Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                
Wolfgang U. Eckart 2014: Medizin und Krieg. Deutschland 1914– 1924. Paderborn: Ferdinand Schöningh, geb., 564 S., 49,90 €, ISBN 978-3-506-75677-0. Livia Prüll und Philipp Rauh (Hg.) 2014: Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege, 1914–1945. Göttingen: Wallstein 2014, brosch., 283 S., 24,90 €, ISBN 978-3-8353-1431-3. Astrid Stölzle 2013: Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg. Das Pflegepersonal der freiwilligen Krankenpflege in den Etappen des Deutschen Kaiserreiches [= Jahrbuch Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 49]. Stuttgart: Franz Steiner, brosch., 227 S., 42,00 €, ISBN 978-3-515-10481-4. Emily Mayhew 2014: Wounded. The Long Journey Home from the Great War. London: Vintage, brosch., 275 S., 8,99 £, ISBN 978-0-09958418-6. 2014 jährte sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal. Die Historikerzunft beging das Jubiläum mit zahlreichen Konferenzen, Monographien und Ausstellungen zum globalen militärischen Konflikt, der sich mit seiner vernichtenden Gewalt tief in die Erinnerung des 20. Jahrhunderts eingegraben hat. In ihrem 2015 herausgegebenen Band Zeitalter der Gewalt wandten sich beispielsweise Michael Geyer, Helmut Lethen und Lutz Musner überzeugend gegen die ubiquitäre Formel des Ersten Weltkrieges als ,,Urkatastrophe‘‘, die in eine sozial und politisch vermeintlich festgefügte Ordnung der Welt eingebrochen sei. Stattdessen argumentieren sie für eine Deutung des Krieges als einem explosiven Moment der Krise, der mit zerstörerischen Mitteln eine sich verändernde Welt neu zu fügen begonnen habe. Fieberhafte 203 . REZENSIONEN /REVIEWS N.T.M. 23 (2015) 203–226 0036-6978/15/030203-24 DOI 10.1007/s00048-015-0133-0 Ó 2015 SPRINGER BASEL REZENSIONEN /REVIEWS Aktivitäten ließen sich auch in der deutschen Medizingeschichte beobachten, die aufgrund der langjährigen Fokussierung auf die Medizin im Nationalsozialismus dem Ersten Weltkrieg erst seit den 1990er Jahren größere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Im Jubiläumsjahr nun thematisierten wissenschaftliche Veranstaltungen, Dokumentationen in Print und Fernsehen sowie eine Vielzahl von Publikationen die enormen Herausforderungen, die der Große Krieg mit seinen Millionen von Verwundeten, Versehrten und Kranken für die medizinische Versorgung bedeutet hat. Die Frage stellt sich deshalb: Hat das Jubiläumsjahr die medizinhistorische Diskussion befruchtet? Im Folgenden möchte ich vier Neuerscheinungen zur Medizingeschichte des Ersten Weltkrieges vorstellen und vergleichend miteinander diskutieren, aktuelle Forschungsfragen und -ansätze beleuchten und Desiderata für die Zukunft aufzeigen. Wohin könnte sich die Forschungsfront, um im Wortfeld zu bleiben, hundert Jahre nach Kriegsausbruch bewegen? Das mit Abstand voluminöseste Buch hat im Jubiläumsjahr der Heidelberger Medizinhistoriker Wolfgang Eckart vorgelegt. Medizinische Themen im Kontext von Krieg und Kolonialimperialismus begleiten Eckart seit Jahrzehnten. Aufgrund seiner langjährigen Expertise, ausgewiesen durch hervorragende Publikationen wie etwa 2012 zur Medizin in der NS-Diktatur, durfte man auf sein Epos Medizin und Krieg. Deutschland 1914–1924 besonders gespannt sein. Wie Eckart in Vorwort und Einleitung betont, ist sein Buch nicht als enge militärmedizinische Studie angelegt, die sich der kriegsbedingten Fortentwicklung der Medizin widmet (worunter Eckart ,,ältere Forschungsansätze‘‘ subsumiert). Er will vielmehr eine ,,medizinische Gesellschaftsgeschichte des Weltkrieges‘‘ (9) schreiben, die sich einer Sozial- und Erfahrungsgeschichte verpflichtet fühlt, und zu weiteren Forschungen in diesem Bereich anregen. Medizingeschichtliche Fragen nach den Auswirkungen des Krieges auf die Zivilbevölkerung, nach dem Leiden und Sterben in der Heimat, stehen Eckart zufolge auch hundert Jahre nach Beginn des Völkerringens weitgehend am Anfang. Das rund 450 Seiten starke Buch gliedert sich in fünf Hauptkapitel. Nach einem Einführungskapitel, in dem Eckart die ,,nervöse‘‘ Gesellschaft der Vorkriegszeit, den patriotischen Furor der überwiegend nationalkonservativen Ärzteschaft zu Beginn des Konflikts sowie deren Wahrnehmung des Krieges als einzigartiges Erfahrungsfeld für den medizinischen Erkenntnisgewinn umreißt, wird die eigentliche Kriegszeit in drei Hauptkapiteln behandelt. Trotz Eckarts Bekenntnis zu einer medizinischen Gesellschaftsgeschichte des Weltkrieges räumt er dabei militärmedizinischen Themen viel Platz ein, wobei traditionelle Erkenntnisinteressen im Vordergrund stehen, etwa die Profilierung von Einzeldisziplinen, die institutionellen Entwicklungen im Sanitätswesen (beispielsweise in der Kriegskrankenpflege) oder die Fortschritte in Therapie und Prophylaxe. Zu Beginn von Kapitel 3 (,,Im Krieg‘‘) rücken allerdings auch erfahrungsgeschichtliche Perspektiven auf 204 REZENSIONEN /REVIEWS Verwundung, Krankheit und Tod in den Blick. So spürt Eckart anhand von Feldpostbriefen dem Erleben von Verwundung und Krankheit von Soldaten nach, skizziert Lebensbedingungen und Ängste der Schwestern in der Etappe oder schildert anhand literarischer Texte die frontnahen Verbandsplätze als Orte des Grauens. Das ,,Soziotop‘‘ der Etappen- und Heimatlazarette als ,,konkreter Lebensraum einer Gruppe von verwundeten Kriegern und pflegenden Zivilisten‘‘ (123) hingegen bleibt unscharf. Basierend auf seinem 2013 publizierten Band über Lazarettpostkarten erläutert er an dieser Stelle zwar versiert die generelle Verwendung von Bildpostkarten im Krieg und die Inszenierung und Motivik von Lazarettpostkarten. Zur eigentlichen Krankenpflege, den Beziehungen zwischen Schwestern und Soldaten, der Zusammenarbeit unter den Pflegenden oder dem Alltag der Lazarette erfährt der Leser jedoch kaum etwas. Der zweite Teil von Kapitel 3 ist dann den Entwicklungen in der Psychiatrie, Neurologie und Hirnforschung sowie der Bakteriologie und Hygiene gewidmet. Im Hinblick auf die somatisch-neurogenen Erkrankungsbilder, die bei 10 bis 15 Prozent aller in den Lazaretten erfassten Soldaten beobachtet wurden, referiert Eckart den leidlich bekannten psychiatrischen Fachdiskurs zur ,,Kriegsneurose‘‘, der sich wiederum in äußerst brutalen Therapien wie der sogenannten Kaufmann-Methode niederschlug. Für die Bakteriologie und Hygiene verweist Eckart auf das Laboratorium als neues institutionelles Element der Militärmedizin und behandelt, wie schon in einem seiner früheren Aufsätze, exemplarisch die Weil’sche Krankheit, den Wundstarrkrampf und das Fleckfieber. Letzteres herrschte vor allem an der Ostfront, in Südosteuropa und auf dem Balkan und forderte besonders viele Todesopfer in den Kriegsgefangenenlagern des Inund Auslandes, gerade auch beim Sanitätspersonal. Für manchen Arzt kam die Abkommandierung in ein Kriegsgefangenenlager deshalb einem Todesurteil gleich. Für die Medikalisierung der Soldaten erwiesen sich die strikten Entlausungsmaßnahmen in der Armee als nachhaltige Erfahrung, wurden doch Millionen von deutschen Soldaten mittels Ganzkörperrasuren und Entlausungsbädern saniert, um den Überträger des Fleckfiebers zu eliminieren. Die anvisierte ,,medizinische Gesellschaftsgeschichte‘‘ des Weltkrieges löst Eckart vor allem mit Kapitel 4 (,,Heimatfronten‘‘) ein, das den Krieg als Mobilisierungs- und Transformationsfaktor beschreibt, der die Gesundheitsverhältnisse der Kriegsgesellschaft tiefgreifend veränderte. In sozial- und geschlechtergeschichtlicher Herangehensweise belegt Eckart auf der Basis differenzierter Zahlenreihen die ,,Funktionalisierung‘‘ des weiblichen Körpers im Krieg, die einher ging mit seiner Militarisierung und systematischen Indienstnahme. Frauen mussten während des Krieges nicht nur stets zur Reproduktion bereit sein, um die Volkskraft Deutschlands zu erhalten, sie sprangen zugleich in die Lücke der Männer im industriellen Produktionsprozess und opferten sich in der Krankenpflege auf. Folgen dieser Mehrfachbelastung und der Ernährungskrise waren unter anderem ein 205 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS kontinuierlicher Mortalitätsanstieg während des Krieges, körperliche Überbelastungen, die Zunahme der Tuberkuloseanfälligkeit und der Amenorrhoe, problematische Schwangerschaften und Fehlgeburten. Auch Geschlechtskrankheiten nahmen zu, da manche Kriegerfrau aufgrund der großen materiellen Not heimlich der gelegentlichen oder regelmäßigen Prostitution nachging. Hart traf der Krieg insbesondere die Kinder, deren gesundheitliche Situation sich trotz der Schaffung von Kleinkinderfürsorgestellen, Kriegskindergärten und Kinder- und Schulspeisungen katastrophal verschlechterte. Die Mangelernährung aufgrund der dramatischen Versorgungsengpässe, die psychischen Belastungen und die steigende Kinderarbeit führten dazu, dass Kinder ein verzögertes Wachstum aufwiesen, an Tuberkulose, Ruhr, Diphterie oder Rachitis erkrankten oder starben. Doch nicht nur Kinder litten massiv, auch Insassen von geschlossenen Anstalten wie psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten wurden – oftmals wissentlich – unterversorgt, was zu einem überdurchschnittlichen Anstaltssterben führte. Nach Eckart lässt sich darüber streiten, ,,ob hier bereits von stiller ,Euthanasie’ oder von Krankenmord zu sprechen ist‘‘ (286). Unter dem Titel ,,ferne Schauplätze‘‘ geht Eckart in Kapitel 5 erneut auf die Militärmedizin ein, wobei er die Balkan- und Kolonialfronten in den Blick rückt und der desolaten gesundheitlichen Situation in Kriegsgefangenenlagern nachgeht. Eindrücklich zeigt er, wie sich in den frontnahen deutschen Kriegsgefangenenlagern ein gewalttätiges System der extremen Zwangsarbeit unter schlechtesten Lebensbedingungen zu etablieren vermochte, das der in der Haager Landkriegsordnung geforderten ,,menschlichen‘‘ Behandlung Kriegsgefangener Hohn sprach. Ein Schlusskapitel schließlich zeichnet die Folgen des Krieges in medizinischer und gesundheitspolitischer Hinsicht bis Mitte der 1920er Jahre nach. Diese Öffnung des Untersuchungszeitraums ist in gesamtgesellschaftlicher Perspektive unerlässlich, sahen sich Medizin und Gesundheitspflege doch unmittelbar nach dem Krieg bis circa 1924 angesichts drängender Probleme der Sozialversicherung und Invalidenfürsorge sowie den in der Bevölkerung um sich greifenden Krankheiten (Spanische Grippe, Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten) sowie der Hungerkrise mit starken Regelungsbedürfnissen und Erwartungen nach schnellen Interventionen konfrontiert. Letztere konnten unter anderem dank ausländischer Hilfeleistungen wie etwa den amerikanischen Quäkerspeisungen für hungernde Kinder zumindest partiell eingelöst werden. Eckarts Medizin und Krieg kann zweifellos als Summe einer Forscherkarriere bezeichnet werden. Es bietet eine unglaubliche Fülle von Fakten, Themen und Informationen, die jedem Neueinsteiger in die Medizingeschichte des Ersten Weltkriegs eine willkommene Orientierung ermöglicht und als Nachschlagewerk beste Dienste leisten wird. Das Buch vermag indes aufgrund seiner heterogenen Organisation kein Masternarrativ einer medizinischen Gesellschaftsgeschichte des Krieges zu entwickeln. Eckarts Plädoyer, 206 REZENSIONEN /REVIEWS die ,,gesellschaftliche Komplexität des Krieges‘‘ medizingeschichtlich genauer zu durchleuchten, sollte für zukünftige Studien aber sehr ernst genommen werden. Bezüglich der Militärmedizin bleibt Eckart über weite Strecken althergebrachten Themen und traditionellen Ansätzen einer Militärmedizin ,,von oben‘‘ verpflichtet. Ein willkommenes Ausbrechen aus diesen Pfaden bietet der Sammelband Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln im Zeitalter der Weltkriege 1914–1945. Herausgegeben von Livia Prüll und Philipp Rauh, spiegelt der Band die Ergebnisse eines gleichnamigen DFG-Projekts, das auf der Basis von bislang nicht systematisch ausgewerteten Krankenakten und Sektionsprotokollen des Freiburger Bundesarchiv-Militärarchivs die alltägliche Behandlungspraxis der Truppenärzte im Ersten und Zweiten Weltkrieg am Beispiel der seelischen Krankheiten sowie der Herzund Kreislauferkrankungen untersucht. Statt auf Fachdiskurse und therapeutische Konzepte zu fokussieren, gehen die Autorinnen und Autoren des Bandes in alltags- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive auf die konkreten Handlungsspielräume der Ärzte im Feld und ihren Umgang mit Patienten ein. Inwiefern wurden zeitgenössisch gängige Theorien und Behandlungsschemata im therapeutischen Alltag implementiert? Wirkten sich ideologische und militärische Denkmuster auf den Umgang der Truppenärzte mit kranken Soldaten aus? Und lässt sich, so die übergeordnete Fragestellung, vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg eine ,,Radikalisierung‘‘ in der therapeutischen Praxis beobachten? Für den Ersten Weltkrieg präsentieren Petra Peckl und Philipp Rauh erstaunliche Resultate: Der auf der Grundlage normativer Quellen und fachärztlicher Publikationen bislang in der Forschung stark gemachte Imperativ der möglichst schnellen Wiederherstellung von Front- und Arbeitsverwendungsfähigkeit der Soldaten bewahrheitete sich im Behandlungsalltag der Kriegsneurotiker und erschöpften Soldaten nicht. Während Fachpsychiater wie Max Nonne und hochrangige Internisten wie Wilhelm His psychisch kranke und herzkranke Soldaten als minderwertig stigmatisierten, aktive Zwangstherapien wie die Kaufmann-Methode anregten (im Falle der Kriegsneurotiker), vor vorschnellen Diagnosen (im Falle der Herz-Kreislauferkrankungen) warnten und Folgeschäden ausblendeten, ließen sich frontnahe Militärärzte nicht von diesen rigiden Forderungen und dem ideologisch aufgeladenen Leistungsdenken beeinflussen. Unter Anwendung einfacher Therapieformen wie Ruhe, Erholung, kräftigender Kost sowie der Verabreichung von Beruhigungsmitteln richteten sich die meisten Truppenärzte durchaus am Wohl ihrer Patienten aus, gestanden ihnen längere Zeit für die Regeneration und auch Ansprüche auf Renten zu. Zwischen behandelndem Arzt und krankem Soldat bestand, wie Rauh betont, ein Konsens darüber, dass das Leiden von den Strapazen des Krieges herrührte und nicht auf endogene, dem Patienten anzulastende Ursachen zurückzuführen war. 207 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS Nach 1918 wurden, wie Livia Prüll genau darlegt, die ärztlichen Aktivitäten während des Weltkrieges glorifiziert, zugleich aber auch die mangelnde Effektivität der Medizin moniert. Daraus zog man im NS-Staat Konsequenzen: Nicht nur wurde mit der Gründung der Militärärztlichen Akademie 1934 die Forderung nach einem effektiveren Sanitätswesen aufgestellt, der zivile Arzt wurde nun auch zunehmend zum Gesundheitsoffizier umkodiert, der die Interessen der Volksgemeinschaft vor das Individualwohl zu stellen hatte und die Rassen- und Erblehre in den Behandlungsalltag einfließen lassen sollte. Peter Steinkamp kann in seinem Aufsatz zum ärztlichen Handeln und den Patientenschicksalen im Zweiten Weltkrieg zeigen, dass sich die Truppenärzte tatsächlich vollständig dem ideologisch und militärisch bedingten Leistungsund Effizienzdenken unterordneten und der Behandlungsalltag geprägt war von einer Abwertung der Patienten, von Verdachtsmomenten der Degeneration und Abartigkeit, der Vernachlässigung der Leiden in Diagnostik und Therapie bei den herzkranken und härtesten Therapien bei psychisch kranken Soldaten. Der gut strukturierte, stringent argumentierende Sammelband offenbart damit für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmende ,,Radikalisierung‘‘ und ,,Brutalisierung‘‘ (28) der deutschen Militärmedizin, die im Hinblick auf die Lehrmeinungen und Methoden in der Militärpsychiatrie bis in die 1970er-Jahre Spuren hinterließ, wie Philipp Rauh in einem gelungenen Ausblick auf die Nachkriegszeit darlegt. Kritisch ist anzumerken, dass der Band den im Titel angesprochenen Patientenschicksalen und einer Perspektive auf die Patienten als handelnde Subjekte in der Bewältigung ihrer Krankheiten kaum Platz einräumt. Das kranke Individuum mittels Krankenakten und Sektionsprotokollen zum Sprechen zu bringen, erweist sich zwangsläufig als schwieriges Unterfangen – was im Übrigen auch bereits in der Einleitung konstatiert wird. Für die alltäglichen Handlungsspielräume der Truppenärzte und die militärmedizinische Perspektive ,,von unten‘‘ erweist sich der Band aber als ungemein anregend. Während bei Prüll und Rauh das Alltagshandeln der frontnahen Truppenärzte im Fokus steht, sind es in Astrid Stölzles’ Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg die Angehörigen der freiwilligen Krankenpflege, die in den Lazaretten und Lazarettzügen der Etappe gearbeitet haben. Das Buch, eine leicht überarbeitete Version von Stölzles an der Universität Stuttgart abgeschlossener Dissertation, schließt eine wichtige Forschungslücke, fand das Pflegepersonal der Lazarette in der deutschen Medizingeschichte im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Raum doch bislang kaum Aufmerksamkeit. Eine alltags- und mentalitätsgeschichtliche Studie, die die Handlungsfelder der Schwestern und männlichen Pfleger, ihre Beziehungen zu den Patienten, die Zusammenarbeit mit Ärzten und Mitpflegenden sowie ihre persönlichen Kriegswahrnehmungen anvisierte, fehlte bislang gänzlich. Für ihre Analyse stützt sich Stölzle primär auf Egodokumente (Briefe, Tagebücher, Memoiren 208 REZENSIONEN /REVIEWS und Berichte), verfasst von Akteuren der freiwilligen Krankenpflege wie RotKreuz-Schwestern, Angehörigen der Ritterorden und der konfessionellen Pflegeorden und -vereine. Ziviles Krankenpflegepersonal ergänzte im Ersten Weltkrieg erstmals in umfassender Weise den militärischen Sanitätsdienst. Die Schwestern und Pfleger der freiwilligen Krankenpflege hatten, wie Stölzle in einem Einführungskapitel zur Struktur und Organisation der Krankenpflege zeigt, bereits 1907 mit einer Dienstverordnung konkrete Anweisungen erhalten und wurden während des Krieges von einem Kaiserlichen Kommissar geleitet. In den folgenden zwei Kapiteln, dem eigentlichen Herzstück des Buches, stellt die Autorin die Aufgabenfelder der Schwestern und Pfleger in der Etappe vor und erörtert die Lebensbedingungen in Lazaretten an östlichen und westlichen Kriegsschauplätzen. Stölzle beschreibt die Seuchenpflege, die Verwundetenpflege und die pflegefremden Tätigkeiten wie etwa die Arbeit in Wäscherei und Küche, die als besonders unbeliebt galten, in gesonderten Abschnitten. Für die Seuchenstationen oder Seuchenabteilungen erfahren wir, dass sowohl die strikten Vorgaben zur Trennung der Patienten nach Infektionskrankheiten als auch die rigiden Desinfektions- und Hygienevorschriften oftmals nicht eingehalten wurden, insbesondere wenn die Lazarette überlastet waren oder wenn Epidemien auftraten. Mischinfektionen häuften sich deshalb. Das Auftreten von Neuinfektionen und das Sterben von Seuchenkranken mangels adäquater Versorgung wurde von Pflegenden als sehr bedrückend empfunden und dem Versagen von Ärzten und Verwaltung angelastet. Immer wieder erkrankten auch Schwestern und Pfleger an Infektionskrankheiten wie Typhus, Ruhr, Cholera oder Fleckfieber, wobei letzteres vor allem das männliche Pflegepersonal betraf, da Frauen – zumindest offiziell – nicht auf Fleckfieberstationen arbeiten durften. Verwundetenstationen von Kriegslazaretten boten an Gefechtstagen mit den in endloser Zahl eintreffenden verschmutzten, verstümmelten, durch Kopf- und Bauchschüsse schwer verletzten Soldaten ein erschreckendes Bild und verlangten den Pflegenden alle Kräfte ab. Schwestern und Pfleger mussten hier aufgrund des Einsatzes der Ärzte in den Operationssälen oft selbst entscheiden, welche Medikamente gegeben wurden, ob ein Verbandwechsel nötig war oder die eitrigen Wunden ausgespült werden sollten. Eine reguläre Grundpflege der Soldaten (Waschen, Lagern, Essenreichen), das Säubern von Böden oder die Sterbebegleitung fielen in solchen Situationen meist weg und die Pflegenden arbeiteten bis zu 24 Stunden durch. Fehlte es an Morphium, spritzten sie zuweilen Kochsalzlösungen, um einen Placebo-Effekt zu erzielen. Der harte Einsatz und die begrenzten Möglichkeiten zur Linderung des Leidens, vor allem von sehr jungen Männern und Vätern, zehrte an den freiwilligen Hilfskräften und führte zu häufiger Niedergeschlagenheit, Erschöpfungszuständen und ,,nervöser Überreizung‘‘. Um die Schwestern, die in der Öffentlichkeit im Gegensatz zu den männlichen Pflegern als Engel stilisiert wurden, zum Durchhalten zu animieren, verlieh man ihnen Medaillen, hob die 209 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS Gehälter an und organisierte Lazarettbesuche des Kaisers und hochrangiger Generäle. Kraft für den harten Arbeitsalltag, der auch Spannungen in der Zusammenarbeit mit Militärärzten mit sich brachte, tankten Schwestern und Pfleger bei gemeinsamen Spaziergängen, beim Schreiben von Briefen an die Mutterhäuser oder Familienmitglieder, bei bunten Abenden oder Gebets- und Singstunden. Zum Durchhalten motivierte aber auch der Respekt und die Zuneigung für die Frontsoldaten, die als aufopfernde Helden betrachtet wurden, die ihr Leben auch für die Pflegenden aufs Spiel setzten. Die Patienten selbst sahen in den Schwestern nicht nur die Pflegende, sondern auch die Kameradin, Betschwester und Mutter, der man die Erlebnisse der Front ebenso anvertrauen konnte wie familiäre Sorgen und finanzielle Nöte. Die freundschaftlichen, emotionalen Beziehungen zwischen Patienten und Pflegenden belegen nicht zuletzt wiederholte Danksagungen in Soldatenbriefen. Stölzles fundierte Arbeit zum Pflegealltag in der Etappe bringt uns nicht nur die bei Eckart thematisierten, jedoch wenig konkretisierten ,,Soziotope‘‘ der Lazarette näher, sie kann mit ihrer Studie auch die im Sammelband von Prüll und Rauh eher randständige Patientenperspektive bereichern. Die langfristigen Folgen des psychisch und physisch strapazierenden Kriegseinsatzes für die Angehörigen der freiwilligen Krankenpflege in der Nachkriegszeit bleiben allerdings – wie Stölzle selbst notiert – ein Desiderat der Forschung. Für den Lesefluss eher hinderlich ist es, dass Stölzles Narrativ auf einer aggregierten, die Individuen egalisierenden Ebene verbleibt und auch kaum mit Zitaten aufgelockert wird. Der Fokus liegt zudem auf einzelnen Orten und Lokalitäten der Pflege in der Etappe und vermittelt somit einen statischen, segregierten Blick auf Verwundung, Tod und den Alltag der Pflegenden – ein Blick, der den konstanten Fluss von verletzten und kranken Soldaten, aber auch von Ärzten und Pflegern zwischen der vordersten Front und der Heimat nicht einfangen kann. Eine solche medizinische Bewegungsgeschichte, die der Verwundung der Soldaten und ihrer Versorgung und Betreuung auf verschiedensten Stationen, vom Niemandsland in Flandern bis in die Spitäler Londons nachgeht, leistet Emily Mayhew mit Wounded. The Long Journey Home from the Great War. Das auf die Shortlist des Wellcome Trust Buchpreises gewählte Buch Mayhews repräsentiert im wahrsten Sinne des Wortes A New History of the Western Front, wie der Untertitel der 2013 erschienenen gebundenen Ausgabe lautete. Denn nicht nur ist die von Mayhew eingeführte Bewegungsgeschichte, die die Interdependenz, Vernetzung und Fluidität von militärischer und heimatlicher Kriegsfront stark macht, analytisch äußerst fruchtbar; sie verbindet zudem diesen Zugang mit einem spektakulären Narrativ, welches das persönliche Erleben und Erfahren von verwundeten Soldaten, ihrer Pflege und Versorgung aus größter Nähe darstellt. 210 REZENSIONEN /REVIEWS Mayhew beschäftigt sich in 13 Kapiteln mit 32 sorgfältig ausgewählten Individuen. Es sind Porträts von verwundeten Soldaten aus allen vier Kriegsjahren, von den bislang von der Forschung vernachlässigten Krankenbahrenträgern, die als erste mit den Verwundeten im Niemandsland zu tun hatten, sowie von Stabsärzten, Chirurgen, Schwestern, Krankenwärtern, Seelsorgern und freiwilligen Helfern. Ergänzend wendet sich Mayhew spezifischen Orten der Pflege und Versorgung wie Spitalzügen, Eisenbahnstationen und Ambulanzen zu. Individuelle ,,Patientenschicksale‘‘ ebenso wie Erfahrungswelten von Truppenärzten, Schwestern, Geistlichen und Hilfskräften werden von Mayhew sicht-, hör- und fühlbar gemacht, in einer zuweilen fast unerträglichen Intensität. Ergänzt werden die zu Kurzgeschichten geronnenen Schicksale durch Fotos von Hauptpersonen und Bilder der Stationen, welche Verwundete auf ihrem Weg in die Heimat passierten. Mayhew konzentriert sich auf die Westfront und schreibt vorwiegend über Granat- und Schussverletzungen. Um ein vollständigeres Bild zu erhalten, wäre eine medizinische Bewegungsgeschichte auch für die Erschöpfungsund psychischen Krankheiten zu schreiben und Schauplätze wie die Ostfront und außereuropäische Arenen, in welchen Epidemien den Krieg durchgängig begleiteten, ebenso in den Blick zu nehmen. Moniert werden muss auch, dass sie mit ihrer neuen, die Kriegs- und Heimatfront verschmelzenden Geschichte letztlich auf Dreiviertel des Weges stehen bleibt, erfährt man doch nicht, was die Verwundeten nach ihrer Entlassung aus der institutionalisierten Betreuung erlebten, als sie in den Kreis ihrer Familie, zu ihren Frauen, Kindern, Verwandten und Freunden zurückkehrten. Auch wenn Mayhew das Erfahren und Erleben des eigensinnigen Subjekts in einmaliger Prägnanz hervorzuheben vermag, hätte Carlo Ginzburg, der Doyen der italienischen Mikrogeschichte, an Mayhews Buch wohl keine Freude. Der Grund dafür liegt in Mayhews Erzählweise. Die Hindernisse, die sich der mikrohistorischen Forschung in Form von Lücken und Verzerrungen der Quellen entgegenstellen, sind nach Ginzburg in das historische Narrativ einzuflechten. Mayhew dagegen liefert sämtliche Quellenbeschreibungen erst in einem vom Haupttext separierten Anhang und geht kaum auf quellenkritische Fragen ein. Damit bleibt die Frage offen, ob sie Lücken der Überlieferung zu einer fast zu glatten Oberfläche poliert hat. Klar ist, dass sie mit ihrer Erzählung die Leser in eine besonders enge, intime Beziehung zu den beteiligten Personen treten lässt und damit Leseeindrücke von geradezu filmischer Qualität schafft. Die Bilder und Szenen lassen einen nicht mehr los: die zerrissenen, von Blasen überzogenen Hände des Krankenbahrenträgers Ernest Douglas; die stumpfen Amputationssägen im Operationssaal des Chirurgen Normand Prichard; der zur grotesken Fratze verkommene, einbandagierte Kopf John Glubbs, dem eine Granate den Kiefer wegriss und der auf der wochenlangen Zug- und Schiffsreise in die Heimat vergeblich versucht, 211 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS sich verständlich zu machen, um Essen und Trinken zu erhalten; oder Elisabeth Boon, die einen Soldaten im Sterbezelt eines Lazaretts ein letztes Mal aufschreien hört, weil das an seinem Kopfkissen befestigte Lavendelsäckchen herunterfällt und er seinen eigenen verfaulenden Körper riecht. Welche Anregungen für zukünftige Medizingeschichten des Großen Krieges können aus den hier besprochenen Publikationen gezogen werden? Zum einen könnte die deutsche Medizingeschichtsschreibung von mehr Mut zu Nähe profitieren – mehr Mut zu persönlich, intim und untypisch erzählten Schicksalen und Erfahrungswelten der Patienten und des medizinischen Personals. Dabei wäre nicht nur die Frage zu stellen, wie einzelne Individuen unmittelbar mit Verwundung, Vergiftung, Krankheit und Tod umgegangen sind, sondern auch wie Verwundung, Krankheit und das Miterleben von Leiden und Sterben Menschen langfristig transformierte, wie sie den Krieg nach dem Krieg mit Leib und Seele verarbeiteten, wie sie resilient wurden oder an genau dieser Adaptionsaufgabe zerbrachen. Zum andern könnten sich neue Horizonte öffnen, wenn das in medizingeschichtlichen Arbeiten weithin verbreitete Denken in Dichotomien und stabilen Settings aufgebrochen würde. Dies betrifft zunächst die häufige Trennung von Kriegs- und Heimatfront. Sie sollte durch eine Analyse der Vernetzungen, Interdependenzen und effektiven Bewegungen zwischen Schützengräben und den heimatlichen Arenen sowie der Betonung von instabilen, sich kontinuierlich neu formierenden medizinischen Alltagen systematisch unterlaufen werden. Basierend auf dieser die Kriegs- und Heimatfront verschmelzenden Betrachtungsweise könnte auch von einer Trennung von Militärmedizin und medizinischer Gesellschaftsgeschichte des Krieges abgesehen werden. Statt diese Zugänge gegeneinander auszuspielen oder unabhängig voneinander zu verfolgen, wären vielmehr die Überschneidungen zwischen der gegenwärtig besonders stark gemachten Militärmedizin ,,von unten‘‘ und einer sozial- und erfahrungsgeschichtlich orientierten medizinischen Gesellschaftsgeschichte des Krieges zu betonen. Damit die gesellschaftliche Komplexität des Krieges medizingeschichtlich erfasst werden kann, wie dies Eckart zurecht fordert, ist ein Blick auf das Leid der Zivilbevölkerung in Deutschland ebenso wie der Gesellschaften der besetzten Gebiete unabdingbar, seien sie nun in West- und Osteuropa oder auf den fernen Kriegsschauplätzen beheimatet. Hier, ebenso wie bei einem Fokus auf die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, verbinden sich militärmedizinische und gesamtgesellschaftliche Ebenen zwangsläufig miteinander. Eine die militärische und gesellschaftliche Ebene integrierende Medizingeschichte des Ersten Weltkrieges könnte dabei nicht nur wie bisher Anregungen aus der Sozial-, Geschlechter-, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte aufnehmen, sondern auch neuere, in der kulturhistorischen Forschung stark gemachte Ansätze und Perspektiven. So wären etwa MenschTier-Verhältnisse in den Schützengräben, in den Lazaretten und im eigenen 212 REZENSIONEN /REVIEWS Heim als Mikrokosmen in den Blick zu rücken, die zur Bewältigung von Verwundung, Krankheit und psychischen Belastungen oder zur Verarbeitung von Sterben und Tod bedeutsam waren. Interessant wäre für das Gesundheitsverhalten im Krieg auch ein Blick auf das Handeln mit Dingen (Amulette, Medaillons etc.) im Kontext alltäglicher Rituale oder Formen des Aberglaubens und der Spiritualität bei Truppenärzten und Pflegenden, bei Soldaten, aber auch bei Familienangehörigen und Freunden von Verletzten, Vermissten, Kranken und Toten. ,,Im Westen Nichts Neues‘‘ – anders als die titelgebende Notiz des Heeresberichtes, mit der Erich Maria Remarque seinen Schlüsselroman zum Ersten Weltkrieg beendet, gilt für die Medizingeschichte hundert Jahre später: Es gibt und wird auch in Zukunft noch viel Neues und Anregendes zu berichten geben. Silvia Berger Ziauddin (Zürich) Ruth Oldenziel und Mikael Hård 2013: Consumers, Tinkerers, Rebels. The People who Shaped Europe [Making Europe: Technology and Transformations 1850–2000, 1]. Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan, geb., 416 S., 65,00 £, ISBN 978-0-23030801-5. Martin Kohlrausch und Helmuth Trischler 2014: Building Europe on Expertise. Innovators, Organisers, Networkers [Making Europe: Technology and Transformations 1850–2000, 2]. Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan, geb., 390 S., 60,00 £, ISBN 978-0-23030801-5. Wolfram Kaiser und Johan W. Schot 2014: Writing the Rules for Europe. Experts, Cartels and International Organizations [Making Europe: Technology and Transformations 1850–2000, 4]. Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan, geb., 396 S., 60,00 £, ISBN 978-0-230308077. ,,Who, indeed, built Europe? Entrepreneurs and engineers? Politicians and scientists? Consumers and activists?‘‘ Mit diesen programmatischen Fragen stellt sich die von Johan Schot und Philip Scranton herausgegebene, auf insgesamt sechs Bände angelegte Making Europe-Reihe auf ihrer Homepage vor; eine Buchreihe, die mit dem Anspruch antritt, eine neue Geschichte Europas zu präsentieren (http://www.makingeurope.eu). Ihre zentrale These lautet, dass der Technik für die europäische Integration und mithin für den Prozess des Making Europe eine zentrale Rolle zukam. Genau diese Rolle der Technik soll aus transnationaler Perspektive untersucht werden, wobei hier selbstverständlich ein breiter Technikbegriff zugrunde liegt, der – wie die 213 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS Herausgeber betonen – ,,people and values, ideas, skills and knowledge‘‘ umfasst (Einführung zur Serie, jeweils X). Explizit möchte diese ,,New European History‘‘ nicht nur die Fachöffentlichkeit, sondern eine möglichst breite Leserschaft erreichen. Der Untertitel der Reihe – ,,Technology and Transformations 1850-2000‘‘ – steckt den Zeitraum ab, der in den Blick genommen wird. Etwa Mitte des 19. Jahrhunderts formierte sich ein Prozess beschleunigter Globalisierung, für den neue Verkehrs- und Kommunikationsnetze eine zentrale Rolle spielten. Es geht also um Veränderungen der materiellen Welt, die – so die Herausgeber – auch über kriegerische und politische Zäsuren hinweg inter- und transnationale Kooperation, Austausch, Wissenstransfer und Regelsetzungen ermöglichten und erzwangen und damit auch einen wesentlichen Grundstein für die formalpolitische Integration Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts legten. Diesen Entwicklungen gehen die sechs Bände der Reihe nach, wobei in der Regel zwei Autoren/innen – nur in einem Fall sind es drei – jeweils unterschiedliche Akteure und/oder technische Integrationsfelder aus einer explizit eben nicht nationalstaatlichen Perspektive in den Blick nehmen. Auf diese Weise entstehen unterschiedliche, sich ergänzende, aber durchaus auch partiell sich überlappende Narrative zum Einfluss von Technik, technisch-wissenschaftlicher Experten und Organisationen auf die Herstellung Europas im ,,langen‘‘ 20. Jahrhundert. Zurück geht das Projekt auf das seit 1998 bestehende internationale technikhistorische Forschungsnetzwerk ,,Tensions of Europe‘‘ (http://www. tensionsofeurope.eu) sowie das eng mit diesem verknüpfte Inventing Europe Programm, das seit 2007 von der European Science Foundation getragen wird. Der Fokus lag dabei von Beginn an auf der Frage, welche Rolle Technik respektive technische Artefakte und Systeme im Zusammenspiel mit zahlreichen individuellen, institutionellen und korporativen Akteuren wie Ingenieuren und Architekten, Verkehrsplanern und Politikern, Konsumenten und Nutzern, Vereinen und Kartellen für die Geschichte Europas spielten und weiterhin spielen. Die einzelnen Bände der Making Europe-Reihe basieren dabei nicht zuletzt auch auf anderen Veröffentlichungen, die aus diesen Netzwerken hervorgegangen sind, und präsentieren in der Regel eher Synthesen des aktuellen Forschungsstands als unmittelbar quellengestützte Forschung. Bezüglich der Ausstattung der Reihe ist der Verlag sehr zu loben, denn die großformatigen gebundenen Bände bereiten mit ihrem hochwertigen Papier und den vielen ausführlich kommentierten Abbildungen auch ein ästhetisches Vergnügen. Alle Bände werden über ein Personen- und Sachregister gut erschlossen; es ist aber angesichts der mannigfachen, oft kryptischen Kürzel für die Vielzahl der erwähnten Institutionen zu bedauern, dass nur der Band von Kaiser und Schot mit einem Abkürzungsverzeichnis versehen ist. 214 REZENSIONEN /REVIEWS Im Folgenden sollen die drei zuerst erschienenen Bände der Reihe vorgestellt werden. Bereits 2013 erschien der von Ruth Oldenziel und Mikael Hård verfasste erste Band, der gleich den Anspruch formuliert, ,,a new view of history‘‘, eine Gegenerzählung zu etablierten (technik-)historischen Narrativen, schreiben zu wollen (6). Wie der Titel bereits verrät, nehmen die Autoren Konsumenten, Bastler und Rebellen oder, anders ausgedrückt, die mitunter eigensinnigen und aufsässigen Nutzer und Nutzerinnen neuer Technologien als wichtige Akteure in den Blick. Sie fragen danach, wie diese sich Technologien aneigneten, in ihren Alltag integrierten oder gegebenenfalls diese Integration auch mehr oder minder öffentlich verweigerten. Letztlich geht es Oldenziel und Hård darum, in einer pan-europäischen Perspektive zu erkunden, wie trotz anhaltender nationaler und regionaler Differenzen eine neue und wesentlich von Technik bestimmte gemeinsame europäische (Alltags-)Kultur entstehen konnte. Im zweiten Band der Reihe gehen Martin Kohlrausch und Helmuth Trischler dem Einfluss technisch-wissenschaftlicher Experten auf die europäische Geschichte nach. Mit dem von ihnen im Buch gebrauchten Begriff der ,,technoscientific experts‘‘ wollen sie verdeutlichen, dass eine Trennung zwischen technischen und wissenschaftlichen Experten für das ,,lange‘‘ 20. Jahrhundert keinen Sinn macht. In ihrer Darstellung begegnen uns akademisch und nicht-akademisch ausgebildete Ingenieure und Architekten ebenso wie Stadtplaner und Naturwissenschaftler. Kohlrausch und Trischler schreiben dabei eine komplexe Geschichte der Wechselwirkungen zwischen Nationalstaatsbildung und Aufstieg technisch-wissenschaftlicher Experten, zwischen nationaler Instrumentalisierung von Experten und umgekehrter Instrumentalisierung des Nationalismus durch diese. Es geht um Allianzen und Auseinandersetzungen zwischen alten Eliten und neuen ,,Fachleuten‘‘, um technokratische Phantasien und schließlich um die komplexen und widersprüchlichen Motive und Folgen transnationaler Expertenkooperation. Beim dritten, ebenfalls 2014 erschienenen und hier zu besprechenden Band handelt es sich um den offiziell vierten der Making Europe-Reihe. Wolfram Kaiser und Johan Schott nehmen wiederum andere zentrale Akteure des europäischen Integrationsprozesses in den Blick, nämlich inter- und transnationale Organisationen technisch-wirtschaftlichen Charakters. Gemeint sind damit in der Regel freiwillige, nicht staatliche aber durchaus staatsnahe Vereinigungen, Vereine und auch Kartelle, in denen sich Experten – die uns hier also wiederbegegnen – auf gemeinsame Regeln und Standards einigten. Dieser Prozess der Regelsetzung, so Kaiser und Schott, reflektiert die zunehmende wirtschaftliche und technisch-infrastrukturelle Vernetzung Europas seit Mitte des 19. Jahrhunderts, war seinerseits aber auch Voraussetzung für eine weitergehende Integration. Die Autoren interessieren sich insbesondere für die spezifische Kultur der Zusammenarbeit in diesen Organisationen, deren Arbeitsweise und das Selbstbild der kooperierenden 215 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS Experten. Zentral ist dabei einerseits der Anspruch der Akteure auf eine explizit de-politisierte, rein sachlich-technische Entscheidungsfindung und andererseits eine erst auf Basis dieser technokratischen Ideologie mögliche Konsenskultur. Dass hier de facto hochpolitische Entscheidungen getroffen wurden, dass es um Machtfragen und den Einfluss einzelner Experten ebenso wie einzelner von ihnen vertretener Unternehmen und auch Staaten ging, steht dabei außer Frage. Damit nun aber zu den Bänden im Einzelnen. Um den Nutzern und Nutzerinnen und deren Einfluss auf die Ausformung einer technisch geprägten europäischen Alltagskultur näher zu kommen, beschäftigen sich Oldenziel und Hård in Consumers, Tinkerers, Rebels mit ausgewählten Arenen der Aneignung und Aushandlung, des Bastelns und Protestierens. Sie führen den Leser in Modesalons und Eisenbahnabteile der Jahrhundertwende, auf Straßen und Radwege, in Sozialwohnungen und Küchen der Zwischenkriegszeit, schließlich in die Räume von Computerclubs, in Kinderzimmer und auf Wertstoffhöfe des späten 20. Jahrhunderts. Sie stellen dabei technische Ensembles vor, die Kachelöfen, Küchenherde und städtische Versorgungsinfrastrukturen, Schlafwagen, Kursbücher und Auswandererhallen, Fahrräder und Straßenverkehrsordnungen ebenso umfassen können wie Einmachgläser und Supermarktregale oder Barbiepuppen, Heimcomputer und Programmiersprachen. Wirkungsmächtig wurden diese Ensembles dabei gerade in ihrer Gesamtheit, was knapp mit Hilfe des ersten von Oldenziel und Hård vorgestellten Beispiels exemplifiziert werden soll. Hier geht es nämlich um die Etablierung einer paneuropäischen, ja, Nordamerika sowie Teile der kolonialen Welt umfassenden und dabei auf die Metropole Paris ausgerichteten (Damen-)Modekultur im späten 19. Jahrhundert. Diese beruhte nicht zuletzt auf einem technischen Ensemble, das unter anderem Modemagazine, Schnittbögen und Nähmaschinen umfasste. In Kombination mit neuen Vertriebsformen – Stichwort Vertretersystem, Warenhaus und Versandhandel – machte es dieses Ensemble möglich, dass sich eben nicht nur großbürgerliche Damen beispielsweise in St. Petersburg, sondern auch modebewusste Hausangestellte in London die Pariser Modewelten aneignen konnten. Unter Beteiligung eines komplexen Systems von Akteuren mit je spezifischen Fähigkeiten – vom Pariser Designer bis zur Budapester Heimnäherin, von der litauischen Handarbeitslehrerin bis zum finnischen Nähmaschinenvertreter – wurde so eine über Europa hinaus reichende und mehr als nur die Oberschicht erfassende gemeinsame Modekultur etabliert. Ähnliche Zusammenhänge präsentieren Oldenziel und Hård mit Hilfe weiterer Beispiele, wobei ihre Darstellung chronologisch in drei größere Teilen organisiert ist, die durch zwei Epochenschwellen voneinander abgegrenzt sind. Die erste dieser Epochenschwellen markiert der Erste Weltkrieg, die zweite das Protestjahrzehnt der 1960er Jahre. Die erste Zäsur rechtfertigen die Autoren damit, dass die europäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg 216 REZENSIONEN /REVIEWS einen sehr viel aktiveren Einfluss auf die Ausgestaltung von Technologien und technische Systemen zu nehmen begannen als zuvor. Nutzer und Nutzerinnen mussten sich nun stärker mit staatlichen oder staatsnahen Akteuren, nicht zuletzt auch hier wiederum mit (technischen) Experten auseinander setzen. Als zweite Epochenschwelle zeichneten sich die 1960er Jahre neben beschleunigter Entkolonialisierung und wachsender Bedeutung gesamteuropäischer Institutionen vor allem durch die an Einfluss gewinnenden neuen Bürgerbewegungen und die damit einhergehende mindestens partiell erfolgreiche ,,Selbstermächtigung‘‘ von Nutzern respektive Konsumenten aus. Neben dem bereits skizzierten Thema Mode werden für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg noch die Themen Wohnen sowie Reisen beziehungsweise Migration vorgestellt. Bei letzterem geht es nicht zuletzt um die Eisenbahn als geradezu prototypische Technologie der europäischen Integration, die hier jedoch gleichzeitig auch als Technologie der sozialen Segregation und Ausgrenzung greifbar wird. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg setzen die Autoren anhand von drei Beispielen Schlaglichter auf die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und seinen Experten einerseits und Nutzern und Nutzerinnen andererseits. Thematisiert werden dabei zunächst das Fahrrad, die ,,Proletarisierung‘‘ der Radfahrkultur in der Zwischenkriegszeit sowie der ,,Kampf um die Straße‘‘ mit Verkehrsexperten und bürgerlichen Automobilisten. Anschließend werden am Beispiel der Industrialisierung der Ernährung Auseinandersetzungen zwischen Industrie, Staat, (Ernährungs-)Experten und Konsumenten diskutiert, die sich nicht nur an der Frage der angemessenen Versorgung entzündeten, sondern bei denen es auch um Kontrolle und Autonomie ging. Das dritte Unterkapitel widmet sich Spannungen zwischen Staat, Experten und Nutzern am Beispiel des (sozialen) Wohnungsbaus, wobei sehr anschaulich verdeutlicht wird, wie stark sich mitunter reale Nutzer in Bedürfnissen und Verhalten von den imaginierten Nutzern der Experten unterschieden. Im dritten und letzten Teil des Bandes wird schließlich am Beispiel des Umgangs mit Ressourcen und Reststoffen, wiederum auch Mode – hier in Form des Politikums Jeans im ,,Kalten Krieg‘‘ – sowie Computern und dem Internet thematisiert, wie seit den 1960er Jahren eine veränderte Nutzerkultur entstand. In dieser stiegen auf lokaler aber eben auch auf transnationaler Ebene agierende Nutzer-Netzwerke und Protestbewegungen zu neuen machtvollen Akteuren auf, die eine Veränderung staatlicher Technologiepolitik erzwingen und die bisherige Verbindlichkeit von Expertenwissen in Frage stellen konnten. Insgesamt gelingt es Oldenziel und Hård, ein bemerkenswert breites Panorama der Sozial-, Kultur- und eben Technikgeschichte des 20. Jahrhunderts zu entwerfen. Zusammengehalten wird die Darstellung dabei einerseits durch die recht konsequente Nutzerperspektive, wobei aber andere relevante 217 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS Akteure keinesfalls aus dem Blick geraten. Andererseits gerät das Ganze auch darum so überzeugend und rund, weil sich die Autoren bei der Entfaltung der verschiedenen Fallbeispiele nicht scharf an die selbst gesetzten Epochengrenzen halten, sondern mit chronologischen Überlappungen sowie Vor- und Rückgriffen arbeiten und immer wieder Zusammenhänge zwischen den einzelnen Kapiteln und Themen herstellen. Zu den Stärken des Buches gehört dabei sicherlich auch, dass sich hier ganz unterschiedliche Debatten, Ansätze und Themen der neueren Technikgeschichte wiederfinden. Die Nutzerperspektive korrespondiert dabei mit einem stark sozialkonstruktivistischen Zugang, wobei selbstverständlich das Phänomen der Ko-Konstruktion durch den Nutzer ebenso thematisiert wird wie etwa Genderaspekte, Social Engineering, konsumhistorische Zugänge sowie Aspekte der Mobilitäts-, Produktions-, Umwelt- und Kommunikationsgeschichte. Gerade angesichts dieses positiven Befundes kann aber der gleichsam revolutionäre Gestus, mit dem die Autoren antreten, auch ein wenig nerven. Liest man ihre Einleitung, so entsteht der Eindruck, sie hätten soeben als erste entdeckt, dass Nutzer als Akteure relevant waren, dass Alltagstechnologien untersuchenswert sind und dass Technologien unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen erlauben. Oldenziel und Hård setzen sich hier von einer traditionellen Technikgeschichte der bedeutenden Innovationen und großen Männer ab, die so schon lange nicht mehr geschrieben wird. Eine zweite kritische Anmerkung ist grundsätzlicher Natur: Am Ende des Bandes stellt sich durchaus die Frage, wie spezifisch europäisch die technische Kultur eigentlich ist, deren Entstehung Oldenziel und Hård porträtieren. Geht es tatsächlich um Making Europe oder geht es um Alltagskultur, Nutzeridentitäten und ,,Making Technology‘‘ in den – sagen wir – ,,westlichen‘‘ Massenkonsumgesellschaften, die im ,,langen‘‘ 20. Jahrhundert entstanden? Wird hier also tatsächlich eine Geschichte der europäischen Integration über Nutzergemeinschaften erzählt, oder erweist sich die Kategorie ,,Europa‘‘ nicht als vielfach ebenso konstruiert wie möglicherweise die Nutzergemeinschaften selbst? In Building Europe on Expertise nehmen Kohlrausch und Trischler die im 19. Jahrhundert entstehende neue Spezies technisch-wissenschaftlicher Experten und deren Beitrag zur Herstellung des modernen Europa in den Blick. Ihre zentrale These lautet, dass dabei Nationalismus und Transnationalismus eng miteinander verflochtene Phänomene waren. Der Nationalismus der Experten und ihr transnationales Denken und Handeln kann ebenso wie der weitere Aufstieg der europäischen Nationalstaaten und der gleichzeitige Aufbau übernationaler Organisationen und Institutionen nur in Verbindung miteinander und als gemeinsamer Prozess verstanden werden. Der Transnationalismus war dabei zunächst nicht eigentliches Ziel, sondern eher Ergebnis gerade des kompetitiven Verhältnisses der Staaten untereinander sowie schlicht Resultat ihrer technisch-infrastrukturellen Vernetzung. Partiell, so die 218 REZENSIONEN /REVIEWS Autoren, änderte sich dies erst in der bipolaren Welt des Kalten Krieges ab Mitte des 20. Jahrhunderts, in der nun in (West-)Europa sehr bewusst auf Kooperation gesetzt wurde. Unterhalb der Oberfläche der europäischen Institutionen blieben freilich nationale Konkurrenz und nationale Egoismen anhaltend relevant. Entscheidend für die funktionierende Kooperation der Experten war dabei ihr Charakter als hidden integration, also eine gleichsam für die breiteren (nationalen) Öffentlichkeiten verborgene, unsichtbare Kooperation, auf deren Basis die Produktion und Zirkulation von Wissen mit großer Selbstverständlichkeit erfolgten. Nicht von ungefähr wird uns dieses Konzept der hidden integration im Band von Wolfram Kaiser und Johan Schot zu den Organisationen der technisch-wirtschaftlichen Zusammenarbeit wieder begegnen. Wie bereits bei Oldenziel und Hård, so ist auch bei Kohlrausch und Trischler die Darstellung chronologisch in drei große Kapitel gegliedert, wobei der zeitliche Zuschnitt anders aussieht. Der erste Teil widmet sich der Phase von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den frühen 1930er Jahren. Im Zentrum der Untersuchung stehen dabei zunächst das ,,Erzeugen‘‘ technisch-wissenschaftlicher Experten in speziellen Ausbildungsanstalten sowie deren Kampf um soziale Anerkennung und politische Mitsprache. Der Leser erfährt einiges über die Geschichte der technischen Bildung in Europa, die verschiedenen nationalen Modelle – insbesondere das französische, britische und deutsche – und deren Rezeption und Modifikation in anderen Teilen des Kontinents. Deutlich werden dabei einerseits der kompetitive Charakter dieser Entwicklung und andererseits ihre starke internationale Verwobenheit. Darüber hinaus werden zentrale Eigenheiten der technisch-wissenschaftlichen Eliten in ihrer ersten großen Expansionsphase verdeutlicht: ihre strategische, ökonomische und auch militärische Bedeutung für die (entstehenden) Nationalstaaten, ihre enge Verbindung zu nationalstaatlicher Machtpolitik sowie ihre starke Identifikation mit dem Nationalstaat. Auf der anderen Seite funktionierte die nationale Aufladung der Technik und ihrer Repräsentanten nur auf der Basis beständiger internationaler Vergleiche; Voraussetzung für den nationalen Erfolg war dabei nicht zuletzt der internationale, vor allem transeuropäische Wissens- und Technologietransfer. Verdeutlicht wird hier das Spannungsverhältnis zwischen technischen Eliten als einerseits übernational einsetzbare unpolitische Fachleute und andererseits hochgradig national aufgeladene Symbolfiguren. Schließlich wird im Zusammenhang mit dem Aufstieg der technisch-wissenschaftlichen Elite auch der Aufstieg technokratischer Ideale thematisiert, die partielle Umsetzung dieser Ideale insbesondere in der Phase des Ersten Weltkriegs und die zunehmend autoritären Tendenzen der Technokratiebewegung in der Zwischenkriegszeit. Letzteres leitet zum zweiten Teil der Darstellung über, in dem es um die Phase zwischen Ende des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs geht. Die Perspektive ist nun insofern eine etwas andere, 219 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS als in diesem Teil stärker einzelne Experten exemplarisch vorgestellt werden. Die zentrale Frage lautet, wie die große Bereitschaft zahlreicher europäischer Experten zu erklären ist, sich auf eine Art Teufelspakt mit den entstehenden autoritären Regimen einzulassen und damit deren Aufstieg und deren Verbrechen erst möglich zu machen. Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen, wenden sich Kohlrausch und Trischler zunächst der frühen Zwischenkriegszeit zu. Es geht ihnen dabei um eine Auseinandersetzung mit der Selbstermächtigung technisch-wissenschaftlicher Experten zu ,,Ingenieuren des Sozialen‘‘, die mit dem Anspruch verbunden war, auch gravierende gesellschaftliche Probleme mit Hilfe von Technik lösen zu können (139). Exemplifiziert werden diese Tendenzen mit Hilfe gleichsam paradigmatischer Akteure: Le Corbusier und der Congrès International d’Architecture Moderne, im Grunde erwartungsgemäß Tomáš Bat’a und der Bataismus sowie natürlich Henry Ford und die Rezeption des Fordismus in Europa. Kohlrausch und Trischler verdeutlichen, dass nicht wenige ,,Ingenieure des Sozialen‘‘ demokratische Strukturen als hinderlich für die Umsetzung ihrer weitreichenden Pläne zur Umgestaltung der Gesellschaft empfanden. Diktatorische Regime schienen dafür bessere Bedingungen zu bieten, und umgekehrt hätten Terrorherrschaft, vor allem aber forcierte Aufrüstung, Krieg und Vernichtungspolitik in den autoritären Regimen Europas nicht ohne die willige Kollaboration der Experten umgesetzt werden können. Dieses Verhältnis von wechselseitiger Abhängigkeit und Unterstützung thematisieren die Autoren für das ,,Dritte Reich‘‘ am Beispiel von Konrad Meyer als einem der Vordenker der Vernichtung, für das faschistische Italien am Beispiel von Guglielmo Marconi und für die stalinistische Sowjetunion schließlich am Beispiel des Biologen und Agronomen Trofim Lyssenko. Zum eigentlichen Thema ihres Buches kommen Kohlrausch und Trischler am Ende dieses Teilabschnitts zurück, indem sie sich mit dem bemerkenswerten Phänomen auseinander setzen, dass trotz der deutlich zurückgehenden transnationalen Kooperation im ,,Zeitalter der Extreme‘‘ der globale Wissenstransfer sogar beschleunigt wurde. Zurückzuführen war das zunächst auf die Zwangsemigration technisch-wissenschaftlicher Experten aus der Sowjetunion und insbesondere aus NS-Deutschland sowie nach Kriegsende auf die mehr oder minder freiwillige Kooperation deutscher Wissenschaftler und Techniker mit den Siegermächten, insbesondere natürlich mit den USA und der UdSSR. Obwohl nicht intendiert, entwickelte sich dieser nahezu weltumspannende Wissenstransfer zu einem Motor nicht nur der technik-wissenschaftlichen, sondern schließlich auch der politischen Integration. Der dritte und letzte Teil des Buches ist der Entwicklung im Europa der Nachkriegszeit gewidmet, wobei sich die Perspektive erneut, nun stärker institutionengeschichtlich ausgerichtet, verschiebt. Am Beispiel prägender Institutionen der wissenschaftlich-technischen Kooperation, insbesondere der 220 REZENSIONEN /REVIEWS Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN), der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) und der Europäischen Organisation zur Zusammenarbeit in der Weltraumforschung (ESRO), diskutieren die Autoren die Determinanten, Wege und Ziele technisch-wissenschaftlicher Integration in (West-)Europa. In der Welt des Kalten Krieges schien die nun explizit vorangetriebene Bündelung nationaler Ressourcen in transnationalen Programmen und Institutionen für die europäischen Staaten und ihre Experten die einzige Chance zu bieten, der bedrohlichen technisch-wissenschaftlichen Dominanz der Supermächte zu begegnen. Gerade für die Bundesrepublik und deren angesichts ihrer NS-Vergangenheit häufig vorbelasteten Experten bot die transnationale Forschungskooperation die Chance auf Wiederanerkennung und Reintegration. Auch für die Nachkriegsentwicklung machen Kohlrausch und Trischler deutlich, dass transnationale Zusammenarbeit nach wie vor auch rein nationalen Interessen dienen konnte, insofern als die beteiligten europäischen Länder versuchten, auf der Basis der Kooperation die eigene Position respektive die der nationalen Industrien auf den internationalen Märkten zu stärken. Dennoch, so die Autoren, war die Kooperation technisch-wissenschaftlicher Experten in einer zunehmenden Zahl europäischer Institutionen ein zentrales Feld der europäischen Integration, teilte allerdings gleichzeitig den Kontinent auch entlang der Grenzen des Kalten Krieges. Auch auf der östlichen Seite des so genannten Eisernen Vorhangs intensivierte sich seit den 1950er Jahren die technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit, allerdings sehr viel stärker zu den Bedingungen und zum Vorteil des dortigen Hegemons UdSSR. Dieser dritte Teil schließt mit einem Kapitel, das die Geschichte und Ergebnisse der Forschungsförderung durch EWG und EU noch einmal im Überblick präsentiert. Schließlich fragen Kohlrausch und Trischler nach den historischen Prozessen, die die heutige europäische Forschungskooperation und Forschungslandschaft geprägt haben. Insgesamt erzählen Kohlrausch und Trischler ihre Geschichte der Herstellung Europas durch technisch-wissenschaftliche Experten und deren transnationale Kooperation durchaus als Erfolgsgeschichte, mindestens was die Zeit seit 1945 anbelangt. Sie tun dies trotz des im 21. Jahrhundert gescheiterten Lissabon-Prozesses und trotz eines in den vergangenen Jahren eher schwindenden Glaubens an Wissenschaft und Technik als potente Katalysatoren der Integration. Insofern schließen sie auch nachvollziehbar mit einem gewissen Optimismus und mit der Feststellung, dass Experten in der Tat eine treibende Kraft für die Integration Europas waren und dass Europa eben auch auf deren Expertise gebaut wurde, gebaut wird und gebaut werden wird. Natürlich erzählen Kohlrausch und Trischler keine naive Erfolgsgeschichte. Deutlich dürfte geworden sein, dass sie ein sehr breites Panorama entwickeln, manchmal sogar so breit, dass dem Leser nicht immer ganz klar 221 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS wird, wohin die Reise argumentativ gerade geht. Ganz sicher wird hier aber nicht das Meisternarrativ eines auch nur im Ansatz geradlinigen, kontinuierlichen Integrationsprozesses geschrieben, sondern eine Geschichte von Zweifeln und massiven Brüchen, von Partikularinteressen, von miteinander verwobenen hehren und dunklen, altruistischen und höchst banal egoistischen Motiven technisch-wissenschaftlicher Experten. Um auf die zentrale These der Autoren zurückzukommen, so war es eben gerade die Kombination der nationalen und transnationalen Interessen, der hehren und egoistischen Motive, die dem Prozess seine Dynamik gab. Kohlrausch und Trischler betonen, dass es sich bis heute um eine gleichsam heterogene Integration handelt, dass in Europa multiple Muster regionaler Kooperation entstanden sind, die mit multiplen Wissensgesellschaften und nach wie vor auch multiplen (nationalen) Innovationskulturen korrespondieren. Und nach wie vor existieren die multiplen europäischen Wissensgesellschaften eben zwischen den Polen nationaler Konkurrenz und transnationaler Kooperation. Die Stärke des Bandes liegt in der überzeugenden Auswahl, Zusammenstellung und partiellen Neuinterpretation von durchaus Bekanntem unter einer weitgehend konsequent verfolgten Fragestellung, genuin Neues bietet er wenig. Die tatsächlichen Netzwerke der Kooperation, die Kooperationskultur und die Kooperationsroutinen der technisch-wissenschaftlichen Eliten bleiben allerdings bemerkenswert undeutlich, ein Preis, der angesichts der Breite des vermittelten Überblicks über die Entwicklung verwobener nationaler und transnationaler Expertenkulturen und deren Relevanz für die Herstellung Europas wohl zu zahlen war. Wolfram Kaiser und Johan Schot verfolgen in Writing the Rules for Europe die Entstehung und Entwicklung inter- und transnationaler Organisationen und fragen nach deren Beitrag zur Herstellung des modernen Europas. Sie tun das zunächst in drei großen chronologischen Überblickskapiteln. Das erste dieser Kapitel widmet sich der Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg, das zweite der Zwischenkriegszeit und das dritte der Integration ,,Kerneuropas‘‘ vor allem bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Angesichts der Heterogenität und Komplexität des entstehenden Systems internationaler Vereine und Vereinigungen liegt es im Grunde nahe, dass Kaiser und Schott auch ihre Überblickskapitel letztlich exemplarisch anlegen. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg steht die 1865 in Paris gegründete ,,Union Télégraphique Internationale‘‘ als stilbildende Vereinigung im Zentrum des Interesses, eine europäisch dominierte Vereinigung mit allerdings globalem Anspruch. Für die Zwischenkriegszeit wird die weitere Entwicklung der ,,International Machinery‘‘ (erstmals S. 7) auf der neuen Plattform des Völkerbundes betrachtet, die selbst stark von der technokratisch-internationalistischen Arbeitsweise der im 19. Jahrhundert entstandenen Organisationen sowie von der inter-alliierten Zusammenarbeit währen des Ersten Weltkriegs geprägt war. Im dritten Kapitel folgen die Autoren dem 222 REZENSIONEN /REVIEWS Aufbau neuer Institutionen der internationalen Zusammenarbeit in Europa nach 1945, wobei sie hier nicht eine einzelne Organisation auswählen, sondern die Entwicklung und das Zusammenspiel mehrerer neuer Institutionen (darunter die Economic Commission for Europe, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EWG und auch der COMECON) diskutieren und gleichzeitig die anhaltenden Aktivitäten und den anhaltende Einfluss der existierenden Organisationen thematisieren. Auf die drei Überblickskapitel folgen insgesamt vier Kapitel, in denen zwei zentrale Bereiche europäischer Zusammenarbeit und zunehmender Integration detaillierter verfolgt werden, nämlich einerseits die Eisenbahn und andererseits der Stahlsektor. Näher vorgestellt werden also zwei Branchen, die nicht nur für die Industrialisierung Europas eine Schlüsselrolle spielten, sondern eben auch für die Entwicklung des ,,Technokratischen Internationalismus‘‘ (,,technocratic internationalism‘‘, erstmals S. 7), der Kaiser und Schot besonders interessiert. Sie exemplifizieren mit diesen beiden Branchen unterschiedliche Entwicklungsstränge der europäischen Integration, insofern als es bei den Eisenbahnen primär um die Einigung auf gemeinsame Standards ging, beim Stahl hingegen um Kartellbildung, Marktabsprachen und die Aufteilung des Marktes. Sowohl in den Überblicks- wie in den Vertiefungskapiteln bemühen sich Kaiser und Schott darum, ihren letztlich institutionengeschichtlichen Ansatz mit einem stärker biografischen zu verweben, insofern als sie eben nicht nur der Entwicklung der Organisationen, sondern auch dem Einfluss zentraler individueller Akteure nachgehen. Im Hintergrund steht dabei die These, dass es nicht zuletzt diese Akteure und deren informelle persönlichen Netzwerke waren, die den europäischen Integrationsprozess prägten und den konsensualen Arbeitsstil in den Institutionen ermöglichten. Näher analysiert und präsentiert werden diese informellen Netzwerke allerdings nicht. Im abschließenden achten Kapitel arbeiten Kaiser und Schott explizit ihre in den vorangehenden Kapiteln bereits angelegte zentrale These aus, dass der spezifische Charakter des europäischen Integrationsprozesses, der nach 1945 entstehenden europäischen Institutionen und insbesondere jener der Europäischen Union stark von den älteren Organisationen übernationaler Zusammenarbeit und deren Kooperationskultur geprägt wurde und wird. Wie bei Kohlrausch und Trischler ist das zentrale Konzept das der hidden integration, die bei Kaiser und Schot nun allerdings sehr viel deutlicher als wichtiges Kennzeichen europäischer Integration greifbar wird. Eng mit den unsichtbaren Integrationsinstanzen verwoben waren ihr stark technokratisches Selbstbild, ihre postulierte Politikferne und ihre fehlende oder mindestens unzureichende demokratische Legitimation. Offensichtlich gilt dies sowohl für die frühen Organisationen transnationaler Kooperation wie auch für die nach 1945 entstehenden (west)europäischen Institutionen. Kaiser 223 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS und Schot betonen in diesem Zusammenhang die Kontinuitäten in der europäischen Integrationsgeschichte, die über die großen Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinweg reichen. Sie dekonstruieren damit ausdrücklich den Gründungsmythos der EU, dass es 1945 gleichsam eine ,,Stunde Null‘‘ gegeben habe, in der europäische Integration vor allem von einsichtigen Politikern und vor dem Hintergrund hehrer Motive neu erfunden worden sei. Erst mit der sich seit den 1960er und 1970er Jahren wandelnden politischen Kultur in Europa – und hier sind wir wieder bei der von Oldenziel und Hård postulierten Epochenschwelle – geriet, so Kaiser und Schot, die bereits im 19. Jahrhundert entstandene europäische Kooperationskultur der hidden integration in eine bis heute nicht überwundene Legitimations- und Funktionskrise, die letztlich den Abschied von zentralen Regeln des Technokratischen Internationalismus einleitete. Die besondere Stärke dieses vierten Bandes der Making Europe-Reihe liegt darin, dass er sehr anschaulich die sich im 19. Jahrhundert formierende international machinery und deren langanhaltenden Einfluss auf den europäischen Integrationsprozess verdeutlicht. Europa bleibt dabei freilich ein Konstrukt mit unscharfen, fließenden Grenzen, ein Raum, dessen Ausdehnung davon bestimmt wurde, wer an der Technokratischen Internationale mitwirkte, wer, möglicherweise auch ohne unmittelbar beteiligt zu sein, aus politischen und ökonomischen Gründen Regelungen und Normen akzeptierte, um von der Integration zu profitieren. Deutlich wird auch, dass es schon seit dem 19. Jahrhundert Akteure aus Frankreich und Deutschland waren, die im Zentrum der porträtierten international machinery standen, und zwar über drei Kriege hinweg und ungeachtet einer auch propagandistisch inszenierten so genannten Erbfeindschaft. Trotzdem behalten die Autoren auch die zahlreichen anderen mehr oder minder peripheren Akteure im Blick, thematisieren die Sonderrollen Großbritanniens und Russlands und vermeiden es dankenswerterweise auch für die Zeit nach 1945, ihren Blick ausschließlich auf Westeuropa zu fokussieren. Insgesamt handelt es sich auch bei diesem Band um ein eindrucksvoll breit angelegtes Buch, dem es gelingt, eine weite Perspektive auf den Prozess der europäischen Integration zu eröffnen. Er trägt damit zu einem besseren Verständnis der Eigenheiten, aber eben auch der Schwächen und Defizite des europäischen Integrationsprozesses bei. Was den vorliegenden Band allerdings auch auszeichnet, ist sein eher deskriptiver Charakter. Hier werden Geschichten von Organisationen und Akteuren erzählt, die erst im zusammenfassenden Schlussteil in stärkerem Maße analytisch verdichtet werden. Die von den individuellen und institutionellen Akteuren verfolgten diskursiven Strategien zur Etablierung, Durchsetzung und Rechtfertigung ihres Vertretungs- und letztlich 224 REZENSIONEN /REVIEWS Machtanspruchs bleiben undeutlich. Die Modifikationen respektive Deformationen der Kooperationskultur und deren Funktion für und in den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts spielen eine relativ geringe Rolle, wobei zugestanden sei, dass Kaiser und Schot eben ausdrücklich die Kontinuitätslinien in den Mittelpunkt stellen wollen. Außerdem muss in diesem Zusammenhang natürlich auf den oben vorgestellten Band von Kohlrausch und Trischler verwiesen werden, in dem sich die beiden ja in einer Kaiser und Schot ergänzenden Perspektive mit technisch-wissenschaftlichen Experten und deren Rolle für den europäischen Integrationsprozess auseinander setzen. Mit dieser letzten Bemerkung komme ich noch einmal auf den eingangs thematisierten Charakter der Reihe zurück: Die drei hier besprochenen Bände verdeutlichen sicherlich das Gesamtkonzept, insofern als sie einen je spezifischen, aber sich partiell eben auch überlappenden und gegenseitig ergänzenden Blickwinkel auf den Prozess des Making Europe eröffnen. Die einzelnen Bände funktionieren dabei auch jeder für sich, erzählen aber vor allem in ihrer Kombination eine multiperspektivische Geschichte der europäischen Integration seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Angesichts des Hauptnarrativs der Serie, nämlich der wesentlich durch neue Technologien als Aktanten bestimmten Herstellung transnationaler Beziehungen in Europa, kann es kaum verwundern, dass uns zwar eine Vielzahl relevanter Akteure begegnen, mindestens in den drei hier vorgestellten Bänden aber vor allem technisch-wissenschaftliche Experten eine zentrale Rolle spielen (durchaus auch im ersten Band zu den Nutzern und Nutzerinnen). Das Verhältnis zwischen struktur- und akteursorientierter Erzählweise wird in keinem der Bände explizit thematisiert, sondern bleibt in den gewählten Erzählweisen implizit. Letztlich gelangen Kaiser und Schot sowie Kohlrausch und Trischler aus entgegengesetzten Richtungen kommend zum gleichen Spannungsfeld: Ersteren geht es eigentlich um die Organisationen und deren Entwicklung und prägende Kraft, was aber ohne die Individuen und deren Netzwerke nicht zu verstehen ist; letzteren geht es eher um die individuellen Experten, aber da stellt sich dann die Frage, in welchen Institutionen diese produziert werden und in welchen sie agieren. Dass dies kaum explizit reflektiert wird, weder für Einzelbände noch für die Reihe insgesamt, mag auch mit dem Anspruch zusammenhängen, für eine breite Leserschaft zu schreiben. Für ein zusammenfassendes Fazit ist es auf der Basis von dreien der geplanten sechs Bände sicher noch zu früh. Dass das Gesamtkonzept der Serie, nämlich die Geschichte der europäischen Integration als das Ergebnis einer wesentlich materiell bestimmten Realität zu interpretieren und in einer Kombination von im engeren Sinne technikhistorischen mit politik-, wirtschafts-, sozial- und kulturhistorischen Ansätzen zu präsentieren, 225 . REZENSIONEN /REVIEWS REZENSIONEN /REVIEWS funktioniert, und zwar sehr gewinnbringend funktioniert, zeigen aber schon die hier vorgestellten Bände. Selbstverständlich ist dabei auch die Making Europe-Serie selbst eine Manifestation des (west)europäischen Integrationsprozesses sowie das Ergebnis europäischer Forschungsförderung. Die Autoren sind also selbst transnational kooperierende Experten in einem Europa in the making. Dieser Manifestation europäischer Integration ist die breite Leserschaft zu wünschen, die sie erreichen möchte. Reinhold Bauer, Stuttgart 226