Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                
Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2014 I Informeller Urbanismus Einführung Über lange Zeit war die Fachdiskussion über Informalität in der Stadtentwicklung auf Entwicklungsländer und Krisenregionen bezogen und mit fehlenden formellen Regelungsstrukturen und notdürftigen Infrastrukturen, nicht selten mit Illegalität assoziiert. Dies ist jedoch eine Verkürzung, die das Naheliegende ausblendet: die Bedeutung des Informellen auch in den postindustriellen Ländern. Denn in europäischen und nordamerikanischen Städten werden immer öfter konventionelle Top-DownPlanungsansätze mit ihren tradierten Akteurskonstellationen hinterfragt. Aktuelle Konzeptionen urbaner Governance sehen die Produktion von Räumen nicht länger von den Planungen der Kommune ausgehend. Demnach entwickeln sich die Räume als Konglomerat von in weiten Teilen informellen Prozessen durch Eigeninitiative von unternehmerischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Aus diesem Grund soll das Informelle im Rahmen dieser Ausgabe der Informationen zur Raumentwicklung neu betrachtet werden: als allgegenwärtiger Bestandteil städtischen Lebens – und von Stadtentwicklungspolitik. Dieses informelle Handeln von Akteuren und seine Bedeutung für die Stadtentwicklung lassen sich allerdings nicht so leicht auf den Punkt bringen. Es liegt geradezu in der Charakteristik des Informellen, dass es in einer Gegenposition zur offiziellen Stadtplanung, zumindest jedoch in einem toten Winkel entsteht. Die Aktivitäten informeller Akteure basieren nicht auf Maßnahmenkatalogen stadtplanerischer Handlungskonzepte, sondern auf den Alltagsbedürfnissen sozialer Gruppen, selbstorganisiert und oft widerständig. Wenn heute in Stadtentwicklungsdiskursen das Informelle betont wird, dann vor allem aus zwei Gründen: mit der Vorstellung von eifrigen Gärtnern, die im öffentlichen Raum identitätsstiftende Blüm- Stephan Willinger chen pflanzen. Oder in der Hoffnung, zivilgesellschaftliche Akteure könnten in finanzschwachen Städten informell (also ohne Honorar) Aufgaben der Daseinsvorsorge übernehmen. Diese neue Begeisterung der formellen Seite für das Informelle erscheint so recht einäugig. Denn es handelt sich in der Realität um ein weitaus breiteres Feld von Aktivitäten, für die eine Sortierung im Hinblick auf Stadtentwicklungsfragen noch aussteht, vor allem auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zur offiziellen Stadtplanung. Dies ist manchmal rebellisch (vgl. Harvey 2013), immer aber eigensinnig. Unter den Begriff Informeller Urbanismus soll im Rahmen dieses Heftes eine spezifische Form der Raumproduktion und Raumnutzung verstanden werden, die im städtischen Alltagsleben wurzelt und ihre Anlässe weniger in der Anbindung an formelle Planungsverfahren als in der Befriedigung praktischer Bedürfnisse hat. Aus Stadtentwicklungssicht verweist der Begriff somit auf eine Fülle von Aktivitäten, die zur Stadtentwicklung zwar beitragen, ihr aber bislang kaum zugerechnet oder als sinnvolle strategische Bausteine anerkannt wurden. Manche dieser Aktivitäten (Urban Gardening, Zwischennutzungen) rücken mittlerweile näher an das Instrumentarium der Stadtplanung heran, andere (Trendsportarten, Offene Werkstätten) lassen sich weniger leicht integrieren. Annäherungen Hätte das BBSR dieses Thema vor zehn Jahren aufgegriffen, so wären die Beiträge sicher in weitaus stärkerem Maße von der Entwicklung neuer Megacities in der südlichen Hemisphere geprägt gewesen. Dies stellt sich im Jahr 2014 völlig anders dar. Denn ausgelöst vor allem durch einen neu- Stephan Willinger Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Deichmanns Aue 31–37 53179 Bonn E-Mail: stephan.willinger@ bbr.bund.de II Stephan Willinger: Einführung en Umgang mit leerstehenden Flächen und Gebäuden in schrumpfenden Regionen haben sich in Mitteleuropa innovative zivilgesellschaftliche Aneignungsformen des städtischen Raums herausgebildet. Eine Thematisierung in 2014 kann daher Anwendungsbeispiele und eine breite Diskussion auch in Deutschland reflektieren und die Diskussionsstränge und Stadtentwicklungsstrategien aus Afrika und Asien als Referenz nutzen. Zwar ist Informeller Urbanismus beileibe kein neues Phänomen in der mitteleuropäischen Stadtentwicklung. Eine Grundhypothese dieses Heftes ist jedoch, dass es sich gerade in Deutschland um ein wachsendes Phänomen handelt, mit einer zunehmenden Wahrnehmung in der Gesellschaft – und mit einer auch real vergrößerten Bandbreite an Aktivitäten und einem sich ausdifferenzierenden Akteursspektrum. Betrachtet man nur die jüngsten Veröffentlichungen in diesem Feld, so zählen hierzu etwa Kulturprojekte, selbstorganisierte Sportgelegenheiten für Jugendliche, Gemeinschaftsgärten, Dorftreffs und Bürgergruppen, Läden zur Erhaltung der Nahversorgung, selbstverwaltete Wohnprojekte, Bürgerbusse, FabLabs und Repair Cafés, Bürgerenergiegenossenschaften und Bürgerstiftungen, ebenso Bürgerinitiativen und Occupy-Gruppen. (vgl. hierzu etwa Stadt der Commonisten 2013; Urban Catalyst 2013) Das Interesse an einer Auseinandersetzung mit diesen Aneignungsformen städtischer Räume hat in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlichsten Perspektiven einen deutlichen Aufschwung erfahren und neue zivilgesellschaftliche Bündnisse, Konzepte und Widerstandsformen entstehen lassen. Auf universitärer Ebene gibt es neue Masterstudien und Lehrgänge, dazu kommen zahlreiche Ausstellungen, Publikationen, Kongresse. Hierzu zählen etwa die Ausstellungen Hands-On Urbanism im Architekturzentrum Wien, die Tagung Ephemere Stadtentwicklung des Planungslabors der TU Berlin, Making City als Thema der Rotterdam Biennale, Stadt selber machen als Aufgabenstellung einer Hochschulkooperation der Nationalen Stadtentwicklungspolitik, das Projekt Nospolis der Initiative stadtbaukultur Nordrhein-Westfalen, die StadtBauwelt „Een Nieuw Perspectief“ u.v.m. Die Beziehung zum Formellen Informalität, informelle Projekte und ihre Akteure – sie stehen nicht für sich. Nach Ansicht von Roy (mit Bezug vor allem auf die informellen Siedlungen in den Metropolen des globalen Südens) wird Informalität „durch den Staat produziert. Planung ist Teil dieses Unterfangens. Sich mit Informalität auseinanderzusetzen bedeutet daher auch immer sich damit auseinanderzusetzen, wie der Planungsapparat Ungeplantes und Unplanbares produziert.“ (Roy 2011: 155f. eigene Übersetzung) Roy markiert damit einen wichtigen Aspekt zur Erforschung des Informellen, nämlich dessen Verhältnis zu den formellen, staatlich formulierten Definitionen städtischer Ordnung. Dieses Verhältnis ist jedoch nie abschließend festgelegt, es ist wandelbar, unterschiedlich von Stadt zu Stadt, von Milieu zu Milieu. Zwar gibt es natürlich auch in Europa einen staatlichen Einfluss bei der Produktion von Informalität in der Stadt. Doch als feststehendes Kriterium eignet sich die rechtliche Sicht des Staates nicht. Dies stützt auch Saskia Sassen, die im Hinblick auf den Charakter informeller Ökonomien feststellt: „Ich meine damit, dass es hier weder um Rechtsverletzung noch Rechtsbefolgung geht. Es gibt einfach neue Realitäten, die in Lücken existieren. … Wir haben es vielmehr mit neuen Entwicklungen zu tun, auf die das Recht noch nicht eingestellt ist.“ (Sassen 2013: 113) Zum Verständnis des Informellen ist die dualistische Gegenüberstellung mit dem Formellen daher immer nur ein Behelf. Was jeweils zum Einen oder Anderen gezählt wird, ist äußerst variabel. Diese Bewertungen können sich verschieben, schon verschoben haben, sind sozial codiert und in pluralen Gesellschaften sicher nicht homogen. „If formality operates through the fixing of value, including the mapping of spatial value, then informality operates through the constant negotiability of value and the unmapping of space.“ (AlSayyad/Roy 2004: 5) Die Verhandelbarkeit von Werten zeigt, wie das Beobachtungsschema Informeller Urbanismus oszilliert, von Betrachter zu Betrachter variiert und sich über die Zeit verändert. Informalität ist immer kontextuell, situativ, relational. Grundlage einer reflektierten Beschäftigung mit den Phänomenen des Informellen Urbanismus sollte daher Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2014 der Abschied von dem Paar Ordnung/Unordnung sein. „Es gibt sie nicht. Sie sind beide Erfindungen eines dualistischen Denkens, das sich in vornehmer Distanz zur Realität aufhält.“ (Bovelet 2011: 7) Stadtentwicklungsrelevanz Eine realistische Annäherung an die Phänomene des Informellen Urbanismus wird daher viele Projekte entdecken, in denen die Welten des Alltags und der Stadtentwicklung bereits aufeinander bezogen sind und sich überraschende thematische Verbindungen auftun. Der Blick dieses Heftes richtet sich auf die Selbstdefinitionen der Akteure, vor allem aber auf die Resonanzen ihrer Projekte in der Stadtgesellschaft und auf ihre Beziehungen zur Stadtplanung. Damit rückt das Thema zugleich an die neuen Governanceformen, die veränderte Rolle der Zivilgesellschaft, das Instrumentarium des Stadtumbaus und an die Zukunft des Städtischen insgesamt heran. Einige Bezüge zu stadtentwicklungsrelevanten Handlungsfeldern werden im Folgenden angedeutet: Informelles als Basis von Resilienz Resilienz in der Raumplanung scheint ein Ansatz zu sein, der das Potenzial für eine langfristige Strategie besitzt. (vgl. BBSR 2013) Das Konzept der Resilienz beschreibt die Fähigkeit zur eigenständigen Erneuerung eines Systems. Auch wenn dies bislang vor allem in Form von staatlichen Strategien diskutiert wird – die Krisenfestigkeit von Metropolregionen, Städten, Gemeinden oder ländlichen Räumen kann sicher nicht nur durch städtebauliche oder infrastrukturelle Maßnahmen erreicht werden. Im Gegenteil: will man die Verletzlichkeit unserer Städte minimieren, dann geht dies nur über eine Stärkung der Selbstorganisationskräfte der Zivilgesellschaft. So können die Akteure des Informellen Urbanismus zu einer Balance zwischen Autarkie und Austausch, Redundanz und Vielfalt sowie Flexibilität und Stabilität und damit zur Krisenfestigkeit unserer Städte beitragen. Informelles als Träger der Daseinsvorsorge Ganz konkret wird dieses Potenzial des Informellen, wenn man die städtischen und III dörflichen Infrastrukturen betrachtet, die noch vor wenigen Jahren zur selbstverständlichen Ausstattung gehörten. In ländlichen Räumen, aber aufgrund von kommunaler Finanzknappheit durchaus auch in Stadtregionen, steht der Betrieb von Bibliotheken, Schwimmbädern, Kindergärten, Tierparks u.v.m. in Frage. In vielen Fällen springen hier mittlerweile zivilgesellschaftliche Gruppen in die Bresche, indem sie Leistungen übernehmen. Besonders bemerkenswert ist das wachsende Engagement sogenannter Bürgerstiftungen, die sich nicht nur finanziell in öffentliche Bereiche einbringen, sondern immer selbstbewusster auch Trägerschaften übernehmen. Informelles als Zeichen von Kreativität Ein weiterer Aspekt ist die wachsende Bedeutung von Kreativität in den Diskursen zur Stadtentwicklung. Wurde dabei zunächst auf die Förderung von Kreativität als kommerzielle Dienstleistung gesetzt, so verbreitet sich mittlerweile ein weitergehendes Verständnis demzufolge die „bad practice“ des „ignoring community input“ ein Hindernis kreativer Stadtentwicklung ist, wie Charles Landry (2008: 208) formulierte. Kulturelle Zwischennutzungen mit ihren fließenden Übergängen zwischen kreativer Szene und normaler Zivilgesellschaft haben dazu beigetragen, dass Chancen auf eine räumliche und wirtschaftliche Restrukturierung immer öfter auch mit informellen Aktivitäten assoziiert werden. Zur Ästhetik des Informellen Interessant ist in diesem Zusammenhang die große Begeisterung, die vor allem Architekten informellen Siedlungen und dem Selberbauen entgegen bringen. Kritische Stimmen befürchten dabei, dass das Staunen über die innovativen Lösungen, die kreative Wiederverwertung von Reststoffen und den ästhetischen Reiz der Formen einer gebastelten Stadt teilweise an eine Romantisierung grenzt, die die kargen Lebensbedingungen und die Vorzüge einer Toilette mit Wasserspülung in Vergessenheit geraten lässt. So spricht Hagemann „von einer ästhetischen Ausbeutung des „Informellen“ …, wenn die Wellblechhütten-Ästhetik des Slums in künstlerische Projekte und Architekturentwürfe übersetzt wird oder wenn spontane Raumaneignungen in IV Stephan Willinger: Einführung wohlorganisierten Kultur- oder Planungsprojekten simuliert werden.“ (Hagemann, 2012: 78) Allerdings beruht diese Sichtweise auf den Schemata einer „ausgebeuteten“ (südlichen) und einer „imperialistischen“ (nördlichen) Kultur und vereinfacht so die wesentlich komplexeren Wirkungsweisen kultureller Strömungen in der Postmoderne wie auch die durchaus reflektierte Auseinandersetzung der Debatte über Macht und sozialen Fragen. Beispiele sind viele Tagungen, Ausstellungen und Veröffentlichungen. Auch Hagemann gesteht zu: „Nachhaltige städtische Entwicklungen sind ohne einen akzeptierenden Umgang mit dem informellen Bauen nicht mehr denkbar, dazu gehört auch die ästhetische Korrektur unseres Bildes von Stadt und eine Revision unserer Auffassung von städtischer Planung. In diesem Sinne mögen selbst die ästhetisierenden Bilder der Slums die notwendige Auseinandersetzung fördern.“ (Hagemann a.a.O., vgl. a. Willinger 2007) Informelles als Nährboden für Sozialkapital Die oben dargestellte Kritik an einer naiven europäischen Rezeption des Informellen Urbanismus lenkt den Blick aber auf die Frage, wer denn hier aktiv wird und wem dies gefällt. Noch vor 10 oder 20 Jahren wäre die Antwort klar gewesen: Studenten, Künstler, bürgerliche Aussteiger. Angesichts einer immer breiteren Praxis informeller Projekte und ihrer Thematisierung in den Medien ist heute davon auszugehen, dass die positive Resonanz auf diese Projekte über junge bildungsbürgerliche Szenen weit hinausreicht. Die genauere Betrachtung zivilgesellschaftlicher Projekte zeigt denn auch, dass sich hier je nach Nutzungsfokus in vielen Fällen ganz unterschiedliche soziale Gruppen zusammenfinden. Die gemeinsame Umsetzung von Projekten erzeugt differenzierte informelle Netzwerke als ideale Träger von Sozialkapital. Informelle Politik … Nur gestreift wird in diesem Heft ein weiteres interessantes Feld des Informellen: die informelle Politik, das informelle Regieren, bei dem unter Umgehung der vorgesehenen Wege politische Entscheidungen getroffen oder zumindest vorbereitet werden. Diese Formen sind bislang eher selten Ge- genstand politikwissenschaftlicher Überlegungen und betreffen meist weniger die im Kontext der Stadtentwicklung thematisierten neuen Akteure, als die Aushandlungsprozesse mit den „üblichen Verdächtigen“ aus Wirtschaft, Parteien und staatlichen Organisationen. Hier wäre Stadtforschung gefragt, denn während die Instrumente formaler Demokratie schwächer werden, nimmt die Bedeutung informeller Demokratie in der Zivilgesellschaft zu. Abgrenzungsbestrebungen und Definitionsabsichten können leicht dazu führen, Gegenstände eher zu bereinigen, als ihre (paradoxe) Komplexität und (irritierende) Heterogenität zuzulassen. Gerade dies erscheint aber für das hier thematisierte Spannungsfeld notwendig, da weder vollendetes Wissen um die Formierungspraxis des Informellen vorliegt, noch umfangreiche Erfahrungen zur Governance des Informellen. Eine endgültige Definition wird deshalb bewusst vermieden. Die Beiträge stehen für eine Stadtforschung, die sich explizit an den Impulsen sozialer Bewegungen orientiert und den vielfältigen Verbindungen zwischen grassroots groups und aktueller Stadtpolitik nachspürt. Stadtentwicklung wird aus einer Bottom-upPerspektive betrachtet und erscheint so weniger als Steuerungsproblem denn als Umsetzungshindernis für mehr oder weniger informelle Projekte. So werden in Umkehrung der traditionellen Sichtweise die eigenständig handelnden neuen Akteure nicht als Problemgruppen konstruiert, sondern als wichtige Impulsgeber städtischer Entwicklung. Dies wiederum ist eine entscheidende Voraussetzung für die Konzeption stadtpolitischer Programme und Strategien, in denen diese Gruppen ernst genommen werden. Die Beiträge Die Beiträge des Heftes betrachten den Informellen Urbanismus aus verschiedenen Richtungen. Eine engere Darstellung der konkreten Phänomene und ihrer Akteure wechselt sich dabei ab mit analytischen Beiträgen, die die Hintergründe und Bezüge zu den Handlungsfeldern der Stadtentwicklung aufarbeiten. Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2014 Eingangs reflektiert ein Gespräch von Ulf Matthiesen und Philipp Misselwitz mit Robert Kaltenbrunner und Stephan Willinger die vielfältigen Dimensionen des Themas, seine Entwicklungsgeschichte und heutige Aktualität. Dabei erfolgt auch eine Einordnung, was von den verschiedenen informellen Akteuren zu erwarten ist und welche Konsequenzen ihre stärkere Einbeziehung in die Stadtentwicklungspolitik hat. Carolin Höfler verbindet in ihrem Beitrag mehrere Aspekte des Informellen Urbanismus: die Aneignung des öffentlichen Raumes, die Protesthaftigkeit sozialer Bewegungen und die neuartigen Formen sozialer Netzwerke im Internet. Dabei bezieht sie sich nicht nur auf die jüngeren Ereignisse in arabischen Ländern, sondern zieht eine Linie vom Tahrir-Platz in Kairo über den Syntagma-Platz in Athen, die Puerta del Sol in Madrid, den Zuccotti Park in New York bis hin zum Taksim-Platz in Istanbul. Sie zeichnet nach, wie durch die selbstorganisierte Aneignung dieser Orte differenzierte soziale Räume entstehen, in denen mit politischen Strukturen experimentiert und ein ausdrücklich anderes Politikverständnis als das etablierte entwickelt wird. Die Untersuchungen urbaner Informalität waren lange Zeit auf Lateinamerika fokussiert. Die dort erarbeiteten Untersuchungsrichtungen zu informellen Wohnungsmärkten und Siedlungstätigkeiten prägten und prägen später auch die Analysen in anderen Ländern des globalen Südens, in Afrika und Südostasien, die zuvor stark baulich-architektonisch ausgerichtet waren und nun auch die sozialen und politischen Aspekte urbaner Informalität mit in den Blick nehmen konnten. Ein Ziel dieses Heftes ist es, die in der Untersuchung der „Dritten Welt“ geschulten Informalitäts-Forschungen nach Mitteleuropa zu tragen und mit ihrer Sichtweise und ihren Fragestellungen zu einem besseren Verständnis der vielfältigen Phänomene des Informellen Urbanismus beizutragen. So sieht Appelhans in der Tradition der Entwicklungsländerforschung das Informelle vor allem als NichtFormelles und auf diese Weise von einer staatlichen Definitionsmacht Produziertes. Sie beschreibt differenziert die staatlichen Instrumente, um das Informelle mehr oder weniger behutsam zu transformieren. V Stephanie Haury zeigt am Beispiel eines Jugendsport-Projektes, dass in der Praxis vor Ort informell/formell keine gegensätzlichen Felder sind. Sie konstatiert einen hybriden Zustand des Dazwischen – und daran angepasste Raumtaktiken der Akteure bei der Projektentwicklung. Diese sind nötig, denn von der oft verlautbarten Ermöglichungskultur ist beim zivilgesellschaftlichen Engagement Jugendlicher bislang wenig zu hören. Im Gespräch mit einem der Projektverantwortlichen geht es dagegen öfter um Gesetzesdschungel, lange Genehmigungsphasen und Überforderung auf allen Seiten. Allerdings auch um die Möglichkeiten eines durchaus kreativen Umgangs staatlicher Stellen mit gesetzlichen Regelungen. Gegen welche Aspekte offizieller Stadtentwicklung richten sich heute die informellen Aktivitäten sozialer Gruppen? Wie entsteht aus einer Mangelsituation ein Impuls zum eigenen Handeln? Ist dieses Handeln eher symbolisch oder pragmatisch, richtet es sich auf eine kurze Aktion oder sollen langfristige Verbesserungen erreicht werden? Thema des Beitrags von Wolfgang Kil sind die jeweiligen Positionen unterschiedlicher Raumpioniere, Ziel ist ein Einblick in ihre Motivationen und die daraus resultierenden Aktivitäten. Dabei entstehen neue Einsichten in die ambivalenten Strategien der Akteure, ihre Zweifel und Hoffnungen. Die gemeinschaftliche Aneignung einer Fläche zum Gärtnern ist das vielleicht prägnanteste Symbol des Informellen Urbanismus. Im Hintergrund dieser scheinbar einfachen und harmonieträchtigen Sichtweise spielen aber immer auch die durchaus formellen Rahmenbedingungen von Flächenverfügbarkeit, Finanzierbarkeit und Baurecht eine entscheidende Rolle. Juliane von Hagen beschreibt, wie solche Gärten den Alltag der Nutzer verändern – und welche Ansprüche an die Macher dabei entstehen. Es entsteht das Bild eines gesellschaftlichen Modellraums, in dem gemeinschaftliche Werte erprobt werden können. Mit dem Begriff Raumunternehmen beschreiben Klaus Overmeyer und Lisa Buttenberg einen neuen Typ von Stadtentwicklern: selbstbestimmt handelnde, zivilgesellschaftliche Akteure, die sich brach gefallene Orte schrittweise aneignen, besondere Nutzungsmischungen und Netzwerke bilden VI Stephan Willinger: Einführung und über kluge Finanzierungsstrategien langfristige Perspektiven aufbauen. In dem Beitrag werden Entwicklungspfade und alternative Wertschöpfungskonzepte von Raumunternehmen dargestellt und in Bezug zur offiziellen Stadtentwicklung gesetzt. Und dann ein anderer Blick auf die Akteure des Informellen: Über Feldforschung entdeckt Andrea Benze von Vereinen geschaffene, ganz alltägliche soziale Orte. Unvoreingenommen setzt sie sich mit diesen konventionellen lokalen Akteuren und ihren durchaus kreativen Raumstrategien auseinander und spannt dabei eine Brücke zwischen analysierenden soziologischen, volkskundlichen und regionalplanerischen Blickpunkten sowie gestalterischen Aspekten. So weist sie nach, dass ein auf Kreativität fokussierendes Verständnis städtischer Informalität viel zu kurz greift und den tatsächlichen Umfang des Themas verfehlt. Stephan Willinger rückt in seinem Beitrag das übliche Verständnis zurecht, zivilgesellschaftliche (informelle) Aktivitäten seien in Deutschland bereits fest in die Stadtentwicklung integriert. Er zeigt, dass die Vielstimmigkeit heutiger Stadtentwicklungsakteure für geschrumpfte Verwaltungen weiterhin eine große Herausforderung darstellt. So gelingt es bislang nur fallwei- se, systematische Verknüpfungen zwischen formeller und informeller Sphäre herzustellen. Willinger entwickelt die Vorstellung einer neuen Stadtentwicklungspolitik, die sich strategisch für die Potenziale des Informellen öffnet. Der Informelle Urbanismus ist eine Gegenperspektive zum üblichen Planerblick. Die Stadt erscheint nicht als (teilweise misslungenes) Ergebnis von Planung, sondern als spannendes Konglomerat aus vorgefertigten und zufälligen Erscheinungen, bei denen erst herauszufinden ist, welche positiven Auswirkungen auf das Stadtleben sie haben. So lässt sich abschließend mit dem Architekten Rem Koolhaas formulieren: “Sollte es einen neuen Urbanismus geben, dann wird sich dieser nicht auf die Zwillingsphantasien von Ordnung und Omnipotenz stützen. (…) Er wird Unsicherheit stiften; er wird sich nicht länger mit der Planung mehr oder weniger dauerhafter Objekte befassen, sondern bestimmte Areale mit all dem düngen, was möglich sein könnte; er wird nicht mehr auf feste Strukturen zielen, sondern auf die Bereitstellung von Möglichkeitsfeldern für Prozesse, die sich dagegen sträuben, eine endgültige Form anzunehmen.“ (Koolhaas 2009: 12) Literatur Harvey, David: Rebellische Städte, 2013 AlSayyad, Nezar; Ananya Roy: Urban Informality: Crossing Borders in: Urban Informality. Transnational Perspectives from the Middle East, Latin America, and South Asia, 2004 BBSR: Informationen zur Raumentwicklung 4.2013: Resilienz Bovelet, Jan: Spontan urban. Stadtplanung – ein Fall für Macgyver, in: Gaffa Urbanismus. Spacemag # 2, 2010 Hagemann, Anke: Der Mainstream des Informellen: Urbanistische Forschung zwischen Romantisierung und städtischer Realität, in: Krasny, E. (Hrsg.): Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. 2012 Koolhaas, Rem; so zitiert in polis. Magazin für urban development 01/02.2009 Roy, Ananya 2011: Slumdog Cities: Rethinking Subaltern Urbanism. International Journal of Urban and Regional Research, Volume 35.2, March 2011 Sassen, Saskia: Informelle Ökonomien und Kulturen in globalen Städten. Saskia Sassen im Gespräch mit Philipp Oswalt. In: Oswalt, P., Overmeyer, K., Misselwitz, P: urban catalyst. Mit Zwischennutzungen Stadt entwickeln. Willinger, Stephan: Bilder von Aneignung und Gebrauch: die soziale Produktion urbaner Freiräume. In: BBSR (Hrsg.): Informationen zur Raumentwicklung 12.2007