsprechenden gegen die Anderen verteidigt, welche erst durch den Diskurs geschaffen
wurden. 19
Wegen der Verkettung des Diskurses mit Machtkonstellationen liegt der Widerstand
niemals außerhalb der Macht. Er kann nur durch den Diskurs und im Diskurs geleistet
werden – auch auf die Gefahr hin, dass dieser unter einer Decke stecken könnte mit der zu
bekämpfenden Macht. 20
Die Diskurse ebenso wenig wie das Schweigen sind ein für allemal der Macht
unterworfen oder gegen sie gerichtet. Es handelt sich um ein komplexes und
wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und –effekt
sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt
für eine entgegengesetzte Strategie. Der Diskurs befördert und produziert Macht; er
verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie
zerbrechlich und aufhaltsam. 21
Somit ist die totale Abschaffung von Machtstrukturen als utopisches Ziel politischer
Handlungen nicht möglich oder denkbar. Das Potenzial zum Umbruch bzw. zur Änderung
dieser Machtverhältnisse schreibt Foucault der Vielfalt von (mikro)politischen
Widerstandskräften zu. Es gibt nicht einen Ort der großen Verweigerung, sondern einzelne
verschiedenartige Widerstände, welche nur im Feld der Machtbeziehungen existieren
können. 22 Die Annahme einer grundsätzlichen Veränderbarkeit des Seienden ist der
Ansatzpunkt für den politischen Widerstand gegen das Bestehende. 23
18
Vgl. Bublitz (1999b), S. 10f.
Vgl. Bublitz (1999b), S. 12f.
20
Vgl. Ludewig (2002), S. 97.
21
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977. S.
122.
22
Vgl. Ludewig (2002), S. 100f.
23
Vgl. Ludewig (2002), S. 104.
19
7
Foucault geht davon aus, dass Menschen die Realität durch Diskurse und diskursive
Strukturen hindurch wahrnehmen, dies führt nicht nur zu einer Verkleinerung des
Blickfeldes, sondern gleichzeitig werden dadurch viele Dinge, Individuen und Phänomene
ausgeschlossen, für real oder existent befunden zu werden. 24 Foucault fordert die
Individuen, welche vom Macht-Wissen-Komplex zum Schweigen gebracht wurden, auf,
nicht einbezogene Wissensarten zu thematisieren. Und zwar jene Wissensarten, die von der
homogenen, theoretischen Instanz nicht legitimiert sind. Der genealogische Aufstand der
einzelnen Wissensarten richtet sich gegen die zentralisierenden Machtwirkungen, welche
mit der Institution und dem Funktionieren eines akademischen Diskurses verflochten
sind. 25
In short, genealogy as resistance involves using history to give voice to the
marginal and submerged voices which lie a little beneath history – the voices of the
mad, the delinquent, the abnormal, the disempowerd […] These voices are the
source of resistance, the creative subjects of history. 26
Die foucaultsche Variante des Widerstandes sind diese dem herrschenden Wissen
widersprechende Stimmen. Das Sprechen dient als ein Werkzeug des Widerstandes vom
Rande des Wissens; von der Position des Verdrängten her wird die eigene Sicht zum
Ausdruck gebracht. 27 Die Diskursanalyse schafft sich ihre Gegenstände selbst, indem sie
Diskurse untersucht, die sie selbst erst produziert und die sie als Diskurse nicht in der
Gesellschaft vorfindet. Was sie zuerst antrifft sind Monumente in ihrer Besonderheit,
Einzigartigkeit und Nebensächlichkeit. 28
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Diskurse Strukturmuster soziokultureller
Ordnung sind, welche durch institutionelle Praktiken strukturiert werden und gleichzeitig
Institutionen strukturieren. Diskursanalyse versucht die Diskurse als Element des
geschichtlichen Archivs, des kulturimmanenten Wissensbestands und als in soziale,
institutionelle und wirtschaftliche Normensysteme eingebundene strukturierte und
strukturierende Praxis zu analysieren.
29
Oder anders gesagt, Diskurse strukturieren
gesellschaftliche Ordnung, indem sie ein Wissen erschaffen, welches in einer historischen
und kulturellen Situation verortet ist und fähig ist, sich institutionell zu etablieren und sich
24
Vgl. Bettinger, Frank: Diskurse – Konstitutionsbedingung des Sozialen. In: Anhorn, Roland u.a. (Hg.):
Foucaults Machtanalytik und soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden:
Verlag für Sozialwissenschaften, 2007. S. 78.
25
Vgl. Ludewig (2002), S. 101.
26
Sawicki, Jana: Disciplining Foucault. Feminism, power, and the body. NY u.a.: Routledge, 1991. S. 28.
27
Vgl. Ludewig (2002), S. 102.
28
Vgl. Bublitz (1999a), S 29.
29
Vgl. Bublitz (1999a), S 24f.
8
somit mit Macht und Anerkennung auszustatten. 30 Die Diskursanalyse untersucht die
Sachlage,
das
Auftauchen,
die
Institutionalisierung,
die
Funktions-
und
Transformationsbedingungen von diesen wissenschaftlichen Diskursen in historischer
Hinsicht. 31 Somit kann Diskursanalyse als eine kritische Ontologie der Gegenwart und der
Geschichte der Wahrheit bzw. des Denkens verstanden werden. 32
2.1.2. Das Sexualitätsdispositiv
Der Körper des Individuums ist nach Foucault ein von Macht besetzter Ort. Foucault zeigt
auf, dass im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts die menschlichen Körper, ihre Gesten und
Bewegungen durch verschiedene Institutionen reguliert, einer Norm angepasst und einer
Disziplinierung unterworfen wurden, deren Wirkung bis heute nicht nachgelassen hat. 33
Foucault macht den Körper zum Gegenstand seiner genealogischen Betrachtung. Mit
seinen Thesen stachelt er die feministische Diskussion über den Körperbegriff an und
macht diesen zu einem heiß umkämpften Themenfeld. Er führt auch den Begriff des
sexes
34
in die philosophische Diskussion ein, welchem vorher das Ansehen eines
philosophischen Begriffs vorenthalten war. Er verwendet ihn in Verbindung mit
philosophisch-etablierten Kategorien wie der Macht und der Wahrheit. 35
Sexualität ist laut Foucault ein geschichtliches Konstrukt und ein politischer Zustand, ein
Dispositiv – eine kulturspezifisch machtstrategische Verflechtung von Diskursen und
Praktiken, Wissen und Macht. 36
„Die Sexualität ist keine zugrunde liegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist,
sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die
Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der
Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen
großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten.“ 37
Im 18. und besonders im 19. Jahrhundert wurde Sexualität Gegenstand wissenschaftlicher
Untersuchungen, staatlicher Kontrolle und gesellschaftspolitischer Sorge. Aus dem
traditionellen Allianzdispositiv - die alte Form der Familienorganisation - entwickelte sich
das moderne Sexualitätsdispositiv, in welchem Subjekte auf eine andere Art erzeugt
werden - andere Wertemaßstäbe werden in dem Mittelpunkt der Selbst- und
30
Vgl. Ludewig (2002), S. 92.
Vgl. Maset, Michael: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische
Forschung. Frankfurt/Main u.a.: Campus Verlag, 2002. S. 132.
32
Vgl. Bublitz (1999a), S 30f.
33
Vgl. Ludewig (2002), S. 103.
34
Das französische Wort sexe ist nur schwer ins Deutsche zu übersetzten, es umfasst sowohl die körperliche
Aspekte des Geschlechts als auch die damit assoziierten Verhaltensweisen und Begehrensstrukturen.
35
Vgl. Ludewig (2002), S. 116.
36
Vgl. Fink-Eitel (1992), S. 80.
37
Foucault (1977), S. 128.
31
9
Fremdbeziehung gerückt. Die Subjekte definieren sich nicht mehr über den
gesellschaftlichen Stand ihrer Familie und ihren innerfamiliären Status, sondern sie haben
eine Sexualität anhand welcher sie sich definieren bzw. definiert werden. Die romantische
Liebe und die sexuelle Anziehung bilden im Sexualitätsdispositiv die Grundlage für ein
Ehebündnis und nicht mehr rein ökonomische, gesellschaftliche oder andere pragmatische
Überlegungen des Allianzdispositivs. 38
Foucault zählt vier große strategische Komplexe auf, die sich zu einem umfassenden
Dispositiv der Sexualität zusammenschließen: die Pädagogisierung des kindlichen Sexes,
die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Psychiatrisierung der perversen Lust und
die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhalten. Sie (das Kind, die Frau, die Perversen, das
Ehe-/Paar) sind zur Zielscheibe von wissens- und machtspezifischen Praktiken geworden,
welche überhaupt erst die Sexualität an sich produzieren. 39 „Der Sex ist das spekulativste,
das idealste, das innerlichste Element in einem Sexualitätsdispositiv, das die Macht in
ihren Zugriffen auf die Körper, ihre Materialität, ihre Kräfte, ihre Energien, ihre
Empfindungen, ihre Lüste organisiert“ 40
Die Sexualität kam laut Foucault als wichtiger Bestandteil einer Machtstrategie auf, welche
das Individuum und die Bevölkerung in die sich ausbreitende Bio-Macht einband. Die BioMacht ist die Ökonomisierung und Politisierung von Körpern zur Regulierung der
Bevölkerung – Fortpflanzung, Gesundheitsniveau, Geburten- und Sterblichkeitsraten,
etc. 41 Foucault ist der Annahme, dass die Sexualität in einem Geflecht aus Geständnis und
wissenschaftlichen Verfahren wesentlich ist für die Konstitution von Subjektivität und
Geschlecht in modernen Gesellschaften. Dies schließt er aus der Vielzahl geschichtlicher
Diskurse und der Intensität der Diskursivierung von Sexualität seit dem 18. Jahrhundert. 42
Menschen definieren sich über das Sexualitätsdispositiv oder werden von diesem definiert.
Die Annahme von Sexualität als Dispositiv aus Macht und Wissen schafft die Möglichkeit,
diskursive Einflüsse zu analysieren, zu welchen das Sprechen über Sexualität,
verschiedenste Praktiken und Gesetze zählen.
38
Vgl. Hauskeller, Christine: Das paradoxe Subjekt. Unterwerfung und Widerstand bei Judith Butler und
Michel Foucault. Tübingen: edition diskord, 2000. S. 225-227.
39
Vgl. Fink-Eitel (1992), S. 86.
40
Foucault (1983), S. 184.
41
Vgl. Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik.
Weinheim: Beltz, Athenäum, 1994. S. 1999.
42
Vgl. Bublitz (2002), S. 65.
10
2.2. Butler
Judith Butler (1956*) provozierte in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts - wie keine
andere Philosophin - mit ihren poststrukturalistischen Theorien. Sie hinterfragt in ihren
Arbeiten langtradierte Grundannahmen und diskutiert verbreitete Standpunkte neu. Butlers
Theorie führte zu einer neu entfachten Auseinandersetzung mit Kategorien, wie zum
Beispiel der Identitätskategorie. 43
„Butlers Analysen erfolgen aus einer poststrukturalistischen und dekonstruktiven
Untersuchungsperspektive.“ 44 Der Poststrukturalismus entstand als Reaktion auf den
Strukturalismus und bezeichnet eine Theorierichtung, welche den Fokus stärker auf die
Veränderbarkeit und die Wirkungskraft von Strukturen und (Zeichen-)Systeme richtet.
Butler versucht ein sprachphilosophisches Konzept in die Theorie der gesellschaftlichen
Praxis zu integrieren und entwirft ein interdisziplinäres Denkmodell, welches
psychoanalytische,
soziologische
und
politikwissenschaftliche
Positionen
mit
philosophischen und linguistischen verknüpft. 45
2.2.1. Macht
Butlers Theorem der Macht ist allumfassend, es durchdringt alles Seiende und bestimmt
jedes Ereignis. Die Macht ist alles und außerhalb ihr kann nichts gedacht werden: 46 „Es
gibt keine Position außerhalb dieses Gebiets.“ 47 Auch dem Subjekt gelingt es nicht sich
jenseits dieses Feldes zu verorten, da die Macht die jeweils gegenwärtige Konstellation
gesellschaftlicher
Kräfteverhältnisse
ist,
welche
die
Möglichkeiten
von
Willensentschlüssen und Taten hervorbringt und zugleich reguliert. Somit kann
Widerstand gegen die Macht nicht als ein ihr völlig Entgegengesetztes betrachtet werden.
Erstens ist der Widerstand selbst eine sehr machtvolle Praxis und zweitens kann er nur
gegen bestimmte Ausformungen der Macht angewendet werden, nicht gegen sie als solche.
Einen machtfreien Raum anzustreben hat keinen Sinn, da dieser leer wäre, ohne jegliche
Bewegung oder Existenz.
48
Butler bezeichnet die „Phantasie einer allumfassenden
Überschreitung der Macht“ als „unmöglich“ und unrealistisch. 49
43
Vgl. Bublitz, Hannelore: Judith Butler zur Einführung. Hamburg: Junius, 2002. S. 7-8.
Stockmeyer, Anne-Christin: Identität und Körper in der (post)modernen Gesellschaft. Zum Stellenwert der
Körper/Leib-Thematik in der Identitätstheorie. Marburg: Tectum Verlag, 2004. S. 124.
45
Vgl. Müller, Anna-Lisa: Sprache, Subjekt und Macht bei Judith Butler. Marburg: Tectum, 2009. S. 14.
46
Vgl. Ludewig (2002), S. 151.
47
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991. S. 20.
48
Vgl. Ludewig (2002), S. 151.
49
Butler (1991), S. 184.
44
11
Butler ist sich stets der alles durchdringenden Macht bewusst und weist darauf hin, dass
selbst die Theorie in die Macht verwickelt ist. Die Macht durchdringt sogar den
Begriffsapparat, welcher versucht über die Macht zu verhandeln, ebenso wie die
Subjektposition des Kritikers. 50
Ihre Theorie dekonstruiert auch den Begriff der Wahrheit, als eine Verschränkung von
Wissensformen und Machtverhältnissen. Jeder Punkt der Entstehung von Wissen ist
gleichzeitig ein Ort der Machtvollziehung. Wissen und Wahrheit sind miteinander
verschränkt, sie bilden eine Einheit der Macht. Macht demonstriert sich darin, dass etwas
zum Gegenstand des Wissens wird und Wahrheitswirkung hervorbringt. Somit ist
Wahrheit ein diskursiver Effekt, der nicht unveränderlich und ursprünglich ist, sondern erst
historisch-diskursiv hervorgebracht wird. 51
Butlers poststrukturalistische Kritik bringt nicht mehr die Voraussetzung eines stabilen
Wissenssystems
hervor,
sondern
stellt
die
andauernde
Reflexion
auf
dessen
Herstellungsbedingungen dar. Sie untersucht die Erzeugung des Normativen an sich, statt
gegebene Kategorien durch andere zu ersetzten. 52
Sie ist der „Auffassung, dass die Produktivität diskursiver und sprachlicher Macht das
fundamentale Konstruktionsprinzip von Wirklichkeit ist.“ 53 Butlers Verständnis von Macht
ist eng verbunden mit der von Foucault, wobei ihr Hauptaugenmerk stärker auf der
psychischen Dimension der Wirkung von Macht liegt. Sie geht der Frage nach, wie
Machtverhältnisse auf das Subjekt wirken, beziehungsweise welche Auswirkungen diese
auf das Subjekt haben und wie dadurch eine bestimmte Identität konstituiert wird. 54
Bei Butler ist Macht ein zweideutiger Begriff: Zum einen geht es um Machtbeziehungen
und Prozesse, die von Außen diskursiv auf das Subjekts wirken und es somit hervorbringen.
Zum anderen geht es um die vom Subjekt selbst ausgehende Macht, welche auf andere
Subjekte und Diskurse wirkt. In beiden Fällen ist es eine konstituierende Macht, welche
50
Vgl. Butler, Judith: Kontingente Grundlagen. Der Feminismus und die Frage der „Postmoderne“. In:
Benhabib, Seyla/Butler, Judith/ Cornell, Drucilla/Fraser, Nancy (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus
und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 1993. S. 35-36.
51
Vgl. Bublitz (2002), S. 25.
52
Vgl. Purtschert, Patricia: Judith Butler. Macht der Kontingenz - Begriff der Kritik. In: Munz, Regine (Hg.):
Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. S. 183-185.
53
Bublitz (2002), S. 8.
54
Vgl. Müller (2009), S. 39.
12
aber immer auch eine regulierende Komponente besitzt. Die Tatsache, dass auch vom
Subjekt Machtbeziehungen ausgehen, ist der Grund weshalb das Subjekt meistens als
Urheber dieser Macht angesehen wird. Die Macht, die von diesem Subjekt ausgeübt wird,
überträgt die diskursive Wirkung wieder auf andere Subjekte, welche somit durch diesen
Diskurs auf eine bestimmte Weise hervorgebracht werden. Die Wechselwirkung der
beiden Machtformen wird dabei verschleiert, doch gerade diese zirkuläre Beziehung ist
zum einen die Existenzbedingung des Subjekts, zum Anderen das vom Subjekt
Aufgenommene/Inkorporierte, welches im Handeln des Subjekts wiederholt und
reproduziert wird. 55
2.2.2. Subjekt
Butler teilt mit den Vertreter_innen des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus
den Zweifel an der These, dass das menschliche Subjekt Gründer und Erschaffer aller
Dinge ist. Es wird nicht versucht, das Subjekt insgesamt zu leugnen oder auszulöschen.
Vielmehr geht es ihr darum das Subjekt, wie auch den Körper, aus seinem
„metaphysischen
Gehäuse“
56
herauszuholen,
„ihm seinen
überhistorischen
und
57
einzigartigen Stellenwert zu nehmen.“ Butler geht, wie schon im vorigen Unterkapitel
erwähnt, von einem Subjektbegriff aus, welcher das Subjekt nicht als eigenständig und
unveränderlich begreift, sondern es ist vielmehr von Diskursen abhängig und wird durch
diese geprägt. 58
Durch die Inanspruchnahme des Menschen als kollektives Wesen wird ein Subjekt
erkennbar, welches durch die Psyche (der Ort der ersten Objektbeziehungen und der
Gewissensbildung), als Ort der Verankerung des Sozialen, bestimmt wird. Auch der
Bereich des – moralischen – Bewusstseins und der Selbstreflexion, wo sich das Subjekt
unverfälscht und eigenständig glaubt, ist durchdrungen von Macht. Moral wird bei Butler
als bestimmte Art der Gewalt angesehen, die das Subjekt als Kultursubjekt etabliert und
„es als reflexives Wesen moralischen Maßstäben eines sozialen Gewissens unterwirf.“ 59
2.2.3. Geschlecht(s)/-identität/Begehren
Die Unterscheidung zwischen „biologischem“ (sex) und „sozialem“ (gender) Geschlecht
dient als Werkzeug der feministischen Theorie um zu zeigen, dass Geschlechteridentität
55
Vgl. Müller (2009), S. 77f.
Butler (1993), S. 52.
57
Bublitz (2002), S. 14.
58
Vgl. Müller (2009), S. 12.
59
Bublitz (2002), S. 20.
56
13
(gender) und –rollen durch soziokulturelle und historische Verhältnisse erzeugt werden
und nicht durch das anatomische Geschlecht (sex) hergeleitet werden kann. Es wird an der
biologischen Geschlechterdifferenz festgehalten, aber gleichzeitig die Möglichkeit geltend
gemacht, die daraus folgende Herausbildung von gegensätzlichen Geschlechtercharakteren
aufheben zu können. Hier setzt Butlers Kritik an: Sie ist der Meinung, dass bei dieser
These
die
Metaphysik
der
Substanz
nicht
wirklich
hinterfragt
wird.
Die
Geschlechteridentität (gender) wird zwar als Attribut anerkannt, hänge aber immer noch
einem vorausgesetzten Kern des Subjekts an. In diesem Kern verbirgt sich jedoch noch das
biologische Geschlecht (sex). Deshalb plädiert Butler für die Dekonstruktion von
Geschlechteridentitäten, es müsse neben dem sozialen Geschlecht auch das biologische
und darüber hinaus auch das Begehren in die Analyse aufgenommen werden. 60
„Intelligible“ Geschlechtsidentitäten sind solche, die in bestimmtem Sinne
Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen dem anatomischen
Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem
Begehren stiften und aufrechterhalten. 61
Butler subsumiert meist die sexuelle Praxis unter dem Begriff Begehren. Sie schlägt vor
das
Geschlecht
als
eine
Trias,
Geschlecht/Geschlechtsidentität/Begehren“
nämlich
62
als
die
„Zwangsordnung
(engl.: sex/gender/desire) zu verstehen.
Butler bricht nicht nur mit der Vorstellung, dass das soziale Geschlecht aus dem
biologischen Geschlecht hergeleitet wird, sonder auch mit der Annahme, dass das
biologische Geschlecht zwingend eine gegengeschlechtliche Form von Sexualität
hervorbringt. Sie betrachtet den Zusammenhang zwischen Geschlecht und sexuellem
Begehren als fließend, er ist nicht wie meist angenommen durch stabile Faktoren (des
Geschlechtskörpers) kausal zurückzuführen. Der Zusammenhang von biologischkörperlichem Geschlecht, Geschlechtsidentität und Sexualität ist durch historische
Praktiken hervorgebracht. 63
2.2.4. Performativität
Wie schon im vorigen Kapitel erläutert existiert der Körper laut Butler nicht unabhängig
von soziokulturellen Körperkonzepten und –bildern. Das „biologische Geschlecht“ ist
keine Tatsache oder ein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein fortlaufender
Prozess, „bei dem regulierende Normen das »biologische Geschlecht« materialisieren und
diese Materialisierung durch eine erzwungene ständige Wiederholung jener Normen
60
Vgl. Ott, Cornelia: Die Spur der Lüste. Sexualität, Geschlecht und Macht. Opladen: Leske + Budrich, 1998.
S. 103-104.
61
Butler (1991), S. 38.
62
Butler (1991), S. 22.
63
Vgl. Bublitz (2002), S. 50-53.
14
erzielen.“ 64 Dieser Wiederholungszwang lässt darauf schließen, dass die Materialisierung
nie vollständig abgeschlossen ist und der Körper sich nie völlig den Normen fügt. Somit
wird der Mensch mit seinem Körper zum möglichen Ort subversiver Strategien.
Geschlechtsidentität wird durch Regulierungsverfahren und Diskurse performativ
hervorgebracht und erzwungen. Sie ist demnach performativ, „d. h., sie selbst konstituiert
die Identität, die sie angeblich ist“ 65 Butler entlehnt den Performanzbegriff aus der
Sprachwissenschaft/-philosophie und weist somit auf die Bedeutung der Sprache in diesem
Prozess hin. Als performativer Sprechakt wird eine sprachliche Äußerung beschrieben,
welche durch das Aussprechen gleichzeitig eine Handlung vollzieht, z. B. ein
Richterspruch (Ich verurteile dich zu…) oder die Eheschließung (Ich erkläre euch zu…).
Sie setzten das in Kraft, was sie benennen, somit fallen Bezeichnung und Vollziehung
einer Sache zusammen. Der performative Sprechakt deutet auf dem Aspekt der
Gleichzeitigkeit hin, nach der Realität und Konstruktion nicht mehr unterscheidbar sind, da
(wahrnehmbare) Materialität und (Realität herstellende) Sprache zusammenfallen. 66
Voraussetzung für die realitätsstiftende Wirksamkeit diskursiver Performativität ist erstens
die Bezugnahme auf vorhandene Zeichen- und Bedeutungsketten; der Sprechakt muss auf
bereits bestehende sprachliche Konventionen verweisen. Zweitens muss die Person zur
Handlung des performativen Sprechaktes autorisiert sein (z.B. ein/e Richter_in bei der
Urteilsverkündung). 67
Butler verortet die Macht der Performativität in der Sprache selbst, in dem sie auf deren
Historizität und damit auf die in ihr eingeschlossenen Traditionen und Rituale verweist. Im
Moment des Sprechens wird ein Kollektiv der Sprecher_innen und deren_ihrer Geschichte
aufgerufen und somit eine Konvention zitiert, welcher der Sprache die Macht verleiht, das
zu erschaffen, was sie benennt. Selbst diese Konvention hat ihren Ursprung in der Sprache
und somit ist sie selbst ein Produkt früherer Zitate, welche durch mehrfache
Wiederholungen in ihr (der Sprache) abgelagert wurde. 68
64
Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt/Main: Suhrkamp,
1997. S. 21.
65
Butler (1991), S. 49.
66
Vgl. Stockmeyer (2004), S. 131.
67
Vgl. Bublitz (2002), S. 27.
68
Vgl. Distelhorst, Lars: Umkämpfte Differenz. Hegemonietheoretische Perspektiven der Geschlechterpolitik
mit Butler und Laclau. Berlin: Parados, 2007. S. 30.
15
Nach Butler wird auch Geschlechtsidentität performativ produziert, weil das, was als
benannt und vorhanden ausgegeben wird, eigentlich erst durch die Benennung produziert
wird und soziale Wirklichkeit schafft. Am Beispiel der Aussage der Eltern beim Anblick
des neugeborenen Säuglings: „Es ist ein Mädchen!“ lässt sich feststellen, dass es dabei
nicht um eine bloße Feststellung des Sachverhalts geht, sondern zugleich um eine
Anweisung, ein weibliches Geschlecht zu sein; darin besteht die Performativität der
Aussage. Solche diskursiv hergestellten Sachverhalte markieren den Körper durch
(Geschlechts-)Zeichen, denen Akte der Inkarnation folgen. Diese Anrufung zitiert eine
gesellschaftliche Ordnung, welche sich, auch gegen den Willen der betreffenden Person, in
das Individuum einschreibt. 69 Performativität ist kein vereinzelter oder absichtsvoller Akt,
sondern eine sich „ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die
Wirkung erzeugt, die er benennt“
70
. Zum Beispiel endet das „Zum-Mädchen-
Machen“ nicht mit der Anrufung nach der Geburt, sondern wird von verschiedensten
Autoritäten und über diverse Zeitabschnitte hinweg kontinuierlich wiederholt. Ein
wichtiges Werkzeug hierfür ist die geschlechtsspezifische Namensgebung und die nach der
Geburt einsetzende feminine oder maskuline Anrufung des Säuglings, als sie oder er. Die
Benennung setzt zugleich eine Trennungslinie und wiederholt einprägend eine Norm.
Dieser Prozess ist stets offen und unabgeschlossen. 71 Dennoch beinhaltet Performativität
als Wiederholung auch die Möglichkeit der Umdeutung und Verschiebung von
Bedeutungen. Normen sind soziale Kategorien und unterliegen somit historischen und
psychischen Veränderungen. Die Veränderung des Kontexts, in dem eine Zuschreibung
stattfindet, verändert auch ihre Bedeutung. Die notwenige Wiederholung von Normen
verdeutlicht deren Instabilität und zeigt, dass „die Materialisierung nie ganz vollendet ist,
daß [sic!] die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung
erzwungen wird.“ 72 Die Performativität des Geschlechts birgt die Verschiebung der
Normen in sich, denn Normen werden nie auf die gleiche Weise zitiert. 73
Somit
entlarvt
Butler
die
„wahren“
Geschlechteridentitäten,
Männlichkeit
und
Weiblichkeit, als diskursive Fiktionen, welche durch gesellschaftliche Performanzen
hergestellt wurden. Sie sind Teil einer Strategie, welche die dahinter stehenden
patriarchalen Machtverhältnisse und die Zwangsheterosexualität verschleiern. 74
69
Vgl. Bublitz (2002), S. 26.
Butler (1997), S. 22.
71
Vgl. Butler (1997), S. 29.
72
Butler (1997), S. 21.
73
Vgl. Bublitz (2002), S. 73-74.
74
Vgl. Butler (1991), S. 208.
70
16
Butlers Theorem der Performativität soll das paradoxe Zusammenwirken von Zwang und
Handlungsfähigkeit erfassen, welches nicht außerhalb des gegebenen Regimes gedacht
werden kann. Das Subjekt etabliert sich inmitten eines Geflechts aus Macht und Diskurs,
„das für Umdeutungen, Wiederentfaltungen und subversive Zitate von innen und für
Unterbrechungen und unerwartete Übereinstimmungen mit anderen Netzwerken offen
ist.“ 75 Die Subjektivation ist eine paradoxe Bewegung, welche das Subjekt durch
Unterwerfung unter den gegebenen Normen erschafft, welche sich dann in existentielle
Voraussetzungen
verwandeln,
die
das
Subjekt
gleichzeitig
befähigen
Entscheidungen zu treffen und seine Handlungsfähigkeit zu entfalten.
76
eigene
„Subjektivation
besteht in eben dieser Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht
haben, der jedoch paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält.“ 77
Geschlecht ist das Erzeugnis performativ inszenierter Prozesse und deren institutioneller
Festschreibung. Das besagt aber nicht, dass Geschlecht losgelöst von der biologischen
Materialität des Körpers gedacht werden kann. Es verweist „nur“ darauf, dass auch das
biologisch-anatomische Körpergeschlecht ein normatives Konstrukt ist. Die performative
Eigenschaft des Geschlechtes schließt das Körpergeschlecht mit ein. 78
Die diskursive Performanz des biologischen Geschlechts produziert erst das, worauf sie
sich zu beziehen scheint: ihre Materialität, deren Grenzen und Oberflächen. Die
Performativität produziert nachträglich die Illusion eines inneren Geschlechterkerns. Diese
nachträgliche Wirkung entsteht durch ritualisierte Wiederholung von Konventionen,
welche gesellschaftlich erzwungen ist und die kulturell konstruierte, heterosexuelle
Zweigeschlechtlichkeit voraussetzt. 79
Durch diesen diskursiven Prozess erscheint geschlechtliche Identität als Wirkung
performativer Handlungen. Die Geschlechtsidentität geht diesem Effekt nicht als innerer
Wesenskern eines Selbst voraus. Die performative Resonanz einer sprachlichen,
beschreibenden Handlung beruht auf einem komplexen System sozialer Beziehungen und
75
Butler, Judith: Sorgfältiges Lesen. In: Benhabib, Seyla/Butler, Judith/ Cornell, Drucilla/Fraser, Nancy
(Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Fischer
Verlag, 1993b. S. 125.
76
Vgl. Distelhorst (2007), S. 31.
77
Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001. S.
8.
78
Vgl. Bublitz (2002), S. 70.
79
Vgl. Bublitz (2002), S. 72.
17
der Matrix der (heterosexuellen) Zweigeschlechtlichkeit, welche bewirkt, dass die
getroffene Zuschreibung von den Beteiligten angenommen wird. 80
Materialisierte Körper
Butler geht davon aus, dass der Körper ohne seine kulturelle Form nicht existiert, dass er
quasi erst durch die kulturelle Einschreibung zu existieren beginnt.
Der physische Körper selbst wird zur Diskursstelle einer politischen
Machtgeschichte, als Ort der Einschreibung historischer Eindrücke. Es ist keine
Geschichte, die sich in den unversehrten Körper einschreibt, sondern der Körper
wird erst durch die Geschichte als Kulturkörper hervorgebracht. 81
Das Subjekt muss sich ständig den gegeben Konventionen, sozikulturellen Codes und
gesellschaftlichen Verordnungen unterwerfen, um als sozial erkennbar in Erscheinung zu
treten, um überhaupt die sprachliche Kategorien des „Sein“ einnehmen zu können. Es geht
diesen performativen Wiederholungen von Normen nicht voraus, sondern entsteht durch
diesen Prozess und ist gleichzeitig dieser Prozess. Das Subjekt stellt ein Moment der
Verfestigung bestehender Machtregime dar, in dem es soziale Normen inkorporiert,
repetiert und reproduziert. 82
Für Butler ist der Körper eine erzwungene Materialisierung eines normalisierenden Ideals.
Auch der physische Körper geht aus der Materialisierung regulierender Ideale hervor,
„erweckt aber den Eindruck des Natürlichen und Naturgegebenen.“ 83 Er erscheint in seiner
„Natürlichkeit“ als etwas Normatives, das nicht getrennt von seiner diskursivsymbolischen Bedeutung wahrgenommen werden kann. Als Beispiel führt Butler das
biologische Geschlecht des Geschlechterkörpers an, welches sich als reglementierendes
Ideal konstituiert hat. Was wir unter Natur verstehen, unterliegt nicht nur kulturellen
Normen, „sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie
beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine Art produktive Macht erweist,
als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren
zu lassen und zu differenzieren.“
84
Macht ist gleichzeitig „Unterwerfungs- und
Erzeugungsprinzip von körperlicher Materie und psychischer Struktur. […] Entwurf,
Herstellung und Unterwerfung – der Materialität und Körperlichkeit – des Subjekts bilden
einen Vorgang.“ 85
80
Vgl. Bublitz (2002), S. 73.
Bublitz (2002), S. 10-11.
82
Vgl. Purtschert (2004), S.190-191.
83
Bublitz (2002), S. 9.
84
Butler (1997), S. 21.
85
Bublitz (2002), S. 10.
81
18
Die Vorstellung von Frau und Mann, als Natur der Geschlechter, rührt von soziokulturellen
Gewohnheiten
her,
die
in
gesellschaftliche
Machtregime
eingebettet
sind.
Machtbeziehungen, in denen Diskurse mit Institutionen, Anstalten, Vorschriften etc. zu
einem
„strategischen
Imperativ“
86
verschmelzen.
Diskursive
Verfahren
und
Machttechnologien verfestigen sich zu materiellen Strukturen, dadurch wird der Körper als
physische Einheit und somatische Materialität zur Naturressource des Geschlechts. Materie
wird, laut Butlers dekonstruktivistische Lesart, durch Diskurse hergestellt, somit wird die
Frage, was Materie und was der Körper als Materie ist, auf seine kulturelle
Produktionsweise verschoben. 87 Butler rekonstruiert die Natürlichkeit des Körpers als
Wirkung einer Macht, welche erst den Körper in seiner Materialität hervorbringt und formt.
Er ist von Anfang an eine körperliche Materialität, welche einer sozialen Norm
unterworfene ist. 88
Somit geht Butler noch einen Schritt weiter in der feministischen Theorie, nicht nur die
Geschlechtsidentität (gender) ist kulturell hergestellt, auch der Geschlechtskörper (sex) ist
diskursiv produziert. Der biologische Körper ist von Beginn an ein kulturell hergestellter
Sozialkörper, deshalb ist er nur durch die in ihm eingeschlossenen und abgelegten
Diskursschichten greifbar. Durch das Zitieren eines normativen, symbolischen Gesetzes
und durch symbolische Unterwerfung materialisiert sich der Körper in seiner sozialen
Existenz. Diese ist abhängig von normativen Entwürfen, die ihm vorgängig sind. Der
Körper ist in seiner Materialität ein Normeffekt. Inspiriert durch Austins Sprechakttheorie
und Foucaults Theorie diskursiver (Mach-)Formationen, vermutet Butler, dass der Körper
selbst ein Stück Gesellschaft ist, welche sich im Körper manifestiert. Im Grund ist es also
nicht der Körper, der performativ hergestellt wird, sondern Gesellschaft und ihre
symbolische Ordnung materialisieren sich im Körper. Beide (re)produzieren sich durch
Materialisierung des Körpers. Gesellschaft setzt sich fort bis in die Erzeugung körperlicher
Materie, die als Natur erscheint. Auf diese Weise nimmt Gesellschaft körperliche,
natürliche Dimensionen an. 89
In Körper von Gewicht weist Butler stärker als in Das Unbehagen der Geschlechter den
Körper nicht als etwas rein durch die Sprache bestimmtes aus, sondern spricht ihm auch zu,
86
Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag,
1978. S. 120.
87
Vgl. Bublitz (2002), S. 67.
88
Vgl. Bublitz (2002), S. 9.
89
Vgl. Bublitz (2002), S. 39-40.
19
außerhalb des Diskurses organisch zu existieren. Aber er ist so nicht fassbar, weil das
kognitive körperliche Begreifen nur über und in der Sprache stattfindet. 90
2.2.5. Dekonstruktion
Butler entlarvt allgemeingültige und konformistische Annahmen als Konstrukte
historischer Prozesse und kultureller Konventionen. An die Stelle des Wahren rückt die
historische Konstruktion. Dekonstruktivistisches Denken entmystifiziert nicht nur die
Annahme einer inneren Wahrheit der Dinge, einer Zweck- bzw. Zielgerichtetheit von
Geschichte und „die Idee eines transzendentalen, ahistorischen Subjekts.“ 91 Es bedeutet
den Bruch mit metaphysischen Annahmen von Gleichheit und Einheit, Ursache und
Wirkung, eine Abkehr von der Voraussetzung „eines durch alle historischen Zeiträume mit
sich identischen Subjekts, eines dem Geist entgegengesetzten Körpers.“ 92
Die Dekonstruktion von Materie und Körper heißt nicht, diese zu verleugnen oder
abzulehnen, sie soll zeigen, dass es keine von der symbolischen Ordnung unversehrte
körperliche Materialität gibt. Diskurse bedingen die historische und soziale Erscheinung
von Körper. In der Performativität liegt ein naturalisierender Effekt, somit erscheinen
kulturelle Normen als Natur. Die immanente diskursive Macht operiert versteckt und
erscheint als Natur der Dinge. Butler dekonstruiert somit die Naturhaftigkeit des Körpers
als Konstrukt von Machtwirkung. Die Annahme, dass der Körper ein ahistorischer
Allgemeinbegriff ist, entsteht durch die Wirkung von Macht, welche den Vorgang seiner
kulturellen Erschaffung verschleiert. Dies gelingt durch diskursive Prozesse der
Naturalisierung. 93
Die Dekonstruktion eines Begriffes bedeutet bei Butler, eine Genealogie dieses Begriffs zu
schaffen, welche einen naiven Gebrauch untersagt und die darin angesammelten
patriarchalen Machtverhältnisse aufzeigt. Dekonstruktion heißt eine Voraussetzung kritisch
zu hinterfragen und nicht sie zu verneinen oder abzuschaffen. 94
Vielmehr beinhaltet die Dekonstruktion dieser Begriffe [Körper und Materialität],
dass man sie weiterhin verwendet, sie wiederholt, subversiv wiederholt, und sie
verschiebt bzw. aus dem Kontext herausnimmt, in dem sie als Instrument der
Unterdrückungsmacht eingesetzt wurden. 95
90
Vgl. Müller (2009), S. 57.
Bublitz (2002), S. 45.
92
Bublitz (2002), S. 46.
93
Vgl. Bublitz (2002), S. 40-43.
94
Vgl. Ludewig (2002), S. 186.
95
Butler (1993), S. 52.
91
20
2.2.6. Genealogie der Geschlechterontologie
Butler stützt sich bei ihrer angewandten Methode der Genealogie auf Foucaults Theorie
und nimmt angelehnt an diese ihre Analyse vor. Der von Foucault formulierte Begriff der
Genealogie steht in der Tradition Nietzsches und bezeichnet eine Methode zur Analyse von
Wissensformen, welche durch Diskurse hervorgebracht wurden. Es werden dabei die
Naturalisierungsstrategien aufgedeckt, die innerhalb dieser Diskurse und Machtfelder
wirken, um deren Wirkmechanismen zu verbergen. Die Genealogie untersucht also die
Verschränkung der Regelungen des Wissens mit Machtverhältnissen, welche sie stärken
oder destabilisieren. Der Unterschied bei Foucault und Butler liegt grundlegend darin, dass
es Butler um eine ahistorische, rein sprachliche und semiotische Analyse von Kategorien
geht. 96 Bei Butler wird die Materialität des Diskurses selbst zum Mittelpunkt der
Analyse. 97
Butler befasst sich intensiv mit der Geschlechtsidentität und führt an ihr eine genealogische
Kritik durch. Das heißt, dass nicht nach einer ursprünglichen Geschlechtsidentität, nach
einem inneren Kern des männlichen/weiblichen Geschlechts oder nach einer authentischen
Sexualität geforscht wird, sondern dass diese Phänomene als Folge gesellschaftlicher
Praktiken anzusehen sind. Die Genealogie erforscht 98
[…] die politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, wenn die
Identitätskategorien als Ursprung und Ursache bezeichnet werden, obgleich sie in
Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit
vielfältigen diffusen Ursprungsorten sind. 99
Eine dieser geschlechtswissenschaftlichen Diskurse zur Geschlechtereinteilung findet
durch humanwissenschaftliche Verfahren des 19. Jahrhunderts statt. Vor allem Disziplinen
wie
Gynäkologie
und
Sexualwissenschaft
waren
daran
beteiligt
eine
strenge
Verbundenheit zwischen dem anatomischen und sozialen Geschlecht und damit eine klare
Geschlechtsdifferenz herzustellen. Aber gerade diese diskursive Explosion um das Wissen
was Mann und was Frau ist, zeigt die Anstrengungen, die überwunden werden müssen, um
ein präzises Wissen um Geschlechterdifferenz im Bereich der Humanwissenschaften zu
bewirken. 100
96
Vgl. Müller (2009), S. 17.
Vgl. Bublitz (2002), S. 42.
98
Vgl. Stockmeyer (2004), S. 125.
99
Butler (1991), S. 9.
100
Vgl. Bublitz (2002), S. 59.
97
21
Die Teilung des Geschlechtssubjekts in ein biologisches und ein soziales Geschlecht wird
überflüssig, wenn sich herausstellt, dass bereits die biologische Determination des
Körpergeschlechts
einschließlich
der
binären
Geschlechtszuweisung
kulturellen
Kategorien folgt. Die Geschlechtsidentität ist nun nicht mehr eine Folge des körperlichen
Vorhandenseins anatomischer Merkmale. 101
Vielmehr wird sie als Wirkung intelligibler Vorgänge sichtbar, nicht zuletzt einer
kulturellen „Matrix der Intelligibilität“ (UG: 39), die das Geschlecht auf einen
Körper zurückführt, ihn auf ein und nur ein Geschlecht festlegt und ihn einer Norm
der Heterosexualität unterwirft. 102
Kulturelle Intelligibilität
„Intelligibel ist das, was entlang bestimmter historischer Regulierungspraktiken als
wahrnehmbar, als normal, als Standard, als denkbar oder sagbar gilt.“ 103 Normative
Anweisungen und gegebene Regeln legen fest, was ein intelligibles Geschlecht ist und
stellen die Vorschriften auf, welche „die sexuell oder geschlechtlich bestimmten Körper
(sexed or gendered bodies) erfüllen müssen, um ihre kulturelle Intelligibilität zu
erlangen.“ 104 Dreh- und Angelpunkt der diskursiven Produktion von Subjekt und Identität
ist die Sprache, die sich auf ein offenes Zeichensystem bezieht, welches die Intelligibilität
immerwährend schafft und gleichzeitig entkräftet. 105 Butler hebt hervor, dass Personen erst
kulturell intelligibel werden, wenn sie geschlechtlich markiert sind. 106
Phallogozentrismus und die heterosexuelle Matrix
Butler bezeichnet weibliche und männliche Geschlechtsidentität als Effekt einer
heterosexuellen
Matrix
und
einer
phallogozentrischen
Ordnung.
Mit
dem
Phallogozentrismus meint Butler eine maskuline Herrschaft, die ihre Durchsetzungskraft
aus einer signifikanten Strukturierung von Sprache und Diskurs bezieht. Das
phallogozentrische System teilt die Welt in binäre, hierarchische Oppositionen ein:
Geist/Natur, Subjekt/Objekt, Selbst/Anderes, Mann/Frau. Das Männliche ist universeller
Bezugspunkt und steht allem gegenüber. Das „Andere“, das den Herrschaftsanspruch
bedroht – die Mutter, das Unbewusste, die Natur, das „Fremde“ - wird aus einer
männlichen (westlichen) Perspektive bestimmt und betrachtet, es wird zum Unbedeutend
101
Vgl. Bublitz (2002), S. 54-55.
Bublitz (2002), S. 57.
103
Lorey, Isabell: Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines
juridischen Machtmodells: Judith Butler. Tübingen: Ed. Diskord, 1996. S. 33.
104
Butler, (1991), S. 217.
105
Butler (1991), S. 212.
106
Vgl. Stockmeyer (2004) S. 127.
102
22
und Nichtidentischen deklariert. Der Mann ist zur Frau die binäre hierarchische
Gegenposition - das Original, woraus das Weibliche abgeleitet wird. 107
Die heterosexuelle Matrix ist ein Raster der kulturellen Intelligibilität, wodurch die
Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert werden. Es charakterisiert ein
hegemoniales diskursives Modell der Geschlechter-Intelligibilität, das ein festes
biologisches Geschlecht voraussetzt, welches durch ein festes soziales Geschlecht zum
Ausdruck gebracht wird, das durch die zwanghafte Ausübung der Heterosexualität
antagonistisch und hierarchisch bestimmt ist. 108
Durch die kulturelle Matrix erscheint das Geschlecht als ein deterministisches Faktum. Das
„wahre“ und „authentische“ Geschlecht ist grundlegend für die Einheit einer Identität.
Somit wird die heterosexuelle Matrix zur Zwangseinteilung des Geschlechts. Dieses
Ordnungssystem gibt die normativen Regeln vor, nach denen die Geschlechter
gesellschaftlich produziert werden und sich als heterosexuelle Männer und Frauen
aufeinander beziehen. Normabweichende Formen des Geschlechts und des Begehrens
werden damit ausgegrenzt. 109 Butler unterscheidet zwischen Subjekt und Individuum. Eine
Person, welche keinen Subjektstatus hat, verliert die Fähigkeit als anerkannter Mensch
freie Entscheidungen zu treffen. Das Subjekt ist für Butler nicht gleichbedeutend mit
Mensch, Person oder Individuum. Nicht intelligibel zu sein heißt nicht, keinen Körper zu
haben oder nicht zu existieren, sondern weder Sinnhaftigkeit noch Einheit zu
verkörpern. 110
Identitäten außerhalb der heterosexuellen Norm
Wie schon oben erwähnt, gibt es auch nicht intelligibel Subjekte, die von der Vernunft
nicht erfassbar sind. Was außerhalb der heterosexuellen Matrix liegt, ist ein elementares
Außen, weil es nicht nur abseits von ihr liegt, sondern sie stabilisiert. Das Ausgeschlossene
bildet die Grenzen der Signifikation des Intellegiblen und ist somit aktiv an seiner
Konstruktion beteiligt. Es stört den Bereich des Intelligiblen in dem es als das
Nichtlebbare/Nichterzählbare in Erscheinung tritt. Die Grenzen der Signifikation und
damit der Bereich des Intelligiblen werden brüchig und drohen ständig sich zu verschieben,
weil sie es nicht schaffen die Ausschlüsse, auf denen sie basieren, festzuschreiben und auf
107
Vgl. Ott (1998), S. 105f.
Butler (1991), S. 219f - 6. Fußnote.
109
Vgl. Bublitz (2002), S. 65.
110
Vgl. Distelhorst (2007), S. 28./S. 297. - 3. Anmerkung.
108
23
genügen Abstand zu halten, damit sie nicht spürbar werden. Dies hat auf subjektiver, wie
auf gesellschaftlicher Ebene Konsequenzen. Wie schon erwähnt, beruht die Existenz als
Subjekt darauf geschlechtlich intelligibel markiert zu sein, dies setzt die Ausschließung des
anderen Geschlechts als Identifikationsmöglichkeit und des eigenen Geschlechts als Objekt
des Begehrens voraus. Das Subjekt kann nicht um das Verlorene trauen, ohne seinen
Subjektstatus aufs Spiel zu setzten. Daher vollzieht sich die Rückkehr des verworfenen
Ausgeschlossenen im Subjekt selbst, durch die Melancholie - hier bezieht sich Butler auf
die psychoanalytische Theorie Freuds. Da nicht um den Verlust getrauert werden kann/darf,
wird das Verworfene einverleibt und so im Inneren am Leben erhalten. Gesellschaftlich
bedeutet dies, dass keine bestimmte Interpretation von Geschlecht für immer
durchzusetzen ist. Da das Ausgeschlossene immer die Grenzen unterlaufen wird, wodurch
der Begriff Geschlecht instabil und schwankend bleibt. 111 Butler sieht im durch die
Melancholie inkorporierten Verworfenen eine subversive Kraft, da seine unterschwellige
Existenz im „Ich“ - sozusagen als Spur im Selbst - erhalten bleibt, somit werden alternative
Handlungs- und Identitätsformen im Inneren des Subjekts bewahrt. 112
Der Ausschluss von abweichenden Identitäten führt, laut Butler, zur Eröffnung
„rivalisierender, subversiver Matrixen der Geschlechter-Unordnung (gender disorder)“ 113,
„die mit den Hegemonien der Heterosexualität, der Fortpflanzung und des medizinischjuristischen Diskurses bricht“
114
Es tauchen vielfältige Abweichungen von der
heterosexuellen Norm auf: Körper, welche nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet
sind, männliche Körper, die männliche Körper begehren, oder weibliche Körper, die sich
männlich artikulieren. Das Unbehagen der Geschlechter handelt laut Butler von
begehrenden Subjekten, welche aus der heterosexuellen Norm fallen oder als
unlegitimierte Wesen in einem von ihren Sets von Normen operieren. Der ontologische
Status der Geschlechtsidentität als Wirklichkeit wird durch diese verworfenen Subjekte in
Frage gestellt. Vom unabgesicherten Ort dieser Ausgeschlossenen werden gesellschaftliche
Bedingungen als Regulative erkennbar. Wie schon oben erwähnt haben die
Außenstehenden nicht einen jenseitigen Status der völlig abgetrennt von der
heterosexuellen Matrix ist, sondern einen stabilisierenden - sie sind daher aktiv an der
Konstruktion dieser beteiligt. 115 Zum Beispiel verweisen auch Kategorien wie androgyn,
bi-,
inter-,
trans-
oder
homosexuell
immer
111
Vgl. Distelhorst (2007), S. 28.
Vgl. Müller (2009), S. 80.
113
Butler (1991), S 39.
114
Butler (1991), S. 41.
115
Vgl. Purtschert (2004), S.189.
112
24
schon
auf
die
Differenz
einer
Zweigeschlechtlichkeit von weiblich und männlich und die Unterscheidung von Homound Heterosexualität. 116
2.2.7. Resignifikation
Wie schon im Kapitel 3.4. Performativität ausführlich erläutert, ist das Subjekt immer
schon in eine Geschichtlichkeit des Diskurses verstrickt, welche seine eigene bei weitem
überscheitet, es kann sich somit nicht von den Voraussetzungen seiner Anrufung lösen.
Das politische Handlungsvermögen des Subjekts besteht darin, sich der eigenen
diskursiven Bedingtheit bewusst zu sein, sowie „um die Unabgeschlossenheit der Sprache
zu wissen und sich diese zunutzen zu machen, um die Stoßrichtung der performativen
Kraft von Diskursen zu verschieben.“ 117 Diese Art der Handlungsmacht und die damit
verbundene politische Praxis nennt Butler Resignifizierung. Sie verortet das Politische
innerhalb der Bezeichnungsverfahren, welche den Körper als Substanz erscheinen lassen,
die an bestimmte Formen der Geschlechtsidentität gebunden ist. 118
Politisch handeln bedeutet […] Resignifikationspraktiken zu mobilisieren, deren
Ziel in der Überwindung der restriktiven Geschlechternormen liegt, von denen
gesellschaftliche Anerkennung reguliert wird, um auch jene Menschen ein
würdevolles leben zu ermöglichen, denen heute aufgrund ihrer abweichenden
geschlechtlichen Identität der Status des Subjekts vorenthalten wird. 119
Laut Butler ist es durch Verschiebung von Diskursen möglich, die bestehenden starren
Grenzen der Geschlechtsidentität zu destabilisieren, um so Raum für neue Möglichkeiten
zu schaffen. Obwohl das Subjekt durch Diskurse konstituiert ist, wurde es dadurch
gleichzeitig mit Handlungsfähigkeit ausgestattet, welche ermöglichen, dass es in den
Diskurs eingreifen kann um ihn von seiner Richtung abzubringen. Es geht nicht nur darum
Widerstand zu leisten, sondern diskursive Strukturen zu unterminieren und/oder zu
verschieben, um Veränderungen der gegebenen Verhältnisse herbeizuführen, in dem die
performative Wirkung des Diskurs umgelenkt wird. Für Butler ist der Diskurs ein sich aus
geregelten (Sprach-)Strukturen entwickelnder Sinnzusammenhang, welcher sich auf Grund
bestimmter kultureller, politischer und ideologischer Konzepte bildet. 120
Butler
greift
vor
allem
zwei
Begriffsbeispiele
für
Resignifizierungspraktik auf, die Begriffe „queer“ und „nigger“.
116
Bublitz (2002), S. 66.
Distelhorst (2007), S. 32.
118
Vgl. Distelhorst (2007), S. 32.
119
Distelhorst (2007), S. 35.
120
Vgl. Distelhorst (2007), S. 58-60.
117
25
die
Auslegung
ihrer
Es kann durch eine Aneignung vormals negativ besetzter Begriffe, durch die mit diesem
Begriff Ausgegrenzten eine Umwertung in der Sprache stattfinden, wie zum Beispiel der
Begriff „queer“ im englischsprachigen Raum - hier vor allem in den USA - zeigt.
Queer bedeutet im amerikanischen Englisch adjektivisch soviel wie »seltsam,
sonderbar, leicht verrückt«, aber auch »gefälscht, fragwürdig«; als Verb wird es
gebraucht für »jemanden irreführen, etwas verderben oder verpfuschen«,
substantivisch steht es z.B. für »Falschgeld«. Umgangssprachlich ist queer ein
Schimpfwort für Homosexuelle, spielt also mit der Assoziation, dass Homosexuelle
so was wie Falschgeld sind, mit der die straight world, die Welt der »richtigen«
Frauen und Männer, arglistig getäuscht werden soll. 121
„Queer“ wurde früher als Schimpfwort verwendet um homosexuelle Männer und Frauen
zu erniedrigen, in den 80er und 90er des letzten Jahrhunderts wurde der Begriff durch die
Homosexuellenbewegung aufgenommen und politisch neu umgedeutet. Heute wird der
Begriff auch von Akademikern verwendet „to describe the broad, fluid, and ever-changing
expanse of human sexualities.“ 122 Als queer kann jedes Individuum bezeichnet werden,
welches nicht die heterosexuelle reproduzierende Monogamie lebt und sich somit der
(westlichen) heterosexuellen Norm widersetzt.
Diese Geschichtlichkeit von Begriffsbedeutungen zeigt deutlich, dass Zuordnungen
bestimmter Körper in den Bereich der Intelligibilität zeitlichen Veränderungen
unterworfen sind bzw. sein können. Das bedeutet für Subjekte, die als intelligibel gelten,
dass sie immer der Gefahr ausgesetzt sind, durch die sich verändernde Machtbeziehungen
ins „Außen“ des Diskurses verschoben zu werden und somit ihren Subjektstatus zu
verlieren. Um dieser Gefahr zu entgehen, findet in vielen Fällen meist unbewusst eine
explizite Ausgrenzung des jeweils Anderen/Verworfenen statt, um so die bestehende
Einteilung zu stärken. 123
Für Butler liegt das Potential zum Widerstand gegen ausübende Machtverhältnisse und
hegemoniale Diskurse in der Resignifizierung - in der Umdeutung und Aneignung von
(Identitäts-)Zuschreibungen. 124 Bei der politischen Strategie der Resignifikation wird
erneut die enorme Bedeutsamkeit der Sprache in Butlers Theorie sichtbar.
121
Hark, Sabine: Queer Intervention. In: Feministische Studien. Kritik an der Kategorie „Geschlecht“. H 2,
Jg. 11 (1993), S. 103.
122
Benshoff, Harry (Hg.): Queer Cinema. The Film Reader. NY: Routledge, 2004. S. 1.
123
Vgl. Müller (2009), S. 64f.
124
Vgl. Müller (2009), S. 100.
26
2.2.8. Zusammenfassung
Butlers Theorie kann mit der Trias Macht, Subjekt und Sprache zusammengefasst werden.
Sie beeinflussen sich, bringen einander hervor, und bilden den Diskurs durch den sie
bestimmt werden. Macht ist ein Überbegriff der Butler’schen Theorie, der überall wirkt,
außerhalb davon gibt es nichts – er durchfließt jeden Bereich. Auch das Subjekt entsteht in
einem Netz von Machtstrukturen, durch die Unterwerfung von gesellschaftlichen Normen.
Durch die Subjektivation werden die intelligiblen Menschen mit Handlungsfähigkeit
ausgestattet, sie sind somit als lebbare Menschen in der heterosexuellen Matrix verankert.
Mit der Subjektwerdung wird der Mensch durch die Sprache mit Macht ausgestattet und
kann dadurch andere Menschen beeinflussen, dadurch greift er selbst in den Diskurs ein
und ist Teil der Macht.
Sprache beschreibt nicht nur eine Realität, sondern stellt sie mit ihrer Benennung erst her.
Die Sprache ist das Werkzeug mit dem die Menschen sich selbst und die Gegenstände der
Welt benennen und dadurch erkennen können. Geschlecht existiert nicht einfach, sondern
muss immer wieder hergestellt und mit Bedeutung besetzt werden. Frau- und Mannsein ist
kein
Sein,
sondern
ein
andauerndes
Tun:
die
Attribute
„weiblich“
und
„männlich“ bezeichnen nicht (nur) eine biologische Tatsache, sondern sie wirken vielmehr
performativ. Das heißt, die sprachliche Bezeichnung schafft Bedeutung und hierdurch wird
Realität hergestellt, welche angeblich schon immer vorzufinden war. Daher ist
Geschlechtsidentität eine andauernde Nachahmung dessen, was als real und natürlich gilt.
Es ist ein stilisierter Normeffekt, welcher durch die Wiederholung gegebener Regeln
erzeugt wird. Die Natürlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit ist somit eine Illusion, welche
sich selbst wahr macht.
Butler geht es bei ihrem Performativitätsbegriff nicht um eine Entkörperung oder
Auflösung des Körpers in der Sprache. Sie will damit verdeutlichen, dass es keinen Körper
ohne Norm gibt, dass er immer schon mit Bedeutung besetzt und dadurch geformt ist. Sie
widerspricht weiters der Annahme, dass der Körper ein Substrat, eine zugrunde liegende
Materie ist, welche mit Bedeutung gefüllt wird. Für sie ist Materie kein Ort oder eine
Oberfläche an sich, sondern ein Prozess der Materialisierung, welche mit der Zeit stabil
wird, und auf diesem Wege eine Wirkung von Festigkeit, Begrenzung und Oberfläche
herstellt.
27
Das Anerkennen der Künstlichkeit von Geschlechtsdistinktionen bedeutet zwar, dass ein
fluktuierender Begriff von Geschlechtsidentität ohne strikte Grenzen denkbar ist, welche
hypothetisch unendlich viele Variationen des Geschlechts ermöglicht, „praktisch aber
durch die geschlechtsspezifische Matrix begrenzt wird. Sie geht als Bereich von Sprache
und Verwandtschaft dem Subjekt voraus.“ 125 Das Subjekt ist zur Wiederholung der
gegebenen Machtstruktur gezwungen. Doch die Vorstellung, dass Geschlecht performativ
produziert wird, zeigt, dass sie eine Kopie einer Kopie und somit „nichts anderes als eine
Parodie der Idee des Natürlichen und Ursprüngen ist.“ 126
Butler versucht mit ihren Arbeiten diskriminierte Menschen und Randgruppen, welche sie
als „Ausgeschlossene“ und „Verworfene“ bezeichnet, wieder in den Diskurs der
Intelligibilität mit einzubinden. Mit ihren Thesen versucht sie die Grenzen der
heterosexuellen Matrix, und folglich die Kriterien der Intelligibilität, aufzuweichen,
auszudehnen, zu verschieben oder sogar niederzureißen. Durch eine Veränderung der
Grenzen wird es möglich „verworfene“ Identitäten weitgehend zu integrieren, die Vielfalt
von Individuen und das Vorhandensein von Unterschieden als normal anzusehen und
lediglich die Wertung des bedrohlichen „Anderen“ zu dekonstruieren.
125
126
Bublitz (2002), S. 70.
Butler (1991), S. 58.
28
3. Intersexualität
Intersexualität ist eine konstruierte Kategorie, welche im Laufe der Zeit vielen
Veränderungen unterworfen war und ist – dieser diskursive Charakter von gesellschaftlich
konstruierten Kategorien soll während dieser Arbeit nie aus dem Fokus geraten, denn auch
diese Arbeit ist ein diskursives Werkzeug, dass Intersexualität als Phänomen überhaupt erst
hervorbringt. Andreas Wacke geht dem Phänomen Hermaphroditismus bzw. Zwittertum
aus genealogischer Sicht auf den Grund, und schafft mit seiner Arbeit einen
geschichtlichen Diskurs über Intersexualität. Er dekonstruiert diese Begriffe nicht, sondern
geht von der Naturhaftigkeit und Gegebenheit von Intersexualität aus. Intersexuelle
Menschen wurden, Wacke zufolge früher Hermaphroditen oder (umgangssprachlich)
Zwitter
genannt.
Der
Begriff
Hermaphrodit
stammt
vom
griechischen
Wort
Hermaphroditos ab, welcher in die romanischen Sprachen übernommen wurde:
hermaphrodite (frz.), ermafrodito (ital.), hermafrodita (span.). Auch das englische Wort
hermaphrodite ist auf diesen Ursprung zurückzuführen. Der deutsche Ausdruck Zwitter ist
stammesverwandt mit zwei und bezeichnet ein hybrides Wesen von zweierlei Abstammung.
Wahrscheinlich wurde das Wort schon seit dem 13. Jahrhundert mit der Assoziation
„zweigeschlechtlich“ in Verbindung gebracht, aber erst seit dem 16. Jahrhundert hat er die
heutige ausschließliche Bedeutung. 127
Intersexuelle Personen sind Menschen, welche körperlich weder eindeutig Frau noch
eindeutig Mann sind. Intersexualität ist in der Gesellschaft weiterhin ein großes Tabu,
obwohl davon ausgegangen werden kann, dass jede_r in ihrem_seinem weiteren Umfeld
mindestens einen intersexuellen Menschen kennt. Von 2002 bis 2004 wurde in
Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Studie durchgeführt, um den Anteil an
intersexuellen Menschen an der Gesamtbevölkerung zu erheben. Je nach dem welche
Formen dazugezählt werden - um die Zahlen nach Interesse möglichst niedrig oder hoch
zuhalten – liegt das Verhältnis intersexueller Menschen zu nicht intersexuellen Menschen
zwischen einer von 6.900 und einer von 50 Geburten. Intersexuelle Menschen haben einen
Geschlechtskörper für den es keine geschlechtliche Kategorie, sie sind Phänomen von
deren Existenz die meisten Menschen nichts wissen. 128
127
Vgl. Wacke, Andreas: Vom Hermaphroditen zum Transsexuellen. Zur Stellung von Zwittern in der
Rechtsgeschichte. In: Eyrich, Heinz/Odersky, Walter/Säcker, Franz Jürgen (Hg.): Festschrift für Kurt
Rebmann zum 65. Geburtstag. München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1989. S. 874.
128
Vgl. Lang, Claudia: Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern. Frankfurt/Main: Campus
Verlag. 2006. 11f.
29
Jedoch ist innerhalb den letzten fünfzehn Jahren ein Auftauchen intersexueller Stimmen zu
verzeichnen, die zur zunehmenden Sichtbarkeit von Identitäten beitragen, welche der
heterokonformen Normativität zuwiderlaufen. Lange Zeit wurde das Thema Intersexualität
vor allem in naturwissenschaftlichen Analysen aufgegriffen, was die Fülle an
medizinischen Veröffentlichungen gegenüber den wenigen geisteswissenschaftlichen
Werken veranschaulicht, obwohl die Geisteswissenschaft an der Geschichte des
Hermaphroditen als Mythos maßgeblich diskursiv beteiligt war. 129
3.1. Hermaphroditismus – Vom Mythos zur Pathologisierung
Vor ungefähr 2000 Jahren tauchte Hermaphroditos, der Sohn von Hermes und Aphrodite,
zum ersten Mal in den Metamorphosen des Dichters Ovid auf. Der Jüngling kam während
eines Streifzuges an die Quelle der Nymphe Salmakis, welche sich unsterblich in ihn
verliebte. Er konnte nichts mit ihren Avancen anfangen und stieß sie zurück. Als
Hermaphroditos später in der Quelle badete, umschlang Salmakis den Jüngling und bat die
Götter, sie für immer zu vereinen. Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt und die zwei Körper
verschmolzen zu einem, mit männlichen und weiblichen Körpermerkmale. 130
Wacke zufolge bezieht sich der Hermaphroditos-Mythos wahrscheinlich auf orientalische
Gottheiten, welche das männliche und weibliche Geschlecht in sich vereinte – die
androgyne Himmelsgöttin Ištar wurde in Mesopotamien und die Göttin Astarte von
Phöniziern und Syrern verehrt. Der Kult des androgynen Wesens kam von Syrien über
Zypern nach Athen, wo dieser aber nicht sehr gepflegt wurde, eher widmeten sich die
bildende
Kunst
und
die
Poesie
dem
zweigeschlechtlichen
Geschöpf.
Antike
Bildhauer_innen modellierten androgyne Wesen in zahlreichen Varianten: als liegende
oder stehende Statuen, in Steinsärge gehauen, auf Wandgemälde oder Schmuckstücken
verewig. Der Hermaphrodit wurde besonders in der antiken griechischen und römischen
Kunst verehrt. Eine edle Gestalt, mit weiblichen Oberkörper und schönen Brüsten, die
Hüften manchmal knabenhaft, meist aber üppig, aber immer ist die Figur mit einem – oft
erigierten – Penis ausgestattet. Der Hermaphrodit galt im antiken Mythos als vollkommene
Vereinigung von Mann und Frau in einer Person, er wurde als in sich vollendete Ganzheit
verehrt.
129
Vgl. Koch-Rein, Anne: Intersexuality – In the „I“ of the norm? Queer field notes from Eugenides’
Middlesex. In: Haschemi Yekani, Elehe/Michaelis, Beatrice (Hg.): Quer durch die Geisteswissenschaften.
Perspektiven der Queer Theory. Berlin: Querverlag, 2005. S. 238.
130
Vgl. Fröhling, Ulla: Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität – Erfahrungen in einem
Tabubereich. Berlin: Christoph Links Verlag. 2003. S. 13.
30
Im Mythos und Ritus der Antike sind Vorstellungen des zweigeschlechtlichen Wesens weit
verbreitet. Am Beginn der Zeit steht meist eine androgyne Urgottheit – eine
zweigeschlechtliche Einheit, gesehen als Fruchtbarkeitssymbol, das fähig ist aus sich selbst
heraus zu zeugen und zu gebären. Erst später teilt sich die Gottheit in ihre elementaren
Hälften, Himmel/Erde, Sonne/Mond, Mann/Frau. Auch das Yin und Yang der
ostasiatischen Tradition symbolisieren die einander ergänzenden Gegensätzlichkeiten. 131
In Bezug zur Weltenstehungsgeschichte steht auch die Entstehungsgeschichte des
Menschen. Aristophanes beschreibt in Platons Werk Symposion (dt. Das Gastmahl) den
Mythos der Kugelmenschen und die Entstehungsgeschichte der Menschen, wie wir sie
heute kennen. Am Anfang war der Mensch eine Kugel mit jeweils zwei Paar Armen und
Beinen und zwei Gesichter auf dem Kopf. Es gab drei Geschlechter, das männliche
stammte von der Sonne ab, das weibliche von der Erde und das gleichzeitig männliche und
weibliche stammte vom Mond ab. Sie waren stark und schnell und wurden in ihrem
Übermut den Göttern gefährlich. Als Strafe durchschnitt Zeus jeden von ihnen in zwei
Hälften und verbannte sie aus seiner Nähe. Seit diesem Moment streben die auseinander
geteilten Hälften wieder nach Vereinigung – dies ist die Entstehung der Liebe. 132
Der zweigeschlechtliche Gott und Urmensch ist auch der biblischen Schöpfungsgeschichte
nicht fremd. Gott schuf Mann und Frau nach seinem Ebenbild, demzufolge ist er als
Einheit ein zweigeschlechtliches Wesen. In älteren Bibelausgaben steht noch geschrieben,
dass Gott Adam als Ebenbild seiner als männlich und weiblich schuf. Die Passage in
welcher Gott Adam eine Rippe entnahm um Eva zu bilden, kann auch anders gelesen
werden – „er nahm ihm seiner Seite eine“.
133
Tatsächlich wurde lange Zeit in der
jüdischen und christlichen Theologie gelehrt, dass Adam ein Mannweib war.
Obwohl Zwitterwesen in der Mythologie und Theologie weit verbreitet waren und verehrt
wurden, erging es den real existierenden Zwittern in der griechischen und römischen
Antike nicht sehr gut. Im Römischen Reich wurden sie als widernatürliche Gestalten, als
monstra bezeichnet. Sie galten als Omen der Götter, welche baldiges Unheil ankündigten
und
wurden
in
einem
Reinigungszeremoniell
getötet.
Ihre
Existenz
erschien
beseitigungswürdig. Historisch sind elf Fälle von Zwittern bekannt, die zwischen 207 und
95 v.Ch. geboren wurden. Sie wurden auf priesterliche Anordnung zusammen mit einer
Bestie (z.B. einer Schlange) in eine Kiste oder in einen Sack gesteckt und anschließende
im Meer oder Fluss versenkt. In den darauf folgenden zweitausend Jahren wurde die Praxis
131
Vgl. Wacke (1989), S. 874-876.
Vgl. Wacke (1989), S. 876.
133
Vgl. 1. Buch Mose, 2. Kapitel.
132
31
milder, es ist jedoch von der Antike bis zum 18. Jahrhundert nur sehr wenig über den
juristischen und gesellschaftlichen Umgang mit Zwittern bekannt. 134
Im Mittelalter überließ die Rechtssprechung im Falle eines Kindes mit uneindeutigen
Geschlechts dem Vater oder Paten die Aufgabe, dem Kind bei der Taufe ein Geschlecht
zuzuweisen, welches beibehalten werden sollte. Bei Uneindeutigkeit wurde geraten, das
Geschlecht zu nehmen, welches überwog. An der Schwelle zum Erwachsenenalter wurde
es dem Hermaphroditen freigestellt, das Geschlecht weiter zu behalten, oder in das andere
zu wechseln. Die einzige Vorschrift war, dass der Vollzug endgültig war bis zu seinem
Tode, ansonst lief er Gefahr als Sodomit zu gelten, dies konnte zu einer Verurteilung bis
hin zur Hinrichtung führen. 135 Seit dem 18. Jahrhundert haben in modernen Staaten
biologische Sexualtheorien, das Individuum betreffende juristische Bestimmungen und
administrative Kontrollorgane nach und nach dazu beigetragen, die Idee einer
Vermischung der beiden Geschlechter in einem Körper abzulehnen und die freie
Entscheidung des uneindeutigen Individuums wurde durch sie beschränkt. Daraus folgte,
dass jedem Individuum ein und nur ein eindeutiges Geschlecht zugewiesen wurde. Aus
medizinischer Sicht bedeutete das im Falle eines uneindeutigen Geschlechts, das
„wahre“ Geschlecht zu erkennen; sich nicht vor der Anatomie irreführen zu lassen, welche
die Form des entgegengesetzten Geschlechts angenommen hatte, sondern hinter den
Organen das einzig wahre Geschlecht zu entdecken. Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte
sich die Behauptung durch, dass Geschlechtermischungen lediglich Maskeraden der Natur
sind, unter denen sich das „wahre Geschlecht“ versteckte, somit waren alle
Hermaphroditen immer Pseudo-Hermaphroditen. Dies führte zum Verschwinden der freien
Entscheidung in der Rechtssprechung – die vom Gesetz mit Entscheidungskraft
ausgestatteten Experten entschieden nun über das Geschlecht, welches die Natur für das
Individuum ausgewählt und an welches es sich zu halten hatte.
Als Experten traten Mediziner erst seit Ende des 19. Jahrhunderts auf den Plan, um
Hermaphroditen zu Pseudohermaphroditen zu erklären und sie dem vermeintlich
wahren Geschlecht […] auch entgegen ihrem Selbstempfinden und äußeren
Erscheinungsbild zuzuordnen. Der Begriff „Hermaphrodit“ wurde nur für den
äußerst seltenen Fall von Menschen mit Hoden und Eierstöcken, also
„männlichen“ und „weiblichen“ Gonaden, reserviert. 136
Das moralische Interesse an der medizinischen Diagnose rührte aus der Befürchtung,
Hermaphroditen seien imstande ihre „Irrungen der Natur“ für Ausschweifungen zu
134
Vgl. Wacke (1989), S. 876-879.
Auf den rechtliche Diskurs wird in einem extra Kapitel näher eingegangen.
136
Lang (2006), S. 77f.
135
32
verwenden, dass sie bewusst ihr „wahres“ Geschlecht verschleiern könnten um Vorteile
daraus zu schlagen. 137
Für Foucault ist der Körper der ultimative Ort für ideologische Kontrolle, für
Überwachung und Reglementierungen. Er ist seit dem 18. Jahrhundert zum Gegenstand
der Disziplinarmächte geworden. Institutionen wie die Medizin oder Rechtsprechung
bestrafen jene Körper, welche die etablierten Normen und Grenzen verletzten und somit
wird der Körper produktiv und wirtschaftliche nutzbar gemacht. Die Medizin spielt dabei
als machtvolle Institution eine bedeutende Rolle, da sie Körper als normal/abweichend,
gesund/krank, als diszipliniert oder kontrollbedürftig klassifiziert. Infolgedessen wurde der
Medizin
auch
die
Definitionsmacht
über
intersexuelle
Körper
übertragen.
138
Pseudohermaphroditismus bzw. Hermaphroditismus wurde zwar noch nicht medizinisch
behandelt, galten aber durch die medizinische Übernahme als Missbildung, später als
Krankheit, Fehlbildung oder Störung der „normalen“ zweigeschlechtlichen Entwicklung.
3.1.1. Der Fall Herculine Barbin, genannt Alexina B.
Während der Forschungsarbeit zu Sexualität und Wahrheit stieß Foucault auf den
intersexuellen Fall Herculine Barbin
139
(1838-1868), genannt Alexina B., welchen
Foucault 1978 in Paris veröffentlichte, die erste amerikanische Übersetzung erschien 1980
mit einer 11-seitigen Einleitung zum Thema Hermaphroditismus. Foucault stellt die
persönlichen Tagebucheintragungen Alexinas_Abels, die medizinischen Untersuchungen
ihres_seines Körpers – inklusive des Obduktionsbericht - Pressemeldungen und amtliche
Dokumente der fiktionalen Kurzgeschichte Ein scandalöser Fall von Oskar Panizza
gegenüber, welcher Elemente von Alexinas_Abels Leben in seine Erzählung einarbeitete
und sie_ihn in reißerischer Weise als monströses, absonderliches Wesen und teuflische
Verführer_in darstellt.
„Wenn ich diese beiden Texte [Barbins Erinnerungen und Panizzas Ein scandalöser
Fall] nebeneinandergestellt habe und dachte, daß [sic!] sie es verdienen, zusammen
neu veröffentlicht zu werden, so zunächst, weil sie zu jenem Ausgang des 19.
Jahrhunderts gehören, das so heftig vom Thema des Hermaphroditen heimgesucht
wurde – etwa wie das 18. Jahrhundert von dem des Transvestiten.“ 140
137
Vgl. Foucault, Michel: Das wahre Geschlecht. In: Barbin, Herculine/Foucault, Michel: Über
Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Hrsg. v. Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Frankfurt/Main: 1998. S.
8-10.
138
Vgl. Lang (2006), S. 43.
139
Adélaїde Herculine Barbin wurde am 8. November 1838 in Saint-Jean-d’Angély geboren.
140
Foucault (1998), S. 18.
33
Foucault leitet mit diesem Buch einen Diskurs über Hermaphroditismus an, der viel weiter
reichte als in medizinischen Fachbüchern dieser Zeit. Das Besondere und Wesentliche am
Fall Barbin war für Foucault vor allem die Zeit:
In dem Jahren zwischen 1860 und 1870 befindet man sich gerade in einer jener
Epochen, in der man die Suche nach der Identität in der Ordnung der Sexualität sehr
intensiv betrieb: wahres Geschlecht der Hermaphroditen, aber auch Identifizierung
der verschiedenen Perversionen, ihre Klassifizierung, ihre Charakterisierung etc.;
kurz, das Problem von Individuum und Gattung in der Ordnung der sexuellen
Anomalien. 141
In dieser Zeit der wuchernden Diskurse über Sexualität befand sich Alexina_Abel.
Ihr_Sein Leben zeigt wie machtvoll Institutionen wie Medizin und Jurisprudenz auf das
Leben des Individuums einwirken und ein Person – den Hermaphrodit, PseudoHermaphrodit - diskursiv herstellen.
Alexina_Abel war ein Hermaphrodit, der als Mädchen in kirchlicher Obhut erzogen und
als Lehrer_in ausgebildet wurde. Obwohl sie_er schon mit Ende der Kindheit eine
Abneigung gegen die Welt an sich und das Gefühl des Fremd- bzw. Anderssein verspürte,
fühlte sie_er sich in dem religiösen Umfeld der Frauenkloster wohl und wurde von
Mitschülerinnen und Lehrerinnen sehr geschätzt. Während der Pubertät bemerkte sie_er
die ungeheure Distanz zwischen ihrem_seinem Körper und den Körpern der
Mitschülerinnen. Während sich bei den anderen Mädchen die Reize der Frauen
entwickelten, entdeckte Alexina_Abel an sich eine für Mädchen untypische Statur, eine
gewisse Härte in den Gesichtszügen und einen Flaum auf der Oberlippe und Teilen der
Wangen.
142
Trotz
den
augenscheinlichen
Unterschieden
war
sie_er
bei
den
Mitschülerinnen und Lehrerinnen sehr beliebt. Kurz nach der Ausbildung bekam sie_er
eine Stelle als Hilfslehrerin an einem Pensionat. Die Leiterin behandelte sie_ihn wie ihr
eigenes Kind, und ihre Tochter Sara, welche auch im Pensionat arbeitete, wurde ihre_seine
Gefährtin. Sie unternahmen ausschweifende Spaziergänge, nach dem Zubettschicken der
Schülerinnen plauderten sie noch stundenlang und bald entwickelte sich aus der engen
Freundschaft eine leidenschaftliche Beziehung. Ihre Liebesgeschichte stand immer unter
einen ungünstigen Stern - die Gefahr des Entdecktwerdens ist oft in Barbins Erinnerungen
gegenwärtig. So wie die Schuldgefühle, Sara in diese missliche Situation gebracht zu
haben, oder auch die Schuldgefühle Saras Mutter gegenüber, welche in ihr_ihm nur die
Freundin ihrer Tochter sah und nicht ihre_n Liebhaber_in. Und welche Rolle spielte sie_er
141
Foucault, Michel (1998), S. 12.
Vgl. Barbin, Herculine: Meine Erinnerungen In: Barbin, Herculine/Foucault, Michel: Über
Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Hrsg. v. Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Frankfurt/Main: 1998. S.
43.
142
34
selbst: „War ich schuldig oder ein Verbrecher, weil ein grober Irrtum mir in der Welt einen
Platz zugewiesen hatte, der nicht meiner hätte sein dürfen?“ 143 Die innige Freundschaft
zwischen ihnen und die öffentlichen Bekundungen ihrer Liebe – durch Liebkosungen vor
allem von Seiten Alexinas_Abels - wurden anfangs von der Gesellschaft bewundert, dann
als übertrieben angesehen bis hin zu verdächtig kritisiert. Ihr_Sein Gesundheitszustand und
auch ein „gewisses Ausbleiben“ mit achtzehn, welches nicht mehr natürlich
nachzuvollziehen war, beunruhigte ihr_sein Umfeld. 144 Eines Tages wurde aufgrund
heftiger Bauchschmerzen ein Arzt an Alexinas_Abels Bett gerufen, welcher sie_ihn
untersuchte und dabei Ungereimtheiten bei ihrem_seinem Geschlecht feststellte. Der Arzt
informierte auch die Leiterin über den gesundheitlichen Zustand, welche ihm darauf
weitere Untersuchungen untersagte. Alexina_Abel wurde ab diesen Tag noch mehr von
Schuldgefühlen und moralischen Bedenken beplagt. Begeht sie_er jetzt wissentlich eine
Straftat, wenn sie_er dem Leben wie gewohnt nachging? Alexina_Abel suchte seelische
Unterstützung bei einem Bischof und beichtete ihm die ganze Geschichte. Sie_er wurde
von ihm an einen bekannten Arzt verwiesen, welcher die ganze Tragweite der ihm
anvertrauten Aufgabe erkannte - er untersuchte sie_ihn sehr gründlich, denn es durfte kein
Zweifel gegenüber dem Gesetz entstehen, welches ihn als Zeugen anrufen würde. Er
verlangte von Alexina_Abel ihn nicht nur als Arzt zu sehen, sondern auch als Beichtvater.
„Ich muß [sic!] alles sehen, also muß [sic!] ich auch alle wissen“ 145 Aufgrund des
ärztlichen Attests wurde Alexinas_Abels Geschlechtszuweisung als Irrtum angesehen,
welcher bereinigt werden musste. Nach der Diagnose entgegnete der Arzt Alexinas_Abels
Mutter, welche ziemlich bestürzt war, dass sie zwar ihre Tochter verloren hat, aber dafür
unerwartet einen Sohn bekommen hat. Ihre_Seine Stellung als Lehrer_in im Pensionat war
dadurch verloren und somit auch ihr_sein gewohntes Leben mit Sara. Die letzten Tage
vereint mit ihrer_seiner Geliebten beschrieb Alexina_Abel als die schönsten Tage
ihres_seines Lebens, denen nur Verlassenheit und einsame Kälte folgten.
146
Das
Standesamt änderte ihren_seinen Personenstand und Namen und forderte nun
Alexina_Abel auf zu jener Hälfte der Menschen zu gehörten, welche das „starke
Geschlecht“ genannt wird. In der kleinen Stadt kursierten bald die unglaublichsten
Geschichten und so beschloss sie_er, in der anonymen Großstadt Paris einen Neustart zu
wagen. Die Suche nach einer Anstellung gestaltete sich schwieriger als angenommen und
die Großstadt wurde ein feindlicher gefühlskalter Ort, fernab von Freunden und Familie.
143
Barbin (1998), S. 69.
Vgl. Barbin (1998), S. 56.
145
Barbin (1998), S. 91.
146
Vgl. Barbin (1998), S. 100.
144
35
Alexina_Abel verübte acht Jahre nach ihrer_seiner Personenstandsänderung vereinsamt
und verarmt Selbstmord.
Ihre_Seine Memoiren, welche kurz vor dem Suizid verfasst wurden, zeichnen das
gefühlsvolle Leben - die schönen Mädchenjahre und den harten Bruch zum jungen Mann –
von Alexina_Abel nach. Sie_er hatte nach ihrer_seiner Aussage die „wahre“ Religion
gelebt – Aufopferung und Entsagung bestimmten ihr_sein Leben. 147 Diese Äußerung
spiegelt unter anderen die religiösen Normen und Werten wider, die einen starken Einfluss
auf ihr_sein Leben hatten und die den Zwiespalt in ihr_ihm nur verstärkten bzw. vielleicht
sogar hervorriefen.
Alexinas_Abels Lebens- und Fallgeschichte übte viel Faszination aus – dies spiegelt sich
auch in den medizinischen und literarischen Publikationen wider, welche ihr_sein Leben
als Vorbild nahmen. Die französische Unterhaltungsliteratur des Fin-de-Siècle ließ sich
narrativ wie inhaltlich von medizinischen Sensationen und von der Wechselbeziehung von
Lebens- und Fallgeschichte inspirieren. Ein „männlicher“ Hermaphrodit, welcher
unbemerkt in einem weiblichen Milieu lebt und die späte Enthüllung seines
„wahren“ Geschlechts machen Skandal sowie Ironie des späten Zwitterromans aus. 148
Der Fall Barbin dekonstruiert auf einer erkenntnistheoretischen Ebene die biologischen
Argumente
für
eindeutige
Körper,
da
ihr_sein
Körper
dem
Regime
der
Zweigeschlechtlichkeit widersprach und dennoch gewaltsam in ebendieses eingeordnet
wurde. Der Fall Barbin kann als Metapher für die Vergeschlechtlichung der Moderne
verstanden werden, darüber hinaus aber auch als archäologisches Artefakt der Medizin als
Zuschneidefabrik von Geschlecht. Alexinas_Abels Fall markiert den Beginn der
Pathologisierung von Intersexualität. Hermaphroditismus wird in Folge (chirurgisch) zum
Verschwinden gebracht, jedoch nicht die Leiden der Menschen, die dieses Verschwinden
am eigenen Leib durchleben müssen. Alexina_Abel Barbin zeigt auf, dass der Zwang,
eines von zwei Geschlechtern sein zu müssen, den (sozialen) Tod bedeuten kann. 149
147
Vgl. Barbin (1998), S. 21f.
Vgl. Runte, Annette: Über die Grenze. Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst.
Bielefeld: transcript Verlag, 2006. S. 100.
149
Vgl. Dietze, Gabriele: Schnittpunkte. Gender Studies und Hermaphroditismus. In: Dietze, Gabriele/Hark,
Sabine (Hg.): Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie. Königstein/Taunus: Ulrike
Helmer Verlag, 2006. S. 64.
148
36
3.2. Vom pathologisierten Hermaphroditen zur
Zuschneidepraxis an intersexuellen Körpern
Im 19. und 20. Jahrhundert wurden grobe Vereinfachungen in der Medizin – alle
Hermaphroditen sind Pseudohermaphroditen - korrigiert, es wurde auch die Möglichkeit in
Erwägung gezogen, dass ein Individuum ein Geschlecht annimmt, welches nicht sein
biologisches ist. Die Vorstellung eines „wahren“ Geschlechts blieb jedoch erhalten,
uneindeutige bzw. nicht normkonforme Geschlechter werden auch heute noch schnell als
Irrung der Natur angesehen. Es wurde bzw. wird nur schwer von dem Verdacht losgelassen,
es seien unnütze „Erfindungen“, die beseitigt werden müssen. 150
In den 1950ern ändere sich der medizinische Umgang mit dem Thema Intersexualität
einschlägig. Eine einflussreiche Rolle im Bezug auf die Behandlung von intersexuellen
Menschen nahm John Money ein.
3.2.2. John Money
John Money - Psychologe und Sexologie an der John-Hopkins-Universität - führte 1955
einen Versuch an sechzig Hermaphroditen durch. Er teilte sie in zusammenpassende Paare
(matched pairs) ein, welche die gleiche Geschlechtervariation besaßen, aber bei Geburt
entweder als Frauen oder Männern deklariert wurden. Die Studie ergab, dass der wichtigste
Faktor für die gelungene Geschlechtszugehörigkeit nicht die biologisch vorherrschenden
Aspekte waren, sondern die einmal vorgenommene psycho-soziale Zuweisung des
Geschlechts (gender assignment). Das sogenannte „Erziehungsgeschlecht“ dominiert über
die körperlichen Geschlechtsmerkmale. Die Matched-Pair-Untersuchung bewies eine
auffallende Anpassung der beteiligten Hermaphroditen an das zugewiesene Geschlecht und
nur wenig psychische Störungen wurden registriert. Dies führte zur Annahme, dass
unkorrigierte Intersexualität soziale Stigmatisierung nach sich zieht und die Betroffenen
dadurch traumatisiert werden. Umso früher der operative Eingriff stattfand umso positiver
wurde die psycho-soziale Entwicklung des Kindes prognostiziert. Money führte den
Begriff Gender – welchen er von der Sprachwissenschaft entnahm - für das soziale
Geschlecht ein um eine Trennung zur Biologie durchzuführen. Die Konstruktionsthese des
sozialen Geschlechts hatte gewaltige Auswirkungen für den medizinischen Umgang mit
intersexuellen Menschen. Moneys Forschungsergebnis öffnete die Türe für medizinische
Experimente bei (chirurgischen) Korrekturen intersexueller Säuglinge, da bei NichtEingriffen von einer schweren psychischen Störung des Kindes ausgegangen wurde. Den
Eltern wurde ein Behandlungskonzept angeboten, welches eine normale psychische
150
Vgl. Foucault (1998), S. 10f.
37
Entwicklung des Kindes versprach, auch wenn die körperlichen Veränderungen
weitreichend waren und das zunächst überwiegende Geschlecht ins Gegenteil geänderten
wurde - zu Beginn der Intersexualitätskorrekturen wurde meist feminisiert, weil davon
ausgegangen wurde, dass es leichter ist ein Vaginaltrakt zu schaffen, als einen Phallus zu
konstruieren. Eine psychische Geschlechterneutralität wurde bis zum achtzehnten
Lebensmonat vorausgesetzt und stellte die Grundannahme von Moneys Thesen dar:
1. Das Erziehungsgeschlecht dominiert über das „biologische“ Geschlecht,
2. eine frühe Zuweisung des Geschlechts ist notwendig und
3. bei Beibehaltung uneindeutiger Genitalien ist eine Traumatisierung des Kindes
unvermeidbar.
Diese Annahmen stellen auch die Eckpunkte der im gleichen Jahr (1955) erschienenen
Behandlungsrichtlinien für intersexuelle Fälle dar. Für die nächsten vierzig Jahre bildeten
sie die Grundlage der medizinischen Praxis intersexuelle Menschen betreffend. 151
3.2.3. Der Fall Bruce/Branda - John/Joan
Der Fall Bruce/Branda wurde unter dem Pseudonym John/Joan medial und
wissenschaftlich bekannt, es ist die Geschichte von David Reimer. Er kam als ganz
„normaler“ XY-Junge zu Welt, trotzdem beeinflusste seine Geschichte den Umgang mit
intersexuellen Kindern über Jahrzehnte hinweg. Sein Fall diente als Experiment um
Moneys Thesen zu untermauern, diesmal mit einen biologisch „gesunden“ Zwillingspaar.
Am 27. April 1966 sollte in einer kanadischen Kinderklinik bei dem eineigenen
Zwillingspaar Bruce und Brian Reimer ein chirurgischer Eingriff durchgeführt werden. Die
Operation sollte der Korrektur einer Vorhautverengung bei den achtmonatigen Babys
dienen. Während der Operation wurde aus ärztlichen und/oder technischen Versagen der
Penis von Bruce verbrannt und abgetrennt. Die Eltern waren nach dem Vorfall entsetzt und
wussten nicht was sie tun sollten. Ungefähr ein Jahr nach dem verheerenden Eingriff sahen
die Eltern John Money im Fernsehen, der über die Behandlung von transsexuellen und
intersexuellen Menschen sprach. Er vertrat die Meinung, dass das Geschlecht, mit dem ein
Baby geboren wird, keine Rolle spielt, dass ein chirurgisch behandeltes Kind, welches mit
dem neu zugewiesen Geschlecht sozialisiert wird, sich ganz normal entwickelt und sich an
die neue Geschlechtsidentität anpasst und ein glückliches Leben führen kann. Die Eltern
sahen einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft ihres Sohnes und kontaktierten Money,
der sie nach Baltimore einlud. Dort wurde Bruce an der John-Hopkins-Universität
untersucht und
151
Money
riet den
Eltern ihn
Vgl. Dietze (2006), S. 48-50.
38
als Mädchen zu
erziehen,
die
Geschlechtsumwandlung hätte aber in den ersten zweieinhalb Lebensjahren zu geschehen.
Die Eltern willigten ein und die Ärzte entfernten Bruces Hoden und bereiteten die
Konstruktion einer Vagina vor. Diese Operation sollte jedoch erst geschehen, wenn Branda
– der neue Namen des Kindes – selbst einwilligen konnte. Bruce erwachte nach der
Operation als Branda, das Mädchen, es folgten Kontrolluntersuchungen und in
regelmäßigen Abständen wurde sie Moneys „Institut für Geschlechtsidentität“ übergeben
um die Anpassung zum Mädchensein zu unterstützen. Die Eltern bekamen die strikte
Anweisung, ihrem Kind niemals die Wahrheit zu sagen. Im Alter zwischen 9 und 11 wurde
ihr klar, dass sie kein Mädchen war, diese Erkenntnis fiel mit dem Verlangen nach
„geschlechteruntypischen“ Spielsachen zusammen und sie urinierte gerne im Stehen. Das
psychiatrische Team, welches ihre Anpassung überwachte, bot ihr zu dieser Zeit Östrogene
an, welche sie ablehnte. Money wollte ihr die Konstruktion einer echten Vagina
schmackhaft machen – er zeigte ihr detailgetreue Bilder von Vaginas und gebärenden
Frauen –, den Vorschlag lehnte sich ab indem sie schreiend aus dem Zimmer rannte. Er
verlangte weiters, dass sie mit ihrem Bruder auf Kommando Übungen machen sollten, die
den Geschlechtsverkehr nachstellten, was das Geschwisterpaar verängstigte und
verwirrte. 152
Brenda gefiel das Wachstum ihrer Brust nicht und bevorzugte allgemein Aktivitäten,
welche
als
männlich
gelten.
Diese
Beobachtungen
Branda
betreffend
waren
Zuschreibungen eines weiteren Ärzteteams, welches eingriff, da sie der Überzeugung
waren, dass die Geschlechtsumwandlung ein Fehler war. Der Fall wurde von dem
Sexualforscher Milton Diamond erneut begutachtet. Er vertrat die Meinung, dass die
Geschlechtsidentität von der hormonellen Grundlage abhängig ist und bekämpfte Moneys
Theorie seit Jahren. Das neue Ärzteteam bot Brenda die Änderung des eingeschlagen Weg
an, welcher sie einwilligte - mit vierzehn begann sie ein Leben als Junge mit dem Namen
David. Er bat um männliche Hormone, ließ seine Brüste entfernen und im Alter von
fünfzehn wurde ihm eine Phallus konstruiert. 153 Er lebte seit 1990 mit seiner Frau und
seinen drei Adoptivkindern zusammen. 2004 nahm sich David mit 38 Jahren das Leben,
zwei Jahr zuvor starb sein Bruder. Warum er Selbstmord beginn ist nicht genau bekannt (in
manchen Pressemitteilungen wurde von Geldsorgen berichtet).
Zweifellos gab es jedoch eine Frage, die sich ihm immer stellte […]: ob mit seinem
Gender ein Überleben möglich sein würde. Es ist nicht klar ob sein Gender das
Problem war oder ob es an der „Behandlung“ dauerhaft litt. Die Normen, die
darüber befinden, was es heißt, ein achtbares, anerkennenswertes und
152
Vgl. Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen.
Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 2009. S. 99-101.
153
Butler (2009), S. 101-102
39
erhaltenswertes Menschenleben zu sein, stützten sein Leben jedenfalls nicht in
seiner stetigen oder stabilen Weise. Das Leben war für ihn immer eine Wette und
Wagnis eine kühne und zerbrechliche Errungenschaft. 154
John Money publizierte bereits ab 1972 wissenschaftliche Stellungnahmen zu diesem Fall,
welchen er als Erfolg verbuchte. Er beharrte darauf, dass sich beide Zwillinge normal und
glücklich zu ihrem jeweiligen (zugewiesenen) gender entwickelten, unveröffentlichte
Aufzeichnung lassen jedoch an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Branda war fast nie
glücklich und weigerte sich, „mädchenhafte“ Verhaltensweisen anzunehmen. Der Fall galt
in den 1970er als Erfolg, verschwand in den Achtzigern aus Publikationen zum Thema und
wurde erst Ende der 1990er unter andern Vorzeichen wieder aufgegriffen.
Als der Fall medial diskutiert wurde, geschah dies vor allem, um die Rolle von Moneys
Institut zu kritisieren, welches von der gender-Neutralität der frühen Kindheit und der
Formbarkeit der Geschlechtsidentität überzeugt waren. Der Fall Bruce/Brenda wird nun
von Kritiker_innen verwendet, um die Theorie der Geschlechtsentwicklung neu
aufzustellen und zu regeln – und zwar, dass die Geschlechtsidentität an die Anatomie und
an ein „deterministisches Biologieverständnis“ geknüpft ist. Diamond nutzte den Fall, um
die operative Behandlung bei intersexuellen Menschen zu begründen – er führt aus, dass
intersexuelle Kleinkinder in der Regel ein Y-Chromosom haben und dies sei wiederum
eine angemessen Grundlage, um Kinder als Jungen zu erziehen. Zu dieser Zeit wurde noch
überwiegend zum weiblichen Geschlecht hinoperiert. Der Fall wurde durch BBC und
populäre psychologische und medizinische Zeitschriften an die Öffentlichkeit gebracht.
John Colapinto, ein ehemaliger Reporter des Rolling Stones Magazins, veröffentlichte
1998 eine preisgekrönte Reportage über den Fall und verfasste anschließend das Buch
„Der Junge der als Mädchen aufwuchs“. 155
3.2.4. Behandlungsmethoden ab den 1950ern
Moneys Richtlinien zur Behandlung von Intersexuellen wurde in den 1950ern in den USA,
Kanada, Europa und anderen weißen, westlichen Kulturen übernommen und setzte
zeitgleich mit dem Aufkommen der Kindergynäkologie, pädiatrischen Endokrinologie und
der plastischen Chirurgie ein. Ab 1957 wurden an verschiedenen deutschen Kliniken
Klitorisreduktionen vorgenommen, Scheiden vergrößert und Neovaginen neu konstruiert.
Es wurde nur wenig Rücksicht auf den Erhalt der sexuellen Empfindungsfähigkeit gelegt das Ziel war ein normkonformes Aussehen und die Funktionsfähigkeit für heterosexuellen
154
155
Butler (2009), S. 122.
Vgl. Butler (2009), S. 102-105.
40
Geschlechtsverkehr. 156 Diese gravierenden Eingriffe in den intersexuellen Körper wurden
schon im Säuglingsalter durchgeführt – sie wurden zurechtgeschnipselt und angepasst. Die
Operationen – meist waren mehrere nötig um das gewünschte Resultat zu erhalten – und
die darauf folgenden Kontrolluntersuchungen kamen manchen Erfahrungsberichten
zufolge sexueller Gewalt und Missbrauch gleich.
Die Operationen in dieser Zeit hatten nur selten mit der Verbesserung der Lebensqualität
intersexueller Kinder zu tun. Die benötigte Haut zur Konstruktion einer Neovagina wurde
dem Kind vom Rücken und Po abgelöst. Aufgrund der großen Rückenverletzung wurde
das Kind hängend gelagert, wie das auch bei Brandopfern der Fall ist. Der schmerzhafte
Heilungsprozess wurde der „geplanten Frau“ auferlegt, um eine Scheide herzustellen,
welche meist keinerlei sexuelle Empfindsamkeit aufwies – zumal während der Operation
oft die vergrößerte Klitoris amputiert wurde, da sie nicht zum weiblichen Gesamtbild
passte. Damit sich die künstliche Vagina nicht verengte, wurde sie in regelmäßigen
Abständen bourgiert. Unter Bourgierung wird ein Prozess verstanden, bei dem Stäbe
unterschiedlicher Dicke eingeführt werden um die Vagina zu weiten. Diese schmerzhafte
Prozedur – welche fortschrittliche Kinderärzt_innen als überholt bezeichnen und ablehnen
- hat viele Generationen intersexueller Menschen traumatisiert. Den Betroffenen und deren
Eltern wurde ein Sprechverbot über diese Taten auferlegt. Die Ärzt_innen und
Student_innen hingegen tauschten sich über die Ergebnisse und Behandlungen von
intersexuellen Fällen aus, publizierten darüber oder verwendeten diese Fälle auch für ihre
Doktorarbeit oder Habilitationsschrift. Einige intersexuelle Erwachsene entdeckten sich
nach jahrelangem Schweigen und Nichtwissen in diesen medizinischen Fachbüchern wider.
In diesen Exemplaren wurden sie als Kinder mit schwarzem Balken über dem Gesicht
abgebildet, meist auch mit einer detailgetreuen Großaufnahme der Genitalien. Die
Diagnose über ihre Körper erfuhren sie aus dem danebenstehenden Text – Informationen,
die ihnen in der Kindheit, Jugend und meist auch im Erwachsenenalter verwehrt
wurden. 157
Die Operationen, welche in früher Kindheit durchgeführt wurden, das auferlegte
Schweigegebot und die überforderten Eltern, welche meist keine angemessene
(psychologische) Unterstützung erhielten, sind Indikatoren, welche das Risiko zur
Entwicklung einer posttraumatischen Störung bei Kindern erhöhen. Nicht die individuelle
156
157
Vgl. Fröhling (2003), S. 33.
Vgl. Fröhling (2003), S. 21.
41
Eigenart, sondern der gesellschaftliche Umgang damit traumatisierte viele intersexuelle
Menschen. 158
Nur wenige, die bei der Geburt als intersexuell eingestuft wurden, entgingen dem Zwang
der Angleichung. In den 1990ern traten die ersten intersexuellen Stimmen an die
Öffentlichkeit und protestierten gegen die medizinischen Behandlungsmethoden bei
intersexuellen Kindern. Erst die Proteste von intersexuellen Menschen, welche in ihrer
Kindheit selbst gravierenden Eingriffe an ihren Körper ausgesetzt waren, brachten den
medizinischen Diskurs über Intersexualität erneut ins Rollen, schärfte die Wahrnehmung
der Ärzt_innen und führte zu Verbesserungen bei der Behandlung von intersexuellen
Menschen. Die alten Behandlungsmethoden und Operationen werden heute zunehmende
von den Ärzt_innen kritisiert und als überholt angesehen. 159
3.3. Aktueller medizinischer Diskurs
Intersexualität ist in der westlichen Kultur pathologisiert und stand bzw. steht oft im Fokus
der Medizin. Auch der Begriff „Intersexualität“ stammt aus dem biomedizinischen Kontext
und beschreibt phänotypisch – das Erscheinungsbild betreffend - nicht eindeutige Männer
und Frauen und auch andere Menschen mit eindeutigem Erscheinungsbild, bei denen
jedoch das genetische, das gonadale - die Keimdrüsen betreffend - und das innere und
äußere genitale Geschlecht nicht übereinstimmt. Intersexualität wird in der Medizin als
Störung, Krankheit und Fehlentwicklung angesehen, welche erkannt, behandelt und die
Ursache dafür erforscht werden muss. 160
Die Medizin besitzt das Deutungsmonopol und hat die Definitionsmacht über intersexuelle
Körper. Sie ist in kulturelle Wertesysteme und gesellschaftliche Normen eingebunden,
stellt aber gleichzeitig deren ausführendes Organ dar. So entsteht die Klassifizierung als
Störung des Geschlechtskörpers nur in Bezug auf das gesellschaftlich etablierte
Zweigeschlechterordnungssystem,
welches
abermals
keine
natürlichen
Tatsachen
widerspiegelt, sondern selbst eine soziokulturelle Norm verkörpert. 161
Wissenschaftliche Beschreibungen von Körpern und deren Prozesse sind nie objektiv,
sondern immer kulturell geprägt und konstruiert. Die Medizin wurde und wird
instrumentalisiert, um das gesellschaftliche „Idealbild“ Menschen aufzuzwingen, die aus
158
Vgl. Fröhling (2003), S. 67.
Vgl. Fröhling (2003), S. 22.
160
Vgl. Lang (2006), S. 64.
161
Vgl. Lang (2006), S. 65.
159
42
der
Norm
fallen.
Im
„biologischen“
Körper
werden
sozialgesellschaftliche
Gedankenkonstrukte in natürliche Fakten verwandelt, wodurch eine Norm erschaffen wird,
die eine Verschiedenheit und Andersartigkeit nicht zulässt, unsichtbar macht und/oder
ausgrenzt. Als Beispiel hierfür kann die embryonale geschlechtliche Differenzierung
dienen, weil soziokulturelle Vorstellungen mit medizinischen Beschreibungen von
Körperprozessen verwoben sind. Bis zur fünften Schwangerschaftswoche besitzen
Embryos die gleichen Keimdrüsen und inneren Geschlechtsorgane und bis zur neunten
Schwangerschaftswoche unterscheidet sich das äußerliche Genital beider Geschlechter
nicht. Die geschlechtliche Differenzierung beginnt hingegen schon bei der Befruchtung,
wo sich entweder das X- oder Y-Chromosom des Spermiums mit einem X-Chromosom der
Eizelle vereint. Dadurch entsteht das chromosomale Geschlecht XY für männlich und XX
für weiblich. Für die Entwicklung in die männliche Richtung sind verschiedene Faktoren
notwendig, ohne die sich der Embryo in die weibliche Richtung verändert. Durch diese
Beobachtung wurde angenommen, dass die männliche Entwicklung eine aktiv und die
weibliche eine rein passive ist. Diese Annahme der aktiven männlichen Entwicklung und
der passiven weiblichen Entwicklung spiegelt das westliche Verständnis von Männern als
aktiv und Frauen als passiv wider. Dieses Modell ist in Teilen überholt – auch die
weibliche Entwicklung erfordert Aktivität gewisser Faktoren auf dem X-Chromosom.
Trotzdem hält sich das beschriebene Modell im medizinischen Diskurs immer noch.
Während der verschiedenen Entwicklungsstufen des Embryos kann es zu Variationen
kommen, welche die zweigeschlechtliche Ausdifferenzierung verhindern. In der Biologie
werden diese Variationen neutral dargestellt, vom medizinischen Diskurs übernommen
bekommen sie jedoch die Bedeutung von Fehlbildungen oder Krankheiten, weil hier die
geschlechtliche Entwicklung einer Wertung unterzogen und an Normen gemessen wird.
Ein weiteres Beispiel für den kulturellen Einfluss auf medizinische Begriffe sind die
Bezeichnungen
untervirilisierte
bzw.
virilisierte
Genitalien.
Ein
„männlicher
Pseudohermaphrodit“ hat zu wenig Männliches – ist untervirilisiert. Ein „weiblicher
Pseudohermaphrodit“ hat hingegen zu viel Männliches – ist virilisiert. Im medizinischen
Diskurs wir immer nur von einem virilisierten oder untervirilisierten Genital gesprochen,
aber nie von einem feminisierten oder unterfeminisierten Genital. 162 Außerdem gibt es
Schwierigkeiten
bei
der
Größenbeschreibung
von
Genitalien
ohne
auf
Geschlechtszuweisungen zurückzugreifen, es gibt keinen neutralen geschlechtslosen
Begriff, entweder ist eine „Klitoris“ zu groß oder ein „Penis“ zu klein. 163
162
163
Vgl. Lang (2006), S. 69-71.
Vgl. Lang (2006), S. 92.
43
Medizinisch setzt sich das „biologische“ Geschlecht aus mehreren Bestandteilen
zusammen, und zwar aus:
•
•
dem chromosomalen Geschlecht (Karyotyp XX bzw. XY)
•
dem hormonellen Geschlecht
•
•
dem gonadalen Geschlecht (die Keimdrüsen betreffend: Eierstöcke bzw. Hoden)
dem inneren genitalen Geschlecht (Vagina, Uterus und Eileiter bzw. Prostata und
Samenleiter)
und dem äußeren genitalen Geschlecht (Klitoris, kleine und große Schamlippen
bzw. Penis und Skrotum).
Grob können diese Bestandteile des Geschlechtskörpers nach drei disziplinären
Anschauungen aufgeteilt werden: nach dem anatomischen, dem endokrinologischen (die
Hormone betreffend) und dem genetischen Geschlecht. 164 In den meisten Fällen stimmen
alle Bestandteile des Geschlechtskörpers überein – alle Geschlechtsmerkmale weisen in
dieselbe Richtung. Bei intersexuellen Körpern zeigen diese Merkmale jedoch nicht in
dieselbe Richtung. 165
3.3.5. Häufigsten Formen von Intersexualität
Intersexualität stellt einen Überbegriff für verschiedene Variationen von nichtnormativen
geschlechtlichen Differenzierungen da und umfasst verschiedenste Diagnosen mit
unterschiedlichen Erscheinungsbildern. Die medizinische Diagnose ist auch für viele
intersexuelle Menschen sehr wichtig für das Verständnis und die Deutung ihres eigenen
Körpers und für die Entwicklung ihrer verkörperlichten Identität. Welche Phänomene zu
Intersexualität gezählt werden änderte sich in den letzten Jahren/Jahrzehnten, neue Arten
wurden klassifiziert, andere wurden aus dem intersexuellen Kontext genommen. Auch die
Verwendung des Begriffs an sich ist nun einem Wandel unterzogen, manche Betroffene
fühlen sich durch den medizinischen Begriff „Intersexualität“ stigmatisiert und bevorzugen
die Bezeichnung ihrer Diagnose oder die neuen Begrifflichkeiten „Störung der
Geschlechtsdifferenzierung“ (engl. Disorders of Sex Development – DSD) oder
„Besonderheit der Geschlechtsentwicklung“. Andere wiederum distanzieren sie von
medizinischen Begriffen und Krankheitszuschreibung und bezeichnen oder identifizieren
sich als Zwitter oder Hermaphrodit.
164
Bei der Geschlechtsbestimmung von intersexuellen Menschen widersprechen sind diese drei Disziplinen
in Hinblick auf das „wahre“ Geschlecht. Dies wird näher im nächsten Kapitel Geschlechtszuweisung und anpassung beschrieben.
165
Vgl. Lang (2006), S. 68f.
44
Im Folgenden werden die bekanntesten und häufigsten Intersex-Diagnosen beschrieben.
Die unterschiedlichen Arten haben große Auswirkungen auf die Behandlungsmethode von
Betroffenen und auch auf deren Identitätsbildung.
•
AGS – Andrenogenitales Syndrom
AGS bei einem XX-Chromosomensatz ist die häufigste Form der Intersexualität, in 60
Prozent der Fälle geht sie mit einem lebensbedrohlichen Salzverlust einher. 95 Prozent der
Fälle von AGS werden durch einen Defekt der 21-Hydoxylase in der Nebennierenrinde
verursacht. AGS kann bei Menschen mit XY- und XX-Chromosomen auftreten, jedoch nur
bei XX-Menschen bedeutet AGS Intersexualität. Von manchen wird sie auch als rein
endokrine Stoffwechselerkrankung angesehen. AGS führt zur „Vermännlichung“ des
äußeren Genitales – die Klitoris ist leicht bis stark vergrößert. Ohne hormonelle
Behandlung setzt die Pubertät bei Betroffenen zwischen 4 und 7 Jahren ein, in der Kindheit
wachsen sie sehr hoch, jedoch durch frühzeitiges Aufhören des Knochenwachstums
bleiben sie eher klein. AGS mit Aldosteronmangel geht mit einem Salzverlust einher, der
zum Schock führt und ohne Behandlung zum Tode führen kann. 166
•
Androgenresistenz – AIS (Androgene Insensitivity Syndrome)
AIS ist die häufigste Form von Intersexualität mit einem XY-Chromosomensatz und wurde
früher bzw. wird manchmal noch immer „testikuläre Feminisierung“ genannt. Durch eine
genetische Mutation kann der Androgenrezeptor die Androgene nicht (komplette
Androgenresistenz) oder nur teilweise (partielle Androgenresistenz oder ReifensteinSyndrom) binden. Bei der kompletten Variante kommt das Kind mit einem weiblichen
äußeren Genital zur Welt und fällt entweder erst durch einen Leistenbruch in der Kindheit,
in denen sich Hoden befinden oder durch das Fernbleiben der Menstruation in der Pubertät,
da kein Uterus vorhanden ist, auf. Trotz äußerer weiblicher Erscheinung haben die
Betroffenen keine Eierstöcke, Eileiter und Gebärmutter und ihre Vagina kann verkürzt sein.
Dafür besitzen sie Hoden, welche Testosteron produzieren, dieses wird vom Körper
teilweise in Östrogen umgewandelt, welches wiederum für die Knochendichte und für das
psychische Wohlergehen wichtig ist. Keine Scham- und Achselbehaarung sind die
einzigen äußerlichen Auffälligkeiten bei der kompletten Androgenresistenz. Bei der
partiellen Variante/dem Reifenstein-Syndrom reagiert der Körper teilweise auf Androgene.
Grad 1 - männlich mit leichter Androgenresistenz / Grad 3 und 4 - intersexuelle Genitalien,
schwierige Geschlechtszuordnung / bis Grad 7 - komplette Androgenresistenz. Die
166
Vgl. Lang (2006), S. 89-91.
45
Klitoris/der Phallus kann von Geburt an vergrößert sein, oder erst in der Pubertät zu
wachsen anfangen. 167
•
Gonadendysgenesien
Die reine/komplette Gonadendysgenesie tritt bei einem XY-Chromosomensatz auf, die
gemischt/partielle bei einem Chromosomenmosaik – d.h. in verschieden Körperzellen
befinden sich unterschiedliche Chromosomensätze - je nach Chromosomensatz lassen sich
verschiedene Syndrome beschreiben. Aufgrund einer fehlenden oder mangelhaften
Entwicklung der Gonaden kommt es bei der reinen GD zu keiner Ausbildung der
männlichen
Geschlechtsorgane,
bei
der
gemischten
GD
zu
einer
teilweisen
Vermännlichung der Genitalien.
Das Swyer-Syndrom ist die reine GD, durch das Fehlen bestimmter Hormone werden bei
einem XY-Chromosomensatz die Gonaden nicht zu Hoden entwickelt – sie besitzen keine
Keimzellen. Dadurch kann auch das Anti-Müllersche Hormon nicht produziert werden,
welches die Entwicklung der weiblichen Geschlechtsorgane (Uterus, Eileiter – Eierstöcke
hingegen entwickeln sich nur bei XX-Individuen) verhindert. Diese Menschen werden
immer dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Das Swyer-Syndrom wird meist erst in der
Pubertät entdeckt, da die Menstruation ausbleibt und sich keine sekundären
Geschlechtsmerkmale – Brustwachstum und Schambehaarung - entwickeln.
Die gemischte/partielle GD ist nach AGS die zweithäufigste Ursache eines intersexuellen
Genitals. Bei dieser Form sind in manchen Körperzellen XY-, in anderen XOChromosomen vorhanden. Auf einer Körperseite kann sich ein normal- oder
unterentwickelter Hoden im Hodensack oder Bauchraum befinden, auf der anderen Seite
eine Stranggonade – eine unausgereifte Keimdrüse. Je nach dem wie funktionsfähig die
Hoden sind, entwickeln sich die inneren Strukturen (Uterus, Eileiter, Prostata) und ein
mehr oder weniger intersexuelles Genital. Dysgenetische Hoden und Stranggonaden sind
wie beim Swyer-Syndrom erhöht tumoranfällig. Die tatsächliche Höhe dieses Risikos ist
nicht bekannt, es wir von einem bis zu 30-prozentigen Risiko ausgegangen. Die gemischte
GD führt bei einem Drittel der Fälle zu Kleinwuchs und sehr häufig zur Unfruchtbarkeit. 168
167
Vgl. Homepage der Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität. http://www.intersexforschung.de/glossar.html letzter Zugriff 8. Mai 2010.
168
Vgl. Homepage der Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität. http://www.intersexforschung.de/glossar.html letzter Zugriff 8. Mai 2010.
46
•
Androgenbiosynthesestörung
5-Alpha-Reduktase- und 17-Beta-HSD-Mangel sind Enzymmangel bei einem XYChromosomensatz,
welche
eine
Störung
der
Umwandlung
„männlicher“ Geschlechtshormone verursachen und dies führt zu einer unzureichenden
Vermännlichung des äußeren Genitales. Diese Kinder wachsen meist als Mädchen auf, in
der Pubertät findet durch eine erhöhte Testosteronausschüttung eine Vermännlichung statt
– männlicher Phänotyp, Klitoriswachstum, Bartwuchs, Stimmbruch, etc. 169
•
Hermaphroditismus verus
Ein „echter“ Hermaphrodit weist Keimdrüsengewebe beider Geschlechter auf. Es können
dabei die Keimdrüsenanlagen getrennt sein, Eierstock auf einer und Hoden auf der anderen
Körperseite, oder eine Mischgewebe von beiden Anteilen – Ovotestis - auf jeder Seite. Der
Chromosomensatz kann entweder XX oder ein Chromosomenmosaik – hier vor allem eine
Kombination aus XX- und XY-Chromosomen (Chimärismus), seltener auch nur XY sein.
Hermaphroditismus verus geht fast immer mit uneindeutigen Genitalien einher, welche
aber unterschiedlich ausgeprägt sein können. Auch das äußere Erscheinungsbild reicht von
fast „weiblich“ über androgyn bis hin zu fast „männlich“. 170
•
Klinefelter-Syndrom
Diese Form ist eine Chromosomenaberration, bei dem zu dem XY-Chromosomensatz ein
zusätzliches X-Chromosom in allen oder allen größeren Körperzellen nachzuweisen ist.
Diese Genmutation hat keine erblichen Ursachen sondern entsteht bei der Verschmelzung
der elterlichen Keimzellen. Bei einem 47, XXY Karyotyp ist das Genital männlich mit
unterentwickelten Hoden, die Pubertät tritt unbehandelt verzögert auf oder bleibt ganz aus,
oft kommt es zu übermäßigem Brustwachstum. Ob das Klinefelter-Syndrom eine
intersexuelle Variation ist, wird im medizinischen Diskurs heftig diskutiert.
Welche Diagnosen zu Intersexualität gezählt werden unterscheidet sich je nach
individueller Definition des Begriffs durch Ärzt_innen, Betroffenen, etc. Somit kommen
sehr unterschiedliche Zahlen über die Verbreitung von Intersexualität zustande. Die
Konstituierung von Intersexualität ist ein fortlaufender Prozess, welcher immer einem
Wandel unterworfen ist.
169
Vgl. Interview 1-0-1_intersex mit der Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität. http://www.intersexforschung.de/interview.pdf letzter Zugriff 8. Mai 2010.
170
Vgl. Homepage der Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität. http://www.intersexforschung.de/glossar.html letzter Zugriff 8. Mai 2010.
47
3.3.6. Geschlechtszuweisung und -anpassung
Unmittelbar nach der Geburt vollzieht sich die Zuordnung zu einer Geschlechterkategorie.
Die Behauptung, es gibt nur zwei Genitalien, welche sich gegenseitig ausschließen und die
darauf aufbauenden Geschlechter, erscheint als natürlich. Genitalien, Chromosome und
Hormone werden dabei als Geschlechtsmarker für entweder das weibliche oder das
männliche Geschlecht angesehen. Obwohl bekannt ist, dass manche Neugeborene
uneindeutige Genitalien haben, gibt es im westlichen Geschlechtermodell keine Kategorie
für diese Menschen. 171
Die Geburt eines intersexuellen Menschen stellt in der Medizin einen psychosozialen
Notfall dar, nicht weil das Leben des Kindes in Gefahr ist (außer bei AGS mit Salzverlust),
sondern weil das Geschlecht des Kindes unklar ist, was sich traumatisch auf die Eltern
auswirken kann. Die ideale Behandlungsbedingung des aktuellen medizinischpsychologische Diskurses sieht vor, dass nach der Geburt eines intersexuellen Säuglings
dieses einem Spezialistenteam aus Mediziner_innen und Psycholog_innen übergeben wird,
welche eine möglichst schnelle und exakte Diagnose inklusive einer Prognose der
zukünftigen Geschlechtsidentität stellen und gleichzeitig auch die Eltern in ihrem Trauma
psychisch begleiten. 172
Je nach Diagnose und Zuweisung des Geschlechts wird eine bestimmte Behandlung
angeboten. Die Geschlechtsfestlegung folgt nicht einem festgelegten verbindlichen
Schema, sondern erscheint willkürlich – manchmal dominiert der Phänotyp über den
Chromosomensatz, ein anderes mal hat das Erscheinungsbild keine Bedeutung für die
Einteilung, manchmal hingegen bestimmt die hormonelle Situation den intersexuellen
Körpers. Nach dem Phänotyp entscheidet vor allem die Klitoris- bzw. Penisgröße des
Kindes über dessen Geschlecht, diese dürfen nicht größer oder kleiner sein als die Norm,
wenn sie jedoch aus der Norm fallen sind sie medizinisch gesehen korrekturbedürftig. Die
Virilisierung des äußeren Genitals wird in 5 Praderstufen eingeteilt. Das Pradersystem
gestellt ein Kontinuum dar, deren Eckpunkte die idealtypischen männlichen und
weiblichen Genitale sind. Ein Phallus, der kleiner als einen Zentimeter ist gilt als Klitoris,
bei einer Größe über 2,5 Zentimeter ist er ein Penis, liegt er dazwischen besteht die
„Notwendigkeit“ das Geschlecht zu „vereindeutigen“. Diese Richtwerte sind willkürliche
Maßstäbe, welche auf keiner wissenschaftlichen Grundlage beruhen.
171
172
Vgl. Lang (2006), S. 39.
Vgl. Lang (2006), S. 88.
48
Bei den Chromosomen stellen die X und Y Chromosomen die Marker für ein Geschlecht
dar – X wird als das weibliche und Y als das männliche Geschlechtschromosom angesehen.
Bei der endokrinologischen Bestimmung sind vor allem die vorhanden Keimdrüsen von
Bedeutung und welche Hormone im Körper produziert und aufgenommen werden. Es wird
angenommen dass Männer und Frauen eine geschlechtsspezifische Zusammensetzung an
Hormone haben, obwohl bekannt ist, dass die Menge der Geschlechtshormone in einem
Körper und innerhalb einer Geschlechterkategorie variabel ist.
Auf der Suche nach dem „wahren“ Geschlecht geraten somit der anatomische,
endokrinologische und genetische Körper in einen Wettstreit. Zum Beispiel spielen bei der
kompletten Androgenresistenz (CAIS) die XY-Chromosomen, das Vorhandensein von
Hoden und die „männlichen“ Hormone, welche aber auf Grund des funktionsunfähigen
Rezeptors nicht aufgenommen werden können, keine Rolle bei der Geschlechterwahl.
Menschen mit CAIS werden aufgrund des Phänotyps (Körperbau, Brustwachstum in der
Pubertät) und der Unmöglichkeit der Behandlung in die männliche Richtung, dem
weiblichen
Geschlecht
zugewiesen.
Bei
einem
Kind
mit
XY/XO-Gemischter
Gonadendysgenesie, welches dem männlichen Geschlecht zugewiesen wird, entscheidet
der rudimentäre Penis, ein Hoden, ein gespaltenes Skrotum – der Hodensack - sowie die
Existenz von XY-Chromosomen. In diesem Fall haben die körperlichen Merkmale, wie
Vagina, Uterus und Eileiter keine Bedeutung. Hingegen bei einer weiblichen
Geschlechtszuweisung bei Menschen mit gemischter Gonadendysgenesie und XY/XO –
die vor Jahren noch üblich war aber jetzt immer seltener gemacht wird – verhält es sich
umgekehrt. Hier zählt das Vorhandensein von Vagina, Uterus und Eileiter als Merkmal des
weiblichen Geschlechts, während die vergrößerte Klitoris, die zusammengewachsenen
Schamlippen und die XY-Chromosomen keine Rolle spielen. 173
Diese Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Bedeutung von Geschlechtsmarkern für die
Geschlechtszuweisung ausfallen kann. Nach der Erkennung des „wahren“ Geschlechts und
der Zustimmung der Eltern beginnen meist schon die geschlechtsanpassenden Operationen
und Behandlungen, bei welchen meist alle Geschlechtsmarker entfernt werden, welche
nicht dem zugewiesenen Geschlecht entsprechen. Die Idee der Abtrennbarkeit von
Körperteilen einer Person steht im Kontext des biomedizinischen Körperbildes. Erst die
Entpersonalisierung von Genitalien und Gonaden schafft die Rahmenbedingung zur
Entfernung dieser als falsch oder funktionslos betrachteten Körperteile – sie sind nicht ein
Teil der Person. 174
173
174
Vgl. Lang (2006), S. 106-109.
Vgl. Lang (2006), S. 125.
49
Zum Beispiel werden auch oft verkümmerte Keimdrüsen entfern, weil sie eine Krebsrisiko
darstellen können – es wird von einem 30%-igen Risiko ausgegangen, obwohl die
tatsächliche Höhe der Wahrscheinlichkeit nicht genau bekannt ist. Bei Menschen mit AIS
werden meist die „männlichen“ Keimdrüsen entfernt, obwohl der Körper das Testosteron
in Östrogen – welches wichtig ist für den Knochenbau und das Wohlbefinden – umwandelt.
Die Betroffenen werden durch die Entfernung der Keimdrüsen in einen chronischen
Krankheitszustand versetzt, weil sie dadurch auf lebenslange Hormoneinnahme
angewiesen sind. 175
Mediziner_innen begreifen ihr Tun meist als Korrektur einer Fehlbildung, der Eingriff soll
die Betroffenen vor Traumatisierung durch psychische Probleme und sozialer
Diskriminierung
schützen.
Ärzt_innen
sehen
sich
nicht
als
Mitgestalter_innen
geschlechtskörperlicher Normen, sondern sie sehen die Verantwortung bei den Eltern und
der Gesellschaft, welche diese Eingriffe fordern. Das „locker room“-Argument wird von
Mediziner_innen oft herangezogen um die mögliche Traumatisierung aufgrund eines
uneindeutigen Geschlechts zu veranschaulichen. Intersexuelle Kinder wären nämlich beim
Umziehen vor anderen Mädchen und Jungen in einer Sammelumkleidekabine Spott,
Hänseleien und Diskriminierung ausgesetzt. Warum sich die Kinder völlig nackt ausziehen
und sich zwischen die Beinen schauen sollten, wird nicht näher erläutert. Wäre es nach
diesem Argument auch nötig, bei übergewichtigen Kindern - welche oft Hänseleien in der
Umkleidekabine ausgesetzt sind – eine zwingende Fettabsaugung durchzuführen?
Die psychische Traumatisierung durch uneindeutige Genitalien ist allerdings eine
empirisch unbelegte These. Jedoch ist aus medizinischer Sicht der Versuch, intersexuelle
Kinder vor einem Außenseiterstatus zu schützen, ein ausreichendes Argument um
schwerwiegende Operationen an Kindern durchzuführen. 176
Der Versuch die Betroffenen vor Traumatisierung durch ihr uneindeutiges Geschlecht zu
schützen, führt meist schon durch den chirurgischen Eingriff zur Traumatisierung von
intersexuellen Menschen. Schwerwiegende Eingriffe in den Körper – durch künstlich
zugeführte Hormone oder geschlechtsangleichende Operationen - ohne die Zustimmung
der Patient_innen, führen bei den meisten Betroffenen zu einem Gefühl der zerstörten
Ganzheit und Entfremdung. Nach nicht gewünschten chirurgischen Anpassungen können
einzelne Körperteile von Betroffenen als nicht dazugehörig empfunden werden, sie werden
175
176
Vgl. Lang (2006), S. 175.
Vgl. Lang (2006), S. 119.
50
als künstlich hergestellt angesehen. Über den Verlust der körperlichen Integrität wird auch
von nicht-intersexuellen Menschen berichtet, welche sich nach der operativen Entfernung
von Organen oder Amputationen in ihrer Geschlechtsidentität als Mann und Frau bedroht
fühlen. Das passiert vor allem, wenn gesellschaftlich konnotierte Geschlechtsmarker
entfernt werden, wie Prostata, Uterus, Eierstöcken, Brüste, etc. Die Entfernung von
vergeschlechtlichten Körperteilen führt also auch bei eindeutigen Frauen und Männern zu
Verunsicherungen in ihrer Geschlechtsidentität. 177
Kritiker_innen werfen der Medizin vor, dass die Operationen an intersexuellen Kindern
rein kosmetische und normierende Engriffe sind und keine notwendigen medizinischen
Heilbehandlungen. Im medizinischen Diskurs werden oft kosmetische und echte
medizinische Indikationen für chirurgische Eingriffe vermischt. Auf der anderen Seite
werden im medizinkritischen und depathologisierenden Diskurs über Intersexualität die
gesundheitsgefährdenden Aspekte kaum thematisiert. Dies kann zu einem Widerspruch der
Argumente und damit zur Verunsicherung bei Betroffenen und deren Eltern führen. Um
dem entgegenzuwirken ist es sinnvoll, echte medizinische Indikationen von kosmetischen
zu trennen, in dem die Lebens- oder Gesundheitsgefährdung jenseits der angenommen
Traumatisierung durch uneindeutige Genitalien wahrgenommen wird. 178
3.3.7. Intersex vs. Disorder of Sex Development
Der medizinische Intersexdiskurs in Nordamerika distanziert sich immer mehr vom Begriff
„Intersexualität“, welcher Anfang des 20. Jahrhunderts vom Biologen Richard
Goldschmidt geprägt wurde. Er verwendete ihn um ein biologisches Geschlecht zu
bezeichnen, welches zwischen männlich und weiblich lag. Im Laufe des 20. Jahrhundert
wurde der Begriff gelegentlich von Mediziner_innen übergenommen um sich auf Fälle zu
beziehen, welche sie eher Hermaphroditismus oder Pseudohermaphroditismus nannten.
Frühe Intersexaktivisten und Fürsprecher bevorzugten den Begriff Intersexualität
gegenüber der stigmatisierenden und oft verwirrenden Bezeichnung Hermaphroditismus,
obwohl Hermaphrodit von manchen auch als selbstbewusste Identifikation verwendet
wurde. 179
Die Ablehnung des Begriffes „Intersexualität“ durch intersexuelle Personen und viele
Eltern von Betroffenen führte zu der Einführung eines neuen Überbegriffs für uneindeutige
177
Vgl. Lang (2006), S. 176-180.
Vgl. Lang (2006), S. 127.
179
Vgl. Dreger, Alice D./Herndon, April M.: Progress and Politics in the Intersex Rights Movement.
Feminist Theory in Action. In: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies. Intersex and After. Edited by
Iain Morland, vol. 15, no. 2 (March 2009), S. 208.
178
51
Geschlechtsentwicklung. Auf den Begriff Disorder of Sex Development (DSD) einigte sich
2005 eine Arbeitsgruppe, an welcher Mitglieder vieler wichtiger Interessensgruppen und
Selbsthilfegruppen mitwirkten. Die Arbeitsgruppe einigte sich weiters auf ein
Patient_innenorientiertes Behandlungsmodel, welches früher nicht von allen befürwortet
wurde. Alice Dreger und April Herndon sind sich sicher, dass diese Einigung nur anhand
der terminologischen Änderung von Intersexualität zu DSD möglich war und haben
deswegen der Änderung zugestimmt. 180 „[T]he shift to this terminology clearly has
allowed serious progress toward patient-centered care, in part because it has allowed
alliance building across support and advocacy groups, and the clinicians.” 181
Das patient_innenorientierte Behandlungsmodel, welches von der DSD-Arbeitsgruppe
ausgearbeitet wurde und die damit vereinbarten medizinischen Richtlinien für die
Behandlung von intersexuellen Menschen konzentrieren sich auf das Wohlergehen
eines_einer jeden individuellen Patient_in. Zum Beispiel sehen die Richtlinien vor,
operative und hormonelle Behandlungen so lange hinauszuschieben, bis der_die Patient_in
selbst darüber entscheiden kann. Davor soll nur eingegriffen werden, wenn ohne
Behandlung eine Gefahr für die Person entstehen könnte. Weiters sollen die Patient_innen
psychologisch betreut werden und ein respektabler, empathischer, ehrlicher Umgang mit
ihnen und deren Eltern soll gewährleistet werden. Stigmatisierende Terminologien, wie
Pseudohermaphroditismus, sollen vermieden werden, sowie die Verwendung von
medizinischen Abbildungen. Das Ziel ist ein offener und ehrlicher Umgang mit den
Betroffenen und deren Eltern. 182
Durch die Änderung der medizinischen Bezeichnung von Intersexualität zu DSD soll der
Fokus auf die medizinischen Behandlungsmethoden gelegt werden. Dadurch distanziert
sich der (medizinische) Diskurs vom Begriff Intersexualität, welche in den letzten Jahren
für
manche intersexuellen Personen die Bedeutung einer Geschlechtskategorie
angenommen hat. DSD bezeichnet eine pathologische Störung, welche keine Möglichkeit
zu einer Selbstidentifikation bietet. Die Kritik an der neuen Terminologie sowie die
Annahme der Neuerung gehen auf zwei unterschiedliche Anschauungspunkte zurück. Die
einen kritisieren die verstärkte Pathologisierung, weil sie Intersexualität als soziales und
gesellschaftliches Problem sehen. Die anderen sehen es als rein medizinisches Problem an,
welches durch die DSD-Nomenklatur positive Auswirkungen haben könnte, da die
180
Vgl. Dreger/Herndon (2009), S. 211.
Dreger/Herndon (2009), S. 212.
182
Vgl. Dreger/Herndon (2009), S. 206.
181
52
Aufmerksamkeit auf angemessene und ethisch vertretbare Behandlungen gerichtet wird weg vom Identitätsaspekt, welcher in der Medizin nichts verloren hat. 183
3.4. Rechtlicher Diskurs
Nach Artikel 3 (3) 184 des deutschen Grundgesetztes ist jede Diskriminierung, insbesondere
die aufgrund des Geschlechts, verboten. Aber je weiter in die Geschichte zurückgeschaut
wird, um so mehr unterscheiden sich Mann und Frau aus rechtlicher Sicht. Frauen
unterstanden
im
germanischen,
wie
auch
im
altrömischen
Recht
der
Geschlechtervormundschaft des Ehemannes oder des nächsten männlichen Verwandten.
Sie durften bei Rechtsgeschäften und auch bei Rechtsstreitigkeiten vor Gericht keine
Zeuginnen sein. Sie konnten keine Bürgschaft übernehmen und waren aus öffentlichen
Ämtern ausgeschlossen. Mütter hatten gegenüber den Vaters der Kinder, auch bei
unehelichen, keinen Anspruch auf diese. Mädchen wurden schon mit 12 als geschlechtsreif
und ehefähig angesehen, Knaben hingegen erst mit 14 Jahren. Das waren nur einige
gesetzliche Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Die erwähnten Rechtsnachteile
für Frauen sind Geschichte, geblieben ist hingegen das grundlegende Einteilungsprinzip.
Auf Grund des Verbots gleichgeschlechtlicher Ehen, der Verpflichtung von Männern zum
Bundeswehrdienst und das Vorhandensein einzelner geschlechtsspezifischen Sexualdelikte
zeigt, dass die Geschlechtszuweisung männlich/weiblich aus rechtlicher Sicht nicht egal ist.
Die geschlechtliche Zuweisung eines Neugeborenen ist elementar für die gesamte
Rechtsordnung. Schon bei der Aufnahme ins Geburtenregister muss ein Geschlecht und ein
dazupassender
–
geschlechtsspezifischer
-
Name
angegeben
werden.
Die
Entscheidungsmacht der Geschlechtszuweisung hat die Medizin inne. Das diese Aufgabe
nicht immer leicht ist, war Fachleuten aufgrund der Existenz von intersexuellen Menschen
schon länger bewusst, was sich aber nur selten durch spezifische Regelungen in den
Gesetzen niederschlug. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert ist nur sehr wenig über den
rechtlichen Umgang mit Zwittern bekannt. Das römische Recht unterschied bei
Testamenterrichtungen als auch bei Erbschaftsfragen zwischen Frauen und Männer.
Ulpians 185 erste allgemein Äußerung zur intersexuellen Thematik bezog sich vermutlich
auf eine erbrechtliche Frage: „Bei einem Zwitter fragt sich, welchem Geschlecht er
183
Feder, Ellen K.: Imperatives of Normality. From “Intersex” to “Disorders of Sex Development”. In: GLQ.
A Journal of Lesbian and Gay Studies. Intersex and After. Edited by Iain Morland, vol. 15, no. 2 (March
2009), S. 240.
184
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner
Heimat oder Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder
bevorzugt werden.“
185
Domitius Ulpianus – kurz Ulpian - war ein römischer Jurist der um 170 bis 223 n.Chr. lebte.
53
gleichzustellen sei. Ich glaube eher demjenigen, das bei ihm überwiegt.“ 186 Die vom
römischen Recht beeinflusste Reichsnotariatsordnung von 1512 erhielt den älteren
entsprechenden Zustand aufrecht. Wonach „Frauen oder Hermaphroditen, das seind, die
männlich und fräulich Gemächt haben und in dem fräulichen Gemächt fürtreffen“ 187 nicht
als Testamentszeugen fungieren durften. Kreittmayrs Bayrischer Codex Maximilianeus
Civilis von 1756 enthielt eine schon vorher gültige Lösung: „Hermaphroditen werden dem
Geschlecht beygezehlt, welches nach Rath und Meinung deren Verständigen vordringt;
falls sich aber die Gleichheit hierin bezeigt, sollen sie selbst eins erwählen und von dem
Erwählten sub Poena Falsi nicht abweichen.“ 188 Das Allgemeine Preußische Landrecht
von 1794 sah für eine_n Neugeborene_n mit uneindeutigen Geschlecht vor: 189
§ 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Aeltern, zu welchem
Geschlecht sie erzogen werden sollen.
§ 20. Jedoch steht einem solchen Menschen, nach zurückgelegtem achtzehnten
Jahren, die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle.
§ 21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurtheilt.
§ 22. sind aber Rechte eines Dritten von dem Geschlechte eines vermeintlichen
Zwitters abhängig, so kann ersterer auf Untersuchung durch Sachverständige
antragen.
§ 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet, auch gegen die Wahl des
Zwitters und seiner Aeltern. 190
Der § 46. des sächsischen BGB von 1863/65 besagt: „Die Verschiedenheit des Geschlechts
begründet in der Regel keine Verschiedenheit der bürgerlichen Rechte. Eine Person, deren
Geschlecht zweifelhaft ist, wird dem bei ihr vorherrschenden Geschlechte beigezählt.“ 191
Die oben aufgezählten Regelungen waren die einzigen rechtlichen Bestimmungen im
deutschsprachigen Raum intersexuelle Menschen betreffend. Hier lassen sich wesentliche
Unterschiede zu dem seit 1900 in Kraft getretenen deutschen Bundesgesetzbuches finden.
Aus juristischer Sicht existieren in Deutschland und Österreich die Kategorien
Intersexualität, Hermaphrodit, Zwitter oder Menschen mit uneindeutigem Geschlecht nicht.
Es gibt keine personenstandsrechtlichen und strafrechtlichen Regelungen und auch keine
entsprechende gender-Kategorie für intersexuelle Menschen.
Was passiert also zum Beispiel mit einem Hermaphrodit der als Mädchen aufgezogen
wurde, aber im Laufe des Erwachsenwerdens feststellt, dass er_sie lieber als Mann leben
will, wenn es schon keine offizielle Kategorie für Intersexualität gibt? In Deutschland ist
186
Wacke (1989), S. 879.
Wacke (1989), S. 883.
188
Wacke (1989), S. 883.
189
Vgl. Wacke, (1989), S. 861-887.
190
Wacke (1989), S. 887.
191
Wacke (1989), S. 883.
187
54
die einzig existierende Regelung für einen Geschlechterwechsel im Transsexuellen-Gesetz
(TSG) verankert, welches 1980 in Kraft getreten ist. Es gibt die kleine Lösung, die
lediglich den geschlechtsspezifischen Namen aufgrund von transsexueller Prägung ändert,
dafür ist ein Gutachten notwendig, welches bestätigt, dass die Person seit mindestens drei
Jahren im „anderen“ Geschlecht lebt und es auch zukünftig machen wird. Für die große
Lösung des Geschlechterwandels mit Änderung des Geschlechtseintrags muss die Person
zusätzlich fortpflanzungsunfähig sein und sich einer operativen Geschlechtsumwandlung
unterzogen haben. Eine spezielle Regelung für intersexuelle Menschen, welche einen
Geschlechtswechsel durchführen wollen gibt es nicht. 192
„Zu beantragen wäre somit nicht eine neue Geschlechtszuschreibung, sondern die
Korrektur einer ursprünglich „falschen“ Zuschreibung, also eines Irrtums.“ – die einfachste
Möglichkeit für unsere fiktive Person, ihr Geschlecht zu „wechseln“, wäre die Aussage
eines Arztes_einer Ärztin vor dem Gericht, die ursprüngliche Geschlechterzuschreibung
sei ein Irrtum gewesen. – dann braucht es keine psychologischen Gutachten mehr. Die
Medizin allein entscheidet hier.
3.4.8. Aktuelles Zivil- und Strafrecht
Zur intersexuellen Thematik treten drei rechtliche Hauptprobleme in drei verschiedenen
Rechtsbereichen auf – im Arztrecht, im Recht der elterlichen Sorge und im
Personenstandsregister.
•
Arztrecht
Ärztliche Heileingriffe sind nur dann anzuwenden, wenn der Eingriff auf Heilung gerichtet
ist. Da die Heilung eine Diagnose voraussetzt, ist zu klären, ob eine fehlende Eindeutigkeit
des Geschlechts als Krankheit an sich zu bewerten ist oder ob von drei oder mehreren
Geschlechtern ausgegangen werden muss. Im letzteren Fall wäre nicht mehr von einer
Krankheit auszugehen, sondern von einem falschen sozialen Umgang mit geschlechtlicher
Mehrdeutigkeit und somit ist durch die nicht existierende Krankheit der Person auch keine
Heilung möglich.
Ein Argument für eine frühzeitige Geschlechtsanpassung kommt aus der Psychiatrie, die
annimmt,
dass
eine
eindeutige
Geschlechtszuweisung
für
eine
gesunde
Identitätsentwicklung maßgeblich ist. Belege für diese Theorie existieren jedoch nicht.
Empirische Daten zum Langzeitverlauf früherer chirurgischer Anpassungen zeigen eher
ein anderes Bild, nämlich dass die frühe chirurgische Intervention keinen positiven
192
Vgl. Lang (2006), S. 130f.
55
Einfluss auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität und der Sozialisation hat. Auch lässt
sich nicht nachweisen, ob intersexuelle Kinder eine geglückte Identitätsentwicklung
durchleben könnten, wenn sie aufgrund ihres Andersseins nicht diskriminiert würden,
wenn das gesellschaftliche Tabu gebrochen wäre und öffentliche Vorbilder existieren
würden.
Der oberste Gerichtshof von Kolumbien, hat schon dreimal über die Frage der Zulässigkeit
von Geschlechtsoperationen bei Kindern entschieden und ist bisher das einzige Gericht
weltweit, welches sich dieser Frage widmete. Ein Totalverbot von operativen
Geschlechtsangleichungen bei Säuglingen wurde aber fallengelassen mit der Begründung,
dass dies einem staatlich verordneten Sozialexperiment gleichkäme. Ob die aktuellen
Behandlungsstandards bei intersexuellen Menschen das bessere Humanexperiment ist,
muss allerdings weiter hinterfragt werden. Die Belastung durch die Operationen am
Genital und die Kontrolluntersuchungen scheinen die Betroffenen stärker zu traumatisieren
als die Normabweichung des äußeren Genitals. Beim operierten äußerlichen Genital ist
zum anderen von einem späteren sexuellen Empfindlichkeitsverlust auszugehen. Die
Chirurgie
sollte
nach
Funktionsbeeinträchtigung
Rothärmel
im
nur
Genitalbereich
eingreifen
führen
wenn
oder
die
Fehlbildungen
Gefahr
zu
weiterer
Komplikationen besteht. 193
•
Recht der elterlichen Sorge – Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung
Bei Fällen, die keinen gesundheitlichen Notfall darstellen, haben allein die Eltern das
Entscheidungsrecht über Behandlung oder Nichtbehandlung des Neugeborenen. Rothärmel
meint, dass die Wirksamkeit der elterlichen Entscheidung von einer qualifizierten
Aufklärung abhängig gemacht werden sollte –das entschied auch der oberste Gerichtshof
von Kolumbien. Die Eltern müssen umfassend über die Ursachen der „Störung“, über
Therapiealternativen und ggf. über den ungewissen Ausgang einer operativen Korrektur
aufgeklärt werden. Zur Therapiealternative gehört auch der Aufschub von Operationen, bis
das Kind selbst entscheiden kann, welchem Geschlecht es sich zugehörig fühlt. Ferner
sollte den Eltern die Chance gegeben werden, sich durch Gesprächen mit professionellen
Therapeut_innen und mit Selbsthilfegruppen sich eine eigene Meinung zu bilden. Es sollte
auf jeden Fall soviel Zeit vergehen, dass sich die Eltern mit dem ersten Schock nach
Geburt eines geschlechtlich uneindeutigen Kindes auseinandersetzten können. Sie sollten
die Möglichkeit haben sich über die Thematik zu informieren und Gelegenheit haben,
193
Vgl. Rothärmel, Sonja: Rechtsfragen der medizinischen Intervention bei Intersexualität. IN: MedR 2006,
Heft 5. S. 278f.
56
zunächst ihr Kind so anzunehmen wie es ist. Rechtliche Regelungen für eine ideale
Behandlungsmethode bei intersexuellen Neugeborenen gibt es nicht. Das Recht sieht aber
den Schutz von Einwilligungsunfähigen vor, wie z.B. die Pflicht einer richterlichen
Genehmigung bei lebensgefährdenden Eingriffen - manche weitreichende Eingriffe sind
gänzlich verboten. So steht der_dem Nichtentscheidungsmündigen immer ein Vetorecht
gegen die Sterilisation zu. An Minderjährigen sind Eingriffe, die gezielt die Fruchtbarkeit
aufheben sollen, ausnahmslos verboten. Die Beschneidung von Mädchen ist auch dann
verboten, wenn dies zum Ausschluss des Kindes aus der religiösen Gemeinschaft führen
kann. Diese Regelungen könnten auch bei der Behandlung von Intersexualität angewendet
werden. Hier stellt sich die Frage nach der Grenze von Femdbestimmungsbefugnissen.
Nach der deutschen Verfassung in Art. 6 GG wird jedoch der Schutz der Privatsphäre der
Familie über den staatlichen Schutz des Kinderwohls gestellt, der Staat greift nur bei
groben Sorgerechtsverstößen ein. Durch die enge Verbundenheit der Eltern mit dem Kind
sind auch die Interessen der Eltern als mittelbare Interessen des Kindes zu verstehen. 194
•
Personenstandsgesetz
Das Personenstandsgesetz ist in den letzten Jahren unter heftige Kritik durch viele
intersexuelle
Menschen
geraten.
Der
Zwang
der
schnellen
und
eindeutigen
Geschlechterzuordnung kurz nach der Geburt eines Kindes führt bei vielen intersexuellen
Kindern zu unnötigen geschlechtsanpassenden Operationen im Säuglingsalter. Binnen
einer Woche muss die Geburt des Kindes beim Standesamt gemeldet werden. Die
Geburtsstunde, der Namen und das Geschlechts des Kindes sind meldepflichtige Daten.
Die Verhängung eines Ordnungsgeldes bei Verstoß liegt im Ermessen des jeweiligen
Standesamtes. Also würde auch keine Grund für eine Geldstrafe bestehen, wenn aus
medizinischen Gründen die Geschlechtseinteilung in Falle eines intersexuellen Kindes
nicht so schnell durchgeführt werden kann. Aus rechtlicher Sicht können Ärzt_innen durch
gute Informationspolitik gegenüber dem Standesamt den zeitlichen Druck aufgrund der
frühen Meldepflicht reduzieren bzw. aufheben, dieser Vorgang kann den Eltern einen
zeitlichen Spielraum geben, damit sie ihr Kind zunächst so annehmen können, wir es
geboren wurde und alles Weitere wohl bedacht später entscheiden können.
Für zukünftige gesetzliche Regelungen wäre eine Änderung des Personenstandsgesetz zu
fordern, welche intersexuellen Menschen das endgültige Entscheidungsrecht mit
eintretender Volljährigkeit überlässt und das durch die Eltern zugewiesen Geschlecht nur
als ein vorläufiges betrachtet. Intersexuelle Mensche wären dann von der Last befreit, vor
194
Vgl. Rothärmel (2006), S. 279-283.
57
Gericht einen Antrag auf Berichtigung des Geschlechts zu stellen und müssten somit auch
nicht den Beweis bringen, dass sie bei der Geburt dem falschen Geschlecht zugewiesen
wurden. Weiters wäre die Existenz der grundsätzlichen Geschlechtertrennung im Recht zu
hinterfragen. 195
Michel
3.4.9. Der Fall Birgit_Michel Reiter
Reiter ist ein deutscher Intersex-Aktivist
und
Mitbegründer
der
Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie, welche gegen
operative Geschlechtszuweisung an intersexuellen Säuglingen und Kindern kämpft. Er
gehört in Deutschland zu den Ersten, die das Thema Intersexualität an die Öffentlichkeit
brachten. 196
Michel Reiter hat vor kurzem versucht das juristische Zweigeschlechtersystem in
Deutschland auszuhebeln. Er_Sie hat 2001 am Münchner Amtsgericht einen Antrag
gestellt, um sein Geschlecht von weiblich auf intersexuell zu korrigieren. Der Begriff
Geschlecht wird vom Recht nicht definiert - es setzt ihn als selbstverständlich voraus. Es
gibt im deutschen Personenstandsgesetz keine Vorschrift, die den Eintrag Zwitter oder
intersexuell verbieten würde; es findet sich aber auch kein Eintrag der diesen Vorgang für
zulässig erklären würde. 197 Das Verfahren wurde zweimal abgelehnt, zuletzt 2002. Der
Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Hermaphroditen bzw. Zwitter
zweigeschlechtliche Lebewesen sind, welche männliche und weibliche Gonaden besitzen
(also im medizinischen Sinne echte Hermaphroditen), dies ist aber bei Michel Reiter nicht
der Fall, da er_sie mit AGS diagnostiziert wurde. Die alternative Option – intersexuell als
Geschlechtsbezeichnung im Personenstandsregister eintragen zu lassen – kam nicht in
Betracht, da Intersexualität vom Gericht nicht als eigenes Geschlecht angesehen wurde,
sondern als Sammelbegriff für eine Reihe von Störungen der sexuellen Differenzierung.
Somit übernahm das Gericht die medizinische Bezeichnung von intersexuell als
Fehlentwicklung, Krankheit oder Störung und nicht als eigene Geschlechtsbestimmung.
Die Einführung eines 5-Geschlechter-Modell a là Anne Fausto-Sterling oder die Forderung
nach einem dritten Geschlecht wurde abgelehnt, weil dies nach Meinung des Gerichts eine
Minderheitenmeinung darstelle. Die Errichtung eines dritten Geschlechts würde weiters zu
erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten und Rechtsunsicherheiten führen, da die
Zugehörigkeit völlig unklar sei, so das Urteil. „Wehrpflicht und Ehe sind […] nur zwei der
195
Vgl. Rothärmel (2006), S. 284.
Vgl. Fröhling (2003), S. 47.
197
Vgl. Holzleithner, Elisabeth: Variation als Abweichung. Zur medizinischen und juristischen Herstellung
des Geschlechts von Intersexuellen.
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth.holzleithner/HolzleithnerVariation.pdf letzter Zugriff 3. Mai 2010.
196
58
wesentlichen Institute, die ein Zuordnung des Menschen zu einem der beiden Geschlechter
voraussetzen.“
198
Intersexualität
werde
weiters
von
dem_der
Antragssteller_in
unberechtigterweise von einer medizinischen zu einer Identitäts- bzw. gender-Kategorie
umgedeutet. Mit dieser Äußerung wurde das Anliegen vom zuständigen Gericht
entpolitisiert und damit aufs Individuum verlegt. 199
3.5. Geschlechtsidentität: Intersexualität?
Viele intersexuelle Menschen betonen das Recht auf Selbstinterpretation des körperlichen
Selbst. Wer Intersexuelle, Hermaphroditen, Zwitter, etc. sind, bleibt eine Selbstdefinition –
jede_r kann sich so begreifen und bezeichnen, wie sie_er will. Jedoch ist die medizinische
Diagnose des intersexuellen Körpers für intersexuelle Menschen die Voraussetzung um zu
dieser Kategorie zu gehören.
Viele intersexuelle Menschen gehen von einem inneren geschlechtlichen Selbst als
autonomen Kern von Identität aus, der völlig unabhängig von sozialisatorischen Einflüssen
existiert. Sie begründen ihre Identität mit ihrem „natürlichen“ Körper. Somit werden
äußere gesellschaftliche Kräfte und Zwänge diesem inneren Selbst gegenübergestellt. Aber
kann wirklich von einem unberührten inneren Identitätskern ausgegangen werden? Körper
werden immer nur in ihren gesellschaftlichen Interpretationen wahrgenommen, genauso
wie sich Identitäten innerhalb kulturell verstehbaren Kategorien entwickeln. Intersexualität
wird durch verschiedene Diskurse, die darüber geführt werden, erst hergestellt. Diese
Diskurse wiederum ermöglichen intersexuellen Menschen, ihren Körper und die darauf
aufbauende Identität wahrzunehmen und auszudrücken – immer wenn sich Mitglieder
einer Gesellschaft ausdrücken, sind Diskurse daran beteiligt. Widerstand und auch
Neuinterpretationen von Körpern spielen sich daher immer vor einem gesellschaftlich
diskursiven Hintergrund ab und nehmen Bezug auf etablierte Gesellschaftsnormen. Um
kulturell intelligibel 200 zu sein, müssen daher bestimmte kulturelle Grundannahmen
teilweise übernommen werden. 201
Die Signifikanz des Geschlechtskörpers in der westlichen Gesellschaft, durch welchen die
Menschen in zwei Geschlechter eingeteilt werden, spielt auch bei der Suche der Identität
bei intersexuellen Menschen eine wichtige Rolle. Der ursprüngliche natürliche Körper –
das „wahre“ Geschlecht - wird zum Fundament des individuellen Selbst. Durch den
198
Amtsgericht München, 722 UR III 302/00 zitiert nach Holzleithner, Elisabeth.
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth.holzleithner/HolzleithnerVariation.pdf
199
Vgl. Lang (2006), S. 134f.
200
nachzulesen im Kapitel 3.6.2 Kulturelle Intelligibilität
201
Vgl. Lang (2006), S. 58-60.
59
operativen Eingriff in ihren Körper fühlen sich viele intersexuelle Menschen nicht mehr als
ganz, es kann dadurch eine Gefühl der zerstörten körperlichen Unversehrtheit entstehen,
welcher von vielen als nie wieder rückgängig zu machender Verlust erlebt wird.
„Angepasste“ intersexuelle Menschen beschäftigt auch die Frage, was aus ihnen ohne
Operationen geworden wäre. Manche fühlen sich der Möglichkeit beraubt, mittels des
eigenen Körper das eigene Selbst zu erkennen. Die Eingriffe werden von ihnen nicht als
Korrektur angesehen, sondern als Umbau und Zerstörung des eigenen Körpers. Der
medizinisch korrigierte Körper wird als unnatürlich und künstlich hergestellt erlebt. Der
nicht mehr vorhandene ursprüngliche Körper wird von vielen als Begründung des
eigentlichen Wesens und der gegenwärtigen Identität betrachtet. 202
Eine zentrale Rolle im Leben vieler intersexueller Menschen stellt die Erreichung einer
positiven Selbstdefinition dar. Das Internet bietet eine effektive Plattform zur Verbreitung
von nicht-hegemonialen, subkulturellen Orientierungsmustern jenseits der Medizin, welche
ihre Körper meist als mangelhaft oder fehlerhaft einordnet. Das virtuelle Netz bietet auch
den geeigneten Raum um mit Geschlechtsidentitäten und sexuellen Identitäten frei zu
spielen, daraus können sich auch neue Identitätskategorien und kollektive Identitäten für
Minderheiten herausbilden, denn die Identitätskategorien, in die sich intersexuelle
Menschen einzuordnen versuchen, sind fließend und nicht sehr stabil. 203
Die Auslegung von Intersexualität als Störung und Krankheit gerät immer mehr in den
Hintergrund, wahrscheinlich auch dadurch beeinflusst, dass die Medizin immer mehr die
diagnostischen
Begriffe
der
verschieden Arten
verwenden
und
Abstand
vom
Intersexualitätsbegriff nimmt. Als Identitätskategorie oder sogar Geschlechtskategorie wird
der
Begriff
Intersexualität
hingegen
immer
bedeutender.
Es
wurde/wird eine
Resignifizierung des Wortes durchgeführt, der frühere rein medizinische Begriff wird nun
von einigen intersexuellen Menschen übernommen, jedoch ohne der pathologisierenden
Bedeutung. Dadurch wird Intersexualität eine positive Identitätskategorie, welche die
zwischengeschlechtlichen körperlichen Gegebenheiten nicht mehr als Mangel auffasst,
sondern als Besonderheit oder als ganz normal.
Viele intersexuelle Menschen finden den Begriff intersexuell – im wörtlichen Sinn
zwischen
den
Geschlechtern
-
durchaus
passend,
da
er
ihr
körperliches
„Dazwischensein“ und/oder ihr Selbstempfindungen widerspiegelt. Sie sind der
202
203
Vgl. Lang (2006), S. 168-173.
Vgl. Lang (2006), S. 145.
60
Auffassung, dass Geschlecht nicht bipolar ist sondern als Kontinuum besteht und sie
befinden sich zwischen Mann und Frau. Die Eckpfeiler sind sehr weibliche und sehr
männliche Individuen und dazwischen ergibt sie ein Zwischenraum, der Platz für viele
verschiedene Variationen zulässt.
Die positive Selbstdefinition als intersexuell für eine Geschlechtsbezeichnung kann als
ersten Schritt in Richtung gesellschaftliche Etablierung gesehen werden. Der intersexuelle
Identitätsdiskurs ist jedoch weiterhin von der Definitionsmacht der Medizin geprägt, er ist
bei der Einordnung der Körper als intersexuell vom medizinischen Diskurs abhängig, von
dem er sich vehement distanzieren will. Ohne die medizinische Kategorisierung
bestimmter Körper als intersexuell gäbe es keine Deutung des eigenen Körpers als
zwischen den Geschlechtern und des eigenen intersexuellen Selbst. 204
Für andere intersexuelle Menschen stellt Intersexualität nur eine Körperbeschreibung oder
medizinische Diagnose dar und hat nichts mit Identität zutun.
Selbsthilfegruppen liefern machtvolle Ressourcen für Betroffen von Intersexualität, deren
Eltern und nahe stehenden Personen. Sie helfen beim Aufbau einer positiven Identität und
eines emanzipierten Umgangs mit einer bestimmten körperlichen Gegebenheit. Für
manche ist es ein wichtiger Ort um Erfahrungen und Information auszutauschen, für
andere ist es ein Ort politischer Auseinandersetzung mit dem Ziel normative Grenzen ins
Wanken zu bringen. In den meisten Fällen spielen sie eine wichtige Rolle bei der
Identitätsfindung und Selbstakzeptanz von Betroffenen.
3.5.10. XY-Frau
Die „XY-Frau“ ist eine Identitätskategorie im deutschsprachigen Raum, welche in enger
Verbindung mit der Selbsthilfegruppe für XY-Frauen steht, welche 1997 gegründet wurde.
Die Geschlechtsidentität als XY-Frauen stellt die biomedizinische Geschlechtskonzeption
in Frage, nachdem ein XY-Chromosomensatz und Hoden Bestimmungsmarker für
Männlichkeit sind. Aus medizinischer Sicht sind sie aufgrund ihres chromosomalen
„Kerngeschlechts“ Männer mit einer geschlechtlichen Differenzierungsstörung (z.B.
komplette
oder
partielle
Androgenresistenz,
Gonadendysgenesie
oder
Androgenbiosynthesestörungen). Die meisten XY-Frauen haben einen weiblichen
Phänotyp und eine weibliche Geschlechtsidentität. Die Konnotation von Hoden mit
Männlichkeit kann XY-Frauen in ihrer Weiblichkeit verunsichern. Manche XY-Frauen
bezweifeln, ob überhaupt von Hoden gesprochen werden kann, wenn diese sich nicht im
204
Vgl. Lang (2006), S. 153-155.
61
Skrotum befinden und keine Spermien produzieren können. Das gleiche gilt für die XYChromosomen als männliche Geschlechtschromosomen. Können sie überhaupt als
Geschlechtschromosomen
bezeichnet
werden,
wenn
auf
ihnen
auch
andere,
geschlechtsunspezifische Informationen zu finden sind? Es gibt bekanntlich auch andere
Gene, in denen geschlechtsspezifische Informationen angesiedelt sind und nicht als
Geschlechtschromosomen bezeichnet werden. 205
Der grundlegende körperliche Unterschied zwischen XY-Frauen ist, dass bei
unbehandelter partieller Androgenresistenz (PAIS), 5-Alpha-Reduktasemangel, 17 beta
HSD u.a. die körperliche Zwischengeschlechtlichkeit äußerlich sichtbar ist, während bei
der kompletten Androgenresistenz (CAIS) die Intersexualität in inneren Merkmalen
verborgen bleibt. Dies führt unter CAIS-Betroffenen zu einer vergleichsweise flacheren
und nicht so tief greifenden Diskussion in Bezug auf die Geschlechterthematik, im
Gegensatz zu PAIS-Betroffenen, welche das Grundverständnis von Zweigeschlechtlichkeit
durch ihr uneindeutiges äußerliches Geschlecht erschüttern. Viele Menschen mit PAIS und
anderen Formen mit äußerlich wahrnehmbarer Zwischengeschlechtlichkeit sehen sich
schneller mit der Thematik Hermaphrodit, Zwitter und „halber Mann“ konfrontiert. Ein
weiterer großer Unterschied bei XY-Frauen besteht bei der Beurteilung von chirurgischen
Eingriffen. Von den meisten CAIS-Frauen (aber nicht von allen) wird die Gonadektomie –
Entfernung der Keimdrüsen - nicht als Zerstörung ihres eigentlichen Körpers gesehen,
jedoch wird vermehrt die positive Auswirkung der Hoden durch die Umwandlung von
Testosteron in Östrogen und die unnötige Entfernung derer diskutiert, weil die
Gonadektomie Menschen an eine lebenslange Hormonersatztherapie bindet. Dagegen
fühlen sich viele Betroffene mit PAIS, 17 beta HSD, 5-Alpha-Reduktasemangel u.a. durch
die Entfernung der Gonaden körperlich manipuliert und der Möglichkeit beraubt, sich so
zu entwickeln, wie sie eigentlich geworden wären. Alle XY-Frauen lehnen aber einen rein
kosmetischen Eingriff ohne gesundheitsbedrohliche Indikation ab, wenn dieser Eingriff
ohne Selbstbestimmung durchgeführt wird. Es geht nicht darum, solche Operationen zu
verbieten, sondern um das Recht selbst entscheiden zu können. 206
Einige von der Medizin definierte XY-Frauen mit kompletter Androgenresistenz (CAIS)
begreifen sich im Gegensatz zu nicht intersexuellen XX-Frauen als weiblichere Frauen und
begründen dies mit der Tatsache, dass ihr Körper frei von „männlichen“ Hormonen ist,
205
206
Vgl. Lang (2006), S. 156-159.
Vgl. Lang (2006), S. 272-275.
62
welche Auswirkungen auf die Psyche und das Verhalten haben. Sie sehen sich als „SuperFrauen“ frei von männlichen Substanzen. Für sie sind eher XX-Frauen als intersexuell
anzusehen, da auf sie „weibliche“ und „männliche“ Hormone wirken. Mit ihrer
Argumentation greifen sie endokrinologisches Wissen auf und versehen es mit neuer
Bedeutung, sie betrachten dieses Wissen aus anderem Blickwinkel. 207
3.5.11. Frauen mit Stoffwechselstörung (AGS)
Viele Menschen mit XX-Chromosomen und AGS identifizieren sich eindeutig als Frauen
mit einer Stoffwechselkrankheit und distanzieren sich von einer intersexuellen
Identitätskategorie. Diese Ansicht spiegelt die 1993 von Mediziner_innen initiierte
Selbsthilfegruppe für Patient_innen mit AGS und deren Eltern wieder. Die Betroffenen
haben eine lebensbedrohliche Stoffwechselkrankheit, welche sie als rein endokrinologisch
verstehen, ohne Bezug auf ihr Geschlecht. Die Nebennierenüberfunktion bewirkt ein
vermeintlich intersexuelles äußeres Genital. Das innere Genitale (Gonaden, Uterus) und
die Möglichkeit durch richtige hormonelle Einstellung ein Kind auszutragen zeichnen sie
jedoch als eindeutige Frauen aus. AGS als reine Stoffwechselerkrankung fordert somit das
Zweigeschlechtersystem nicht heraus und wird nicht im Zusammenhang mit der
Geschlechterfrage diskutiert – das Thema Intersexualität wird außen vor gelassen. Da
setzen Kritiker_innen an, welche darin ein Indiz zur Fortführung des Tabus Intersexualität
sehen. Die Eltern- und Patient_inneninitiative fordert hingegen eine Enttabuisierung von
der Krankheit AGS. Die Selbsteinordnung von AGS als Krankheit ist einerseits das
Resultat der gesundheitlichen Probleme die mit AGS in Verbindung stehen können - wie
Kortisolmangel oder Salzverlust - und wird andererseits von der Entstehungsgeschichte der
Gruppe aus dem medizinischen Kontext begründet. Die Gruppe stellt die chirurgischen
Korrekturen des rein äußerlich vermännlichten Genitales nicht in Frage, setzt sich aber für
eine psychologische Betreuung ein, ist gegen Bougierung und für die Einhaltung von
neuesten medizinischen Standards bei den Operationen. Diese Gruppe grenzt sich
vehement von allen anderen Gruppen ab, welche die gesellschaftliche Akzeptanz von
Intersexualität oder Hermaphroditismus als Geschlechterkategorie fordern, oder sich für
ein drittes Geschlecht einsetzen. 208
Andere Betroffene von AGS sehen sich sehr wohl als intersexuelle Menschen, ein
bekanntes Beispiel ist Michel Reiter, nach seiner Geburt wurde er mit AGS mit Salzverlust
diagnostiziert.
207
208
Vgl. Lang (2006), S. 160.
Vgl. Lang (2006), S. 161.
63
3.5.12. Intersexaktivist_innen
Die Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG)
distanziert sich sehr stark von der Medizin und deren Standardbehandlungen bei
intersexuellen Menschen. Die AGGPG ist eine non-profit-Initiative welche sich im
Anschluss an eine Diskussionsrunde zur genitalen Verstümmelung in afrikanischen
Ländern gründete. Michel Reiter und Heike Bödeker sind die Gründer_innen dieser
Gruppe, sie wurden als Kinder selbst dem medizinischen Normierungsapparat unterworfen,
mit dem Ziel ihnen ein eindeutiges Geschlecht zuzuweisen, welches sie jedoch als
Erwachsene
ablehnten.
Die
AGGPG
setzt
sich
für
einen
Stopp
von
geschlechtsnormierenden chirurgischen Eingriffen an intersexuellen Kindern ein. Diese
Gruppe thematisiert vor allem die medizinische Gewalt an intersexuellen Kindern sowie
die gesellschaftliche Nicht-Existenz von Hermaphroditen und kurbelt somit die Debatte um
Intersexualität als Drittes Geschlecht an. Sie kritisiert die medizinische Pathologisierung
von Intersexualität als Machtinstrument und lehnt deshalb jegliche Zusammenarbeit mit
medizinischen Institutionen ab, welche sie als Quell allen Übels identifiziert. Die
Mediziner_innen werden nicht nur als Vollstrecker_innen der kulturellen geschlechtlichen
Körpernormen begriffen, sondern auch als deren Profiteur_innen – die deutsche
Krankenkassa zahlt bis zu 800.000 Euro pro Geschlechtsanpassung bei intersexuellen
Kindern.
Obwohl Intersexualität von dieser Gruppe nicht nach diagnostischen Formen unterteilt
wird, weil das die Übernahme von Krankheitskategorien bedeuten würde, ist die
Grundlage ihrer Selbstbezeichnung als intersexuell oder hermaphroditisch ihrer Ansicht
nach nur Menschen vorbehalten, welche auch im medizinischen Sinne intersexuelle
Menschen sind. Die AGGPG wirft der AGS Eltern- und Patienteninitiative e.V. vor, Teil
des machtvollen medizinischen Diskurses zu sein, da sie AGS als reine Krankheit ansehen
und sich als Frauen identifizieren, welche an einer Stoffwechselstörung leiden. Den XYFrauen werfen sie fehlende Radikalität bei der Kritisierung der Medizin vor. 209
Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) tritt im
medizinischen Diskurs nicht in Erscheinung, erstens weil ihre Ziele fernab vom
medizinischen Diskurs liegen und zweitens weil sie eine Koalition von intersexuellen und
nicht-intersexuellen Menschen darstellt und so für die Medizin weder als Selbsthilfegruppe
noch als Aktivistengruppe für intersexuelle Menschen gilt. Die dgti begreift Intersexualität
im
209
Diskurszusammenhang
mit
der
Transgender-Bewegung.
Vgl. Lang (2006), S. 269f.
64
Ihr
Ziel
ist,
der
Stigmatisierung
dieser
Personen
mit
sozialer
Akzeptanz
entgegenzutreten.
Sie
thematisieren vor allem die Vielfältigkeit von geschlechtlicher Identität, welche durch die
existierende Zweigeschlechternorm beschnitten wird. Dgti vereint die Interessen von
intersexuellen Menschen mit denen von Transgendern, die sich weder als Männer noch als
Frauen
bezeichnen
und
sich
gegen
die
zweigeschlechtliche
Normierung
von
Geschlechtskörpern und Geschlechtsidentitäten wehren. Sie plädieren für das Recht, eine
Identität jenseits gesellschaftlicher Zwänge entwickeln zu können. 210
In der politischen Intersex-Bewegung wird über die Möglichkeit einer zukünftigen
Koalition mit andern Bewegungen (Homosexuellen-Bewegung, Trans-Bewegung, etc.)
diskutiert. Zwei gegenläufige Hauptargumente lassen sich darin herauslesen: Das
Argument für eine Koalition ist, dass der Zusammenschluss eine Mobilisierung von
Kräften bedeuten würde, dadurch wären sie politisch schlagkräftiger. Das Gegenargument
ist, dass die Intersex-Bewegung an spezifischen körperlichen Grundlagen und damit auch
an der Abgrenzung von anderen beharren sollte, um das Wesentliche für Intersexualität
nicht aus dem Fokus zu verlieren. 211
Allgemein unterscheiden sich die oben genannten Gruppen untereinander hinsichtlich ihres
Verständnisses der intersexuellen Thematik. Je nach spezifischer Deutung des
intersexuellen Körpers innerhalb der Gruppen stellt Intersexualität eine Krankheit, eine
Gesellschaftskategorie, eine körperliche Besonderheit oder einen Teil der queeren
Körperthematik dar. Deshalb unterscheiden sich die Gruppen auch hinsichtlich ihrer
gesellschaftspolitischen Ziele und in ihrem Verständnis von gesellschaftlicher Akzeptanz
von Intersexualität. 212
3.6. Intersex und Gender Studies
Intersexualität ist in Bezug zu Gender Studies ein interessantes Forschungsfeld. Schon die
Grundthese der Geschlechterforschung – soziales Geschlecht ist konstruiert– und die
daraus entwickelte Kategorie gender ist eng verknüpft mit der Intersexualitätsthematik.
Gayle Rubin unterschied 1975 das sex/gender-System und schaffte damit die Basis der
Kategorie gender, welche die gegenüber dem körperlichen Geschlecht (sex) veränderbar ist.
Das Wort gender in der heutigen Bedeutung – als soziales Geschlecht – wurde zum ersten
Mal vom Psychologen Robert Stoller in seinem Buch Sex and Gender (1968) benutzt,
210
Vgl. Lang (2006), S. 270-272.
Vgl. Lang (2006), S. 290.
212
Vgl. Lang (2006), S. 291.
211
65
welcher sich dabei auf die Idee des Soziologen Harold Garfinkel (1967) stützte. Garfinkel
und Stoller waren Mitglieder eines Ärzteteams, welches sich mit dem Fallmanagement von
Intersexualität
beschäftigte.
Sie
griffen
dafür
auf
Thesen
des
umstrittenen
Sexualwissenschaftlers John Money zurück. Aus genealogischer Sicht ist die genderKategorie
im
Behandlungsdiskurs
von
Intersexualität
verwurzelt.
Erst
die
Problematisierung und Politisierung von Behandlungspraxen an intersexuellen Menschen
(in den 1990ern) hat zu einer Reflexion der Herkunft der gender-Kategorie geführt. 213
Seit Beginn der 1990er wird das körperliche Geschlecht (sex) - in Anschluss an Bulter - als
Produkt eines normierenden Diskurses über gender gedeutet. Die Oberflächen von
Körpern werden diskursiv markiert und mit Bedeutungen ausgestattet. Intersex – wie auch
die Kategorien Frau und Mann - werden durch verschiedene Diskurse hergestellt. Die
Bedeutungen und Auslegungen dieser Kategorien sind nicht starr und festgeschrieben und
können so immer wieder Sinnverschiebungen unterzogen werden. Das geschlechtliche
Subjekt und der Geschlechtskörper werden weiters durch die heterosexuelle Matrix
hervorgebracht. Der gesellschaftlich normierte Geschlechtskörper macht den Menschen
erst kulturell erfassbar. Ein Körper mit uneindeutigem Geschlecht ist demnach nicht sozial
lebensfähig - er ist ein verworfener Körper ohne Gewicht. Die Tabuisierung von
Intersexualität hat massiv dazu beigetragen, dass intersexuelle Menschen in der
Gesellschaft nicht sichtbar sind. Es gibt für sie keine lebbare Kategorie und in die
existierenden Einteilungen (Mann oder Frau) passen sie nicht.
Der Geschlechterdimorphismus in den Gender Studies wird durch die Thematisierung von
Intersexualität erneut herausgefordert. Die Geschlechterforschung muss in Bezug auf
Intersexualität einerseits die Körper als diskursive Konstrukte ansehen und andererseits
ihre konkrete Präsenz theoretisch erfassen. Durch eine Neuthematisierung des erlebbaren
materiellen Körpers könnte eine Aufweichung der körperlichen Zweigeschlechtlichkeit
erzielt werden und diese somit als kulturelles Dogma enthüllen.
Herausforderung
von
Zweigeschlechtlichkeit
stünde
das
214
„Mit einer
Ordnungssystem
der
geschlechtlich definierten Binarität selbst zur Diskussion, nämlich in einem seiner
wichtigsten Zeichensysteme, der Übereinkunft, dass es nur zwei mögliche Körper gibt.“ 215
213
Vgl. Dietze (2006), S. 48.
Vgl. Lang (2006), S. 31-33.
215
Dietze (2006), S.66.
214
66
3.6.13. Postgender
Postgender ist ein Konzept, welches Körper und Identitäten als fließend betrachtet. Es
unterscheidet sich von den Theorien die Geschlecht als Kontinuum ansehen, wo quasi
männlich und weiblich als Eckpunkte beibehalten werden. Hier fallen Kategorisierungen
und Fixpunkte völlig weg. Postgender würde allen Menschen die Möglichkeit bieten, ihre
eigene Individualität unabhängig von aufgezwungen Normen zu leben und auch andere in
deren Besonderheit wahrzunehmen. Die Komplexität und Einzigartigkeit jeder_jedes
Einzelnen würde so besser erfasst werden. Denn auch gender stellt wie andere Kategorien
zur Einordnung und Normierung einen Zwang dar. Der Grundstein des postgenderDiskurses ist der medizinische Intersex-Diskurs. Postgender baut auf dem postsex-Konzept
auf, welches die Abschaffung der körperlichen, geschlechtlichen Kategorisierung fordert.
Die Loslösung von allen geschlechtlichen Kategorien ist auf jeden Fall als emanzipatorisch
anzusehen, wenn sie auf eigenen Wunsch passiert. Bei der vermeintlichen Befreiung von
Normen durch die Eltern von intersexuellen Kindern kann dies wiederum zu einem neuen
Zwang führen – denn solang die Zweigeschlechtlichkeit in der Gesellschaft als Normalität
angesehen wird, wäre das Kind ständig mit der eigenen Andersartigkeit konfrontiert.
Besorgte Eltern vermuten, dass dadurch das Geschlecht des Kindes immer im Vordergrund
stehen würde und das Kind so kein normales Leben führen könnte. 216
3.7. Abschließender Überblick
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Phänomen Intersexualität erst durch die
verschiedenen Diskurse um Intersexualität hervorgebracht wird.
Wacke konstruierte einen geschichtlichen, genealogischen Diskurs um Intersexualität,
welcher den Mythos des zweigeschlechtlichen Wesens nachzieht und auch die historischen,
rechtlichen Bestimmungen in realen Fällen von Hermaphroditismus bzw. Zwittertum
aufzeigt.
Seit dem 19. Jahrhundert hat die Medizin die Definitionsmacht über den (uneindeutigen
Geschlechts-)Körper und nimmt somit eine bedeutende Funktion bei der Bestimmung von
Intersexualität ein. Im Laufe der Vergeschlechtlichung der Moderne entwickelt sich das
Phänomen Hermaphroditismus bzw. Zwittertum als eine normabweichende Krankheit. Die
Konstruktion des Zweigeschlechtersystems als natürliche Tatsache erschaffte erst das
Phänomen Intersexualität als Abweichung, Störung oder Irrung der Natur. Intersexualität
wurde in Laufe der Zeit zum Verschwinden gebracht – erst gesellschaftlich durch die
216
Vgl. Lang (2006), S. 223-229.
67
Tabuisierung, dann aus rechtlicher Sicht bis hin zur medizinischen Anpassung
uneindeutiger Geschlechtskörper.
Am medizinischen Diskurs kann gut aufgezeigt werden, dass Diskurse nie fixe Konstrukte
sind, sondern einem ständigen Bedeutungswandel unterliegen. Die Einteilungskriterien und
die Bestimmungen der verschieden Arten von Intersexualität veränderten sich im Laufe der
Geschichte. Die Bestimmung des „wahren“ Geschlechts wurde anhand verschiedener
Kriterien durchgeführt, welche durch den geschichtlichen und kulturellen Hintergrund
geprägt waren und sind. Wer ein weiblicher oder männlicher Pseudohermaphrodit, ein
„echter“ Hermaphrodit ist, wurde im 19. Jahrhundert an den äußeren und inneren
(ertastbaren) Geschlechtsmerkmalen bestimmt, im Laufe der Zeit gewann durch neu
technische Errungenschaften der hormonelle Haushalt sowie die geschlechtsspezifischen
Chromosomen an Bedeutung. So wurden Menschen die in der Vergangenheit nicht als
intersexuell eingestuft wurden und durch das Erkennungsraster fielen, mit dem
Aufkommen neuerer medizinischen Verfahren als intersexuell entlarvt.
Im heutigen medizinischen Diskurs um Intersexualität stehen verschiedene medizinische
Disziplinen – Anatomie, Endokrinologie und Genetik – im Wettstreit bei der Bestimmung
des „wahren“ Geschlechts. Bei den verschiedensten Faktoren nimmt die medizinische
Diagnose der Intersexualität eine große Bedeutung ein, wobei auch diese einem
diskursiven Wandel unterliegen. Welche Syndrome als intersexuell klassifiziert werden
und was das ausschlaggebende Kriterium für Intersexualität ist, ist je nach individueller
Definition verschieden.
Die Medizin, welche bislang die Definitionsmacht über Intersexualität hatte, wird nun von
verschiedenen Gegendiskursen herausgefordert. Intersexuelle Menschen werden aktiv und
ergreifen selbst das Wort und schaffen somit einen subversiven Gegendiskurs zum
medizinischen. 217 Der Intersex-Aktivismus, die Selbsthilfegruppen von intersexuellen
Menschen, die Öffentlichmachung des Themas in Zeitschriften und audiovisuellen Medien
und unter anderen die akademische Auseinandersetzung von Intersexualität erzeugen
verschieden Diskurse um Intersexualität. Diese wiederum schaffen Raum für intersexuelle
Menschen, ihren Körper und eine darauf aufbauende Identität wahrzunehmen und
auszudrücken. 218
217
218
Vgl. Lang (2006), S. 330.
Vgl. Lang (2006), S. 60.
68
4. Filmischer Diskurs
Das Thema Intersexualität hat in den letzten 15 Jahren Einzug in Zeitschriften und
Zeitungen gefunden, Fernsehsender strahlen Dokumentationen über intersexuelle
Menschen aus und Bücher mit intersexueller Thematik, wie das mit dem Publitzerpreis
ausgezeichnete Werk Middlesex von Jeffrey Eugenides, werden zu Bestsellern. Auch die
Filmindustrie hat das Thema für sich entdeckt. Im Anschluss werden im Kapitel Überblick
über Dokumentationen des 21. Jahrhunderts verschiedene Dokumentarfilme aus
Deutschland und Österreich der letzten 10 Jahr vorgestellt bevor näher auf den
österreichischen Film Tintenfischalarm eingegangen wird. Wie wird mit dem Thema
Intersexualität umgegangen? Welche Diskurse werden im Film behandelt? Wie werden die
Personen als intersexuell in den Film eingeführt bzw. konstituiert? Das sind auch die
Ausgangsfragen meiner zweiten Filmanalyse über den argentinischen Spielfilm XXY, der
einzige fiktionale Film welcher sich dem Intersex-Thema annimmt. Die verschieden
Zugangsweisen der beiden Filme werden im Anschluss gegenübergestellt. Die Filme
werden nicht anhand filmtechnischer Aspekte miteinander verglichen, da sie verschiedener
Filmgattungen angehören, sie werden anhand ihres Inhaltes und der verschiedenen
intersexuellen Diskurse analysiert.
4.1. Überblick über Dokumentationen des 21. Jahrhunderts
Das verordnete Geschlecht
Das verordnete Geschlecht ist ein deutscher Dokumentarfilm aus dem Jahre 2001 von
Oliver Tolmein und Bertram Rotermund. Der Film handelt von den individuellen
Erzählungen Michel Reiters und Elisabeth Müllers – zwei Menschen, die sich als Zwitter
identifizieren und für die rechtliche und gesellschaftliche Annerkennung ihrer Identität
kämpfen. Ihren Geschichten werden Aussagen von Ärzt_innen und Eltern von
intersexuellen Kindern gegenübergestellt, welche die normalisierenden Operationen meist
befürworten. Der Film ergreift deutlich Partei für die Interessen von intersexuellen
Menschen und kritisiert die Geschlechterpolitik in Deutschland. Er fordert, dass
Unterschiedlichkeit anerkannt und Gleichbehandlung sichergestellt wird. 219
219
Vgl. Filmhomepage von Das verordnete Geschlecht http://www.das-verordnetegeschlecht.de/kritiken.htm letzter Zugriff 3. Juni 2010.
69
Erik(A)
Erika Schinegger gewann 1966 mit 18 die Schiweltmeisterschaft in der Abfahrt. Während
den Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen 1968 wird bei einem neu eingeführten
Speicheltest ein XY-Chromosomensatz bei Erika nachgewiesen. Erika unterzieht sich
daraufhin mehreren Operationen, die ihr_sein Geschlecht „richtigstellen“ und kehrt als
Erik in sein Heimatdorf zurück. Nach dem vergeblichen Versuch, bei der
Männerschinationalmannschaft Fuß zu fassen, eröffnet Schinegger eine Skischule. Die
Geschichte Erik Schineggers wird von Kurt Mayer im österreichischen Dokumentarfilm
Erik(A) – Der Mann, der Weltmeisterin wurde aus dem Jahre 2005 dargestellt. Auf das
Thema Intersexualität wird im Film nicht eingegangen, das Hauptthema ist die individuelle
Lebensgeschichte von Erik Schinegger. 220
Between the Lines
Der Dokumentarfilm Between the Lines – Indiens drittes Geschlecht vom deutschen
Reisejournalist und Regisseur Thomas Wartmann aus dem Jahre 2005 gibt Einblick in das
Leben dreier indischer Hijras. Der Film berichtet von „Indiens drittem Geschlecht
zwischen Mystik, Spiritualität und Prostitution“ – wie der Untertitel des Films auch lautet –
und begleitet dafür die indische Photographin Anita Khemka zu ihren Treffen mit Laxmi,
Rhamba und Asha, den drei Hijras aus Mumbai. Er porträtiert die Hijras in ihrem
alltäglichen Leben, bei Festen und anderen Gelegenheiten. Diese Wandler_innen zwischen
den Geschlechtern nehmen in der indischen Gesellschaft eine zwiespältige Position ein,
einerseits sind sie bei Festen gern gesehen, weil ihnen nachgesagt wird, dass sie durch ihre
mystischen und spirituellen Fähigkeiten Segen und Fruchtbarkeit bringen können – obwohl
sie meist selbst unfruchtbar sind; auf der anderen Seite sind sie gesellschaftlich geächtet
und leben am Rande der Gesellschaft und verdienen ihren Lebensunterhalt nicht selten mit
Prostitution. 221
Die Katze wäre eher ein Vogel
Die Katze wäre eher ein Vogel ist ein visuelles Hörspiel und dokumentarisches Experiment
der jungen Medienkünstlerin Melanie Jilg aus dem Jahre 2007. In fünf (Kamera)Einstellungen erzählen vier intersexuelle Menschen von ihren Gedanken, Gefühlen und
220
Vgl. Erik(A)-Filmkritik von Rochus Wolff http://www.critic.de/film/erika-384/ letzter Zugriff 3. Juni
2010.
221
Vgl. Anderson, Marie: Die irritierende Freiheit der Uneindeutigkeit http://www.kinozeit.de/filme/between-the-lines-indiens-drittes-geschlecht letzter Zugriff 3. Juni 2010.
70
Erfahrungen. Es ist ein „schlichter Versuch zuzuhören, da wo lange geschwiegen wurde
und wovon es sich zu lernen lohnt.“ 222
4.2. Tintenfischalarm
Tintenfischalarm ist ein österreichischer Dokumentarfilm aus dem Jahre 2006 von der
Film-/Fernsehregisseurin und Radio-/Fernsehmoderatorin Elisabeth Scharang. Der Film
dokumentiert die intime Lebensgeschichte von Alex Jürgen 223 , einem intersexuellen
Menschen auf der Suche nach seiner_ihrer Identität. Elisabeth Scharang begleite Alex
Jürgen drei Jahre lang auf dieser Reise, sie unternehmen auch im Film viele Reisen – nach
Deutschland, ans holländische Wattenmeer und in die Vereinigten Staaten, wo er_sie in
Kontakt mit anderen intersexuellen Menschen kommt. In Interviews und Gesprächen mit
Elisabeth Scharang oder auch bei persönlichen Videotagebuchaufnahmen gibt Alex Jürgen
mit viel Charme und Witz sehr intime Einblicke in sein_ihr Leben. Sehr offen berichtet
er_sie von seinem_ihren langen Kampf mit sich selbst und seinem_ihrem Körper. Nach
jahrelanger Unzufriedenheit und Depression erkrankt Alex Jürgen mit 20 an Leukämie,
nach überstandener Krankheit entschließt er_sie sich, einen neuen Weg einzuschlagen –
das Schweigen zu brechen und mit seiner_ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.
Als Experten treten Alex Jürgen, andere Betroffene und ein Psychologe aus Berlin,
welcher
intersexuelle
Kinder
und
deren
Eltern
betreut,
auf.
Chirurg_innen,
Kinderärzt_innen oder Endokrinolog_innen, welche sich auf Intersexualität spezialisiert
haben, kommen im Film nicht zu Wort, der Film soll lediglich als Sprachrohr für
intersexuelle Personen dienen. Der Film hat das Anliegen, aufzuklären und das Thema
Intersexualität in die Öffentlichkeit zu bringen. Durch die mitreißende Offenheit in den oft
sehr intimen Szenen gelingt es Alex Jürgen, die Dringlichkeit seines_ihres Anliegens –
geschlechtsanpassende Operationen an intersexuellen Kindern zu unterbinden –
einleuchtend zu vermitteln, auch aufgrund der Tragweite, welche diese Eingriffe in
seinen_ihren
Körper
und
Leben
hatten
und
haben.
224
Durch
die
intensive
Auseinandersetzung mit dem Intersex-Thema und mit sich selbst verändert sich Alex
Jürgen während dem Film, dies können die Zuseher_innen sehr gut mitverfolgen. Das neue
Körperwissen und der Kontakt mit anderen intersexuellen bzw. transgender Personen
222
Jilg, Melanie http://www.die-katze-ist-kein-vogel.de/film/film.htm letzter Zugriff 3. Juni 2010.
Ich verwende „Alex Jürgen“, wenn er_sie im Film von sich selbst berichtet und Alexi_Alex Jürgen, wenn
es um die Person vor der Selbstbenennung und –definiton als „Alex Jürgen“ geht, also um ihre_seine Kinderund Jugendzeit; als Alex Jürgen als Alexi aufwuchs und lebte.
224
Vgl. Seitz, Alexandra April 2006. http://www.ray-magazin.at/0604/tintenfischalarm.htm letzter Zugriff 31.
Mai 2010.
223
71
schaffen einen anderen Zugang zu seinem_ihrem Körper und beeinflussen seine_ihre
Körperwahrnehmung.
4.2.1. Anfangssequenz
Der Film beginnt mit einer Homevideoszene von einem zirka 10-jährigen Kind mit einer
Krähe auf dem Arm – gefilmt wurde der Moment vom Vater, welcher die Szene aus dem
Off kommentiert: „Die Alexandra und da Krau’“ 225 . Diese Szene stellt das einzige
Filmmaterial dar, welche nicht in den 3 ½ Jahren der Filmproduktion entstanden ist, alle
anderen Szenen stammen aus dieser Zeitspanne. Die Homevideoszene wird langsam ins
Schwarz geblendet, wobei die Tonebene bestehen bleibt. Die Stimmen und die Laute der
Krähe gehen in ein Möwengeschrei und Meeresrauschen über, welches durch die
Aufblende erklärt wird – die Kamera befindet sich jetzt am Meer und filmt zwei schwarze
Gestalten in einer Weitwinkel-Ansicht, welche sich langsam der Kamera nähern. Es folgt
eine weitere Schwarzblende und die Einblende des in Weiß geschrieben Filmtitels
Tintenfischalarm, welcher eine weitere Einblende folgt „ein Film mit alex jürgen und
elisabeth scharang“ – danach verschwinden die Zeilen und das Bild bleibt schwarz; eine
Stimme ist zu hören, die jemanden fragt, wie sich diese Person selbst beschreiben würde.
Danach folgt ein Schnitt auf die befragte Person, welche auf einer Couch sitzt und auf
diese Frage mit: „abissal dazwischen“ - „zwischen den Geschlechtern“ antwortet. Nach ein
paar weiteren Fragen, welche ebenfalls aus dem Off gestellt und von der Person im Bild
beantwortet werden, folgt eine Blende ins Schwarze und ein weißer Zwischentitel führt
diese Person als intersexuell ein. „Jürgen kommt mit nichteindeutigem Geschlecht zur
Welt. Auf Anraten der Ärzte wird das Kind als Mädchen erzogen.“ 226 Dach folgt eine
Aufzählung der verschiedenen chirurgischen Eingriffe, bevor der Text erklärt, dass das
Kind als Alexandra in einem Dorf in Oberösterreich aufgewachsen ist. Dieser
Zwischentafel folgt eine weitere, welche die Zuschauer informierte, dass sich Alex im
Hebst 2002 in einer Radiosendung als intersexueller Mensch geoutet hat und dadurch die
Filmemacherin und Radiomoderatorin Elisabeth Scharang kennengelernt hat. Nach dieser
textuellen Einführung begegnet die_der Zuseher_in Alex Jürgen mit der Kamera in der
Hand vor einem Badezimmerspiegel, welche_r mit einer kurzen Vorstellung „Ich bin Alex
Jürgen“, „Geschlecht: uneindeutig“ 227 in die Szene einführt. Nach einer kurzen örtlichen
Beschreibung, Alex Jürgen befindet sich in der Wohnung von Elisabeth Scharang im 5.
Wiener Gemeindebezirk, folgt eine Rundschau in der Wohnung bis zum Wohnzimmer, in
225
Tintenfischalarm. Buch und Regie: Elisabeth Scharang. DVD. Österreich: wega
Filmproduktionsges.m.b.h, 2006. 00:18f.
226
227
Tintenfischalarm. 02:54.
Tintenfischalarm. 03:22f.
72
welchem Elisabeth Scharang auf der Couch sitzt. Elisabeth Scharang stellt eine Frage an
Alex Jürgen, der Ton ist in dieser Szene nicht synchron – er ist vorgezogen und stammt aus
der nächsten Szene, aus der Interviewszene auf der Couch. Im Zuge der Befragung von
Alex Jürgen durch Elisabeth Scharang beschreibt er_sie die Situation, mit seinen_ihren
Eltern über das Thema Intersexualität zu sprechen, als zu intim und vergleicht es mit einer
fiktiven Situation, in welcher Elisabeth Scharang ihrer Mutter vom Sexleben mit ihrem
Freund erzählen müsste.
228
In dieser Szene wird Elisabeth Scharang indirekt als
heterosexuelle Frau in den Film eingeführt. Ein Klavierspiel ertönt, welches die nächste
Einstellung musikalisch untermalt. Elisabeth Scharang macht in dieser Szene
Aktphotographien von Alex Jürgen, wobei auch der O-Ton dieser Szene neben der nichtdiegetischen Musik zu hören ist. Die Musik folgt Alex Jürgen auf der Reise zum
holländischen Wattenmeer bis zu den Dünen am Strand; die nächste Sequenz wird mit
einem im unteren Bild
eingeblendeten
Text:
„Ameland
–
im holländischen
Wattenmeer“ eingeleitet, in welcher Alex Jürgen über die Dünen auf die Kamera zugeht.
4.2.2. Filmästhetik und -aufbau
Der Film stellt sich aus verschiedensten Sequenzen zusammen, welche in ihrer Eigenart
sehr unterschiedlich aufgebaut sind. Die mit Handkamera gedrehten Videotagebuchszenen
von Alex Jürgen wechseln mit interviewartigen Gesprächen von Alex Jürgen und Elisabeth
Scharang, bei welchen manchmal beide im Bild sind und manchmal nur eine_r von beiden.
Bei anderen Einstellungen werden sie von einer_einem Dritte_n gefilmt. Der
Positionswechsel vor und hinter der Kamera und der offensive Umgang mit dem Medium
verleihen dem Film eine besondere Bildsprache und Direktheit, wobei gegen Ende hin die
Zwiegespräche der beiden meist von Elisabeth Scharang bzw. durch eine_n Dritte_n
dokumentiert werden. 229
Alex Jürgen legt durch Beschreibungen von persönlichen Ereignissen und Situationen
Zeugnis vor der Kamera ab. Ob in Gesprächen mit anderen oder allein vor der Kamera,
Alex Jürgen befindet sich immer im Dialog mit einem unsichtbaren Publikum. Bei
einzelnen Szenen wendet sich Alex Jürgen direkt an die Zuschauer_innen, dies geschieht
meist bei den Videotagebuchszenen, vor allem wenn er_sie alleine im Raum ist. Alex
Jürgen blickt dabei direkt in die Kamera oder wendet sich an Eltern von intersexuellen
Kindern, welche vielleicht den Film sehen könnten. Der offenen und direkte Umgang mit
228
Vgl. Tintenfischalarm. 07:44f.
Vgl. Programmheft der Berlinale 2006
http://www.berlinale.de/external/de/filmarchiv/doku_pdf/20060735.pdf letzter Zugriff 31. Mai 2010.
229
73
den Zuseher_innen führt zu einer schnellen Identifikation und Empathie mit Alex Jürgen.
Durch die direkte Einbeziehung wird der_die Zuseher_in in den Film hineingezogen und
bekommt den Eindruck, Augenzeug_in des Geschehens zu sein.
Der Ton ist im Film meist synchron zu den Bildern, bei den Zwiegesprächen von Alex
Jürgen und Elisabeth Scharang befindet sich manchmal Alex Jürgen auch hinter der
Kamera und seine_ihre Stimme ist aus dem Off zu hören. Doch meist ist Alex Jürgen im
Bild und Elisabeth Scharangs Kommentare kommen aus dem Off. In manchen Szenen
werden sie von einer statischen Kamera aufgenommen, wobei beide im Filmkader
abgebildet sind; dies ist meist der Fall, wenn sie sich in Elisabeth Scharangs oder Alex
Jürgens Wohnung befinden oder auch bei der Hotelzimmer Szene am holländischen
Wattenmeer
230
. Die statische Kameraeinstellung kommt auch bei Alex Jürgens
Videotagebuchszenen zum Einsatz, z. B. bei der Szene, in welcher sich Alex Jürgen ein
Frühstück in seiner_ihrer Küche macht. 231 Für diese Szene positioniert er_sie die Kamera
auf der gegenüberliegenden Seite der Küche, damit das Geschehen aufgezeichnet werden
kann.
Bei den Reisen ist meist Elisabeth Scharang hinter der Kamera und Alex Jürgen im Bild,
die Besuchsszenen sind meist so aufgebaut, dass sich Alex Jürgen im Bildausschnitt mit
den besuchten Personen befindet. In diesen Sequenzen gibt es auch viele Gegenschnitte,
meist ist die Person in Großaufnahme, welche gerade spricht. Weiters werden die
neueingeführten Personen nach kurzer bildlicher Darstellung in einem Zwischentitel
(weiße Schrift auf schwarzen Hintergrund) vorgestellt. Für die Einführung zur örtlichen
Orientierung wird der Bilderfluss nicht unterbrochen, die Ortsangaben werden Unten
rechtes im Bild eingeblendet. Neben diesen Hilfestellungen zur örtlichen Orientierung, gibt
es noch vereinzelt zeitliche Angaben, welche den Zuschauer_innen helfen, sich in der 3
1/2-jährigen Zeitspanne zu orientieren. Diese Zwischentitel stehen auf schwarzen
Hintergrund, die Jahreszeit (Frühling, Sommer, Herbst, Winter) und das Jahr sind im
rechten unteren Rand eingeblendet. Diese Zwischentitel sind jeweils mit drei weißen
Blättern verziert, welche der Jahreszeitatmosphäre angepasst sind. Nur der letzte
Zwischentitel fällt aus der Reihe, da er kurz nach einem Zwischentitel („herbst 2004“ 232)
erscheint, es steht nur „ein jahr später“ 233 ohne jegliche Verziehrungen geschrieben.
230
Vgl. Tintenfischalarm. 10:15f.
Vgl. Tintenfischalarm. 36:30f.
232
Tintenfischalarm. 1:35:38.
233
Tintenfischalarm. 1:40:18.
231
74
Einen Bruch zu den informativen Aufnahmen der Videobuchaufnahmen, Interviews und
Besuchsszenen stellen die inszenierten Naturaufnahmen oder Außenaufnahmen dar,
welche musikalisch untermalt wurden. Dies sind eine der wenigen Szenen, wo der Ton
nicht-diegetisch ist – die Musik wurde erst bei der Montage hinzugefügt. Die
melancholischen Lieder der Band Garish als Untermalung zu den inszenierten
Landschaftsaufnahmen wirken oft befremdlich und irritierend. Sie stellen einen Bruch zu
der direkten Erzählweise des Films dar und stören eher die Annäherung der Zuseher_innen
mit Alex Jürgen, als dass sie eine Reflexion hervorbringen. 234
Die Musikeinlagen bilden oft eine Überleitung zu einer anderen Szene. Bei der Grill-Szene
mit Freund_innen in Oberösterreich wird Alex Jürgen bei Beginn eines Liedes auf einer
Decke liegend von Oben gefilmt. Es folgt eine langsame Kranfahrt nach oben – die
Kamera distanziert sich immer mehr von Alex Jürgen in einer drehenden Bewegung, durch
die langsame Entfernung kommen auch Alex Jürgens Freund_innen ins Bild. Danach
schwenkt die Kamera von ihnen weg über den danebenliegenden See bis zu einem
Baumwipfel, die Kamera bleibt stehen und filmt die Baumkrone bevor nach einem harten
Schnitt eine Weide in einen ähnlichen Kadrierung von unten abgefilmt wird. Es folgen
Großaufnahmen von Elisabeth Scharangs Gesicht, Alex Jürgen wird in einer Totalen an
einem Seeufer abgebildet, die Umgebung hat sich verändert. In dieser Sequenz fand ein
Ortswechsel vom Grillplatz bei einem oberösterreichischen See zum Ufer des
burgenländischen Neusiedlersees statt. 235
Die jeweiligen musikalisch untermalten Szenen scheinen auf die Lieder von Garish
abgestimmt zu sein, manchmal passt der Liedtext zu der gezeigten Umgebung: es wird im
Lied von Wolken gesungen und der Film zeigt einen bewölkten Himmel oder es wird das
Meeresrauschen besungen und die Kamera filmt die Wellen am holländischen Wattenmeer.
Neben den Liedern von Garish kommt bei manchen Szenen auch andere nicht-diegetische
Musik hinzu – wie bei der Fotoshooting-Szene, oder bei andern ruhigen Szenen, wo kein
bzw. nur wenig Dialog vorkommen. Diese Szenen werden mit Klaviermusik unterlegt,
wobei aber auch der O-Ton zu hören ist.
4.2.3. Hintergrund
Alex Jürgen wird nach seiner_ihrer Geburt am 7. September 1976 dem männlichen
Geschlecht zugewiesen und erhielt den Namen Jürgen. Ab zwei Jahren wird er_sie
234
Vgl. Kamalzadeh, Dominik: Jenseits beider Geschlechter. In: DER STANDARD, Print-Ausgabe,
8./9.4.2006. http://derstandard.at/2406904/Jenseits-beider-Geschlechter?_lexikaGroup=21 letzter Zugriff 31.
Mai 2010.
235
Vgl. Tintenfischalarm. 45:11-47:10.
75
aufgrund einer intersexuellen Diagnose als Mädchen sozialisiert und wächst von diesem
Zeitpunkt an in einem kleinen Dorf in Oberösterreich unter dem Namen Alexi auf. Im
Alter von sechs Jahren, wird ihm_ihr der Penis chirurgisch entfernt, mit zehn folgt eine
Hodenamputation und als 15-Jährige_r wird ihm_ihr eine künstliche Vagina konstruiert.
Weiters werden ihm_ihr Hormone verabreicht um das äußerliche Erscheinungsbild dem
weiblichen
Geschlecht
anzupassen.
Der
Grund
der
vielen
Operationen
und
Untersuchungen wird während seiner_ihrer Kindheit von den Eltern nicht näher
angesprochen. Es sei lediglich was falsch angewachsen und musste daher entfernt werden.
Diese Erklärung führte bei Alexi_Alex Jürgen zum Gefühl des Abartigseins, wie „eine
Missgeburt“, bei welcher etwas Falsches angewachsen sei. 236 Die Aufdeckung des
Familiengeheimnisses wird im Film nicht thematisiert, in einem Artikel geht jedoch
Elisabeth Scharang näher auf dieses Ereignis ein: Im Alter von zwölf Jahren erhielten die
Schülerinnen im Aufklärungsunterricht ein Tampon für Übungszwecke – beim Versuch
das Tampon einzuführen, wurde Alex Jürgen bewusst, dass mit ihr_ihm was nicht stimmt
und wendet sich an die Mutter. Erst zu diesem Zeitpunkt wird er_sie von den Eltern in das
lang gehütete Familiengeheimnis eingeweiht. 237 Alex Jürgen schlittert während der
Pubertät in eine schwere Identitätskrise. Bei Alex Jürgen wird mit 20 Leukämie
diagnostiziert, er_sie fällt für 13 Wochen ins Koma, erst nach der lebensrettenden
Stammzellentransplantation beginnt die monatelange Rehabilitation.
2002 outet sich Alex Jürgen während einer Radiosendung bei dem österreichischen
Radiosender FM4 als intersexuell. Beim Interview mit Elisabeth Scharang in der
Radiosendung Jugendzimmer erzählt Alex Jürgen von seinem_ihrem Leben und klärt die
Zuhörer_innen über das Thema Intersexualität auf. Während dieser Begegnung und
weiteren Treffen von Elisabeth und Alex Jürgen entsteht die Idee zu einem gemeinsamen
Film. Der Film folgt Alex Jürgen drei Jahre bei seiner_ihrer Identitätssuche, er zeigt die
Transformation von Alexi zum intersexuellen Mann Alex Jürgen, denn während der
Dreharbeiten entschließt er_sie sich von nun an als intersexueller Mann zu leben. Alex
Jürgen führt sich Testosteron zu und lässt sich im Herbst 2004 als letzten Schritt zu
seiner_ihrer neuen Männlichkeit die Brüste operativ entfernen.
236
Tintenfischalarm. Buch und Regie: Elisabeth Scharang. DVD. Österreich: wega
Filmproduktionsges.m.b.h, 2006. 1:09f.
237
Vgl. Scharang, Elisabeth: Ein Fisch lernt fliegen. http://fm4v2.orf.at/scharang/212954/main letzter Zugriff
1. Juni 2010.
76
Der Titel des Films Tintenfischalarm steht für die stressigen Situationen, welchen
Alexi_Alex Jürgen als 14jährige_r ausgesetzt war; und zwar beim Versuch, die
forschenden Hände der Burschen, welche wie Tentakeln zwischen ihre_seine Schenkel
drängen wollten, abzuwehren. Diese ersten sexuellen Ereignisse waren mit der Angst
verbunden, andere könnten sein_ihr Anderssein entdecken. 238
4.2.4. Gender- und Identitätsdiskurs
Am Beginn des Filmes kritisiert Alex Jürgen die Zwangseinteilung in zwei Geschlechter,
er_sie will sich den Geschlechterrollen nicht mehr fügen und einfach nur „Ich-sein“ dürfen.
Lange Haare zu tragen, sich „schönzumachen“, Schminke zu verwenden, Kleider und
Röcke zu tragen lehnt er_sie für sich ab. Seiner_Ihrer Wahrnehmung nach sind das
Attribute, die seine_ihre Mutter bzw. die Gesellschaft von ihm_ihr verlangen, um als Frau
anerkannt zu werden. Weiters will er_sie vom Arbeitsgeber wie ein Mann entlohnt werden
und sich selbst den Namen wählen dürfen, mit dem er_sie leben will.
Aus diesen Aussagen sind drei unterschiedliche Aspekte herauszulesen. Erstens verbindet
Alex Jürgen das Frausein mit dem Kleidung, Schmuck und Schminke, also mit dem
äußeren Erscheinungsbild. Zweitens prangert er_sie die unterschiedliche Bezahlung
aufgrund des Geschlechts an – oder eher, fordert für sich die Privilegien des männlichen
Geschlechts. Drittens, verweist der Wunsch nach der freien Wahl des Namens auf die
rechtliche Situation zu dieser Zeit in Österreich, wo eine geschlechtsspezifische
Namensänderung ins andere Geschlecht nur mit geschlechtsanpassender Operation
gestattet wurde.
Alex Jürgen trinkt in der Früh Kakao zum Frühstück, welchen er_sie im Videotagebuch als
sehr unmännlich kommentiert im Gegensatz zu Kaffee. 239 Kaffeetrinken wird somit mit
Männlichkeit und Kakaotrinken mit Weiblichsein in Verbindung gebracht, obwohl die
Aussage sarkastisch gemeint war, werden hier Trinkgewohnheiten mit einem gewissen
Geschlecht konnotiert. Wie auch die Bekleidung: Nach dem Entschluss der Eltern, Alex
Jürgen als Mädchen aufzuziehen, wurden ihm_ihr nur mehr „weibliche“ Kleidung
angezogen – Kleider, Röcke, Häubchen und Strumpfhosen. Das äußere Erscheinungsbild
änderte sich schlagartig von burschikos zu feminin, dieser Bruch kann anhand von
Familienfotos aufgezeigt werden, berichtet Alex Jürgen im zweiten Jugendzimmer, ein
Jahr nach Drehbeginn. Die gesellschaftliche Unterscheidung von „männlicher“ und
238
Vgl. Filmhomepage von Tintenfischalarm http://www.wega-film.at/tintenfischalarm/?id=film letzter
Zugriff 1. Juni 2010.
239
Vgl. Tintenfischalarm. 00:36f.
77
„weiblicher“ Bekleidung kommt hier zum Tragen, wobei auch in diesem Zusammenhang
zu beachten ist, dass geschlechtsspezifische Zuweisungen von Bekleidung einem
historischen Diskurs unterliegen.
Die geschlechtskonnotierte Bedeutung von Bekleidung wird auch am Ende des Films
deutlich, nach Alex Jürgens Entschluss als Mann zu leben: Er_Sie putzt sich für die
Geburtstagsfeier der Oma schick heraus – ein feiner Anzug unterstreicht nun seine neue
Identität als Mann. Elisabeth Scharang ist beim Anblick von Alex Jürgen im Anzug
überzeugt, dass nun Alex Jürgens Vater ihm_sie nicht mehr mit Alexandra ansprechen
wird. 240
Die männliche Bekleidung wird durch eine gender-performance unterstrichen. Alex Jürgen
berichtet von trans-Workshops in welchen der männliche Gang trainiert wird. Langes
bedachtes Gehen wird dort mit Männlichkeit assoziiert. Die diskursive und performative
Eigenschaft von Geschlechtsverhalten ist in diesem filmischen Moment, in welchem Alex
Jürgen den vorher beschriebnen „männlichen“ Gang imitiert, sehr präsent.
241
Die
Möglichkeit zur Aneignung dieser geschlechtsbezogenen Attribute, durch das bewusste
Trainieren von geschlechtlichen Eigenschaften wird hier veranschaulicht.
Trotz dem Wunsch nicht in eine Rolle gedrängt zu werden, entscheidet sich Alex Jürgen
dennoch für eine Rolle. Er_Sie ist quasi gezwungen in eine männliche Rolle zu schlüpfen,
da das Leben als Frau für ihn_sie nicht denkbar ist und eine Rolle, welche nicht in das
Zweigeschlechtersystem passt, für ihn_sie gesellschaftlich nicht möglich ist. Er_Sie wäre
also – wie es Butler formuliert –nicht intelligibel. 242 Das heißt, dass er_sie gesellschaftlich
nicht denkbar und sichtbar ist. Intersexualität ist somit (noch) nicht lebbar. Dies ist auch
einer der Beweggrunde um sich seine_ihre Brüste operativ entfernen zu lassen, denn mit
Brüsten wird er_sie automatisch dem weiblichen Geschlecht zugewiesen.
4.2.5. Medizinischer Diskurs
Die Motivation für Alex Jürgen, den Film zu machen war der Wunsch, über das Thema
Intersexualität aufzuklären, die gravierenden medizinischen Eingriffe und die daraus
resultierten physischen und psychischen Schäden, die seiner_ihrer Meinung nach entstehen,
anzuprangern.
Im Film wird nicht näher auf die medizinische Diagnose von Alex Jürgens Intersexualität
eingegangen. In der Programmvorschau für das Jugendzimmer erwähnt Alex Jürgen seine
240
Vgl. Tintenfischalarm. 1:45f.
Tintenfischalarm. 1:44f.
242
Siehe Kapitel 3.6.2 Kulturelle Intelligibilität.
241
78
Diagnose: Er_Sie kam mit 5-Alpha-Reduktasemangel auf die Welt. 243 Bei einem XYChromosomensatz
konnte
sein_ihr
Körper
durch
einen
Enzymmangel
die
„männlichen“ Geschlechtshormone nicht komplett umwandeln und dies führte zu einem
„untervirilisierten“ äußeren Genital. 244
Im Film kritisiert Alex Jürgen die chirurgischen Eingriffe und medizinischen
Behandlungen an intersexuellen Kindern vehement, welche auch auf seinen_ihren Körper
gravierende Auswirkungen gehabt haben – sie manipulierten ihn durch künstlich
zugeführte Hormone, amputierte den Penis und die Hoden und konstruierte eine Neovagina.
Durch die Amputation der Hoden im Alter von zehn wurde die Möglichkeit zur
Vermännlichung – d.h. männlicher Phänotyp, Klitoriswachstum, Bartwuchs, Stimmbruch –,
welche durch eine erhöhte Testosteronausschüttung während der Pubertät möglicherweise
eingetreten
wäre,
unterbunden.
Um
die
verheerenden
Auswirkungen
der
geschlechtsanpassenden Operationen zu veranschaulichen, zeigt Alex Jürgen in einer
Videotagebuchszene die Narben auf seinem_ihrem Unterleib, welche sich über den ganzen
Bauch ziehen und laut Alex Jürgens Erfahrungsbericht meist entzündet und rot sind.
Zum Zweck der Aufklärung und Abschreckung für Eltern von betroffenen Kindern zeigt
Alex Jürgen auch seine_ihre Phantome, welche er_sie davor noch niemanden gezeigt hatte.
Phantome werden nach einer Scheidenoperation verwendet um die Scheide gedehnt zu
halten bzw. weiter zu dehnen. Nach der Operation müssen sie sich im ersten Jahr 24
Stunden täglich in der konstruierten Vagina befinden, danach müssen sie jeden Abend
prophylaktisch vorm Schlafengehen eingeführt werden, um eine Verengung der Neovagina
zu verhindern. Die Alternative zu den Phantomen wäre zwei- bis dreimal wöchentlicher
Geschlechtsverkehr gewesen, dies riet der behandelnde Arzt der_dem Fünfzehnjährigen
Alexi_Alex Jürgen in Anwesenheit ihrer_seiner Mutter. Die Prozedur der Vaginadehnung
wurde von Alexi_Alex Jürgen als sehr unangenehm und schmerzhaft empfunden. Sie_Er
hatte das Gefühl innerlich zerrissen zu werden und die Kanten der Phantome waren hart,
somit war sie_er die meiste Zeit zwischen den Schenkeln offen und auch das Sitzen wurde
eine schmerzhafte Angelegenheit. Besonders problematisch und belastende wurde es für
Alexi_Alex Jürgen bei Schiwochen oder mehrtägigen Schulausflügen. Am Abend
unbemerkt – still und heimlich – die Phantome auszupacken, sie einzucremen und
einzuführen; und in der Früh, bevor alle aufwachen, sie wieder herauszunehmen – waren
stressige Erfahrungen für die_den Jugendliche_n. Alex Jürgen erklärt im Film, dass
intersexuelle Kinder/Jugendliche von Haus aus viel zu verheimlichen haben und dass die
243
Vgl. Scharang, Elisabeth: Ist es ein Mädchen oder ein Junge? http://fm4v2.orf.at/scharang/101358/main
letzter Zugriff 27. Mai 2010.
244
Siehe Kapitel Häufigste Formen von Intersexualität
79
Phantome ihr Leben nicht unkomplizierter machen. Am Ende dieser Videotagebuchszene
appelliert er_sie an alle Mütter von intersexuellen Menschen, dass diese ihren Kindern das
ersparen sollen. Alex Jürgen will durch den Film aufklären und abschrecken – die Folgen
von medizinischen Eingriffen an intersexuellen Kinder aufzeigen, damit sie in Zukunft
nicht mehr angewendet werden.
Die Geheimhaltung ihres_seines körperlichen Zustandes setzte sich in der Jugend fort.
Dem ersten Freund erzählte sie_er, dass sie_er Gebärmutterkrebs hatte und die Ärzte haben
ihr_ihn die Gebärmutter von oben und unten rausgeholt und dabei die Scheide zerfetzt.
Diese Notlüge war der Erklärungsversuch für die vielen Narben am Bauch und im
Intimbereich. Nach eigenen Angaben wusste sie_er in dieser Zeit nicht, „wie schlimm es
ist da unten“ 245 und schmückte deshalb die Erzählung bildhaft aus. Der Freund hingegen
war nur froh, dass sie_er keine Kinder bekommen konnte. Hier wird im Film deutlich, dass
eine geschlechtsanpassende Operation, nicht das „Problem“ Intersexualität zum
Verschwinden bringt, sondern auch der postoperativen Körper, die Person als intersexuell
konstituieren kann.
Alex Jürgens negatives Bild die Institution Medizin betreffend, beruht auf den Erfahrungen
in und Erinnerungen an seine_ihre Kindheit und Jugend, welche in Alexi_Alex Jürgen den
Eindruck erweckten, ein medizinisches Experiment und Versuchsobjekt zu sein. Alex
Jürgen erinnert sich an Untersuchungen, bei denen ihr_ihm die Ärzt_innen als erstes die
Hose herunterzogen um ihr_ihm zwischen den Beinen zu schauen. Oft wurden auch
mehrere Assistenzärzt_innen herbeigeholt, manchmal wurde die Untersuchung auch mit
der Kamera festgehalten. 246 Diese Erfahrungen manifestierten sich in Alexis_Alex Jürgens
Körperempfinden und Selbstwahrnehmung, sie_er fühlte sich abnormal und anders und
hatte das Gefühl eine Missgeburt zu sein. Die Erklärung für die vielen Untersuchungen und
Operationen erhielt sie_er erst im Alter von zwölf Jahren, nach einer Reihe von
einschneidenden medizinischen Behandlungen und Untersuchungen.
Im Laufe des Films greift er_sie trotz der traumatisierenden Erfahrungen wieder auf
medizinische Behandlungsmethoden und Institutionen zurück. Die Zuführung von
Testosteron ab Frühling 2004 und die chirurgische Entfernung der Brüste im Herbst 2004
sind die gravierendsten medizinischen Eingriffe in seinen_ihren Körper, für die er_sie sich
selbst entscheidet. Diese werden von Alex Jürgen aber nicht als künstliche oder
245
246
Tintenfischalarm 1:03f.
Vgl. Tintenfischalarm. 1:00f.
80
verfälschende Eingriffe gesehen, sondern sind Mittel um den Urzustand wiederherzustellen
bzw. sich dem Urzustand anzunähern, wie sich der Körper ohne medizinische
Behandlungen entwickelt hätte. Das täglich auf die Haut aufgetragene Testosteron ersetzt
jenes, welches durch die Entfernung der Hoden nicht mehr im Körper produziert werden
kann. Die Zufuhr von Testosteron kompensiert also den Verlust der Gonaden. Die Brüste,
welche durch künstlich zugeführte „weibliche“ Hormone gewachsen sind, werden entfernt
– weil sie von Alex Jürgen nicht als natürlich zum Körper gehörend angesehen werden.
Die baldige Befreiung von diesen wird auch im Film durch eine zeremonielle BHVerbrennung im Wald zelebriert. Die Konstruktion eines Penis lehnt er_sie hingegen ab,
im Intimbereich darf keiner mehr hin, „dort tut mir keiner mehr was.“ 247
Im obigen Abschnitt ist die Definiten von natürlich und künstlich, von bösen und guten
medizinischen Behandlungen aus Sicht von Alex Jürgen gut nachzuvollziehen. Die Zufuhr
von Hormonen wird einerseits bei den „weiblichen“ Hormonen in der Pubertät als
unnatürlich und künstlich betrachtet; andererseits in Bezug auf die „männlichen“ Hormone
als Mittel für die Wiederherstellung des ursprünglichen Körpers angesehen. Die Bedeutung
von Eigen- und Fremdbestimmung ist bei diesem medizinischen Diskurs sehr wichtig. Die
Hormone, welche zu einer Verweiblichung des Phänotyps führten, wurden fremdbestimmt
von Alexi_Alex Jürgen eingenommen. Das Testosteron wird von Alex Jürgen gewollt und
selbstbestimmt im Erwachsenenalter eingenommen, nach langen Überlegungen und
Reflexionen für das Für und Wider.
Im Film nimmt Testosteron eine wesentliche Rolle ein – die Überlegungen es einzunehmen,
die Veränderungen des Körpers durch die Zufuhr und die Rechtfertigungen warum es
zugeführt wird tauchen während dem Film immer wieder auf.
Alex Jürgen entschließt sich Testosteron zuzuführen, um seine_ihrer seelische und
körperliche Situation zu verändern. Er_Sie erhofft sich mehr Energie und Lebensfreude
daraus zu schöpfen und dadurch die jahrelangen Depressionen zu überwinden. Es ist ein
Versuch die Lebensbedingungen ins Positive zu verändern. Durch das Testosteron erhofft
sich Alex Jürgen weniger gekünstelt zu wirken, authentischer zu sein und endlich das
Gefühl zu verlieren, nicht sich selbst zu sein, da etwas fehlt.
Nach dreiwöchiger Hormontherapie im Frühling 2004 fühlt sich Alex Jürgen wesentlich
aktiver, das könnte seiner_ihrer Meinung nach aber auch Einbildung oder der
Frühlingsbeginn sein. Seine_ihre Träume haben sich verändert seit Zufuhr von Testosteron.
Er_Sie berichtet von einem Traum, in dem ihm_ihr etwas zwischen den Beinen gewachsen
247
Vgl. Tintenfischalarm. 0:30, 0:49f.
81
ist – kein Penis, sondern eher eine kleine Knospe. Dieser Traum brachte in Alex Jürgen
Glücksgefühle hervor und er spiegelt die Hoffnung wieder, dass ihm_ihr ein Penis/Phallus
wachsen könnte.
Elisabeth Scharang fragt im Gespräch, ob sich sein_ihr Körpergeruch durch das
Testosteron verändert hat. Alex Jürgen entgegnet, dass die Schweißproduktion
zugenommen hat, aber er_sie sich im Allgemeinen selbst gut richten kann. „Die Frau in
mir wird geil auf den männlichen Geruch“.
In San Franscisco tauschen sich Alex Jürgen und der Transsexuelle Max Wolf Valerio über
ihre Erfahrungen mit Testosteron aus. Alex Jürgen berichtet von der Steigerung der Libido
(„most of the time horny“) und Hautproblemen (pimples) durch die nunmehr über
einmonatige Hormontherapie. Max versichert ihm_ihr, dass sich Alex Jürgens Körper
stetig verändern wird durch die Testosteronzufuhr und das es wahrscheinlich zu einem
Bartwuchs, einer Veränderung der Haarlinie und einer tieferen Stimme kommen wird.
4.2.6. Intersex-Gruppen und Aktivist_innen
Alex Jürgen kommt während den Dreharbeiten zum Film mit verschieden intersexuellen
und transgender Menschen in Kontakt. Er_Sie nimmt an einem Treffen der XY-Frauen in
Deutschland teil, bei welchem er_sie überhaupt das erste Mal in Kontakt mit intersexuellen
Menschen kommt. Beim Treffen der Selbsthilfegruppe werden Erfahrungen von
Betroffenen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetauscht. Alex Jürgen ist nach dem
Treffen positiv beeindruckt von dem Kontakt mit den anderen Betroffenen. Ärzt_innen,
Psychotherapeut_innen und Betroffene sind sich einig, dass das Reden über die eigenen
Erfahrungen und der Austausch untereinander die Betroffenen stärken, hier wird die
Wichtigkeit von Selbsthilfegruppen für intersexuelle Menschen deutlich. Sie sind ein
geschützter Ort für den Austausch von oft sehr intimen Lebenserfahrungen und schaffen
weiters einen Raum für intersexuelle Menschen, um sich und ihre Körper abseits des
Normierungssystems zu definieren.
Später im Film besucht Alex Jürgen zwei XY-Frauen in Deutschland, mit welchen er_sie
nach dem Treffen Kontakt gehalten hat. Sie treten nun auch an die Öffentlichkeit und
outen sich als intersexuell. Dieser Schritt des Sich-Outens ist ein wichtiges Werkzeug für
die Sichtbarmachung von intersexuellen Menschen. Intersexualität bekommt dadurch ein
repräsentatives Gesicht, besser gesagt, sehr viele unterschiedliche Gesichter mit oft
ähnlichen, manchmal auch sehr unterschiedlichen Erfahrungsberichten. Die anonymen
medizinischen Patient_innen werden so zu sichtbaren Individuen, welche nun selbst
machtvoll auf den Intersex-Diskurs wirken (können). Seit die ersten intersexuellen
82
Stimmen in den 1990er Jahren öffentlich wurden, hat sich der medizinische IntersexDiskurs stark verändert, welcher von den Kritiker_innen angeprangert wurde.
Im Sommer 2004 fliegen Alex Jürgen und Elisabeth Scharang nach San Francisco, wo sie
Mitwirkende des Dokumentarfilms Gendernauts treffen, welche sich selbst als FTMTranssexuelle bezeichnen. In diesem Sommer findet die ersten Trans/Intersex-Pride statt,
auf welcher auch Alex Jürgen mitmarschieren will, um ein politisches Zeichen zu setzen.
Alex Jürgen
fordert auf seinem selbstbeschriebenen
T-Shirt den
Stopp
von
geschlechtsangleichenden Operationen an intersexuellen Kindern.
Max Wolf Valerio ist ein Transsexueller, welcher bist 1989 als Lesbe lebte und
Darsteller_in in Gendernauts und Female Misbehavior war. Beide Filme dokumentieren
die queere Subkultur und den offenen Umgang mit Geschlecherrollen in der Bay-Area. Die
Reise nach San Francisco und der Austausch mit Max und Marti – auch ein Transsexueller,
welcher bei Gendernauts mitwirkte – stärkt Alex Jürgens Entschluss als Mann zu leben.
Sie dienen Alex Jürgen quasi als Vorbilder – ihr gelungener Geschlechterrollenwandel,
ihre positive Erfahrung damit und ihre Zuversicht, weiter in dieser zu leben, geben Alex
Jürgen den Mut sich weiter in die „männliche“ Richtung zu entwickeln. Nach der San
Francisco-Reise und dem Treffen mit Max und Marti lässt sich Alex Jürgen im Herbst
2004 seine Brüste entfernen – für ihn_sie ist das der Vollendungsakt für seine neu
gewonnene Männlichkeit.
Beim letzten dokumentierten Besuch von Elisabeth Scharang bei Alex Jürgen in Wien, ein
Jahr nach der Brustoperation, plädiert Alex Jürgen für ein offeneres Geschlechterbild.
Er_Sie erzählt von Bekannten, welche die Grenze von Frau und Mann überschritten haben,
keine Rollenklischees leben und glücklicher damit sind als unter den Deckmantel Mann
oder Frau zu sein. Jede_r braucht einen Bereich in dem er_sie glücklich ist, die Fixierung
auf das Geschlecht ist seiner_ihrer Meinung nach nicht ein Bereich, in welchem man_frau
sein Glück finden kann.
4.2.7. Sexualität und Begehren
Sexuelle Lust und Empfindsamkeit werden im Film auch thematisiert. Alex Jürgen erzählt
ganz offen, ohne jede Scheu, von seinen_ihren sexuellen Wünschen und Gelüsten.
Durch die medizinischen Eingriffe in seinen_ihren Körper ist der Intimbereich für sexuelle
Stimulierung unempfindsam geworden, an manchen Stellen sind Berührungen mit
Schmerz verbunden.
Alex Jürgen berichtet später im Film von einem neuentdeckten Ziehen und Pulsieren im
Intimbereich bei sexueller Erregung und stellt sich vor, dass dieses Gefühl mit einem
83
erigierten Penis vergleichbar sein könnte. Die Ärzte haben bei den Operationen den
Phallus nur äußerlich weggeschnitten und haben laut Alex Jürgens Erklärung nicht alles
rausgekratzt, denn der Penis/Phallus bzw. die Klitoris reichen wesentlich weiter in den
Körper hinein, als von Außen ersichtlich. Durch die neuerlebten sexuellen Empfindungen
erhofft sich Alex Jürgen ein Ansteigen und einer Verstärkung dieser. Er_Sie ordnet die
sexuelle Empfindung einem Geschlecht zu – dem männlichen. Alex Jürgen stellt sich vor,
dass das Ziehen und Pulsieren einem steifen Penis ähnlich ist. Einige Mediziner und
Sexualwissenschaftler sind jedoch der Meinung, dass sich die sexuellen Empfindungen
beim männlichen_und_weiblichen Geschlecht ähnlich sind, da sich die Geschlechtsteile
aus den gleichen Bausteinen entwickeln. Genauso wie der männliche Schwellkörper
(sichtbar) steif wird, schwillt auch der weibliche Schwellkörper, der tief in den Körper
reicht, an. Das Gefühl der sexuellen Erregung und das Orgasmuserlebnis werden von
sexuell aktiven Menschen ähnlich beschrieben. Alex Jürgen hingegen bringt das
pulsierende Ziehen nur mit dem männlichen Geschlecht in Verbindung.
Eine Veränderung bei seiner_ihrer sexuellen Phantasie erkennt Alex Jürgen ebenfalls –
er_sie hat das Verlangen mit einem Umschnall-Dildo eine Frau zu penetrieren. Diese
Vorstellung der aktiven Penetration wird gesellschaftlich mit dem „männlichen“ Part im
Geschlechtsverkehr assoziierte. Diese Phantasie könnte mit Alex Jürgens Entscheidung, als
intersexueller Mann leben zu wollen, in Verbindung stehen. Er_Sie fühlt sich zu dem
weiblichen Geschlechts hingezogen, für ihn_sie ist eine Beziehung mit einer Frau eher
vorstellbar, denn sein_ihr „Penisneid“ macht eine Beziehung mit einem Mann für ihn_sie
unvorstellbar. Hier kann eine Veränderung in der Beziehungspartner_innenwahl aufgezeigt
werden, Alex Jürgen berichtet während dem Film von einem Ex-Freund, mit welchen
sie_er eine sexuelle Beziehung gehabt hat, von diesen Standpunkt aus hat sich die sexuelle
Orientierung und das bevorzugte Geschlecht der_des Partner_in verändert.
4.2.8. Rechtlicher Diskurs
Am 18. Feber 2004 gibt es für Alex Jürgen etwas zu feiern – die Entdeckung, dass er_sie
in der Geburtsurkunde dem männlichen Geschlecht zugewiesen wurde. Die Mutter hat
anscheinend vergessen, das Geschlecht nach den geschlechtsanpassenden Operationen
ändern zu lassen, deshalb stößt Alex Jürgen in der Videotagebuchszene dieses Tages auf
seine_ihre wiedergewonnene Männlichkeit an. Hier bleibt die Frage offen, wie der
Geschlechtseintrag all die Jahre unbemerkt blieb und welches Geschlecht in Alex Jürgens
Führerschein und Pass steht? Sind diese Dokumente ungültig, falls sie Alex Jürgen dem
weiblichen Geschlecht zuordnen und wie können diese Dokumente ein anderes Geschlecht
als das in der Geburtsurkunde aufweisen? In diesen Zusammenhang muss auch die Kritik
84
bei einem Nichteintrag des Geschlechts bei intersexuellen Neugeborenen zurückgewiesen
werden, da anscheinend die Geschlechtszuweisung in der Geburtsurkunde für das weitere
Leben nicht notwendig prägend sein muss, oder liegt im Fall Alex Jürgens ein Versehen
vor, welches Jahrzehnte nicht bemerkt wurde?
4.2.9. Elisabeth Scharangs Rolle im Film
Die Rolle der Regisseurin Elisabeth Scharang ist im Film nicht genau definiert. Sie wird
am Anfang des Films, nach dem Titel, als Mitwirkende in den Film eingeführt. In den
Zwiegesprächen nimmt sie die Position einer Moderatorin oder Interviewerin ein, wobei
sie sich nicht nur darauf beschränkt, Fragen zu stellen, sonder auch Alex Jürgens
Antworten kommentiert, infragestellt oder sogar als nicht richtig bezeichnet. Für eine
objektive Interviewpartnerin greift sie zu stark in das Filmgeschehen ein, sie lenkt die
Gespräche in eine gewünscht Richtung oder spricht Alex Jürgen seine_ihre eigene
Meinung ab. In manchen Gesprächssituationen wirkt Elisabeth Scharang wie eine
Psychotherapeutin, welche durch nachhackende Fragen Alex Jürgen auf eine bestimmte
Spur führen will, um eine Reflexion seines_ihres Seelenlebens hervorzurufen. Im Film
selbst stellt sich Elisabeth Scharang eher als Freundin und Begleiterin dar, welche mit Alex
Jürgen intime Details aus ihrem Leben teilt, welche den Zuschauer_innen aber verwehrt
bleiben. Elisabeth Scharang stört im Film manchmal durch ihr offensives Eingreifen und
ihre Position der verstehenden Freundin gefährdet die Annäherung der Zuseher_innen an
Alex Jürgen, da sie sich als gesellschaftlich anerkanntes Identifikationsangebot
dazwischenschiebt. 248
4.3. XXY
XXY ist das Spielfilmdebüt der argentinischen Regisseurin und Autorin Lucía Puenzo. Das
Drehbuch basiert auf der Kurzgeschichte Cinismo des argentinischen Schriftstellers Sergio
Bizzio. Es ist ein Film über das Erwachsenwerden, über die ersten sexuellen Erfahrungen
und Suche nach der eigenen Identität.
4.3.10. Story
Alex ist ein 15-jähriger intersexueller Teenager. Nach ihrer_seiner Geburt wurden an
ihrem_seinem Körper keine „normalisierenden“ geschlechtsanpassenden Operationen
durchgeführt, da sich ihre_seine Eltern dagegen verwehrten. Die Eltern zogen von Buenos
Aires in ein abgeschiedenes Küstengebiet Uruguays, wo Alex’ Vater, Kraken genannt, als
Biologe arbeitet und sich für den Schutz von Meeresschildkröten einsetzt. Die Eltern
248
Vgl. Salzburger Nachrichten, Print-Ausgabe, 4.7.2006, S. 12.
http://search.salzburg.com/articles/1892556?highlight=tintenfischalarm letzter Zugriff 31. Mai 2010.
85
suchten die Abgeschiedenheit, um Alex zu schützen und sie_ihn unbeschwert aufwachsen
zu lassen. Alex wird von ihrer_seiner Geburt an als Mädchen erzogen. Mit 15 entschließt
sich Alex die Hormontabletten nicht mehr zu nehmen, welche eine männliche Entwicklung
unterdrücken. Die Mutter Suli lädt eine alte Freundin mit deren Mann und Sohn Alvero auf
Besuch zu sich ein. Ramiro, der Gatte der Freundin, ist Schönheitschirurg, welcher sich auf
„Missbildungen“ spezialisiert hat. Der Hauptgrund für den Besuch ist, eine mögliche
geschlechtsanpassende Operation für Alex in Erwägung zu ziehen – Alex und ihr_sein
Vater wurden nicht in den Plan eingeweiht. Zwischen Alvero und Alex entwickelt sich
eine Liebesgeschichte, welche der Hauptstrang der Handlung ist. Das Thema
Intersexualität ist zwar immer präsent, stellt sich aber nie in den Vordergrund; dieser ist für
die Protagonist_innen und deren Beziehungen zwischen einander, welche sich während des
Films langsam entwickeln, reserviert.
4.3.11. Hintergrund
Puenzo erzählt in einem Interview, dass der Konflikt eine Wahl treffen zu müssen, sie am
meisten an der Kurzgeschichte von Bizzio interessierte. Nicht nur die Entscheidung
zwischen Frausein und Mannsein, sondern auch die Möglichkeit zur Wahl einer explizit
intersexuellen Identität. Eine Wahl muss ihrer Meinung getroffen werden, auch das
Nichteingreifen in die Entwicklung des Körpers ist eine Entscheidung und somit eine
bewusste Wahl. Puenzo recherchierte monatelang für das Drehbuch, sie hat dafür mit
Mediziner_innen, intersexuellen Menschen und mit Eltern von intersexuellen Kindern
zusammengearbeitet. Trotzdem wollte sie den Film nicht an einen medizinischen
Realismus festmachen und Intersexualität anhand einer Fallstudie dokumentieren, sondern
eine fiktionale Liebesgeschichte zwischen zwei Heranwachsenden zeigen. Ein wichtiger
Aspekt des Films ist das Recht auf Selbstbestimmung über den Körper und die eigene
Identität. 249
Der internationale Filmtitel XXY ist laut der Filmhomepage eine dichterische Metapher für
Intersexualität; die Chromosomenpaare XX und XY stehen für eindeutige weibliche bzw.
männliche Geschlechter, die Vermischung dieser Buchstaben-Paare zum Trio XXY
fungieren als Metapher für ein geheimnisvolles, mehrdeutiges Zwischengeschlecht. Der
Titel spielt also nicht auf die tatsächliche chromosomale Trisomie an, welche genotypisch
für das Klinefelter-Syndrom verantwortlich ist, sondern ist ein künstlerisches Sinnbild für
die Geschlechtervermischung. Das Klinefelter-Syndrom kann (zwar auch) zu den
249
Vgl. Interview mit Lucía Puenzo auf der deutschen Filmhomepage von XXY http://www.xxyfilm.de/05_interviews.html letzter Zugriff 31. Mai 2010.
86
intersexuellen Formen gezählt werden, doch der Film skizziert unausgesprochen eine
andere (intersexuelle) Diagnose – das Androgenitale Syndrom (AGS). 250 Bei diesem
kommt es bei einem XX-Chromosomensatz durch eine Störung der Hormonsynthese in der
Nebennierenrinde
zu
einer
erhöhten
Androgenausschüttung,
welche
für
eine
„Vermännlichung“ der äußeren Genitalien verantwortlich ist. 251 Die Diagnose von Alex
wird im Film nie explizit erwähnt, es kann aber anhand der von ihr_ihm einzunehmenden
Tabletten – des Hydrocortisons – auf diese rückgeschlossen werden.
4.3.12. Filmästhetik
Die Dialoge im Film sind spärlich gesät, jedoch sind sie meist sehr intim und
emotionsgeladen. Der Film wird mehr getragen von dem Gezeigten als vom Gesprochenen.
Die Gesten und Blicke zwischen den Protagonist_innen schaffen eine filmische Tiefe und
porträtieren die intimen zwischenmenschlichen Beziehungen. Meist werden die
Protagonist_innen in Großaufnahmen gefilmt, was eine Nähe zu den Figuren herstellt und
eine schnelle Identifikation mit den Protagonist_innen ermöglicht. Jede kleine
Veränderung ihrer Mimik ist erkennbar, anhand der Gesichtsausdrücke sind ihre Gedanken
und Gefühle abzulesen. Die in Halbtotale und Totale geschossenen Landschaftsaufnahmen
stehen im Kontrast zu den Großaufnahmen. Die wilden, weiten Landschaften sind der
konfliktgeladenen Intimität der Charaktere entgegengesetzt. 252 Die weiten Aufnahmen
bringen immer wieder Ruhe in die Erzählung und bieten Platz für die Zuseher_innen,
durchzuatmen und die Gedanken schweifen lassen zu können. Die Weiten der wilden
Natur – das Motiv des Meeres und des Waldes – symbolisieren die selbstverständliche
Freiheit, in welcher alles natürlich erscheint. Die Bilder sind in ein diffuses blau-graues
Licht getaucht, welche die filmische Atmosphäre von Distanz und Kälte aufzeigt. Diese
kühle Bildatmosphäre spiegelt die Liebesbeziehung zwischen Alex und Alvero wider,
welche nie zärtlich ist und bei welcher kein Gefühl von Wärme aufkommt. Beide befinden
sich noch auf der Such nach sich selbst und wissen noch nicht mit ihren Gefühlen
umzugehen oder sich auf sie einzulassen. Die Bilder unterstreichen auch die
Sprachlosigkeit der Darsteller_innen und heben deren sehnsüchtige Blicke auf die endlose
Weite der Landschaften hervor.
250
Vgl. Deutsche Filmhomepage von XXY http://www.xxy-film.de/06_background.html letzter Zugriff 31.
Mai 2010.
251
Siehe Kapitel Häufigste Formen von Intersexualität
252
Vgl. Interview mit Lucía Puenzo auf der deutschen Filmhomepage von XXY http://www.xxyfilm.de/05_interviews.html letzter Zugriff 31. Mai 2010.
87
4.3.13. Verkörperte Diskurse
Die Protagonist_innen im Film nehmen verschiedene Sichtweisen und Standpunkte in
Bezug auf Intersexualität ein, welche die unterschiedlichen Diskurse, die darüber geführt
werden,
sichtbar
machen.
Deshalb
ist
nachfolgend
das
Kapitel
in
die
Hauptprotagonist_innen, mit den zu ihnen dazugehörigen Diskursen, unterteilt.
Alex
Vor dem ersten persönlichen Kontakt mit Alex erblickt Alvero, welcher nichts über Alex
weiß, im Auto bei der Überfahrt ein Foto eines Teenagers in einer medizinischen Mappe,
welche sein Vater auf dem Schoß liegen hat, während dieser in einem Buch über den
Ursprung der Geschlechter liest. Im Film wird mit dieser Szene Alex als medizinischer Fall
eingeführt, sie_er besitzt eine Krankenmappe, welche von einem Chirurgen studiert wird.
Dies spiegelt auch die Realität von intersexuellen Personen wider, wo die Medizin mit
ihrer bisher alleinigen Definitionsmacht Intersexualität bestimmt.
Obwohl Alex im Film als Mensch mit einer Krankenakte, als medizinischer Fall,
eingeführt wird vermeidet der Film eine Pathologisierung der Hauptfigur indem er zum
Beispiel ungezwungen mit deren Sexualität umgeht. Alex spricht von Anfang an ihre
sexuellen Bedürfnisse aus. Beim ersten Gespräch zwischen Alex und Alvero, spricht sie_er
ihn offen und direkt auf seine Onaniegewohnheiten an. Während dieser Unterhaltung fragt
sie_er ihn, ob er mit ihr_ihm schlafen würde, da sie_er es noch nie getan hat. Alex
übernimmt bei dem Gespräch die aktive dominante Rolle, sie_er wirkt sehr ungezwungen
und selbstbewusst.
Alvero betrachtet beim Betreten des Hauses Kinderfotos von Alex, welche auf einer
Kommode stehen; die Bilder zeigen die gleiche Person, welche er davor in den
medizinischen Unterlagen seines Vaters gesehen hat. In den älteren Kindheitsaufnahmen
ist Alex gut zu erkennen und schaut meist in die Kamera, mit dem Älterwerden entzieht
sich Alex immer mehr den Fotos; sie schützt sich vom Abgebildetwerden durch ihre Hand,
welche sie vor die Linse hält oder wendet ihr Gesicht im Moment der Aufnahme ab. Die
Bildästhetik schafft eine mystische und geheimnisvolle Aura um die Hauptfigur, welche
noch mehr Rätsel aufwirft, als Alvero in Alex Zimmer schaut, in welchem Puppen ohne
Arme, mit ausgestochenen Augen, aufgeklebten Brüsten und Penissen zu sehen sind. Die
Puppen haben eine leicht verstörende Wirkung, ihnen hängt eine Horrorfilmästhetik an.
Eine Puppe trägt auf ihrer Brust den Namen Alex und kann als Indiz gesehen werden, dass
88
die Hauptprotagonist_in sich als nicht zugehörig zur „heilen (Puppen-)Welt“ sieht; sie_er
fühlt sich dort nicht hineinpassend und anders.
Alvero entdeckt auch viele medizinische Fläschchen, ihm wird erklärt, dass diese
homöopathische Mitteln gegen Angstzustände, welche Alex öfter plagen, sind; ein
Fläschchen ist z.B. gegen Angst vor Überfällen.
Im Film wird eine Phase von Alex Leben gezeigt, die sehr von ihrer_seiner Identitätssuche
bestimmt ist. Sie_Er hat die Hormontabletten abgesetzt, dadurch trifft sie_er die
Entscheidung, nicht Frau und nicht Mann sein zu wollen, sondern ihren_seinen Körper so
entwickeln zu lassen, wie er sich ohne künstliches Zutun verändern wird. Die
selbstbewusste Seite geht auch mit einer sehr verzweifelten Seite einher, die verletzbar ist
und geschützt werden muss, die Angst hat und dies nicht unbegründet, wie im Verlauf des
Films dargestellt wird. Alex ist sich ihres_seines „Anderessein“ bewusst, aber sie_er steht
dazu, doch das Verhalten der Menschen ihr_ihm gegenüber, mit all den Anfeindungen und
Ausgrenzungen, macht es Alex nicht leicht mit ihrem_seinem „Anderssein“ zu leben.
Alex Intersexualität wird durch das Vorhandensein eines Penis thematisiert, wobei der
Film darauf verzichtet, diesen explizit zu zeigen. Die Puppen in Alex Zimmer haben einen
Penis und Brüste angeklebt bekommen. Ihr_sein Skizzenbuch, welches Alvero im Film
durchblättert, zeigen nackte Selbstporträts, bei welchen der Penis eine markante Rolle
einnimmt. Am deutlichsten wird das Vorhandensein des Penis bei einer Schlüsselszene im
Film, bei welcher Alex Alvero beim sexuellen Akt anal penetriert. Der Film spielt mit der
Erwartungshaltung und Neugier der Zuseher_innen, welche den Penis sehen wollen. Bei
der Gewaltszene, in welcher die Fischerjungen Alex Genitalien sehen wollen, wird der_die
Zuseher_in mit dem eigenen Wunsch konfrontiert, die Andersartigkeit von Alex Körper
sehen zu wollen. Die Szene ist aus der Vogelperspektive gefilmt, zwei Jungen halten Alex
links und rechts fest, ein dritter ist über sie_ihn gebeugt und verdeckt dadurch den Blick
auf ihren_seinen Unterkörper. Die Ambiguität der Genitalien wird durch den Gewalttäter
bestätigt und kommentiert.
Das Interesse an Alex Genitalien wird von der Hauptfigur selbst im Film kritisiert, Alex
spricht Alvero in ihrer gemeinsamen Schlussszene am Hafen seine Gefühle für sie_ihm ab,
er liebt sie_ihm nicht wirklich, sondern ist nur traurig, weil er „das“ nicht mehr sehen kann.
Alex zieht sich die Hose runter und zeigt Alvero ihren_seine Intimbereich, auch in dieser
Einstellung ist der Blick darauf den Zuseher_innen verwehrt. Alveros Neugier und
89
Faszination an Alex Genitalien und indirekt auch die der Zuschauer_innen wird hier
kritisch aufgezeigt.
Im Film gibt es eine weitere Szene, in der das Vorhandensein des Penis evident ist. Am
Abend vor der Abreise der Gäste sitzen Alex, Alvero und Vando am Strand vor einem
Lagerfeuer. Alex steht auf und geht auf das Meer zu, Vando erhebt sich auch, gibt Alvero
den Ratschlag Alex zu vergessen, „sie ist zuviel für dich“ 253 und folgt ihr_ihm Richtung
Meer. Vando und Alex stehen nebeneinander am Strand und pinkeln in den Sand. Sie
werden von Hinten gefilmt, der Urinstrahl beider ist trotz der Dunkelheit zu erkennen. Hier
wird das „zuviel“ von Alex durch das im Stehen pinkeln dargestellt.
Alvero
Alvero wird im Film als schüchterner und linkischer Teenager dargestellt, welcher von
seiner Mutter umsorgt und von seinem Vater, welchen er bewundert, mehr oder weniger
ignoriert wird. Auch er befindet sich wie Alex in einer Umbruchszeit seines Lebens und
auf der Suche nach seiner Identität.
Alvero ist im Film der Einzige, welcher nicht in das Geheimnis um Alex
Körper/Geschlechteridentität eingeweiht ist. Die Zuseher_innen sind am Beginn des Films
auf dem gleichen Wissensstand wie Alvero, welcher im Laufe des Films langsam hinter
das Geheimnis kommt. Er findet schnell Interesse an Alex aufgrund ihrer_seiner
unbeschwerten, direkten Art. Alvero wird ab dem ersten Treffen mit Alex von ihr_ihm
umworben. Er merkt zwar, dass mit ihr_ihm etwas „nicht stimmt“, in einer Szene sagt er
ihr_ihm: „Du bist seltsam und du weißt es. Warum sehen dich so an? Warum? Was hast
du?“ 254, trotzdem begehrt er Alex und geht auch eine sexuelle Beziehung mit ihr_ihm ein.
Nach diesem sexuellen Akt ist Alvero etwas verstört, weil er sich nicht auskennt; er weiß
nicht, ob Alex ein Mädchen oder ein Junge ist. Alex entgegnet ihm auf sein Ansprechen
darauf: „Ich bin beides“. 255 Alvero hat damit kein Problem und will diese Intimität noch
einmal mit Alex erleben.
Mit Alvero wird ein Protagonist eingeführt, welcher eine intersexuelle Person, trotz
ihrer_seiner Uneindeutigkeit, begehrt. Es geht im Film nicht nur darum, mit intersexuellen
Menschen respektvoll umzugehen, sondern sie auch als begehrenswert darzustellen.
253
XXY. Regie und Buch: Lucia Puenzo. DVD. Argentinien/Frankreich/Spanien: Pyramide Films, 2007. 1:11.
XXY, 0:30.
255
XXY, 0:57.
254
90
Kraken und Suli
Kraken wird als unterstützender und liebevoller Vater porträtiert. Er ist ein Meeresbiologe,
welcher sich für vom Aussterben bedrohte Tiere einsetzt und ein Buch über die Entstehung
der Geschlechter geschrieben hat. Kraken akzeptiert Alex, wie sie_er geboren wurde und
fand sie_ihm vom ersten Augenblick an perfekt, so wie sie_er war.
Suli wird als besorgte Mutter dargestellt, welche nur das Beste für ihr Kind will. Sie ist
sich nicht sicher, ob eine Operation Alex Leben in der Gesellschaft erleichtern würde, zieht
es aber in Betracht und vermutet es. Die Eltern nehmen, obwohl sie beide das Beste für ihr
Kind wollen, verschieden Positionen ein. Kraken will Alex selbst entscheiden lassen und
sie_ihn auf ihrem_seinem selbstgewählten Weg unterstützen. Suli will Alex vor der
Gesellschaft schützen, in dem sie eine anpassende Operation in Erwägung zieht. Kraken
und Suli stehen für viele Eltern von intersexuellen Menschen, welche mit der Entscheidung
leben müssen eine Operation zuzulassen oder zu verwehren. In beiden Fällen werden viele
Eltern von Schuldgefühl geplagt und sind sich nie sicher, ob sie die beste Entscheidung für
ihr Kind getroffen haben.
Ramiro
Ramiro wird als selbstgefällig und arrogant dargestellt. Er ist ein Vater, der seinem Sohn
unter anderem wegen dessen vermeintlicher Homosexualität schon seit Längerem keine
Beachtung schenkt und ihm keinen Respekt und Liebe entgegen bringt. Dadurch steht er
im krassen Gegensatz zu Alex Vater Kraken.
Ramiro ist ein Schönheitschirurg, welcher sich auf Missbildungen spezialisiert hat, deshalb
ist das Thema Intersexualität für ihn ein rein medizinisches Phänomen. Er ist nur auf
Besuch
gekommen,
um
mit
Alex
und
deren_seinen
Eltern
über
eine
geschlechtsangleichende, „normalisierende“ Operation zu sprechen. Ramiro macht sich im
Film Notizen und Skizzen zu Alex Fallgeschichte. Im Film scheint es, als wäre die
Operation an Alex eine Profilierung seiner chirurgischen Fähigkeiten.
Ramiro steht im Film für den medizinischen Diskurs, welcher Intersexualität als Störung
sieht, die angepasst werden sollte. Er drängt auf eine baldige Operation, da der
Vermännlichungsprozess durch die abgesetzten Hormone bald einsetzen wird und dieser
danach irreversibel ist. Ramiro geht davon aus, dass ein chirurgischer Eingriff bei
intersexuellen Menschen sinnvoll und notwendig ist um in der (zweigeschlechtlichen)
Gesellschaft leben zu können. Dadurch vertritt er die Meinung vieler Ärzt_innen, welche
91
sich für „normalisierende“ Operationen aussprechen, auch wenn es keine gesundheitliche
Notwendigkeit dafür gibt.
Küstenbewohner
Die Küstenbewohner spiegeln im Allgemeinen die Gesellschaft und deren Umgang mit
Intersexualität wider.
Eine Gruppe von Fischerjungen haben von Alex Geheimnis erfahren und wollen „es“ nun
auch sehen. Sie verfolgen Alex am Strand, drängen sie_ihn zu den Sanddünen und einer
reißt ihr_ihm die Hose runter, während die anderen sie_ihn festhalten. Die Jungen
reagieren verschieden auf das zu Gesicht Bekommene. Während sich die einen über die
Abartigkeit auslassen und es als widerlich empfinden, findet es ein anderer aufregend
anders, sieht es als Kuriosum an, welches wert ist, erforscht zu werden, auch gegen den
Willen von Alex.
Diese Reaktionen zeigen zwei konträre Sichtweisen, einerseits Abartigkeit und Ekel,
andererseits Spektakel und voyeuristisches Interesse an der Andersartigkeit, beides
mitverursacht durch die gesellschaftliche Tabuisierung von Intersexualität.
Vando ist der beste Freund von Alex. Es hat eine nicht näher beschriebene
Auseinadersetzung zwischen ihnen stattgefunden, bei welcher Alex Vando die Nase
gebrochen hat. Die Zuseher_innen erfahren zwar, dass es mit Alex Intersexualität zu tun
hatte, um was es dabei genau ging, bleibt ungeklärt. Alex hat Vando ihr Geheimnis
anvertraut, welches er weitererzählt hat, dadurch wurde Alex der Neugier der
Fischerjungen ausgesetzt. Nach der Vergewaltigungsszene, welche Vando vereiteln konnte,
findet eine erneute Annäherung der Freunde statt. Für ihn stellt die körperliche Kondition
von Alex keinen Grund dar, die Freundschaft zu ihr_ihm abzubrechen. Die anfängliche
Verwirrung ist einem Respekt vor der Person gewichen. Für Vando, wie auch für Alvero,
stellt Alex Intersexualität kein Problem dar, sie sehen den Menschen hinter der
medizinischen Diagnose.
Tankwart
In der Einführungsszene des Tankwarts fragt dieser misstrauisch Kraken, welcher ihn
aufsucht, ob er Arzt oder Journalist sei. Kraken entgegnete ihm darauf, dass er eine
Tochter, einen Sohn hat, wodurch seine ablehnende Haltung verschwindet. Der Tankwart
wurde intersexuell geboren, operiert und als Mädchen erzogen. Mit 16 beschloss er, sich
zum Mann umzuwandeln, inklusive Hormone, Operation und Namensänderung. Mit dem
92
Tankwart wird ein weiterer intersexueller Mensch eingeführt, seine Erfahrungen und Tipps
helfen Kraken und bestätigen ihn in seinem Entschluss, Alex selbst entscheiden zu lassen,
was sie_er will. Hier wird durch den Film die Wichtigkeit des Austauschs von Betroffenen
und deren Eltern veranschaulicht; der Tankwart steht für die Relevanz und Tragweite von
Selbsthilfegruppen. Die Szene
mit dem Tankwart zeigt auch die unterschiedlichen,
individuellen Entscheidungen von intersexuellen Menschen auf; für ihn war eine
Umwandlung zum Mann die richtige Entscheidung. Alex hingegen will keine Wahl
zwischen den beiden gesellschaftlich anerkannten Geschlechtern treffen. Was für
jemanden richtig ist, muss für den anderen nicht der Fall sein.
Durch die Einführungsszene wird auch das Interesse der Medizin und der Medien am
Thema Intersexualität verdeutlicht.
4.3.14. Symbolik
Der Film arbeitet viel mit Symbolen, deshalb werden nachfolgend einige dieser
interpretiert. Im Film sind die immer wieder auftauchenden Meeresschildkröten ein
Symbol der Identitätssuche von Alex. Kraken setzt sich als Biologe für deren Schutz ein,
so wie er auch Alex beschützen will, bis sie_er ihre_seine eigene Entscheidung treffen
kann. Am Anfang des Films wird eine Geschlechtsbestimmung an einer toten Schildkröte
gefilmt, dafür muss der Panzer aufgeschnitten werden, denn das Geschlecht ist von Außen
nicht ersichtlich. Alex Geschlecht ist von Außen auch nur schwer zu entziffern, die
Kleidung ist geschlechtsneutral – kurze Hose, ein lockersitzendes Leibchen, eine
Kapuzenweste und Gummistiefel; ihre_seine Körperhaltung und Gang ist bestimmt und
selbstbewusst. Ihr impulsives Temperament, kommt mehrmals zum Vorschein, wenn
sie_er zum Beispiel Vando schupst oder Alvero von sich wegstößt. Oberflächlich
betrachtet hat Alex eine harte Schale – einen robusten Panzer, der ihren_seinen weichen
Kern beschützt, welcher in traurigen Blicken und in der Angst vor Verletzungen sichtbar
wird.
Die Meeresschildkröten werden von Kraken mit einer Marke gekennzeichnet, anhand
welcher ihre Reise verfolgen werden kann. Alex trägt auch eine dieser Marken um den
Hals, sie befindet sich somit auch auf einer Reise, einer Reise zum Erwachsenwerden.
Alex schenkt Alvero eine dieser Erkennungsmarken, die gleiche, die sie_er trägt. Nach der
Überreichung steckt er sie in seine Hosentasche, er ist sich noch nicht sicher, ob er diese
Reise antreten will. In ihrer letzten gemeinsamen Filmszene bei Alveros Abreise am Hafen,
zeigt er Alex, dass er sie jetzt auch um den Hals trägt. Ein Zeichen, dass Alvero sich wagt,
die Suche nach seiner Identität anzutreten.
93
Kraken und ein Mitarbeiter verarzten eine verletzte Meeresschildkröte, welche sich im
Netz eines Fischers verfangen und dabei eine Flosse verloren hat. Alvero fragt Alex,
welche die Szene mitverfolgen, ob das Tier überleben wird. Es wird überleben, kann aber
nie mehr zurück ins Meer, antwortet Alex. Die abgetrennte Flosse steht hier für die
mögliche Amputation von Alex Penis, diese Operation wäre endgültig und kann nie wieder
rückgängig gemacht werden. Das Meer symbolisiert die Suche nach einer intersexuellen
Identität bzw. die Freiheit nach Selbstbestimmung.
Die Metapher der Schildkröte als bedrohte Art und als seltenes Tier kommt im Film auch
des Öfteren zur Anwendung und steht synonym für das Phänomen Intersexualität. Die
Fischerjungen laden leere Schildkrötenpanzer vor der Hütte der Familie Kraken ab. Es ist
ein Zeichen, dass die Fischer kein Interesse an den Schutz bedrohter Arten haben und
somit auch Alex durch ihre_seine „Andersheit“ bedroht ist. Diese Szene ereignet sich kurz
vor der Vergewaltigungsszene, wo sich diese Bedrohung bestätigt.
In einer Szene schneidet Ramiro luftgetrocknetes Fleisch dünn mit einem scharfen Messer
auf. Alex betritt die Küche, nimmt sich ein Stück, beißt davon ab und fragt ihn, ob er gerne
Körper aufschneidet. Dieser antwortet ihr_ihm, dass es sein Beruf ist. Hier wird das
Aufschneiden des Luftgetrockneten in direkter Verbindung zu Ramiros chirurgischer
Arbeit gesetzt.
4.3.15. Geschlecht und Sprache
XXY spiegelt sehr gut wider, wie gesellschaftliche Kategorien durch binäre Sprach- und
Denkstrukturen geprägt sind. Die Einteilung der Menschen in Mann und Frau, in weiblich
und männlich, und der Zwang, diesen binären Kategorien zu entsprechen, ist im Film sehr
präsent. Am Anfang des Films wird Alex als weiblich angesehen und angesprochen, sie_er
ist Krakens Tochter. Nachdem aber Kraken Alex und Alvero beim sexuellen Akt sieht, bei
welchen Alex die dominante – penetrierende Position einnimmt und nach der Unterhaltung
mit dem intersexuellen Tankwart verändert sich die Anrufung des Vaters. In der Szene, in
welcher Kraken die Fischerjungen konfrontiert, welche Alex Gewalt zugeführt haben,
droht er ihnen, dass sie seinen Sohn nicht mehr anfassen sollen. Diese Stelle ist im Film
sehr markant, Kraken spricht von Alex als seinen Sohn. Es hat eine Transformation
stattgefunden, von weiblich zu männlich, für Kraken gibt es nur zwei Möglichkeiten,
entweder Tochter oder Sohn. Er ist in dem Bereich sprachlos, weil es keine alternativen
Begrifflichkeiten gibt. Dieser Zwang der Zweigeschlechtlichkeit ist durch die Sprache
offensichtlich, welche keinen Platz für ein anderes Geschlecht hat, welches nicht in die
dichotome Aufteilung passt.
94
Alex selbst beansprucht für sich nie eine männliche Kategorie und ist sogar der Meinung,
dass es vielleicht nichts zu entscheiden gibt. Sie_er entschließt sich für eine intersexuelle
Identität bzw. trifft die Entscheidung keine dezidierte Wahl für eines der beiden
gesellschaftlich anerkannten Geschlechter zu treffen.
4.4. Gegenüberstellung Tintenfischalarm und XXY
Abgesehen von der filmästhetischen Ebene und der Tatsache, dass ein dokumentarischer
Film mit einem fiktionalen verglichen wird, unterscheiden sich die zwei Filme vor allem
im Umgang mit Intersexualität durch die verschiedenen Ausgangssituationen der
Hauptprotagonist_innen.
Alex
Jürgen
wurde
als
Kind
der
gesellschaftlichen
Geschlechternorm operativ angepasst, seine_ihre intersexuelle Identität definiert sich durch
den postoperativen Körper, durch die Narben und das was nicht mehr dar ist. Alex
hingegen wird durch ihre_seine vorhanden geschlechtliche Ambiguität als intersexueller
Mensch identifiziert.
In beiden Filmen treten, abgesehen von den Hauptfiguren, noch andere intersexuelle
Personen auf. In beiden Fällen verkörpern sie die Wichtigkeit von Erfahrungsaustausch
vieler Betroffener – sie sind Experten des Themas, weil sie es selbst durchlebt haben.
Trotz der verschieden Ausgangssituationen plädieren beide Filme für das Recht auf freie
Entscheidung und zeichnen den oft harten und schmerzhaften Weg der Identitätsfindung
nach, wobei diese bei XXY in Alex Pubertät stattfindet und bei Tintenfischalarm erst bei
der „zweiten, künstlich eingeleiteten Pubertät“ in Alex Jürgens 20igern.
In Tintenfischalarm wird der medizinische Diskurs über Intersexualität durch die
Betroffenen thematisiert, meist wird er in einem negativen Licht gezeigt aufgrund der
früheren Behandlungsmethoden. Trotzdem wird auf die medizinische Institution
zurückgegriffen, Alex Jürgen nimmt Hormone ein und lässt sich die Brüste chirurgisch
entfernen.
In XXY wird der medizinische Diskurs durch Ramiro verkörpert, welcher auf eine
normalisierende Operation drängt. Weiters kann durch die im Film gezeigten Hormone,
dem Hydrocortison, auf Alex Diagnose geschlossen werden, welche im Film – wie auch
bei Tintenfischalarm – nicht explizit erwähnt wird. Partien_inne mit AGS müssen ein
Leben lang Hormone substituieren, da sie im Körper nicht produzierte werden können. Im
Film werden die Hormone nur in Verbindung einer möglichen Vermännlichung gebracht
und nicht mit der Verbindung von gesundheitsgefährdenden Auswirkungen aufgrund eines
Mangels. Wie schon erwähnt, wollte Puenzo keine medizinische Fallstudie präsentieren
und legte keinen oder nur wenig Wert auf medizinischen Realismus.
95
Alex setzt die Hormone selbstständig ab, sie_er will nicht mehr künstlich in die
Entwicklung des Körpers eingreifen. In XXY werden die Hormone als Eingriff in den
Körper gesehen, als künstliche Veränderung der Natur. Auch in Tintenfischalarm werden
die in der Kindheit eingenommenen Hormone als künstliche Veränderung wahrgenommen.
Alex Jürgen spricht immer von einem Urzustand, der durch die Operationen und Hormone
zerstört wurde, welchen er_sie aber gern wiederherstellen würde. Dies versucht er_sie
durch die Substituierung von Testosteron, welches aufgrund der entfernten Gonaden nicht
mehr im Körper produziert werden können.
Ein bedeutender Unterschied der beiden Filme ist die Einbindung von intersexuellen
Menschen in dem Film. Alex Jürgen wirkt als intersexuelle Person aktiv im Film mit,
während bei XXY, intersexuelle Personen zwar an der Recherche von Puenzo beteiligt
waren, aber nicht direkt im Film mitwirkten.
Die Selbstidentifikation der Hauptfiguren ist unterschiedlich. Alex Jürgen bezeichnet sich
als dazwischen – zwischen den Geschlechtern – oder auch als uneindeutig und entscheidet
sich aufgrund der Nichtlebbarkeit einer intersexuellen Identität für das männliche
Geschlecht, wobei er_sie sich als intersexueller Mann identifiziert.
Alex hingegen verweist im Film darauf, dass sie beides ist, als männlich und weiblich und
sich nicht für eines entscheiden will. Hier muss noch mal aufgezeigt werden, dass es sich
bei Alex um eine fiktive Figur handelt und keine real existierende Person porträtiert.
In beiden der Filme wird sehr offen mit dem Thema Sexualität umgegangen. Die
Hauptprotagonist_innen reden unbeschwert über ihr sexuelles Begehren, welches bei
beiden erst zum Erblühen beginnt.
96
5. Resümee
Die Ausgangsthese, dass Intersexualität erst durch Diskurse konstruiert wird, kann anhand
der historischen Analyse des Phänomens bestätigt werden. Wie in der Untersuchung
veranschaulicht wurde, haben sich die Einflüsse der Diskurse untereinander immer wieder
verändert, somit sind die Bedeutungssysteme als ständig in Bewegung anzusehen und nie
fix und unveränderbar. Die Medizin hat seit dem 19. Jahrhundert die Definitionsmacht
über den Körper; im Laufe der Vergeschlechtlichung der Moderne konstituierte sie das
Phänomen Hermaphroditismus bzw. Zwittertum als normabweichende Krankheit. Erst
durch die Etablierung des Zweigeschlechtersystems als natürliche Tatsache wurde das
Phänomen Intersexualität als dessen Abweichung und Störung erschaffen, da es eine
Bedrohung für die konstituierte Gesellschaftsstruktur darstellte; es wurde von der Norm
abgegrenzt um diese wiederum zu bestätigen.
Erst die über Intersexualität geführten Diskurse konstituieren das Phänomen als solches. Es
unterliegt, wie jede gesellschaftliche Kategorie, einem Wandel und kann nicht als
festgeschrieben verstanden werden. Das Wissen über und der Wahrheitsanspruch
bezüglich dieses Themas sind geprägt von machtvollen Diskursen – wie zum Beispiel vom
medizinischen Diskurs – und können nicht als absolut begriffen werden.
Die neu angefachte Diskursivierung von Intersexualität und die wuchernden Diskurse zu
diesem Thema können als Chance gesehen werden, die Lebensbedingungen von
intersexuellen Menschen zu verbessern. Durch das zu bröckeln beginnende Tabu über
Intersexualität wird das Thema gesellschaftlich sichtbar. Betroffene beeinflussen durch ihr
in die Öffentlichkeit Treten den Diskurs, der darüber geführt wird. Die öffentliche
Auseinandersetzung mit dieser Thematik veränderte die Wahrnehmung der Gesellschaft im
Umgang mit intersexuellen Menschen. Einen wichtigen Beitrag zur Diskursivierung leisten
auch die Filme über Intersexualität, welche die Lebensumstände von Betroffenen
veranschaulichen und Menschen hinter der pathologisierenden Diagnose porträtieren. Der
medizinischen
„Krankheit“
werden
Einzelschicksale
und
Lebenserfahrungen
gegenübergestellt, welche dadurch ein Identifizierung und Empathisierung mit den
Betroffenen ermöglicht. Dies kann anhand der analysierten Filme nachgezogen werden,
welche einen respektvollen Umgang mit intersexuellen Menschen propagieren und sich für
Selbstbestimmung und Wahlfreiheit einsetzen. Weiters nehmen die Filme eine aufklärende
Funktion ein, indem sie über das gesellschaftlich nicht sichtbare Thema informieren oder
es thematisieren.
97
Interessant zu beobachten wird sein, welche Auswirkungen die akademische und filmische
Auseinandersetzung und die von den Betroffenen geführte in Zukunft auf medizinische,
gesellschaftspolitische und rechtliche Aspekte haben wird. Vom heutigen Standpunkt aus
gesehen ist der Diskurs über Intersexualität in einer Umbruchsphase. Zu wünschen ist, dass
durch einen toleranteren und respektvollen Umgang mit diesem Thema die realen
Lebensbedingungen von intersexuellen Menschen optimiert werden.
Im Feld der Gender und Queer Studies kann Intersexualität einen wichtigen Beitrag leisten,
da
die
Thematik
das
Potenzial
hat,
die
festgefahrene
zweigeschlechtliche
Gesellschaftsstruktur aufzubrechen bzw. aufzuweichen. Das Thema ist ein fruchtbares
Forschungsfeld um Geschlechtszuweisungen kritisch zu hinterfragen und Identitätsfragen
neu zu diskutieren, da es an den bestehenden Normen der Gesellschaft rüttelt.
98
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102
7. Abstract
Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit dem Thema Intersexualität und dessen
Diskursivierung im Film des 21. Jahrhunderts. Intersexualität ist ein medizinischer Begriff
für ein Zwischengeschlecht, wobei männlich und weiblich die Fixpunkte dieser Definition
darstellen, zwischen welchen sich diese Kategorie befindet.
Während der Arbeit wird unter anderem der Geschlechterfrage nachgegangen und
aufgezeigt,
wie
eine
Geschlechtskategorie
durch
gesellschaftlich
Normen
und
Machtbeziehungen hergestellt wird. Weiters wird aufgezeigt, wie Wissen und Wahrheit
durch Diskurse erzeugt werden und somit gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen
sind – sie sind deshalb nie fixe und unumstößliche Ansichten.
Dies kann sehr gut anhand des Intersex-Diskurses aufgezeigt werden, welcher sich in den
letzten Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten gravierend verändert hat. Besonders seit den 1990er hat einen Wiederbelebung des Themas stattgefunden, durch das Öffentlichwerden von
intersexuellen Stimmen wurde ein jahrzehntelanges Tabu gebrochen. Davor bestimmte die
Medizin zum Großteil über das Phänomen, pathologisierte es, tabuisierte es und brachte es
somit zum gesellschaftlichen Verschwinden. Erst durch das Aufkommen des IntersexAktivismus wurde die Möglichkeit einer intersexuellen Identität thematisiert. Die
Betroffenen selbst schafften einen Diskurs über Intersexualität und veränderten somit die
Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem Thema. Der „Krankheit“ wurde ein
Gesicht gegeben, besser gesagt mehrere, die Anonymität wurde verlassen und Rechte
wurden eingefordert. Der von intersexuellen Menschen geforderte Anspruch auf
Wahlfreiheit regte den medizinischen Diskurs über Intersexualität der letzten 20 Jahre
heftig an und führte zu Verbesserungen der Behandlungsmethoden. Hier kann sehr gut die
machtvolle Wirkung von Diskursen nachgezeichnet werden. Menschen, die am Rande der
Gesellschaft stehen oder in dieser nicht sichtbar sind, können Macht ergreifen, in dem sie
selbst einen Diskurs schaffen, um ihre Lage (im besten Fall) zu verbessern.
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