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ifa-Edition Kultur und Außenpolitik Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 ifa-Edition Kultur und Außenpolitik Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Impressum Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Herausgeber: Institut für Auslandsbeziehungen (ifa); Institute for Art Education (IAE), Zürcher Hochschule der Künste ZHdK; Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin Texte: Soran Ahmed, AntiKultiAteliergruppe, Freja Bäckman, Sidar Barut, Daniela Bystron, Barbara Campaner, Ev Fischer/Annika Niemann, Stephan Fürstenberg, Alexander Henschel, Claudia Hummel, Annette Krauss, Paul Mecheril, Frauke Miera, Carmen Mörsch, Elke aus dem Moore, Persefoni Myrtsou, Rubia Salgado, Lilian Scholtes, Lena Siebertz und Deniz Sözen. Fotos: Victoria Tomaschko Redaktion: Nora Landkammer, Annika Niemann Lektorat: Annika Niemann, Ev Fischer Satz und Gestaltung: Andreas Mayer, Stuttgart Institut für Auslandsbeziehungen ifa-Galerie Berlin Leiterin Dr. Barbara Barsch Linienstraße 139/140 10115 Berlin Institut für Auslandsbeziehungen ifa-Galerie Stuttgart Leiterin Iris Lenz Charlottenplatz 17 70173 Stuttgart www.ifa.de © 2012 Institut für Auslandsbeziehungen, Text- und Bildautoren 3 INHALTSVERZEICHNIS Vorwort EINFüHRUNG 5 Elke aus dem Moore Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft 7 Institutionen – Differenzen – Praxis der Anerkennung Carmen Mörsch über Zugang hinaus 10 Nachträgliche einführende Gedanken zur Arbeitstagung „Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ Claudia Hummel Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft 20 Ein Blick auf die Ausbildung KEYNOTE Paul Mecheril Ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen SHORT CUTS – EINBLICKE IN DIE PRAXIS 26 Daniela Bystron Institutionelle Kunstvermittlung: Für wen und mit wem? 37 am Beispiel der Sonderausstellung „Who Knows Tomorrow“ der Nationalgalerie Berlin Annika Niemann/Ev Fischer Kulturen verbinden? 43 Kunstvermittlung in der ifa-Galerie Berlin Frauke Miera Die Geschichte der „Anderen“? 48 Überlegungen zum Sammeln und Ausstellen von „Migration“ Rubia Salgado Aufrisse zur Relexivität ANTIKULTI Atelier Wir gestalten zusammen neue Interessen. Das ANTIKULTI ATELIER WORKSHOPS 53 57 Workshop „Differenz nicht anerkennen“ Soran Ahmed Differenz nicht anerkennen – Workshop-Protokoll 64 Alexander Henschel Das „Wir“ ist die sichere Seite. Logische Zusammenbrüche und ihr politischer Kitt > 66 4 Stephan Fürstenberg Anfänge einer Auseinandersetzung 75 Kommentar zum Workshop „Differenz nicht anerkennen“ Workshop „Zwischenräume“ Lena Siebertz Der Tisch dazwischen – Zwischenraum als Arbeitsbegriff 78 Workshop-Protokoll Deniz Sözen Relexionen zum Workshop „Zwischenräume“ 80 Workshop „Methoden“ Sidar Barut Methoden – Wahrnehmung der Wahrnehmung 84 Workshop-Protokoll Barbara Campaner Kunstvermittlung und Migration oder: Nicht nur Selbstgespräche führen. 86 Workshop „Institutionen“ Persefoni Myrtsou Institutionen 92 Workshop-Protokoll Workshop „Professionalität“ Freja Bäckmann Professionalität 95 Workshop-Protokoll REFLEXIONEN/HINTERGRUND Annette Krauss Was heißt hier sozial? 99 Lilian Scholtes education, education, education! 103 5 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 VORWORT In Kultur- und Kunstinstitutionen ist Migration in Professionalität, Differenz nicht anerkennen und Zwi- den letzten Jahren ein viel diskutiertes Thema. Die schenräume, in denen die Tagungsteilnehmer_innen Arbeitstagung „Kunstvermittlung in der Migrati- gemeinsam Perspektiven für eine Kunstvermitt- onsgesellschaft“ im Mai 2011 ging davon aus, dass lung in der Migrationsgesellschaft suchten. angesichts der Tatsache, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben, die Debatte zur Vermitt- Mit ihrem offenen Format verstand sich die lungsarbeit in Kulturinstitutionen nicht bei Strate- Arbeitstagung als Impuls, Austausch und Ausein- gien der Publikumserweiterung und dem Schaffen andersetzung zu initiieren. Die vorliegende Publi- von Zugang stehen bleiben kann. Vielmehr bedarf kation dokumentiert die Tagungsbeiträge und geht es einer umfassenden Relexion institutioneller und Diskussionslinien aus den Workshops nach. Sie soll vermittlerischer Selbstverständnisse und Positio- ein Medium sein, die in zwei Tagen intensiver Dis- nierungen. kussion aufgeworfenen Fragen weiterzutragen und Auf Einladung der ifa-Galerien des Instituts für – anstatt einer vorschnellen Suche nach Antworten Auslandsbeziehungen, des Institute for Art Education – zu weiterer Debatte in anderen Räumen anzuregen. IAE der Zürcher Hochschule der Künste und des Insti- Eingangs formulieren Elke aus dem Moore, Car- tuts für Kunst im Kontext der Universität der Künste men Mörsch und Claudia Hummel, die Initiatorin- Berlin kamen rund 100 Kunstvermittler_innen im nen der Arbeitstagung, einführende Gedanken zur Rahmen einer zweitägigen Arbeitstagung in Berlin Tagungsthematik und ihren institutionellen Kon- zusammen, um sich mit Akteur_innen aus Theorie texten. Paul Mecheril nähert sich in seinem Beitrag und Praxis über die Herausforderungen und Gestal- dem Feld der ästhetischen Bildung aus migrations- tungsmöglichkeiten, aber auch die Widersprüche pädagogischer Perspektive an. Auf Basis der „Short des Arbeitsfeldes auszutauschen: Wie wäre eine Cuts“ stellen in weiteren Texten die AntikultiAte- Vermittlungsarbeit zu entwerfen, die Unterschiede liergruppe, Daniela Bystron, Frauke Miera, Annika anerkennt, aber Ungleichheit nicht „kulturell“ fest- Niemann/Ev Fischer und Rubia Salgado Überle- schreibt und ihre Ursachen verdeckt? Welche Mög- gungen zu ihrer Praxis in der Vermittlungs-, Kul- lichkeiten bietet gerade die Kunstvermittlung für tur- und Bildungsarbeit vor. Die fünf thematischen Verschiebungen in der Ordnung der Zugehörigkei- Workshops der Arbeitstagung gaben Anlass für ten? Wie kann eine Kunstvermittlung aussehen, die weitere Relexionen: Soran Ahmed, Sidar Barut, die Vorstellungen von Kultur und Bildung innerhalb Freja Bäckman, Persefoni Myrtsou und Lena Sie- der Institution selbst befragt und mitgestaltet? bertz, Studierende am Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin, haben Bei- Die theoretische Basis für eine Auseinanderset- träge aus ihrer Begleitung der Workshops verfasst. zung mit diesen Fragen bot das Eingangsreferat des Sie werden ergänzt durch Texte von Barbara Cam- Psychologen und Erziehungswissenschaftlers Paul paner, Stephan Fürstenberg, Alexander Henschel, Mecheril, der das Konzept der Migrationspädago- Annette Krauss, Lilian Scholtes und Deniz Sözen, gik vorstellte. „Short Cuts“ von Daniela Bystron, Ev die Debatten aus den Arbeitsgruppen aufgreifen, in Fischer/Annika Niemann, Veronika Gerhard, Nora einen größeren Kontext stellen oder mit der eige- Landkammer/Felipe Polania, Frauke Miera und nen Arbeit verknüpfen. Rubia Salgado gaben Einblick in aktuelle Praxisprojekte aus Berlin, Linz und Zürich. Sie dienten als Wir hoffen, dass die Textsammlung nicht nur Hintergrund für Workshops zu den bei der Tagung einen Einblick in die Tagung gibt, die ihr zugrunde selbst durch das Sammeln von Fragen und Anliegen liegt, sondern in ihrer Vielstimmigkeit Anlass für bestimmten Fokusthemen Institutionen, Methoden, eine Fortführung der Diskussion bietet. 6 EINFüHRUNG 7 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Elke aus dem Moore mit Wissenschaft und Medien. Es initiiert, analysiert, moderiert und dokumentiert Diskussionen Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft und Fragen der internationalen Kulturbeziehungen. Als Mittlerorganisation der Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik verstehen wir die internationale Kulturarbeit als ein Prinzip des „Voneinander lernens“2, das sowohl in den weltweit stattindenden Programmen wie auch in den ifa-Galerien in Stuttgart und Berlin Grundlage und Selbstverständ- Institutionen – Differenzen – nis sind. Dem ifa als Kulturinstitut und relektie- Praxis der Anerkennung rende Institution ist es wichtig, die Erfahrungen aus dem internationalen Kunstaustausch nach Deutsch- Die Konferenz „Kunstvermittlung in der Migrati- land zurückzuspielen. onsgesellschaft“ war eine Kooperation zwischen Als lebendiges Kulturinstitut muss auch der Kul- den ifa-Galerien des Instituts für Auslandsbeziehun- turbegriff immer wieder neu be- und hinterfragt wer- gen, Stuttgart/Berlin, dem Institute for Art Educa- den und so zum Ausgangspunkt für Austauschpro- tion der Zürcher Hochschule der Künste und dem zesse gemacht werden. Kunstvermittlung sorgt für Institut für Kunst im Kontext der Universität der einen Austausch mit anderen Wissens- und Hand- Künste, Berlin, die sowohl auf institutioneller Ver- lungsfeldern und kann somit als Impulsgeber für netzung wie auf der Verlechtung von persönlicher gesellschaftlich-soziale Transformationen dienen. Begegnung und Austausch basierte.1 Die Brisanz des Die Ausstellungen in den ifa-Galerien zeigen Themas zeigte die hohe Zahl der Anmeldungen, die Kunst, Architektur und Design aus verschiedenen Dynamik der Debatte und der Wunsch nach einer Ländern, Regionen, Kulturkreisen und Kunstsze- Fortführung dieser Diskussion. nen und verstehen sich als Plattform des Dialogs. In Veranstaltungen und Workshops werden Themen Das Institut für Auslandsbeziehungen e. V. (ifa) und Erfahrungen unterschiedlicher Öffentlichkei- engagiert sich weltweit für Kunstaustausch, den ten miteinander in Verbindung gesetzt. Die Ausstel- Dialog der Zivilgesellschaften und die Vermitt- lung wird zum Kommunikations- und Handlungs- lung außenkulturpolitischer Informationen. Als raum, in dem neue Perspektiven entwickelt und Institution im internationalen Kunstaustausch künstlerische Strategien erprobt werden können. konzipiert und organisiert das ifa weltweit Aus- Kunstvermittlungsprogramme tragen dazu stellungen, fördert Ausstellungsprojekte und ver- bei, Austauschprozesse von verschiedenen Gesell- gibt Stipendien; in den ifa-Galerien Stuttgart und schaftsgruppen in Gang zu setzen, Differenzen Berlin wird internationale Kunst, Architektur und und Gemeinsamkeiten immer wieder neu auszu- Design präsentiert und zur Diskussion gestellt. Das handeln und somit eine Verschiebung institutio- ifa vernetzt darüber hinaus Themen aus der Praxis neller Repräsentations- und Öffentlichkeitspolitiken zu bewirken. 1 „Soft Logics in der Kunstvermittlung“ war der Titel einer Konferenz, die 2004 im Künstlerhaus Stuttgart von Carmen Mörsch und Elke aus dem Moore initiiert wurde und die Schnittstellen zwischen künstlerischer Praxis einer Vermittlungsarbeit auslotete und nachhaltige Arbeitsformationen hervorrief. Siehe: Tillandsien, Projekte 2003–2004 im Künstlerhaus Stuttgart, Elke aus dem Moore (Hrsg.), Stuttgart 2005. 2 Die vom ifa beauftragte Studie „Voneinander lernen – Kunstvermittlung im Kontext kultureller Differenz“ von Wiebke Trunk untersucht Formen der Kunstvermittlung im Umgang mit kultureller Diversität mit Beispielen aus Großbritannien, Estland, Deutschland, Pakistan, Kongo; Edition Kultur und Außenpolitik, Stuttgart 2011. 8 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Kunstvermittlung ermöglicht ein Mitdiskutieren in gesellschaftlichen Transformationsprozessen.3 und Mithandeln innerhalb der Institution. Dazu ist es notwendig, die Institution selbst als etwas zu Die Arbeitstagung „Kunstvermittlung in der begreifen, das immer im Wandel und auch gestalt- Migrationsgesellschaft“ stellte zentrale Fragen, bar ist. Hierbei können Kunstvermittlungspro- die auch die Konliktfelder in unserer Gesellschaft gramme ermöglichen, das Publikum als Teil der aufzeigen, etwa: Wer spricht über wen? Mit einem Institution zu begreifen und zum Handeln zu Impuls von Paul Mecheril wurden zentrale Gedan- ermächtigen. Kunstvermittlung wird hier auch zu ken zu einer Praxis der Anerkennung formuliert. einem Mittel, die Positionierung der Institution im Mit sechs Beispielen aus der Praxis wurden Pro- Kunstfeld zu relektieren. blemstellungen umrissen, die in verschiedenen Dabei bietet der Ausstellungsraum einen Ort für Workshops bearbeitet wurden. Begegnung und Austausch verschiedener Öffentlichkeiten und Disziplinen. Ausstellungsräume Einen Ausstellungsort nicht nur zu einem Ort präsentieren nicht nur Kunst, sondern lassen sich der Präsentation, sondern auch zu einem Hand- als Denk- und Relexionsräume verstehen, in denen lungsort und zum Ort aktiver Erfahrungen zu über gesellschaftspolitische Fragestellungen disku- machen, stellt uns immer wieder vor neue Heraus- tiert werden kann und neue soziale Energien ent- forderungen. Wie sieht eine Praxis der Vermitt- stehen können. lung aus, die Ausschlüssen entgegenwirkt und die Ordnung der Zugehörigkeiten hinterfragt und ver- Um eine möglichst große Wirkung zu erzie- schiebt? Eine Praxis, die Unterschiede und Gemein- len, ist es notwendig, die Kunstvermittlung in den samkeiten anerkennt, und sie als Zugewinn und kuratorischen Prozess mit einzubeziehen. Ein Bei- Qualität herausarbeitet und einsetzt? Wie kann spiel für diese Praxis ist das ifa-Ausstellungsprojekt eine Praxis der Kunstvermittlung gestaltet werden, „prêt-à-partager“. Es basiert auf der Erfahrung des in der Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Wer- künstlerischen Austausches im Bereich der Mode tesystemen, Erfahrungen, Lebenspraxen und Tradi- und der Kultur des öffentlichen Raums und wurde tionen erkannt, miteinander in Bezug gesetzt und durch Workshops und künstlerische Konferen- in sozialer Interaktion erprobt werden, und somit in zen mit Kunstschaffenden aus Afrika und Europa gesellschaftliche Prozesse einließen können? Wie in verschiedenen Städten Afrikas und Deutsch- sehen die von vielen Theoretiker_innen genannten lands immer wieder neu gestaltet und diskutiert. Zwischenräume aus? Welche Irritationen werden Die Erfahrungen der afrikanischen Diaspora in ausgelöst und in konstruktive Veränderungspro- Deutschland spielten dabei eine zentrale Rolle. zesse überführt? Wie können soziale Räume gestal- Wenn Kunstschaffende und Publikum aus unterschiedlichen Sprach- und Erfahrungsräumen tet werden, die neue transnationale Gesellschaftsformen und Identitätsformen erproben? kommen, kann die Kunst eine gemeinsame Sprache ermöglichen. Die Kunstvermittlung hat das Poten- Viele Fragen wurden aufgeworfen, standen im zial eigene Sprachräume zu gestalten und zu eröff- Raum, wurden strittig diskutiert und weiterentwi- nen. Dennoch kommt es in internationalen Aus- ckelt. Diese Publikation beschäftigt sich mit diesen tauschprojekten oft zu Missverständnissen und Fragestellungen und wird neue hervorrufen. Unübersetzbarkeiten. Auf der Konferenz „...where we meet“ im Juni 2012 widmete sich das ifa Fragen zur kulturellen Übersetzung und der Wirkung von Kunst 3 „...where we meet. On cultural translation and art in social transformation“, im Rahmen von prêt-à-partager, ifa-Galerie Berlin zu Gast in der Werkstatt der Kulturen in Berlin im Juni 2012. 9 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Alternative Mechanismen vorzustellen, die ein In diesem Sinne wird eine nachfolgende Konferenz Nachdenken über eine Politik ermöglichen, die die Erfahrungen und Ansätze zur Kunstvermitt- die Positivität und Singularität der Einzelnen aner- lung aus anderen Ländern im deutschsprachigen kennt und Orte entwirft, an denen die Menschen Raum vorstellen und somit zu einer Bereicherung zugehörig sein können, ist die Herausforderung und in der Auseinandersetzung zur Kunstvermittlung Aufgabe einer zeitgenössischen Kunstvermittlung. beitragen. Orte zu kreieren, zu denen Menschen ihren Weg inden und als handelnde Subjekte zu einem Teil der Institution werden, muss das Ziel einer instituti- Elke aus dem Moore ist Leiterin der Abteilung Kunst onellen Kunstvermittlung in der heutigen Zeit sein. des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa). Sie studierte Literatur- und Kunstwissenschaften; von 1999– Wir können von anderen Kulturen lernen. 2002 war sie als Kuratorin für zeitgenössische Kunst Eine Politik, die auf westlich geprägten Identitäts- an der Shedhalle Zürich tätig, von 2003–2006 lei- konzepten basiert, scheint überholt und nicht tete sie das Künstlerhaus Stuttgart. Ihr kuratorischer mehr anwendbar zu sein. Allein die Subjektivität Ansatz folgt dem Prinzip der Begegnung, des Aus- beschreibt Gayatri C. Spivak als eine Kategorie des tauschs und des Dialogs. Die Verschränkung von glo- westlichen Denkens.4 Ausschlüsse werden produ- balen Fragestellungen mit lokalen Erfahrungen und ziert, wenn Differenzen nicht anerkannt werden.5 Praktiken bestimmen die programmatische Ausrich- Um diese erkennen, verstehen und letztlich aner- tung der Arbeit im Bereich Kunst des ifa. kennen zu können, ist ein stetiger Austausch notwendig. Eine zeitgenössische Kunstvermittlung aktiviert das Wissen und den Erfahrungsraum jedes einzelnen Akteurs. Die Chancen und Herausforderungen einer Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft liegen in einer Praxis, die auf der Vermittlung und Anerkennung von Identitätskonzepten anderer, nicht-westlicher Kulturkreise basiert. Neue Kategorien des gesellschaftlichen Ausschlusses müssen dabei mitbedacht werden, wie z. B. die Differenzen, die durch unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten entstehen.6 4 Gayatri Chakravorty Spivak (1988): „Can the Subaltern Speak?“, in: Cary Nelson, Lawrence Grossberg (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press, S. 272–313. 5 Vgl. Paul Mecheril (2010): Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz, S. 181 f. Mit dem Thema „Differenz nicht anerkennen“ beschäftigte sich auch ein Workshop der Arbeitstagung „Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“, vgl. die Beiträge von Soran Ahmed, Alexander Henschel und Stephan Fürstenberg in dieser Publikation. 6 Lawrence Grossberg beschreibt Subjektivität als Verbindungspunkte, von denen wir aus die Welt erfahren. Kategorien wie Geschlecht, Rasse, Klasse ergänzt er mit der Beschreibung von vier Vektoren der Bewegungsmöglichkeit. Er unterscheidet „erstens eine Bevölkerung, die weitgehend demobilisiert ist, die nur wenige oder gar keine Möglichkeiten mehr hat, aus im Voraus deinierten und geschlossenen Räumen zu entkommen; zweitens eine Bevölkerung mit hochgradig eingeschränktem, aber extensivem Leben der Mobilität; drittens eine hochmobile Bevölkerung, die von bestimmten Schlüsselorten gleichwohl ausgeschlossen ist; und viertens eine in einem selbstgewählten, immer festungsähnlicher werdenden, abgeschlossenen Raum lebende Bevölkerung, der jedoch als Resultat einer ganzen Reihe von Technologien ein außergewöhnliches Maß an Mobilität aus diesem Raum gewährt wird.“ Rainer Winter (Hrsg.) (2007): Die Perspektiven der Cultural Studies. Der Lawrence Grossberg Reader. Köln: Halem, S. 56 ff. 10 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Carmen Mörsch „Die Kultureinrichtungen sollten den interkulturellen Dia- über Zugang hinaus log als eine Schwerpunktaufgabe begreifen. Überwiegend gefördert durch öffentliche Mittel, werden sie damit auch ihrer sozialen Mitverantwortung gerecht“2, Nachträgliche einführende Gedanken zur Arbeitstagung „Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ schreibt der „Nationale Integrationsplan“ der Deutschen Bundesregierung von 2007 vor. Bereits in den 1990er-Jahren wurde das Konzept der Interkulturalität aus postkolonialer Perspektive scharf kritisiert. Diese Kritik konnte auch I. Weghören lohnt sich von deutschsprachigen Leser_innen zur Kenntnis genommen werden. So wies Rustom Bharucha 3, Regisseur, Dramaturg, Museumsberater und The- In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts (genauer: oretiker aus Kalkutta, in der Zeitschrift „Theater seit dem Einsturz der Twin Towers in New York am der Zeit“4 1995 darauf hin, 11. September 2001) ist die Frage nach der Positio- „daß Interkulturalismus weder einfach ein spontanes nierung und den Handlungsmaximen von Kultur- Zusammentreffen von Unterschieden, noch die euphori- institutionen in der Einwanderungsgesellschaft ein sche Rückkehr in einen Zustand vor-(national)staatlichen Thema geworden. In diesem Zusammenhang ist die menschlichen Zusammenseins oder lediglich eine Frage Vermittlung mit ihrem professionellen Wissen und der Dominanz eines kulturellen Systems über ein ande- Können immer dann gefragt, wenn es um „Publi- res ist. (Für letzteres spricht allerdings schon allein die kumserweiterung“, um das „Schaffen von Zugang“ Tatsache, daß Interkulturalismus unverändert vom Wes- oder die Entwicklung „zielgruppenorientierter ten finanziert, theoretisiert und rhetorisiert wird, wäh- Angebote“ geht. Das Konzept der „Interkulturali- rend nicht-westliche Kulturen auf Material, Techniken und tät“ und des „interkulturellen Dialogs“ ist dabei der Sachverständnis unter minimaler Eigenbeteiligung redu- dominierende Zugang im deutschsprachigen Raum, ziert werden. Vor allem aber sind sie so gut wie gar nicht wie sich an einer großen Zahl von Projekten, Stu- an der Konzeptionierung des Rahmens beteiligt, in dem dien, Handreichungen und Konferenzen zeigt.1 eine interkulturelle Begegnung platziert wird.) Wie auch 1 Einige Beispiele: Tagungen: „inter.kultur.pädagogik“, Berlin 2003; „Interkulturelle Bildung – Ein Weg zur Integration?“, Bonn 2007; „Migration in Museums: Narratives of Diversity in Europe“, Berlin 2008; „Stadt – Museum – Migration“, Dortmund 2009; „MigrantInnen im Museum“, Linz 2009; „Interkultur. Kunstpädagogik Remixed“, Nürnberg 2012. Forschung/Entwicklung: „Creating Belonging“, Zürcher Hochschule der Künste, gefördert von SNF 2008–09; „Migration Design. Codes, Identitäten, Integrationen“, Zürcher Hochschule der Künste, gefördert von KTI 2008–2010; „Museums as Places for Intercultural Dialogue“, EU-Projekt 2007–09; „Der Kunstcode – Kunstschulen im Interkulturellen Dialog“, Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V. (BJKE), gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005–2008; „Museum und Migration: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund als Zielgruppe von Museen“, Linzer Institut für qualitative Analysen (LIquA), im Auftrag der Stadt Linz und des Landes Oberösterreich, Abteilung Soziales und Institut für Kunst und Volkskultur 2009–2010. Publikationen und Handreichungen: Handreichung zum Schweizerischen Museumstag 2010; KulturKontakt Austria (Hrsg.) (2008): hautnah. Beispiele partizipativer Kunstvermittlung im interkulturellen Dialog, Wien; Vera Allmanritter, Klaus Siebenhaar (Hrsg.) (2010): Kultur mit allen! Wie öffentliche deutsche Kultureinrichtungen Migranten als Publikum gewinnen, Berlin: B&S Siebenhaar; Zentrum für Audience Development der FU Berlin (2009): Migranten als Publika von öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen – Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite. Download unter http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/zad/news/zadstudie.html (16.4.2012) 2 http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Archiv16/Artikel/2007/07/Anlage/2007–10–18–nationaler-integrationsplan.pdf ;jsessionid=B539E5CFD074D936938204F4B9C8FDBE.s3t2?__ blob=publicationFile&v=2, (9.4.2012) 3 Ich danke Nicola Lauré al-Samarai und Fouad Asfour für ihren Hinweis auf diesen Autor. 4 Theater der Zeit ist mit 5000 verkauften Exemplaren eine der aulagenstärksten Monatsschriften im deutschsprachigen Theaterbereich. Sie wurde 1946 gegründet und erscheint zehnmal jährlich. 11 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 immer, wenn Interkulturalismus auch nicht ausschließ- Der Begriff „Dialog“ evoziert die Vorstellung eines lich durch Dominanz entsteht, so doch durch eine Serie Austauschs unter gleichberechtigten Parteien. von Komplizenschaft zwischen Machtsystemen, die letzt- Jedoch bildet ein massives und kaum zu verschie- lich durch den Staat und zunehmend durch den Markt bendes, weil hegemonial strukturiertes, institutio- (was in vielen Fällen ein und dasselbe ist) bestimmt wer- nalisiertes und in historisch kolonialen und aktuell den. Welche „Autonomie“ auch immer eine interkulturelle neokolonialen Verhältnissen permanent sich repro- Begegnung für sich in Anspruch nimmt, sie wird unweiger- duzierendes Machtungleichgewicht den Ausgangs- lich begrenzt durch dieses größere Szenario.“5 punkt von Unternehmungen unter dem Vorzeichen des „interkulturellen Dialogs“. Der Fokus auf „Kul- Die von Bharucha vorgebrachte Kritik geht über tur“ und „Hybridität“ trägt dazu bei, die Faktoren, das 1992 von dem Philosophen Wolfgang Welsch die dieses Machtungleichgewicht bestimmen – zum propagierte Verwerfen von „Multikulturalität“ und Beispiel die ungleiche Verteilung von Ressourcen „Interkulturalität“ als auf einem veralteten, essen- wie Geld, Bildung oder Deinitionsmacht, die unter- tialistischen Kulturbegriff fußenden Konzepten schiedlich gute Kapitalisierbarkeit verschiedener zugunsten einer Idee von „Transkulturalität“ hin- Wissensbestände (oder auch gesprochener Spra- aus.6 Denn sie benennt die fortdauernde Effektivität chen), genauso wie die Allgegenwart von alltägli- dieser Konzepte im Kampf um den Erhalt symboli- chem und strukturellem Rassismus – unbenannt scher, politischer und ökonomischer Vorherrschaft. und unverändert zu lassen. In Kultureinrichtun- Kritik am „interkulturellen Dialog“, an „inter- gen kommt hinzu, dass Vorstellungen davon, was kultureller Kompetenz“, an zeitgenössischen Inst- wichtige und im Sinne einer „integrierenden“ Bil- rumentalisierungen von „Integration“ genauso wie dungsfunktion geeignete kulturelle Hervorbrin- an einem naiv-euphorischen Zugang zu „Hybridität“ gungen und Praktiken wären, die Norm darstellen wird seit Jahren auch von migrantischen und mehr- und kaum ernsthaft, das heißt mit entsprechenden heitsangehörigen Aktivist_innen, Kulturschaffen- Konsequenzen, hinterfragbar sind. den und Theoretiker_innen im deutschsprachigen Angesichts der Schwere dieser Einwände stellt Raum eindringlich und wiederholt vorgebracht . sich die Frage, warum Interkulturalität und insbe- Hier der Versuch, einige ihrer Problematisierun- sondere der interkulturelle Dialog so persistente gen zusammenzufassen: und attraktive Konzepte sind. Warum ist der von 7 einigen Kritiker_innen vorgeschlagene Gegenent5 Rustom Bharucha: „Wem gehören die Bilder? Interkulturelle Theaterarbeit“, in: Theater der Zeit, Heft 09/1995, S. 23 ff. wurf, nämlich ein politischer Antirassismus8 im 6 Wolfgang Welsch: „Transkulturalität“, in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hrsg.) (1995): Migration und Kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch, 45. Jg. 1995, Stuttgart: ConBrio. 8 Das Konzept des Politischen Antirassismus unterscheidet sich analytisch, aber auch strategisch von anderen, psychologisierenden oder moralisierenden Konzepten. Rassismus wird nicht als punktuelles Phänomen oder individuelles Fehlverhalten verstanden (etwa als Effekt von menschlichen Urängsten oder Deklassierungssyndrom von Modernisierungsverlierer_innen), sondern als Struktur, die hegemoniale Machtverhältnisse, Diskurse und Praktiken prägt. Strategisch setzt politischer Antirassismus weniger auf wohltätige Stellvertreterpolitik, die sich für die Opfer von Rassismus einsetzt, sondern auf die Sichtbarmachung rassistischer Strukturen auf allen gesellschaftlichen Ebenen und auf die Ermächtigung von marginalisierten oder diskriminierten Subjekten selber, gerade auch in der Bildungsarbeit. Vgl. Lubomir Bratič (Hrsg.) (2002): Landschaften der Tat. Vermessung, Transformationen und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa. St. Pölten: SozAKTIV. 7 Stellvertretend seien entlang der oben aufgeführten Stichworte hier nur drei Publikationen aufgelistet: Kien Nghi Ha (2004): Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag. Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hrsg.) (2007): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Colour auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster: Unrast. Sabine Hess, Jana Binder, Johannes Moser (Hrsg.) (2009): nointegration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Bielefeld: Transcript. 12 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Zeichen kritischen Weißseins9, der aktiv an der „Zugang für Migrant_innen“ zu schaffen, sichert Veränderung von Verhältnissen im Sinne einer den Institutionen ihre hegemoniale Position in Umverteilung von Ressourcen arbeitet, offenbar Bezug auf die oben angeführten Ressourcen und so ungleich weniger einladend? Warum werden Machtverhältnisse. Sie ermöglichen es ihnen, sich die hier umrissenen Kritiken von den Kulturein- selbst ähnlich zu bleiben12 und gleichzeitig „ihrer richtungen, genauso wie von den Praktiker_innen sozialen Verantwortung gerecht zu werden“. Die der Kulturvermittlung, den Akteur_innen der Kul- Arbeit mit einem sichtbar als „migrantisch“ mar- tur- und Bildungspolitik und von weiten Teilen kierten, aus bildungsbürgerlicher Perspektive der in diesem Feld sich etablierenden Evaluator_ benachteiligten und ausgeschlossenen Publikum innen und Praxisforscher_innen bislang so selten bedeutet für die Kultureinrichtungen zunächst gehört?10 Eine Antwort könnte lauten, dass es genau einmal eine Legitimation von staatlicher Finan- die in der Kritik beschriebenen Effekte sind, die das zierung.13 Darüber hinaus wecken die vermeint- Überhören nahelegen. Es könnte sich mit Gayatri lich „Kulturanderen“ das Begehren von Kulturver- C. Spivak um eine Spielart „belohnter Ignoranz“11 mittler_innen, die die antielitäre Aufforderung handeln – eine kollektiv perpetuierte Uninfor- der 1970er-Jahre, „Kultur für Alle“ zugänglich zu miertheit, die keine Peinlichkeit auslöst, weil sie machen, verinnerlicht haben und versuchen, sie die Grundlage dafür bildet, die eigene Vormacht- weiterhin als bestimmende Handlungsmaxime stellung zu behaupten. Die Herangehensweise in ihre Arbeitswirklichkeit zu übersetzen – ohne des „interkulturellen Dialogs“ und der Imperativ, dabei aktiv-relexiv mit dem Paradox zu arbeiten, dass eine Anerkennung von Benachteiligung und 9 „Sich mit dem eigenen Weißsein zu beschäftigen, heißt Weißsein in den gesellschaftlichen rassistischen Kontext zu stellen und die eigene Verstrickung darin zu relektieren.“ Elena Bandalise/Fei Kaldrack/Dorothea Schütze: „Weißsein – was geht mich das an? Verunsicherung als Notwendigkeit“ (2006), in: DOKUMENTATION TAGUNG – Transkulturelle Teams. Ein Qualitätsstandard in der sozialen Arbeit?! Mädchentreff Bielefeld. Download unter: http:// www.maedchentreff-bielefeld.de/download/doku_transkulturelle_teams.pdf, 16.4.2012. Ausgeschlossensein immer auch deren Wiederho- 10 Wobei mit „Hören“ hier eine aktive Tätigkeit bezeichnet ist, die sich z. B. auch in Einladungs- und Beauftragungspolitiken und Autor_innenschaften bei o. g. Tagungen, Publikationen und Wegweisungen niederschlagen würde – bisher sind fast alle der an ihnen Beteiligten Angehörige der weißen Mehrheit und in Ausnahmefällen Angehörige von Minderheiten, die beide die dominanten Konzepte afirmieren. Eine Ausnahme bildet aktuell die Einladung von Paul Mecheril als Vortragender auf dem Bundeskongress der Kunstpädagogik im April 2012 in Nürnberg, mit dem Titel „Interkultur. Kunstpädagogik remixed“. erscheinen, ohne dass das eigene Sich-wohl-und- 11 „Wo Spivak von der gestatteten, ja der belohnten Ignoranz spricht – jener Ignoranz also, die nicht blamiert, sondern im Gegenteil die eigene Position der Macht stabilisiert – spricht die kanadische Philosophin Lorraine Code von der Macht der Ignoranz. Eine Ignoranz, die im wissenschaftlichen Diskurs gerne als Objektivität verstanden wird.“ María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: „Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus“, in: Carmen Mörsch und das Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (2009): Kunstvermittlung. Zwischen Dienstleistung und Kritischer Praxis auf der documenta 12. Berlin, Zürich: Diaphanes, S. 348. lung bedeutet.14 Und nicht zuletzt beinhalten die Interaktionen mit solchen Öffentlichkeiten für die Institutionen auch das Potential der Selbstoptimierung im kognitiven Kapitalismus – „User Generated Content“ und durch die Institution selbst deinierte Rahmen von „Partizipation“ lassen sie zeitgemäßer heimisch-Fühlen der legitimierten Akteur_innen grundsätzlich bedroht wäre. 12 Laut der Sozialanthropologin Mary Douglas ist das Bedürfnis nach Erhalt des eigenen konzeptuellen und strukturellen Status quo ein konstitutives Merkmal von Institutionen, für das mitunter ein hoher Preis zu zahlen ist – zum Beispiel der der strukturellen Amnesie, des Vergessens der eigenen oder kontextuellen Geschichte zugunsten einer Fortführung von dominanten Selbstbeschreibungen in der Gegenwart, die von dieser Geschichte ins Wanken gebracht würden. Vgl. Mary Douglas (1987): How Institutions Think. London: Routledge and L. Kegan Paul. (dt.: Wie Institutionen denken. Frankfurt am Main 1991) 13 Siehe Protokoll zum Workshop „Methoden“ von Sidar Barut in dieser Publikation 14 Siehe hierzu den Beitrag von Paul Mecheril und das Protokoll sowie die Relexionen zum Workshop „Differenz nicht anerkennen“. 13 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 II. Seltsam? Aber so steht es geschrieben…15 die vorhandenen Akteure als Gegenüber ausblenden und stattdessen ein Phantasma des „Fremden“ produzieren, um ihre Existenz aus dem Normalen, dem „Eigenen“ heraus abzuleiten zu können und So weit, so abstrakt. Doch Rustom Bharucha leitete die Privilegien dieses Eigenen als naturgegeben zu seine oben zitierte Kritik an den „Interkulturalis- behaupten. Die Produktion des Fremden bedingt ten“ aus einer sehr konkreten Praxis ab, die er 1977 die Aufbietung einer Ignorierungsanstrengung, die in Kalkutta während einer als „Chhau“ bezeichne- nicht nur in dem Moment, da sie sich jeweils kon- ten Tanzperformance beobachtet hatte: kret artikuliert, enorm, man könnte auch sagen, „Es war eine Darbietung, die eher unbewußt von einer monströs erscheint, sondern die durch eine über Gruppe von „Interkulturalisten“ aus diesem Teil der Welt, mehrere Jahrhunderte andauernde Übungspraxis aus Europa und den USA, aufgeführt wurde. Sie waren eif- beeindruckt. Entsprechend gut geübt ereignen sich rig damit beschäftigt, während der Performance mit ihren meiner Wahrnehmung nach ständig ähnlich struk- Kameras Fotos zu schießen. Ich erinnere mich an meinen turierte Gruselgeschichten im Feld der institutio- Blick auf ihre Rücken und ein glitzerndes Heer von Fotoka- nellen Kunstvermittlung. meras, Zoom-Objektiven und Videokameras, was für mich zum damaligen Zeitpunkt zum Inbegriff westlicher Tech- Eine davon möchte ich hier erzählen. Ich nologie und Macht wurde. Durch dieses Bild erkannte ich habe sie gewählt, weil sie für mich als bildendes das Fremde an Chhau. (...) Schlüsselerlebnis, im Sinne einer Politisierung mei- Ich habe mich damals gefragt - ohne bis dahin dem nes Selbstverständnisses als Kunstvermittlerin, Wort „Interkulturalismus“ begegnet zu sein: Wer sind wirkte. Ich besuchte im April 2009 eine Tagung diese Leute? Was sehen sie? Und warum scheinen sie die in der Landesgalerie Linz mit dem Titel „Migran- Tausende[n] (Inder) zu vergessen, die hinter ihnen sitzen? tInnen im Museum“. Diese zeichnete sich dadurch Heute denke ich über meine Fragen anders nach: (…) Wur- aus, dass sich zumindest zum Zeitpunkt der Tagung den wir zu Voyeuren unserer eigenen Kultur gemacht, so gut wie keine Migrant_innen im veranstalten- indem wir Chhau durch die Wand aus westlichen Kör- den Museum befanden. Auf der Seite der Redner_ pern anschauten? Bis zu welchem Grad ist Chhau Bestand- innen gab es gar keine, auf der Seite des Publikums teil „unserer“ Tradition? Was ist überhaupt unsere „Tra- gab es einige wenige. Diese wenigen waren Teilneh- dition“? […]“ merinnen an einem Projekt mit dem Titel „Kulturlotsinnen“, das Linz als Kulturhauptstadt 2009 in Bharucha beschreibt einen Moment diskursiver und Kooperation mit dem Berufsförderungsinstitut struktureller Gewalt, eine kaum reversible, nur durch Oberösterreich und dem Arbeitsmarktservice ins kontinuierliche intellektuelle Arbeit langfristig in Leben gerufen hatte. In diesem führten berulich Erkenntnis zu transformierende Intervention in sei- gut ausgebildete (und das heißt: wiederum ver- ner Wahrnehmung. Nicht umsonst übertitelt er sei- gleichsweise privilegierte) Frauen, die durch ihren nen Text mit der Frage „Wem gehören die Bilder?“. Umzug nach Österreich eine Dequalifizierung Als efizienteste Waffe, die bei dieser Intervention erfahren hatten und nun erwerbslos waren, Besu- zum Einsatz kommt, erweist sich das Vergessen von cher_innen der Kulturhauptstadt ehrenamtlich und Tausenden. Die interkulturelle Begegnung muss gratis durch ihr Viertel und erzählten dabei aus 15 Verlässliches Ende aller Graphic Novels, die unter dem Titel „Gespenster Geschichten“ von März 1974 bis März 2006 im Bastei Lübbe Verlag erschienen. ihren Biograien und ihrem Alltag in Linz. Davon erwarteten sie sich einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt. „Ich hoffe, dass sie merken, dass ich 14 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 interkulturelle Kompetenzen und auch viele andere könnte. Empörend fand ich auch die Vergesslichkeit Kompetenzen besitze und eine Linzerin bin“ spricht der Institutionen (seien es nun die Kulturhauptstadt eine der Beteiligten, die früher einmal ein Hotel oder die gebauten Museen), was ihre hegemoniale geleitet hat und fünf Sprachen spricht, in einer Position betrifft. So stellte sich mir die Frage, was Reportage des ORF in die Kamera16. Das Projekt es bedeutet, angesichts der Ausstattung der betei- gewann im Herbst des gleichen Jahres den Österrei- ligten Akteurinnen mit symbolischem, ökonomi- chischen Staatspreis für Erwachsenenbildung in der schem und sozialem Kapital im Fall des erwähnten Kategorie „Innovation“. Bei der Tagung in der Lan- Projektes von einer selbstmotivierten Bereitschaft, desgalerie stellten nicht die als „Kulturlotsinnen“ unbezahlt zu arbeiten und unbekannten Neugieri- ehrenamtlich arbeitenden Frauen das Projekt vor, gen vom eigenen Leben zu erzählen, zu sprechen.18 sondern die – mehrheitsösterreichische – Erwach- Des Weiteren erstaunte mich die selbstverständli- senenbildnerin, die mit ihnen die Touren erarbeitet che (Selbst-)Exotisierung und, damit einhergehend, hatte. Einige Museumsleute waren begeistert und erneute Dequaliizierung, die sich in den von den traten gleich in der nächsten Pause mit der Kollegin „Kulturlotsinnen“ zusammen mit der Erwachsenen- in Kontakt, um zu erfahren, wie auch sie selbst an bildnerin erarbeiteten Touren artikulierte: Warum Migrantinnen kommen könnten, die ohne Bezah- war der biograische Ansatz bei diesen Stadtfüh- lung durch ihre Institutionen führen würden. rungen so zentral? Wie würde es wahrgenommen, wenn eine mehrheitsangehörige Stadtführerin vor Ich war damals aus mehreren Gründen empört. allem aus ihrem Leben erzählte, anstatt Informatio- Über die Deutlichkeit, mit der das Wort „Migrant- nen über die Stadt zu vermitteln? Warum ist im Dis- Innen“ im Titel der Tagung als Fremdbezeichnung kurs der Erwachsenenbildungsarbeit mit Migrant_ zu Tage trat: Nicht mit, sondern über Migrant_ innen so oft von „Erfahrung“ die Rede, nicht aber innen wurde geredet. Sie waren das Zielobjekt im von „Wissen“? Und warum ließen sich die Frauen mehrheitsperspektivierten Marketingvisier der aus dem Projekt auf diese Rolle ein? Museumspistole. Vermutungen, dass mit „Migran- Eine andere Kollegin, Vermittlerin am Volks- tInnen“ auch im Museum in leitender Funktion kundemuseum in Wien, stellte auf der gleichen Beschäftigte gemeint sein könnten oder dass der Tagung ihre Arbeit mit Lernenden von Deutsch als Titel von aktivistischer Seite als Drohung oder For- Zweitsprache vor. Sie betonte die Produktivität des derung formuliert werden könnte, spielten in die- Lernens am Objekt und der Offenheit des Lernzu- sem Zusammenhang keine Rolle. Ebenso wenig gangs im Museum für diese Klientel. Sie beschrieb, schien die Frage von Belang zu sein, wie sich das wie sie als Vorbereitung für die Arbeit mit einer Museum als Institution, deren Geschichte unaulös- Gruppe von Frauen, die seit über zehn Jahren in lich mit dem Kolonialismus verwoben ist17, durch Österreich leben, bestimmte Objekte als Gesprächs- die Mitbestimmung und Mitgestaltung der adres- anlass auswählte, die aus ihrer Sicht etwas mit der sierten Abwesenden möglicherweise verändern und Lebenswirklichkeit dieser Frauen zu tun hätten. politisch im Sinne einer Parteinahme positionieren 16 http://www.youtube.com/watch?v=ffjH2S0ydDc, (9.4.2012) 17 Weniger als ein Jahr zuvor hatte in der Landesgalerie eine Ausstellung der Künstlerin Lisl Ponger stattgefunden, die sich unter dem Titel „Imago Mundi“ mit eben dieser historischen Verstrickung beschäftigte. Die Verlagerung der Institutionskritik auf die symbolische Ebene des Displays ist eine weitere institutionelle Praxis der Bewahrung von Strukturen. 18 Diese Frage ist selbst wiederum extrem problematisch, weil sie die Gefahr der Viktimisierung der Teilnehmerinnen enthält. Auch in diesem Text sprechen sie nicht „für sich“. Da ist sie wieder, die paradoxe Anforderung, Differenz anzuerkennen und die ihr zugrundeliegenden Unterscheidungen zu dekonstruieren, von der bei Paul Mecheril sowie in den Beiträgen zum Workshop „Differenz nicht anerkennen“ die Rede ist. Auch Empörung ist selten widerspruchsfrei. 15 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Auf meine Frage, welche Art Gegenstände sie für kalkuliert, voller Fallen, selbstverunsichernd, und diese Gelegenheiten auswählen würde, antwortete in all dem macht sie zuweilen auch Spaß. Sie gelingt sie „zum Beispiel Pfannen und große Schüsseln“. in jedem Fall nur in der – konliktreichen – Ausei- Als ich meine Kritik an diesen Darbietungen im nandersetzung mit der bislang fast ausschließlich Rahmen einer abschließenden Diskussionsrunde aus mehrheitsangehörigen Akteur_innen bestehen- artikulierte, begegnete mir seitens der Veranstal- den Praxis, deren Teil wir sind, sowie in Zusammen- tenden und Referent_innen vor allem verblüff- arbeit mit Organisationen und Akteur_innen, die tes Schweigen und die wiederholte Bekräftigung im Arbeitsfeld der Migration kritische Zugänge der guten Absichten. Damals fand ich mich miss- plegen. Aus diesem Grund entschlossen wir uns, verstanden und bedauerte, nicht die richtigen der Einladung von Elke aus dem Moore zu folgen, Worte und die habituelle Passung für die Kolleg_ gemeinsam mit dem Institut für Auslandsbezie- innen gefunden zu haben. Heute, viele Gruselge- hungen und dem Institut für Kunst im Kontext der schichten später, befürchte ich, die Kritik wurde UdK Berlin eine Arbeitstagung für Kunstvermitt- damals genau richtig verstanden. Das Schweigen ler_innen zu konzipieren und durchzuführen, wel- und die Insistenz auf dem Argument, Gutes zu tun che (so unsere Hoffnung) die Routinen des aktiven und Gutes zu wollen, deute ich mit Rustom Bha- Vergessens zur Sicherung der eigenen Privilegien rucha als hegemoniale Praktiken des Vergessens, aufzeigen und Wissen, das selten gehört wird, zum als aktive und lohnende Ignoranz, auf deren Basis Weiterdenken und zur Entwicklung von Handlungs- sich die Routinen institutioneller Privilegiertheit und Kooperationsmöglichkeiten ins Spiel bringen im Namen der interkulturellen Kompetenzen, Dia- würde. Bereits der von Paul Mecheril vorgeschla- loge und Begegnungen ununterbrochen vollziehen gene Begriff „Migrationsgesellschaft“ im Titel der können. Tagung verwies auf einen Zugang jenseits der Interkulturalität: Er verschiebt den Fokus weg von den III. Eine Arbeitstagung als Unterbrechung „Migrationsanderen“ in Richtung einer Gesellschaft, für die Migration seit langer Zeit konstitutiv ist. Dies impliziert für die Vermittlung am Museum, weniger über Angebote für wie auch immer imagi- Kritik an Zugängen in einem Praxisfeld wie der nierte „Migrant_innen“ mit ihnen zugeschriebenen Kunst vermittlung bleibt unbefriedigend, wenn sie Bedürfnissen nachzudenken, als darüber, welche nicht mit dem Aufzeigen von anderen Denk- und Funktionen, Praktiken und Positionen die von der Handlungsperspektiven verbunden ist.19 Am Ins- Kunstvermittlung bespielten Räume in der Migrati- titute for Art Education der Zürcher Hochschule onsgesellschaft einnehmen oder zumindest anstre- der Künste versuchen wir uns an der Analyse, aber ben könnten – was es bedeuten würde, eine in die- auch an der Unterbrechung der Routinen. Unser ser Perspektive zeitgemäße, und das bedeutet auch Wunsch ist es, auf dieser Basis Vorschläge für eine entsprechend informierte, Arbeit zu leisten. Kunstvermittlung zu entwickeln, die den in diesem Wenn Rassismus und Ausgrenzung strukturell Text beschriebenen Herrschaftsverhältnissen ent- gesehen werden, kann die Vision einer Kunstver- gegenarbeiten. Diese Arbeit ist mitunter kostspie- mittlung, die Ausschlussmechanismen entgegen- lig und mühsam, immer zäher und langsamer als wirkt und Kunsträume als Lern- und Handlungs- 19 Dabei müssen jedoch die Kritiker_innen und diejenigen, welche die Handlungsperspektiven aus dieser Kritik entwickeln, nicht zwangsläuig die gleichen Personen sein. orte gerade für minoritäre Positionen nutzbar macht, das Selbstverständnis von Kulturinstitutionen und Kunstvermittlung nicht unberührt lassen. 16 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Kunstvermittlung soll damit – in Anlehnung an professionelle Selbstverständnis einer emanzi- Spivaks Konzept des Verlernens von Privilegien 20 patorischen pädagogischen Arbeit benennt – im – als Dynamik von Lernen und Verlernen konzi- Sinne eines Offenlegens von Vorannahmen, die piert werden. Privilegien zu verlernen, stellt die der Produktion der für das eigene Feld konstituti- Vermittler_innen vor besondere Herausforderun- ven Wahrheiten zugrunde liegen, und der Gewalt, gen, da grundsätzliche Bausteine ihres beruf li- die im wohlmeinenden Wollen liegt. Dies sei Haugg chen Selbstkonzeptes eine fundamentale Verun- zufolge notwendig, um „zwischen der Scylla eines sicherung erfahren – zum Beispiel, dass sie die in „innen“ hockenden autonomen Subjekts und der der Institution am wenigsten Privilegierten sind Charybdis völliger Durchdrungenheit von Herr- (sowohl was das symbolische als auch was das öko- schaft einen Weg zu inden, wie die einzelnen sich nomische Kapital angeht), aber gleichzeitig auch als Mitglieder einer Gesellschaft erfahren“ und diejenigen, die Gutes tun und darum bemüht sind, gesellschaftliche Bedingungen gestalten können. die Ausgeschlossenen hineinzuholen. „Das Wissen darum, dass es nicht ausreicht ‚Gutes tun zu wollen‘ beunruhigt die in der interkulturellen Pra- IV. über Schuld hinaus xis Tätigen, denn es verlangt nach einem hohen Grad an Verantwortlichkeit und damit einherge- Sich selbst zu widersprechen und sich irritieren henden Bewusstsein über die eigene Verletzungs- zu lassen, wurde auf der Arbeitstagung intensiv gewalt“, schrieb Maria do Mar Castro Varela und geübt. Dass dies mit enormen Spannungen, Kon- nennt die „Fähigkeit, sich irritieren zu lassen“21 als likten, mit Druck und Widerständen verbunden zentral für eine pädagogischen Haltung, die Macht- war, ist wenig überraschend. Sonst wäre die Prob- verhältnisse nicht wiederholen, sondern verschie- lematisierung, die der Arbeitstagung zugrunde lag, ben möchte. Die Soziologin und Psychologin Frigga nicht notwendig, und wir hätten uns den Aufwand Haugg meint Ähnliches, wenn sie die Praxis, „sich sparen können. Es ist ein Erfolg, dass die Arbeitsta- selbst zu widersprechen“22 als grundlegend für das gung einen vergleichsweise sicheren Raum für die Artikulation von Differenzen bot, wie es von den 20 „Unlearning one’s privilege by considering it as one’s loss constitutes a double recognition. Our privileges, whatever they may be in terms of race, class, nationality, gender, and the like, may have prevented us from gaining a certain kind of Other knowledge: not simply information that we have not yet received, but the knowledge that we are not equipped to understand by reason of our social position“, in: Gayatri C. Spivak, Donna Landry, Gerald Maclean (Hrsg.) (1996): The Spivak Reader, London/New York: Routledge, S. 4. 21 Castro Varela, Maria do Mar: Interkulturelle Vielfalt, Wahrnehmung und Selbstrelexion aus psychologischer Sicht. Ohne Datum, Download unter http://www.graz.at/cms/dokumente/1 0023890_415557/0a7c3e13/Interkulturelle%20Vielfalt%2C%20 Wahrnehmung%20und%20Sellbstrelexion.pdf, (16.4.2012) 22 „Das theoretische Problem aber für eine Subjektwissenschaft wie die Kritische Psychologie besteht darin, zugleich von den Subjekten auszugehen, sie zum Sprechen und Forschen zu bringen und zugleich damit einen Fragerahmen so zu gestalten, dass es den einzelnen möglich wird, sich selbst zu widersprechen.“ Frigga Haug: „Zum Verhältnis von Erfahrung und Theorie in subjektwissenschaftlicher Forschung“, in: Forum Kritische Psychologie 47, 2004, S. 70. Veranstalterinnen beabsichtigt war. Dennoch ist die Arbeitstagung „Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ aus meiner Sicht keine Story of Success. Sie endet für mich nicht mit einem Ausrufungs- und auch nicht mit einem Fragezeichen, sondern mit einem Doppelpunkt: Das Wichtigste kommt danach. Ich möchte im letzten Teil dieser einführenden Nachlese auf einen Punkt zu sprechen kommen, bei dem ich bedauere, dass er im Rahmen von „Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ nicht schon vor Ort umfassender bearbeitet und vor allem nicht umgearbeitet werden konnte: Auf den Umgang mit dem Empinden von Schuld. Wiederholt wurde von Teilnehmenden geäußert, dass sie mit dem gemeinsamen Nachdenken und 17 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Diskutieren nicht weiterkämen, weil sie angesichts um unruhig zu bleiben und in konkreten Situationen der auf der Tagung geleisteten Problematisierungen Vorstellungskraft und Handlungsweisen zu erzeugen, Schuldgefühle und „eine Schere im Kopf“ spüren die den Verhältnissen, an deren Herstellung beteiligt würden. Die Diskussion konzentrierte sich dann zu sein man fraglos schuldig ist, mit Freude entge- gerne auf die Frage, „was man überhaupt noch genarbeiten.25 Dies erscheint mir ein wichtiger Hin- sagen darf“ und mündete in eine Kritik an „politi- weis, der zusammen mit den oben erwähnten, von scher Korrektheit“ – ungeachtet der Tatsache, dass Castro Varela und Haugg beschriebenen Anforderun- sich diese Kritik in eine ultrarechte Diskurstradi- gen an pädagogische Professionalität gut zu verein- tion einschreibt.23 baren ist. Die Frage nach dem Umgang mit individuell Doch ich möchte im Zusammenhang mit der erlebter Schuld an Gewaltverhältnissen angesichts Frage nach der möglichen Lösung von durch Schuld- der Analysen zum Beispiel von kritischem Weiß- gefühle verursachten Imaginations- und Hand- sein, European Black Studies, postkolonialer The- lungsblockaden zum Ende noch einmal auf den orie, kritischer Pädagogik, kritischer Museologie fachlichen Kontext zurückkommen, der auf der oder kritischer Migrationsforschung ist eine kom- Arbeitstagung zur Debatte stand: das Museum. plizierte. Denn es kann nicht einfach darum gehen, Charles Garoian hat es in seinem Text „Performing Mittäter_innenschaft von sich zu weisen mit dem the Museum“26 als einen Ort beschrieben, der einer- Argument, über sie nachzudenken sei für die Ent- seits von einer gewaltvollen Geschichte geprägt wicklung von Handlungsperspektiven unproduktiv, und als Institution schwerfällig und hierarchisch und die eigenen Freiheitsrechte gingen grundsätz- ist, der aber täglich von den Akteur_innen, die in lich vor. Gleichzeitig – und das zeigen nicht zuletzt ihm arbeiten, die es besuchen und auch von denen, genau diese Reaktionen – ist das Empinden persön- die ihm fernbleiben, neu hergestellt wird. Ein Ort, licher Schuld ein moralisch strukturiertes Ressenti- dessen Ordnungen aufgrund ihrer Performativi- ment, das sich schwierig produktiv machen lässt. tät auch veränderbar und neu zu denken sind. In Repression führt auch in diesem Fall nicht zur Ver- Bezug auf das Agieren einer Kunstvermittlung in änderung von Verhältnissen. Paul Gilroy schlägt dem- der Migrationsgesellschaft geht es in dieser Pers- gegenüber vor, daran zu arbeiten „to work through pektive nur auf einer Ebene um die individuelle the grim details of imperial and colonial history and Verantwortung der Vermittler_in. Es geht darüber to transform paralyzing guilt into a more produc- hinaus um ein nur kollektiv herzustellendes und tive shame“24. Dabei ginge es darum, die Verantwor- zu plegendes institutionelles Bewusstsein für die tung der Mittäter_innenschaft nicht zu verleugnen, Geschichte dieser besonderen Institution und um aber auch nicht dabei haltzumachen, sie zuzugeben und sich in den daraus resultierenden Schuldgefühlen – trotzig oder demütig – einzurichten. Stattdessen könnte das Bewusstsein über Mitverantwortung und die daraus resultierende Scham ein Motor sein, 23 Katrin Auer: „‚Political Correctness‘ – Ideologischer Code, Feindbild und Stigmawort der Rechten“, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Schwerpunktthema Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus in Europa (Hrsg. Erich Fröschl) (2002), ÖZP, 31 3, S. 291–303. 24 Paul Gilroy (2004): After Empire: Multiculture or Postcolonial Melancholia. London: Routledge, S. 108. 25 Ein konkretes Beispiel hierfür wäre, eine möglicherweise neu zu entdeckende eigene Erindungsgabe zu genießen, wenn versucht wird, die vertrackte Frage „Woher kommst du?“, mit der man wohlmeinendes Interesse an einer Person zeigen möchte, durch einfallsreichere und weniger erwartbare Fragen und Gesprächsformen zu ersetzen. Den Wunsch nach der Vermeidung dieser Frage als „Schere im Kopf“ und damit als massive persönliche Beschneidung wahrzunehmen, wäre demgegenüber die Perspektive, die sich im Beharren auf den scheinbar garantierten, als universal verstandenen bürgerlichen Freiheitsrechten nicht irritieren lässt. 26 Charles R. Garoian: „Performing the Museum“ (2001), in: Studies in Art Education. A Journal of Issues and Research, Nr. 42, S. 234–248. 18 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 eine Arbeit im Zeichen der Frage, wie die histori- shutting ourselves up in the box - whether it is the ‘black sche Verantwortung für die Gegenwart als Motor box’ of theatre, or the ultra-white, air-conditioned, dust- genutzt werden kann. free box of the museum - that we should open ourselves to Eingeladen, sich zu den Plänen eines „New Asian those seemingly disruptive energies ‘beyond the box’ that Museums“ in Vancouver, Kanada, zu äußern, wies can enable us to forge new links between the public and Rustom Bharucha im Jahr 2000 darauf hin, dass es the private, the civil and the political. […] What we need für Museen unverzichtbar sei zu verstehen, dass sie is not a new museumisation of museums, but a new soci- nicht zufällig in der Migrationsgesellschaft herum- alisation of its radical possibilities.“ stehen. Sondern dass sie seit jeher eine konstitutive Rolle in deren Konstellationen und Interaktionen Würde der Vorschlag, sich an einer Umarbeitung von Macht und Markt spielten und dass sie daher des Museums von einer Einrichtung der bürger- in besonderem Maße aufgefordert seien, sich rele- lichen-zivilgesellschaftlichen Domäne zur einer xiv und aktiv in ihr zu positionieren. Zumindest, Akteurin der politischen Domäne zu beteiligen, wenn sie nicht immer isolierter und mit der Zeit aufgegriffen – wie es nicht zuletzt von kritischen bedeutungslos werden wollten. Er sieht ihre Chance Kunstvermittler_innen seit einer Weile gefordert darin, dass sie anstreben, von Räumen der zivilge- wird27 – so bliebe wahrscheinlich wenig Anlass zur sellschaftlichen Repräsentation zu Räumen der Plege von persönlichen Ressentiments. Die Frage politischen Aushandlung zu werden, zu Räumen, „Was darf ich überhaupt noch sagen?“ oder das Ge- in denen Konlikte nicht vermieden und durch eine fühl von einer „Schere im Kopf “ würde einem Erzählung zugedeckt werden, sondern in denen sie aktiven Zuhören gegenüber einer Zusammenar- durch kollektive Bearbeitungsweisen artikuliert beit mit und einem Lernen von denjenigen wei- werden und Form annehmen. chen, die gezwungen sind, sich mit den Effekten „While museums are traditionally located within the einer exklusiv (staats-)bürgerlichen Rede-, Reprä- domain of civil society, they are increasingly more insula- sentations- und Handlungsfreiheit täglich ausein- ted from the emergent cultures of struggle in political soci- anderzusetzen und die auf dieser Basis ihre Hand- ety, cutting across nations, languages, and constituencies, lungsstrategien, oder besser gesagt, ihre Taktiken which are succeeding in bringing together unprecedented entwickeln. „Wesentlich erscheint uns für die Kon- alliances of activists, environmentalists, and cultural wor- zeption einer antirassistischen Kunstvermittlungs- kers, who are substantially redefining the very grounds of praxis, dass Kritik und Transformation nicht eine intercultural meeting, dialogue, and practice. interne Angelegenheit von VermittlerInnen und At the start of the new millennium, it would be useful Kunstinstitutionen bleiben kann. Veränderungen to widen the boundaries of civil society beyond the contes- müssen aus denen heraus entstehen, die als Ziel- tatory claims of its acknowledged participants; we need to gruppe gezeichnet werden“28, schreiben Maria do recognise the challenge posed to the bastions of ‘high culture‘ in civil society, notably museums, by the new incursions and configurations of public culture in national and global forums. Museums need to confront the insularity of their implicit ‘non-trespassing’ zones, which have in effect denied vast sections of the population, particularly from the minority and immigrant sectors, not merely access to the museum, but the right to interrogate its assumed privileges and reading of history. It is my plea that instead of 27 Vgl. z. B. Nora Sternfeld: „Unglamorous Tasks: What can Education Learn from its Political Traditions?“ (2010), in: e-lux journal # 14 – march 2010; oder Janna Graham: Spanners in the Spectacle: Radical Research at the Front Lines. http://www.faqs.org/ periodicals/201004/2010214291.html, (20.9.2010) 28 Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: „Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus“, in: Carmen Mörsch und das Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (2009): Kunstvermittlung. Zwischen Kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Zürich/Berlin: diaphanes, S. 350. 19 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Mar Castro Varela und Nikita Dhawan zum Entwurf einer postkolonialen Kunstvermittlung. Die Arbeitstagung „Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ war aus meiner Sicht im besten Fall eine Intervention, um eine Arbeit an Verhältnissen in dieser Perspektive im deutschsprachigen Raum einen Schritt weiter zu bringen. Um anzuregen, sie an den Orten, wo man sich danach womöglich etwas weniger heimisch fühlt, fortzusetzen oder zu initiieren und einzufordern. Carmen Mörsch, ausgebildet als Künstlerin, Vermittlerin und Kulturwissenschaftlerin. Seit 1993 Projekte in Kunst, Kunstvermittlung und kultureller Bildung. Seit 2001 Forschungs- und Entwicklungsprojekte in der Kulturvermittlung. 2004–2008 Juniorprofessorin an der Fakultät Sprach- und Kulturwissenschaften, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2008 Leiterin des Institute for Art Education am Departement Kulturanalysen und Vermittlung der ZHdK. 20 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Claudia Hummel und Analyse der Regeln und Konventionen im Ausstellungsraum wurden erprobt. Die Dekonstruktion Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft – ein Blick auf die Ausbildung institutioneller Hierarchien wurde zum Thema. Fragen wie: Wer macht die Kunst zur Kunst? Welche Ökonomien bestimmen die Inhalte von Museen und Ausstellungen? Wer wird durch die Institution Museum oder Kunstinstitution ausgesucht und legitimiert, dort über die Inhalte zu sprechen und welche Wissensformen werden dabei eingesetzt? durchwirkten Ausstellungsführungen und Gespräche mit dem Publikum. Gleichzeitig entwickelte sich die Theoriebildung zum Arbeitsfeld Kunstver- Ausschlussmechanismen im Kontext Museum und im Kontext Hochschule mittlung. Praxisformen wurden mit diskurs- und institutionskritischen Positionen gegengelesen und weiterentwickelt. Die Breite der künstlerischen Sprachen und Verfahrensweisen und die gleichzeitige Relexion dieser Praxis ermöglichten es so, sowohl die Dominanz Kunstvermittlung als Praxisfeld hat sich in den letz- des verbalen Sprechens als auch die Person der Spre- ten zehn Jahren rasant entwickelt. Als Kunstver- cherin/des Sprechers infrage zu stellen. mittlung noch Museumspädagogik hieß, waren es Betrachtet man die Teilnehmer_innen von Sym- Absolvent_innen eines Kunstgeschichtsstudiums posien und Konferenzen zum Thema Kunstver- oder Kunsterzieher_innen, die Zugang zum Arbeits- mittlung (z. B. auch jene der Konferenz „Kunstver- feld Museum hatten und dort in der Position der mittlung in der Migrationsgesellschaft“), so wird autorisierten Sprecherin/des autorisierten Spre- deutlich, dass es sich im deutschsprachigen Raum chers Führungen für das erwachsene Publikum um meist weibliche, weiße und in der ersten Spra- oder museumspädagogische Aktionen mit Kin- che deutsch sprechende Personen handelt, die das dern durchführten. In den letzten fünfzehn Jah- Arbeitsfeld bespielen. Trotz der zusehends wachsen- ren waren es mehr und mehr Künstler_innen, die den berulichen Durchmischung des Arbeitsfeldes im Kontext Ausstellung und Museum die künstle- handelt es sich doch meist um eine natio-ethno-kul- risch-edukative Arbeit weiterentwickelten. Künstle- turelle Monokultur. Betrachtet man eine Stadt wie rische Kunstvermittlung wurde als ein Teilbereich Berlin, in welcher rund 25% der Bevölkerung andere der Kunstvermittlung etabliert. Im Gegensatz zur erste Sprachen haben als Deutsch1 und auch nicht klassischen Ausstellungsführung ist die künstleri- zwangsläuig weiß sind, so sind 25% der Bevölke- sche Kunstvermittlung nicht ausschließlich auf den rung in der Schar der autorisierten Sprecher_innen verbalen Ausdruck angewiesen. Andere Sprachen, in Museen und Ausstellungsräumen nur wenig visuelle und performative, ersetzen das Erläutern repräsentiert. Museen und Ausstellungshäuser mit Worten oder setzen dieses fort. Handlungsorientierte Formate wurden entwickelt. Neue Aspekte wurden in die Vermittlungsarbeit eingebracht. Raumaneignungen – nicht nur in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – und die Beobachtung 1 vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg: Pressemitteilung Nr. 307 vom 26. September 2011: „Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegt in Berlin bei 24,3 Prozent.“ Siehe: http:// www.statistik-berlin-brandenburg.de/presse/presse_pm.asp?Sa geb=120&PTyp=100&creg=BBB&anzwer=4 (zuletzt aufgerufen am 15.4.2012) 21 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 erzeugen also Ausschlüsse bezüglich des Zugangs Sprecherin/zum autorisierten Sprecher im Kontext zum Arbeitsfeld Kunstvermittlung. Museum und Ausstellung vorbereiten? Reglementierter Zugang zum Arbeitsfeld entsteht aber derzeit mehr und mehr auch durch die zunehmende Erwartung an die (durch Ausbil- Das Institut für Kunst im Kontext dungsinstitutionen legitimierten) Qualiikationen von Kunstvermittler_innen. Die wachsende Profes- Wir am Institut für Kunst im Kontext an der Uni- sionalisierung des Bereiches schlägt sich in einer versität der Künste Berlin blicken innerhalb der wachsenden Anzahl von Ausbildungsmöglichkeiten Entwicklung der Ausbildung für Künstler_innen in nieder. Verschiedene Hochschulen im deutschspra- Bereichen der künstlerischen Vermittlung auf eine chigen Raum bieten Studiengänge an, die gezielt vergleichsweise lange institutionelle Geschichte auf das Arbeitsfeld Kunstvermittlung vorbereiten. zurück. Der Vorläufer des Instituts war die „Kul- Auch immer mehr privat organisierte Fortbildungs- turpädagogische Arbeitsstelle für Weiterbildung“. kurse oder auch zu bezahlende Zertiizierungspro- Diese wurde 1982 am damaligen Fachbereich 11 gramme an Hochschulen versuchen sich auf dem – Ästhetische Erziehung/Kunst- und Kulturwis- Ausbildungsmarkt zu etablieren. senschaften – an der Hochschule der Künste Ber- Kritisch an dieser Entwicklung ist, dass sich lin, die 2001 zur Universität der Künste umgetauft durch die zunehmende Logik der Zertiikate Zu - wurde, eingerichtet. Die Studieninhalte bauten auf gangsmöglichkeiten zum Arbeitsfeld für Autodi- Erfahrungen und Ergebnissen eines Modellversuchs dakt_innen verringern. Für eine Ausbildung im der Künstlerweiterbildung (1976–1981) auf, der in Arbeitsfeld spricht jedoch, dass theoriebasierte Doppelträgerschaft vom Bundesverband Bilden- und informierte Kunstvermittlung heute sowohl der Künstler und der Hochschule der Künste Ber- eine handwerkliche Seite braucht, als auch einer lin durchgeführt wurde2. 1996 wurden in der HdK hohen Selbstrelexivität bedarf. Beides kann und die elf Fachbereiche in fünf Fakultäten umstruktu- sollte erlernt werden. riert. Das Institut für Kunst im Kontext ist seitdem Die Fragen, die sich jedoch angesichts der wach- als künstlerisch-wissenschaftliche Einrichtung senden Anzahl an Ausbildungsmöglichkeiten stel- Teil der Fakultät Bildende Kunst. Seit 2002 kann im len, sind: Wer hat Zugang zu diesen Fortbildungen dort angebotenen postgradualen Weiterbildungs- und Studiengängen? Welche Bedingungen in Bezug und Ergänzungsstudiengang „Art in Context“ der auf Schul- und Studienabschlüsse müssen bei einer Abschluss Master of Arts/Art in Context gemacht Bewerbung erfüllt werden? Welche ausgesproche- werden.3 Der Studiengang bietet vier verschiedene nen und auch unausgesprochenen Erwartungen Studienproile an: haben Auswahlgremien an die natio-ethno-kulturellen Hintergründe ihrer Bewerber_innen? Welche Erwartungen haben sie an deren Kunstbegriff? Wer fühlt sich von den Studiengangproilen, den Hochschulbroschüren, den Infowebsites angesprochen, aufgefordert und eingeladen, sich zu bewerben? Wer hat das Geld, Bezahlstudiengänge und Fortbildungen zu inanzieren? Wer hat, eingeschränkt durch all diese Bedingungen, tatsächlich Zugang zu den Institutionen, die den Weg zur autorisierten 2 Dokumentiert in der Dokumentation „Künstler und Kulturarbeit“, Berlin 1981 3 vgl. http://www.kunstimkontext.udk-berlin.de/, (zuletzt aufgerufen: 19.4.2012) 22 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 1. Künstlerische Arbeit mit gesellschaftlichen Gruppen 2. Künstlerische Arbeit in kulturellen Institutionen (darunter: Artistic Museum Studies) Studium „Art in Context“ ebenfalls vielfach thematisiert wird. Weitere Gründe für die Internationalisierung sind aber sicherlich auch die Attraktivität Berlins für junge Künstler_innen sowie der 3. Künstlerische Arbeit im öffentlichen Raum Vorteil gegenüber anderen thematisch ähnlichen 4. Künstlerische Arbeit im Kontext der medialen Masterstudiengängen, dass es bei uns keine Studi- und wissenschaftlichen Bildproduktion engebühren gibt.4 Die Bandbreite der Länder, in welchen die Stu- Bei allen Studienproilen sind Theorie und Praxis dierenden geboren wurden, oder aus welchen sie der Vermittlung zentral, interpersonelle Vermitt- sich für ein Studium bewerben, ist immens. Im Jahr lungsarbeit ist sowohl in Bezug auf die Kontexte 2010 kamen die Studierenden am Institut aus 23 Museum und Schule als auch auf den öffentlichen verschiedenen Ländern. Die Selbstbeobachtung, der Raum wesentlicher Bestandteil des Studiums. Erfahrungs- und Sorgenaustausch zu Beginn des Allein zwischen 2002 und 2011 haben 247 Stu- Studiums – etwa in der Phase, in der es für visums- dierende den Studiengang erfolgreich absolviert. plichtige Studierende zu Begegnungen mit der Aus- Von den 247 wurden 111 im Ausland geboren. 51 der länderbehörde (so heißt das Amt heute tatsächlich 247 Absolvent_innen kommen nicht aus Europa. immer noch) kommt –, die künstlerisch-edukative Die Anteile internationaler Studierender sind in Arbeit in Stadtteilen, deren Bevölkerung sich durch den letzten Jahren gewachsen. 2010 sowie 2011 ganz verschiedene natio-ethno-kulturelle Zuge- waren es ca. 60% der Absolvent_innen. hörigkeiten auszeichnet, schärfen den Blick und Auch am Institut für Kunst im Kontext gibt die Aufmerksamkeit der Studierenden für soziale es eine Reihe von Bedingungen, die für eine Auf- Ungleichbehandlung und Mechanismen des Othe- nahme zum Studium erfüllt werden müssen. Moti- ring und der Ausgrenzung. Auch Studienprojekte vation und Kompatibilität der künstlerischen Arbeit beinhalten nicht selten Analysen eigener natio- zu den Berufsproilen des Instituts werden in einer ethno-kultureller Hintergründe. Doch kommt es ersten Phase des Bewerbungsverfahrens geprüft, ein durch die große Heterogenität unter den Studieren- Gespräch mit ausgewählten Kandidat_innen bildet den während des Studiums meist zu einer Form des die zweite Phase. Dieses wird auf Deutsch geführt. transnationalen Miteinanders. Zugangsvoraussetzungen zum Studium sind die Fähigkeit, Deutsch zu sprechen und zu schreiben. Im Jahr 2006 führte das Institut unter den Ab solvent_innen eine Befragung zur Evaluierung des Die Entwicklung einer (trotz der Studienspra- Studiums durch. Von 14 Absolvent_innen nicht- che Deutsch) zunehmend internationalen Studie- deutscher Herkunft (zwei kamen aus der Schweiz rendenschaft hängt einerseits mit dem allgemein und Spanien, je eine/r aus Griechenland, Italien, wachsenden Druck im Betriebssystem Kunst zusam- dem Iran, Kroatien, Mexiko, den Niederlanden, men, Studienabschlüsse vorweisen zu können (und Polen, Russland, Südkorea und den USA) gaben die UdK erscheint als Studienort dabei attraktiv), immerhin neun Personen an, dass ihnen der Mas- aber auch mit dem wachsenden Bedürfnis nach ter-Abschluss bei der Arbeitssuche geholfen habe. kontextspeziischer Weiterbildung. So ist auffal- Im Vergleich dazu gaben von 27 Deutschen ledig- lend, dass sich viele Studierende, die in den Län- lich 14 dasselbe an.5 dern, in denen sie geboren wurden, Repression oder gar Krieg erfahren haben, kritisch mit Fragen von 4 Es fallen lediglich Semestergebühren an, die z. B. das Jahresticket für die öffentlichen Verkehrsmittel beinhalten. Mahn- und Gedenkkultur beschäftigen, was im 5 vgl. Katja Jedermann, Marion Roßner, Catrin Wechler: Auswer- 23 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Sprechens über natio-ethno-kulturelle Hinter- Die Relevanz von Migrationspädagogik im Kontext der Ausbildung gründe zu thematisieren. Im Rahmen unserer konzentrierten einjährigen Seminararbeit sind immer wieder Situationen des hillosen und manchmal auch des verärgerten Schweigens entstanden. Uns In Vorbereitung auf die Konferenz „Kunstvermitt- (und hier schließe ich mich als die Lehrende ein) lung in der Migrationsgesellschaft“ habe ich im wurde bewusst, wie schwierig es ist, zu sprechen, Wintersemester 2010/11 sowie im Sommersemester ohne immer wieder Stereotypen zu erzeugen, ohne 2011 mit einer Gruppe von Studierenden das Buch Rassismen fortzusetzen. Uns wurde bewusst, dass „Migrationspädagogik. Bachelor/Master“, heraus- ein nicht-rassisierendes6 Sprechen geübt werden gegeben von Paul Mecheril u. a., gelesen. Unterbro- muss. Es entstanden Situationen, die zeigten, wie chen wurde die Lektüre durch Erzählungen eigener schwierig es (für weiße Deutsche) sein kann, über Migrations-Erfahrungen, durch Recherchen zu Pro- ein „Wir“ und „Ihr“ hinauszukommen. Uns wurde jekten und Kampagnen aus den Bereichen Antiras- auch deutlich, wie schwierig es für weiße und sismus und Bildung, durch kritische Analysen von nichtweiße Nichtdeutsche sein kann, die Rolle der/ Statistiken zu den Themen Migration und Bildung des (Migrations-)Anderen nicht anzunehmen. Das und die Betrachtung und Diskussion künstlerischer Seminar wurde zur kontinuierlichen Übung, uns Arbeiten im selben Kontext. in unserem tastenden Sprechen auszuhalten und Die Gruppe setzte sich zusammen aus einer Differenz nicht anzuerkennen. Deutsch als Mono- Griechin, die in Schottland studiert hatte, einer polsprache ging uns dabei mit der Zeit auf die Ner- Schwedin, die in Finnland aufgewachsen, war, einer ven. In manchen Situationen entschieden wir, ent- Amerikanerin, die in der dominikanischen Repub- gegen der Sprachregelung am Institut, der ersten lik geboren war, einer Chilenin, die eine deutsche oder eher bevorzugten Sprache von Seminarteil- Schule besucht hatte, einem Kurden aus dem Nor- nehmer_innen zuzuhören, was jedoch nur gelang, den Iraks, einer Deutschen mit türkischen Eltern, wenn diese Englisch war. Und auch dies erzeugte einer Deutschen mit koreanischen Eltern, einem wieder Ausschlüsse in der Gruppe. Deutschen mit deutschen Eltern, der in Ostdeutsch- Unser Selbstversuch ließ erahnen und bestätigte land sozialisiert war, einer Deutschen, die über ihre auch so manche in der Gruppe gemachte Erfahrung, Eltern kaum sprach und in Westdeutschland sozi- auf welche Schwierigkeiten zu Migrationsanderen alisiert war, einer Deutschen aus Süddeutschland, gemachte Personen in institutionellen Kontexten die seit 11 Jahren in Berlin lebt und einer Österrei- wie der Schule, aber auch dem Museum stoßen kön- cherin, die für ein Semester Gaststudentin war. Ich nen. Ein Bewusstsein für die Wichtigkeit, über ein beschreibe das hier so – obgleich ich weiß, dass sich die Studierenden auf diese Weise gänzlich falsch beschrieben sähen – um die Heterogenität der Gruppe und die vielfältigen Möglichkeiten, „Wirs“ und „Ihrs“ zu kreieren, darzustellen. Ich beschreibe es auch auf diese Weise, um die Schwierigkeit des tung einer Befragung von AbsolventInnen des Instituts für Kunst im Kontext, die ihren Masterabschluss 2002–2005 gemacht haben. http://www.kunstimkontext.udk-berlin.de/ (letzter Aufruf am 15.04.2012) 6 vgl. „Rassisierung“ im Glossar der Publikation Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts: „Der Begriff der Rassisierung und das daraus abgeleitete Adjektiv rassisierend hat sich in einem Großteil der deutschsprachigen Rassismus-kritischen Forschung […] etabliert. Bezeichnet wird damit eine soziale Praxis des Konstruierens und Markierens von hierarchisierenden Differenzkonstruktionen entlang der Vorstellung über 'rassische‘, ethnische oder kulturelle Alterität. […]“, Carmen Mörsch und das Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hrsg.) (2009): Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Berlin/Zürich, S. 369f. 24 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Wissen darüber und eine Sensibilität für die Aus- Angesichts der aufgezeigten Probleme für zukünf- schlussmechanismen im Rahmen von Tätigkeiten tige Kunstvermittler_innen mit unterschiedlichsten im Kontext künstlerischer Arbeit mit gesellschaft- natio-ethno-kulturellen Nicht-Zugehörigkeiten und lichen Gruppen, z. B. in kulturellen Bildungsprojek- Zugehörigkeiten sollten es sich vor allem staatliche ten in Schulen oder der Kunstvermittlung zu ver- Ausbildungsinstitutionen im Zuge der viel beschwo- fügen, entstand. Die Ambivalenz „authentischer renen Chancengleichheit zur Aufgabe machen, Sprecher_innen“ und die daran geknüpften Ste- einer breiten Diversität von Personen Zugang zu reotypisierungsfallen sowie die doppelte Rolle von Aus-, Fort- und Weiterbildungen im Kontext Kunst- Anerkennung kamen zur Sprache. vermittlung zu bieten. Die Hoffnung an die Kon- Auch führte die Diskussion der künstlerischen ferenz „Kunstvermittlung in der Migrationsgesell- Arbeiten wieder zur Schwierigkeit des „Sprechens schaft“ war, dass sich ähnlich wie im Seminar über über“ (Wer spricht/arbeitet über wen/was, warum Diskussionen und dadurch ermöglichte oder auch und auf welche Weise?) und zu den häuig eurozent- provozierte Selbstrelexionen Erkenntnisse und ristischen Kunstbegriffen im Betriebssystem Kunst7 Ideen für die benannten Problematiken ergeben und auch in der Ausbildung8. würden. Deutlich wurde, dass das Konzept der Migrationspädagogik für alle Relevanz hat, im Arbeits- Betrachtet man mit der an Kunst- und Kulturin- feld Kunstvermittlung wie auch in den Ausbildungs- stitutionen geübten Kritik, dass deren Mitarbeiter_ institutionen. Wir haben alle noch viel zu lernen innenstrukturen die Bevölkerung einer Stadt nicht und vor allem noch viel zu üben: Sprechen üben, repräsentieren, die Situation der Ausbildungsinsti- Sehen üben und vor allem, lernen – mit den Worten tutionen im Kontext Kunstvermittlung und Kultu- Paul Mecherils – die eigene Wahrnehmung wahrzu- relle Bildung, so zeigt sich leider das gleiche Bild. nehmen9, um inkorporierten Mustern des Denkens, Und das zieht sich durch bis zu unserem Institut. Sprechens, Urteilens und Handelns auf die Schli- Unter den hauptamtlich Lehrenden beinden sich che zu kommen und so zu einer Unterbrechung von lediglich Personen mit innerdeutschen Migrationsge- wenig relektierten Logiken in allen Bildungsinsti- schichten und wieder ist es eine weibliche, weiße Per- tutionen, der Schule, der Hochschule und auch dem son mit erster Sprache Deutsch, die von der Institu- Museum, beizutragen. tion autorisiert ist, hier, an dieser Stelle zu sprechen. 7 Zukunftsweisend und ambivalent zugleich gestaltet sich auch die kulturelle Förderpolitik der Stadt Berlin: So gibt es seit 2010 die Möglichkeit für Anträge unter der Überschrift der „Interkulturellen Projektarbeit“, die sich bevorzugt an „in Berlin lebende Migrantinnen und Migranten“ richtet, „die sich über die Bewahrung kultureller Traditionen hinaus mit aktuellen Strömungen von Kunst und Kultur auseinandersetzen und Stoffe, Themen und künstlerische Ausdrucksformen zum Inhalt haben, die bisher nicht oder nur unzureichend präsentiert werden.“ Vgl. http://www.berlin.de/sen/kultur/foerderung/interkulturelle-projektarbeit/ index.de.html (zuletzt aufgerufen am 15.4.2012) 8 In Bewerbungsgesprächen geht es nicht selten um das Abfragen von Kunstbegriffen. Wie schon im Kontext Museum deinieren auch Hochschulen und Universitäten, welche Kunstbegriffe gelten und welche nicht. Der Unterschied zum Museum mag sein, dass Bewerber_innen an Hochschulen zugestanden wird, dass das mit dem richtigen Kunstbegriff im Laufe der Ausbildung schon noch etwas werden kann. Claudia Hummel arbeitet projektbezogen künstlerisch und kunstvermittlerisch an der Schnittstelle von Bildung, Kunst, Gesellschaft und Alltag. Seit 2009 ist die wissenschaftliche Lehrkraft am Institut für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin mit dem Arbeitsschwerpunkt „Künstlerische Arbeit mit gesellschaftlichen Gruppen“. 9 Vgl. den Beitrag von Paul Mecheril in dieser Publikation. 25 KEYNOTE 26 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 „Weil […] die wirkliche Welt – die, in der wir leben – eine Verbindung von Bewegung und Kulmination, von Bruch und Wiedervereinigung darstellt, wird ein Lebe- Migrationspädagogik1 wesen der Erfahrung des Ästhetischen fähig“ (Dewey 1934/1998, S. 25) Migrationsbewegungen prägen gegenwärtige Ge sellschaften maßgeblich. Immer mehr Menschen Paul Mecheril wandern, pendeln, lassen sich an einem Ort nieder, der nicht ihr Geburtsort ist, arbeiten und leben an Ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen unterschiedlichen Orten: Es gibt Menschen, die im Laufe ihres Lebens in vier, fünf, sechs verschiedenen Ländern gelebt haben oder jahrelang gleichzeitig an mehreren Orten leben, die ein Zuhause an zwei oder drei Orten haben oder deren Staatsbürgerschaft nicht den Ort ihrer Herkunft widerspiegelt. Auch die gesellschaftliche, soziale und Über „Migration“ wird in Deutschland, nicht nur individuelle Wirklichkeit Deutschlands wird grund- hier, viel gesprochen und geschrieben. Das Thema legend von Migrationsphänomenen geprägt. Migration bezeichnet Phänomene, die eine politi- Mit der Perspektive „Migrationspädagogik“ sche und kulturelle Unruhe in das Gefüge gesell- richtet sich der Blick auf Zugehörigkeitsordnun- schaftlicher Normalitätsvorstellungen und -pra- gen in der Migrationsgesellschaft, auf die Macht xen einbringen und diese insofern herausfordern. der Unterscheidung, die sie bewirken und die Bil- Diese Herausforderungen gelten auch und in einer dungsprozesse, die in diesen machtvollen Ordnun- besonderen Weise für formelle und informelle gen ermöglicht und verhindert sind. Räume der Bildung, wie für die institutionalisierte Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft wer- Pädagogik überhaupt. Ich möchte in diesem Beitrag den nicht allein, aber in einer bedeutsamen Weise zunächst die mit dem Ansatz der Migrationspäd- von Zugehörigkeitsordnungen strukturiert. „Zuge- agogik verbundene Perspektive auf gesellschaftli- hörigkeit“ kennzeichnet eine Relation zwischen che Wirklichkeit skizzieren, um nach einer knap- einem Individuum und einem sozialen Kontext, in pen Klärung einer Idee ästhetischer Bildung auf dem Praxen und Konzepte der Unterscheidung von Arrangements ästhetischer Bildung zu sprechen „zugehörig“ und „nicht-zugehörig“ konstitutiv für kommen, die migrationspädagogisch sinnvoll sind. den Kontext sind. Im Zugehörigkeitsbegriff wird das Verhältnis von Individuum und sozialem Kontext fokussiert. Beim Zugehörigkeitsbegriff wird gefragt, unter welchen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen und von diesen vermittelten individuellen Voraussetzungen Individuen sich selbst als einem Kontext zugehörig verstehen, erkennen und achten können. 1 siehe Mecheril u. a. (2010) 27 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Zugehörigkeitserfahrungen sind Phänomene, in institutionalisiert ist oder dadurch, dass die Schule denen die Einzelne2 ihre Position in einem sozia- optional auf Mechanismen ethnischer Diskrimi- len Zusammenhang und darüber vermittelt sich nierung zurückgreift (vgl. Gomolla/Radtke 2002; selbst erfährt. Für die Zugehörigkeitsdimension, Mecheril u. a. 2010, Kap. V; sie besitzen aber prinzi- die in der Regel angesprochen ist, wenn über die piell auch die Möglichkeit, diese Schemata und die mit Migrationsphänomenen einhergehende Irrita- sie bestätigenden Praxen zu relektieren und über tion von Zugehörigkeitsverhältnissen nachgedacht Alternativen nachzudenken. wird, inden sich häuig Bezeichnungen wie „ethnische“ oder „kulturelle“ Zugehörigkeit. Hier soll Migrationspädagogik bezeichnet einen Blick- der Ausdruck natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit winkel, unter dem Fragen gestellt und thematisiert bevorzugt werden (genauer Mecheril 2003, Kap. IV). werden, die bedeutsam sind für eine Pädagogik unter Der migrationspädagogische Ansatz interes- den Bedingungen einer Migrationsgesellschaft. Die siert sich für die Beschreibung und Analyse der Rede ist hier von „Migrationsgesellschaft“ und nicht dominanten Schemata und Praxen der Unterschei- beispielsweise von Einwanderungsgesellschaft, weil dung zwischen natio-ethno-kulturellem „Wir“ und der Begriff Migration weiter als der der Einwande- „Nicht-Wir“ und weiterhin auch für die Stärkung rung ist und dadurch einem weiteren Spektrum an und Aus weitung der Möglichkeiten der Verlüssi- Wanderungsphänomenen gerecht wird. Der Aus- gung und Versetzung dieser Schemata und Praxen. druck Migration ist eine allgemeine Perspektive, Migrationspädagogik ist also keine „Migrant/innen- mit der Phänomene erfasst werden, die für eine Pädagogik“ in dem Sinne, dass erstes Anliegen der Migrationsgesellschaft kennzeichnend sind: Über- Migrationspädagogik wäre, „die Migranten“ zu ver- setzung oder Vermischung als Folge von Wande- ändern. Anders als die pädagogischen Ansätze, die rungen, Entstehung von Zwischenwelten und hyb- in erster Linie auf die Förderung (des zum Beispiel riden Identitäten, Phänomene der Zurechnung auf als Sprachkompetenz bezeichneten Vermögens, die Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus, hegemoniale Sprache im Standardregister zu spre- Konstruktionen des und der Fremden oder auch die chen) der „Migranten“ zielen, kommen im migra- Erschaffung neuer Formen von Ethnizität. Die Pers- tionspädagogischen Blick institutionelle und dis- pektive Migrationspädagogik bezieht sich in einer kursive Ordnungen sowie Möglichkeiten ihrer pädagogischen Einstellung auf Phänomene dieser Veränderung in den Blick. Art. Mit dieser Perspektive wird eines der grundle- Mit dem Leitbegriff der Migrationspädagogik genden Ordnungsschemata moderner Staaten und kommen durch Migrationsphänomene angesto- Gesellschaften zum Thema, ist für diese doch kon- ßene Prozesse der Pluralisierung und der Verein- stitutiv, dass sie in einer komplexen, nicht immer seitigung, der Differenzierung und der Ent-Diffe- unwidersprüchlichen Weise zwischen denen, die renzierung, der Segregation und der Vermischung dazugehören, und denen, die nicht dazugehören, des Sozialen in den Blick. „Migration“ ist eine Pers- unterscheiden. Das Bildungssystem und das päda- pektive, die von vornherein anzeigt, dass die Einen- gogische Handeln tragen hierbei zur Bestätigung gung auf eine kulturelle Betrachtung der mit Wan- der Unterschiedsschemata bei, etwa dadurch, dass derung verbundenen Phänomene unangemessen eine spezielle sozialarbeiterische „Migrantenarbeit“ ist. Wanderung ist ein umfassendes Phänomen, das 2 Das in diesem Text bei allgemeinen Personenbezeichnungen abwechselnd verwandte grammatische Genus bezieht sich auf alle sozialen Geschlechterformationen. im Spannungsfeld politischer, administrativer, ökonomischer, kultureller und rechtlicher Systeme auf globaler, nationaler und lokaler Ebene stattindet. 28 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Positionierungen und Identiizierungen der „Mig- hat herausgestellt, dass Kunst als das in Erschei- ranten“ und der „Migrantinnen“ und komplementär nung tritt, das dem Gesellschaftlichen gegenüber- der „Nicht-Migranten“ und der „Nicht-Migrantin- gestellt ist, als das Andere des Gesellschaftlichen, nen“ müssen in der Komplexität dieses Spannungs- wodurch es zum Gesellschaftlichen wird. Eine Kri- feldes verstanden werden. Dies meint der obige tik an der Musealisierung der Kunst und noch viel Bezug auf das Soziale und „Migrationspädagogik“ mehr die Kritik an der Musealisierung des Ästheti- ist eine Perspektive, die den Beitrag der Bildungs- schen heißt aber wohl, sich auf die Alltäglichkeit institutionen und des pädagogischen Diskurses zu und die Erfahrungsbegründetheit des Ästhetischen diesen Verhältnissen sowie Möglichkeiten der The- zu beziehen. matisierung und Verschiebung dieser Verhältnisse in den Blick nimmt. „Löst man einen Kunstgegenstand sowohl aus seinen Entstehungsbedingungen als auch aus seinen Auswirkungen in der Erfahrung heraus, so Eine zentrale Aufgabe der Migrationspädagogik errichtet man eine Mauer um ihn, die seine allge- besteht in der Beschäftigung mit der Frage, wie der meine Bedeutung, um die es in der ästhetischen und die natio-ethno-kulturelle Andere unter Bedin- Theorie geht, beinahe unerkennbar werden läßt“ gungen von Migration erzeugt wird und welchen (Dewey 1934/1998, S. 9). Beitrag pädagogische Diskurse und pädagogische Zwischen Alltagserfahrungen und der Erfah- Praxen hierzu leisten. Gegenstand der Migrations- rung von Kunst, ihrer Rezeption und Produktion, pädagogik sind insofern die durch Migrationsphä- gilt – so könnte man sagen – eine Wesensähnlich- nomene bestätigten und hervorgebrachten Zugehö- keit. Der Dewey‘sche Akzent auf Erfahrung ermög- rigkeitsordnungen und insbesondere die Frage, wie licht die Besinnung darauf, dass das, was das Wesen diese Ordnungen in bildungsinstitutionellen Kon- der Kunst auszeichnet, überall stattindet. Überall texten wiederholt und produziert werden sowie wie also inden wir, wenn man es nur recht betrachtet, sie verändert werden können. Bevor ich einige Über- Orte der Schutzgöttinnen, allenthalben Museen. legungen anstellen will, was dies für ästhetische Wichtig bei Dewey ist, dass, indem das Individuum Bildung bedeuten kann, sei zunächst eine knappe handelt, es Konsequenzen erfährt, vielleicht Hin- Idee dessen, was ästhetische Bildung meint, ange- derungen und Widerstand, durch die es in seinen geben. weiteren Handlungen beeinlusst wird. Der und die Einzelne beindet sich in kontinuierlichem Kontakt Ästhetische Bildung und Auseinandersetzung mit seiner physischen und sozialen Umgebung. Zwischen Umwelt und Individuum besteht nach Dewey ein wechselseitiges Ver- Bei John Dewey, in seinem Buch „Kunst als Erfah- hältnis: Das Individuum wird durch die Umwelt rung“ (1934/1998), können wir lesen, dass die Muse- beeinlusst, zugleich wirkt es auf seine Umwelt ein. alisierung der Kunst als Vorgang des symbolischen und faktischen Wegsperrens der Kunst verstanden Zwar ereignet sich diese wechselseitige Bezie- werden kann, als Vorgang der Herauslösung der hung unausgesetzt. Sie wird nach Dewey aber nur in Kunst aus der Bindung an Alltag und Erfahrung. besonders und intensiv erlebten Momenten erhöhter Dies zu sehen, heißt nicht, zum Kultischen und dem Aufmerksamkeit wahrgenommen; in Situation der Mythischen zurückzukehren, in dem die ästheti- Überraschung, der Verwunderung und der Erstau- sche Dimension, Kunst und Erfahrung noch ganz nens. Dann werden sich die und der Einzelne der aufeinander verwiesen sind. Theodor Adorno (1989) eigenen Situation und ihrer selbst bewusst. Somit 29 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 tragen solche Momente erhöhter Aufmerksam- begriffen werden, das in einer umfassenden Weise in keit, Momente der ästhetischen Erfahrung, zur soziale, sprachlich-kulturelle und politische Zusam- Selbstkonstitution bei. Von den eher beiläuigen menhänge eingebettet ist und in diesen Kontexten Erfahrungen des Alltags abgegrenzt, sind diese hervorgebracht wird. Erfahrungen, seien diese nun Momente für John Dewey als ästhetische Erfahrun- vorsprachlicher (z. B. Aufmerksamkeitsänderungen, gen bildend. Gerade die ästhetische Er fahrung ist Orientierungsreaktionen, intensive „unmittelbare“ durch Relexion, Rückbezug und Erinnerung, aber Empindungen, Affekte) oder sprachlicher Art (z. B. auch Prolexion und Vorwegnahme gekennzeich- Tagebuchaufzeichnungen, narrative Mitteilungen, net. In ästhetischen Erfahrungen werden wir also „subjektiv“ theoretische Ausführungen) werden unserer selbst als Wahrnehmende gewahr und in in kulturellen und politischen Kontexten geformt einer besonderen Weise der Großartigkeit und des und sie verweisen auf diese Kontexte. Zugleich sind Schmerzes. Es geht bei der ästhetischen Erfahrung Erfahrungen leibgebunden und leibvermittelt. In somit in einer besonderen Weise um ein sinnlich- Erfahrungen, so könnte es heißen, verleiblicht sich leibliches und leibgebundenes, diese Gebunden- der politisch-kulturelle Kontext und die Ereignisse, heit sinnlich aber zu transzendieren vermögen- die in ihm möglich werden; zugleich kontextuali- des Involviertsein. Damit ist nicht schlicht ein Akt siert und konkretisiert sich in Erfahrungen der der Wahrnehmung gemeint, sondern erstens eine Umstand, leiblich zu sein, zu meiner Leiblichkeit. Wahrnehmung der Wahrnehmung und zweitens eine sinnlich qualiizierte Wahrnehmungswahr- Zu einem Prozess ästhetischer Bildung formie- nehmung, die sich zwischen Genuss und Betrüb- ren sich nun ästhetische Erfahrungen in meiner nis ereignet, zwischen Unruhe und Befried(ig)ung. Perspektive nicht nur aufgrund dessen, dass sie Mit Deweys pragmatistischer Perspektive können eingebunden sind in die Kultivierung und Diffe- wir ästhetische Erfahrung als eine Sorte „anderer renzierung sowie die gegenstands- und leibbezo- Erfahrung“ verstehen, als Erfahrung eines Ereig- gene Ausweitung der Wahrnehmungswahrneh- nisses, eines Gegenstandes, einer Landschaft, eines mung, sondern vielmehr unter zwei Bedingungen. Handlungsvollzuges, eines anderen Menschen oder Erstens, wenn der Prozess der genüsslich-betrübli- auch als Selbsterfahrung – Erfahrungen, die, von chen Wahrnehmungswahrnehmung Bestandteil welcher Intensität und Dauer sie nun auch sein einer symbolisierten, also nicht bloß „innerlichen“, mögen, sich irgendwie unangemeldet und überra- Bezogenheit auf allgemeine Topoi ist. In der ästhe- schend einstellen und derer man sich als solcher tischen Dimension, schreibt Klaus Mollenhauer gewahr wird. In ästhetischen Erfahrungen setze (Mollenhauer 1998, S. 223), wird die Relexion des ich mich mithin in einer doppelten Weise in ein Verhältnisses der subjektiven Beindlichkeit des Verhältnis zu mir und der Welt und werde in ein Individuums „als Leib-Seele-Wesen zum kulturell Verhältnis gesetzt: Ich nehme (den Himmel, den oder gesellschaftlich Allgemeinen“ zum Thema. Fluss, das Gesicht, die Stimme der Nachbarin, die Ästhetische Erfahrungsprozesse sind bei Dewey Kühle des Steins, die runzelig gewordene Haut mei- immer auch an eine experimentelle und artikula- ner Unterarme, den unausgesetzt und gleichförmig torische, also an eine Verknüpfungen herstellende blinkenden Cursor auf dem Bildschirm, den krea- Grundhaltung gebunden. Erst wenn Verbindungen türlichen Schrei des Stürmers nach dem Torschuss) zwischen dem eigenen Handeln und dessen Konse- wahr und nehme wahr, dass ich wahrnehme. quenzen hergestellt sind, können wir nach Dewey Auch ästhetische Erfahrung sollte hierbei mei- von Erfahrung sprechen. Wir können im Anspruch, nes Erachtens – über Dewey hinaus – als Phänomen zwischen ästhetischer Bildung und ästhetischer 30 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Erfahrung zu unterscheiden, mit Mollen hauer an auch so erfahren. Diese Unbestimmtheit zeigt sich diesem Punkt über Dewey hinausgehen und Verknüp- in ästhetischer Erfahrung in einer offenkundigen fung nicht allein auf Wahrnehmung des Zusammen- Weise – sowohl in der sinnlichen Hinwendung auf hangs von Handeln und Konsequenzen beschränken, die sich entziehenden Objekte (Weltfremdheit) als sondern allgemein setzen: Immer dort, wo Assozi- auch im Hinblick auf das Wahrnehmen selbst (Selbst- ationen und Verknüpfungen zwischen Wahrneh- fremdheit). mungswahrnehmungen und, was immer dies konkret heißt, kulturell und gesellschaftlich be deutsamen Themenstellungen und Problemlagen gemacht werden, in denen sich ein Allgemeines anzeigt, und sei es, indem es sich entzieht, sind Er fahrungen Teil potenzieller Bildungsprozesse. Neben dem Bezug auf Fragen und Probleme, Erkundung und Befragung der Ordnungen als Anliegen ästhetischer Bildung in der Migrationsgesellschaft die in dem Sinne allgemein sind, als sie sich einer womöglich unbestimmt bleibenden Idee des kul- Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegun- turell oder (welt-)gesellschaftlich Allgemeinen gen besteht die zentrale pädagogische Aufgabe für annähern, weisen ästhetische Erfahrungen dann die Rahmung ästhetischer Bildungsprozesse darin, auf Prozesse ästhetischer Bildung, wenn die sinn- Situationen und Konstellationen zu arrangieren, in liche Wahrnehmungswahrnehmung zweitens im denen es für die Gegenüber (zum Beispiel Schüler/ Zusammenhang eines Prozesses der erfahrungsbe- innen) unter Nutzung vielfältiger symbolischer und gründeten Auseinandersetzung des und der Einzel- ästhetischer Formen möglich wird, Assoziationen nen steht, die ein politisch-ethisches Moment auf- zwischen dem von ihnen rezeptiv und produktiv weist. Dieses Moment kreist um die Frage: Wie will Wahrgenommenen und Erlebten zu vergangenen, und kann ich im Rahmen dessen, wie wir leben gegenwärtigen und zukünftigen Zusammenhängen wollen und können, leben? „Bildung“ verstehe ich herzustellen, sowie diese Assoziationen und Artiku- somit insgesamt als einen Ausdruck, der einen er - lationen wahrzunehmen und sie zu gestalten. fahrungsbegründeten und erfahrungsrelexiven Diese Assoziationen, Verknüpfungen und Arti- Prozess adressiert, in dem sich der und die Ein- kulationen betreffen die Auseinandersetzung mit zelne zu kulturell und gesellschaftlich allgemei- allgemeinen Fragen und Problemen. Eine solche nen sowie politisch-ethischen Anfragen, Anliegen Verbindung kann sich ergeben, wenn man sich und Ansprachen verhält. etwa damit auseinandersetzt, an welchem Ort der Ästhetische Bildung kann also weder auf die Welt und unter welchen Bedingungen und mit wel- Kenntnis von Kunstwerken, Konzerten und Theater- chen Konsequenzen die Farben, die im Kunstun- stücken, noch auf die Entwicklung formaler Qua- terricht Verwendung inden, hergestellt werden. litäten des Wahrnehmungsvermögens beschränkt Womöglich werden Annäherungen an die Beant- werden, sondern meint den Prozess, in dem ästhe- wortung dieser Frage selbst Gegenstand von ästhe- tische Erfahrungen in einen Bezug zum Allgemei- tischen Projekten im Unterricht, Projekten also, die nen und dem, was als erstrebenswert gelten kann, sich auf das Verhältnis der Einzelnen zu der Sache gesetzt werden. Das gesellschaftlich und kulturell All- in einer auch politisch-ethische Momente markie- gemeine wie auch das, was als wünschenswert gel- renden Weise beziehen. ten darf, ist hierbei nicht nur unbestimmt und auch brüchig, luide und spannungsreich, sondern wird 31 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Wenn wir als zentralen Gegenstand der Migrati- auf das Anliegen der Interkulturellen Pädagogik, onspädagogik Zugehörigkeitsordnungen und die also jener erziehungswissenschaftlichen Subdiszip- von ihnen ausgehende subjektivierende Macht lin, die sich mit migrationsgesellschaftlichen Diffe- verstehen, dann wird es nicht verwundern, dass renzverhältnissen befasst, schreibt Georg Auernhei- hier die Auseinandersetzung mit Zugehörigkeits- mer: „Das Programm einer interkulturellen Bildung ordnungen als zentrales Anliegen ästhetischer Bil- lässt sich auf zwei Grundprinzipien gründen: auf dung in der Migrationsgesellschaft vorgestellt wird. den Gleichheitsgrundsatz und den Grundsatz der Zugehörigkeitsordnungen haben sozialisierende Anerkennung anderer Identitätsentwürfe.“ (Auern- oder besser: subjektivierende Wirkung. Sie vermit- heimer 2001, S. 45). teln Selbst-, Fremd- und Weltverständnisse nicht nur kognitiv, sondern vor allem auch sinnlich-leib- Nun müsste man sich mit den Prinzipien, die lich. In diesen Verständnissen spiegeln sich soziale Auernheimer hier anspricht, genauer auseinander- Positionen und Lagerungen, spiegelt sich die diffe- setzen. Ich will mich auf das zweite Prinzip, das rentielle Verteilung von materiellen und symbo- der Anerkennung des und der Anderen und auch lischen Gütern und Anrechten. Wahrnehmungs- hierbei nur auf einen einzigen Punkt konzentrie- wahrnehmung an diesem Punkt heißt, sich zu den ren, da dieser mir hilft, mich dem politisch-ethi- eigenen Wahrnehmungsschemata in ein (sinnli- schen Fluchtpunkt, um den es geht, anzunähern. ches) Verhältnis zu setzen. Es geht hier also nicht Überspitzt formuliert lautet der Punkt: der Andere um Projekte ästhetischer Bildung, die durch das ist nicht anerkennbar, da der Andere nicht erkenn- Machen und Hören von Musik, das Machen und bar ist. Das heißt nicht, dass ich Anerkennung für Sehen von Theaterstücken, das Machen und Anfas- einen unangemessenen Grundsatz hielte, doch sen von Plastiken und Skulpturen, durch Erkun- bedarf das Prinzip der Anerkennung einer Ergän- dungen eigener und fremder Räume, Praxen und zung durch die Unmöglichkeit der Anerkennung Geschichten zu mehr Toleranz, zu mehr Freundlich- und die Einsicht, dass das, was nicht erkennbar und keit und Achtsamkeit im Umgang mit dem Fremden deshalb auch nicht anerkennbar ist, keinen Man- und Anderen beitragen wollen. Vielmehr stehen gel bezeichnet, sondern anerkannt werden sollte. die Auseinandersetzung, die verschiebende Erkun- Das heißt: Es geht hier um eine Anerkennung der dung des Schemas, das zwischen denen und diesen Nicht-Erkennbarkeit, oder angemessener formuliert unterscheidet, und seine sinnlich-leibliche Veran- der Unbestimmtheit desAnderen. Ich meine also, kerung im Zentrum einer migrationspädagogisch dass neben dem Gleichheitsgrundsatz, neben dem informierten ästhetischen Bildung. Es geht hierbei Prinzip der Anerkennung von Identitätsentwürfen darum, einen ästhetischen Rahmen zu schaffen, in auch das paradoxe Moment der Anerkennung der dem Lernende mit Hilfe des Gestaltens (qua) sym- Unmöglichkeit der Anerkennung ein Moment all- bolischer Formen Positionen und sich selbst in die- gemeiner Bildung in der Migrationsgesellschaft dar- ser Ordnung nicht nur kennenlernen, sondern auch stellt. Bertolt Brecht soll uns auf die Spur bringen: ausprobieren, anprobieren, verändern und verwerfen. „Der Untersetzte: ‚Der Pass ist der edelste Teil von Der politisch-ethische Fluchtpunkt einer mig- einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so ein- rationspädagogisch informierten ästhetischen fache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch Bildung, der auf eine andere Weise des Sehens kann überall zustandkommen, auf die leichtsin- gerichtet ist und diese Weise sondiert, soll hier nigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass abschließend charakterisiert werden. Im Hinblick niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er 32 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann Der Pass ist in dem Gespräch zwischen dem Unter- und doch nicht anerkannt wird.‘ setzten und Ziffel Ausweis formeller Zugehörigkeit. Ziffel: ‚Aber Pässe gibt es hauptsächlich wegen Der Mensch zählt wenig, die nationale Zugehö- der Ordnung. Sie ist in solchen [kriegerischen] Zei- rigkeit viel, sie ist Grundlage der Ansprüche dar- ten absolut notwendig. Nehmen wir an, Sie und auf, als Rechtssubjekt geachtet zu sein. Nationale ich liefen herum ohne Bescheinigung, wer wir Mitgliedschaft ist ein Prinzip, das der Erzeugung sind, so daß man uns nicht inden kann, wenn wir einer Wirklichkeit dient, in der zwischen jenen, die abgeschoben werden sollen, das wär keine Ordnung. dazugehören, und solchen, die nicht dazugehören, Sie haben vorhin von einem Chirurgen gesprochen. unterschieden wird. Und weil natio-ethno-kultu- Die Chirurgie geht nur, weil der Chirurg weiß, wo relle Kontexte soziale Wirklichkeiten der Differen- zum Beispiel der Blinddarm sich aufhält im Kör- zierung zwischen jenen und solchen sind, operieren per. Wenn er ohne Wissen des Chirurgen wegziehn sie mit dem Prinzip der Mitgliedschaft. Die Gleich- könnte, in den Kopf oder das Knie, würd die Entfer- artigkeit, die natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft nung Schwierigkeiten bereiten. Das wird Ihnen jeder in einem grundlegenden Sinne anzeigt, verdankt Ordnungsfreund bestätigen.‘“ (Brecht 2003, S. 7f.). sich dem Umstand, dass natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft ein Phänomen ist, das in einem binär Diese Passage aus den Flüchtlingsgesprächen kodierten Rahmen produziert und praktiziert wird. stellt die Bedeutung zertiizierter nationaler Zuge- Der kontextspeziische Mitgliedschaftsstatus einer hörigkeitspraxen und ihrer symbolischen Artefakte Person ergibt sich zunächst und im Kern über die heraus: Der Vorrang des Passes vor dem Menschen Beantwortung der Frage, ob sie Mitglied ist oder ergibt sich aus dem Wertgefälle zwischen ihnen. nicht. Dem binären Organisationsprinzip von Mit- Ein Mensch ohne Pass, selbst wenn es ein „moralisch gliedschaft zufolge bin ich entweder Mitglied oder guter“ Mensch ist, ist wenig wert; ein Mensch – Nicht-Mitglied. Kann ich die bedeutsamen Merk- selbst, wenn es kein „guter“ Mensch ist – ist mit male vorweisen, bin ich Mitglied, vermag ich dies einem Pass deutlich mehr und unter der Vorausset- nicht, bin ich kein Mitglied. zung, dass es sich um einen „guten“ Pass handelt, Dieses ermöglicht eine Klarheit und Eindeu- also einen, der die Zugehörigkeit zu einem ange- tigkeit der Zuordnung von Personen zu Kontex- sehen nationalen Kontext symbolisiert, viel mehr ten; zumindest wird diese Klarheit suggeriert. Die wert. Anerkennung nationaler Zugehörigkeit, so binäre Ordnung der Mitgliedschaft, die zwischen belehren uns die Gespräche der Flüchtlinge, ist „Wir“ und „Nicht-Wir“, zwischen einem Außen wichtiger als die Anerkennung des Menschen, da und einem Innen unterscheidet, bedarf, um dau- erst durch die Anerkennung nationaler Zugehö- erhaft und verlässlich wirksam zu sein, Verfah- rigkeit spezielle Rechte verbürgt sind, die über die ren, die die symbolische Ordnung herstellen und häuig auf ein Lamentieren beschränkte Anrufung bewahren, etwa das Verfahren der Kodiizierung. von Menschenrechten hinausgehen. Mit den ironi- Kodiizierung kann mit Pierre Bourdieu verstanden schen Mitteln der Flüchtlingsgespräche wird eine werden als „Verfahren des symbolisch In-Ordnung- Ordnung ersichtlich, die Menschen und Körper plat- Bringens oder des Erhalts des symbolischen In-Ord- ziert und den freien Gang der Körper (um sich zu nung-Bringens oder des Erhalts der symbolischen retten, um sich zu verbessern, um eine Erfahrung Ordnung, eine Aufgabe, die in der Regel den großen zu machen) durch Grenzziehungen und Ausweis- Staatsbürokratien zufällt.“ (Bourdieu 1992, S. 103f.). praktiken behindert. Zugehörigkeitsordnungen Natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft ist Ausdruck sind Machtordnungen. und Instrument einer kodiizierten Ordnung, die 33 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Menschen symbolisch unterscheidet und ihnen im und untersucht, sondern die der Ordnung entge- Zuge dieser Unterscheidung unterschiedliche Orte genlaufenden Prozesse und Phänomene der Ver- des Handelns und Selbstverständnisses zugesteht. unreinigung und Entgrenzung, der Verschiebung Die politische Regelung natio-ethno-kultureller Mit- und Versetzung kommen in den Blick. Die Auffas- gliedschaft, etwa Staatsangehörigkeits- und Staats- sung, dass Differenz die Scheidelinie binär organi- bürgerschaftsregelungen, schafft eine ofizielle und sierter Identitätskategorien darstelle, ist im Zuge formelle Realität der Differenz, die durch den Ver- der angesprochenen Theoriediskurse nachhaltig weis auf die dem Generierungsprozess zugrunde- ins Wanken geraten. Ein Verständnis von Differenz liegenden Kriterien diskursiv legitimiert und ein- als Ausdruck und Repräsentation einer benennba- gesetzt wird. ren Trennung zwischen vermeintlichen Antagonismen suggeriert, dass das, was als Unterschiedenes In schroff gegenteiliger Position zu der angespro- trennt und verbindet, erfassbar sei. Es gehört aber chenen politischen Unterscheidungspraxis stehend, zum Wesen des Unterscheidenden, zum Wesen der lautet eine bedeutsame kulturwissenschaftliche Relationierung, dass es „wesenlos“ ist. Erkenntnisperspektive der letzten Jahre: Dualisti- In diesem Zuge wird Differenz nicht als „blo- sche Sichtweisen auf Kultur, Differenz und Identi- ßer“ Unterschied, als das von einem identiizierba- tät sollen aufgeschlossen und geöffnet werden. Die ren Eigenen klar abgegrenzte Andere verstanden. Perspektive operiert, wenn wir sie politisch wen- Vielmehr werden Gegensätzlichkeiten – Eigenes den, mit zumindest zwei Ideen von „sollen“. Identi- und Anderes – als in einer unaulöslichen Bezie- täts- und Differenzkonzepte sollen so erweitert und hung stehend begriffen, die die Identiizierbarkeit modiiziert werden, dass nicht allein starre, kon- der antagonistischen Pole grundlegend problema- textfreie, schattierungsarme, binär gefasste und tisiert. Gleichzeitig wird versucht, der Unreinheit, eindeutige Identitäts- und Differenzverhältnisse der Unrepräsentierbarkeit und der Prozesshaftig- theoretisch-begriflich in den Blick kommen. Wei- keit von Differenz-Phänomenen Rechnung zu tra- terhin geht es darum, diese Phänomene der Unein- gen. Mit der Anerkennung der Verwobenheit von deutigkeit, des Changierens, diese Wesen im Über- Differenz und Identität wird die „Entweder-oder“- gang praktisch anzuerkennen und darin staatliche Ordnung fraglich. und kulturell institutionalisierte, nicht zuletzt pädagogisch vermittelte Zugehörigkeitspraxen als Herr- In dieser Befragung und Fraglichkeit wird auch schaftspraxen zu erkennen. Der differenztheore- die Differenz zwischen legitimer und illegitimer tische Diskurs hat sich analytisch-deskriptiv wie Zugehörigkeit befragt und fraglich – hierzu einen auch normativ-präskriptiv den Zwischentönen, Beitrag zu leisten, scheint mir nicht die unwesent- Randgängen und Überstiegen zugewandt. lichste Aufgabe ästhetischer Bildung. Bei „(il)legitimer Zugehörigkeit“ handelt es sich um ein Thema, Theoriediskurse, die sich um Kategorien wie dem in unserem Zusammenhang eine große, in Ambivalenz (Bauman 1995), Dekonstruktion (But- einer Annäherung: eine allgemeine Bedeutung zu- ler 1991), Transdifferenz (Lösch 2005) oder Unrein- kommt – „unser Zusammenhang“ ist einerseits die heit (Mecheril 2009) gruppieren, markieren in neu- weltgesellschaftliche Situation, die nicht unwesent- eren Debatten eine Verschiebung des Fokus. Nicht lich von politischen, kulturellen und auch mili- das die Ordnung, die Teilung, die Grenzziehung und tärischen Kämpfen um Zugehörigkeit und legi- die Grenze, die Differenz und die Differenzkonst- time Zugehörigkeit geprägt ist. Andererseits heißt ruktion konstituierende Moment wird bezeichnet „unser Zusammenhang“: Bildung und Pädagogik 34 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 unter Bedingungen migrationsgesellschaftlicher um die Frage, welche Kultur speziische Migranten- Differenz; und auch für diesen unseren konkreten gruppen haben, wie diese Kultur zu beschreiben ist Zusammenhang kann man sagen, dass die Zugehö- und wie unter den unterschiedlichen kulturellen rigkeitskategorie zentral ist. Denn Pädagogik unter Gruppen Verständigung möglich ist usw., sondern Bedingungen von Differenz ist mit Fragen der Legiti- vielmehr um die Frage, aufgrund welcher kultu- mität und mit Fragen der pädagogischen Legitimier- rellen Praktiken in pädagogischen Zusammenhän- barkeit von Zugehörigkeiten, der Ermöglichung, gen zwischen „Migranten“ und „Nicht-Migranten“ aber auch der Distanzierung von Zugehörigkeiten unterschieden wird, auf Grund welcher Bedingun- befasst. gen „Migranten“ als Migranten wahrgenommen werden, wie Kinder lernen, sich als „Nicht-Aus- Interaktive und soziale Positionen, die Einzelne länderin“ oder „Fremde“ zu verstehen und wie in einnehmen und von denen sie gewissermaßen ein- alltäglichen Praxen innerhalb und außerhalb der genommen werden, inden in einem ethnisierten ofiziellen Orte neue, „widerständige“ Formen der und rassistischen Raum der diskursiven und ima- Überschreitung der traditionellen Grenzen erprobt ginären Praxen statt. Was wir in sozialen Zusam- und eingeübt werden, eine Erkundung also der Pra- menhängen für uns und für andere sind, sind wir xen, Lebensweisen und Geschichten, die sich dem jeweils auch mit Bezug auf unsere in kontextspezi- eindeutigen Unterscheiden entziehen. ischen Praxen und Imaginationen bestätigte natio- Die (Ermöglichung von) Achtsamkeit für dieses ethno-kulturelle Zugehörigkeitsposition. Legitime alltagsweltlich kreative Potenzial von wandernden, Zugehörigkeit hat in diesem Zusammenhang eine nicht eindeutigen Positionen und hybriden Praxen zweifache Bedeutung. Einerseits meint legitime ist meines Erachtens einer der zentralen Bezugs- Zugehörigkeit, dass ich in dieser Praxis der Fremd- punkte migrationspädagogisch informierter ästhe- und Selbstpositionierung prinzipiell identiizier- tischer Bildung. bar bin, dass ich also kraft einer sozial erkennbaren Zugehörigkeit an der Praxis des Positionierens teilhabe. Unter Bedingungen der hierarchischen Anordnung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten – und wir können von der Gegebenheit einer solchen Hierarchie für die gegenwärtige Situation in Deutschland ausgehen – unter Bedingungen der hierarchischen Anordnung der Zugehörigkeiten heißt legitime Zugehörigkeit weiterhin, dass ich der dominanten natio-ethno-kulturellen Gruppe zugehöre. Legitime Zugehörigkeit ist Resultat und Anzeichen des kulturellen Nachweisens von Zugehörigkeit überhaupt. Sie ist aber darüber hinaus auch die kulturelle Beglaubigung der Zugehörigkeit zu einer oder der anerkannten Gruppe. Unter der Perspektive Migrationspädagogik ist es sinnvoll, sich diese Beglaubigungspraktiken genauer anzusehen. Es geht also unter dieser Perspektive nicht so sehr 35 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Literatur Dr. Paul Mecheril ist Universitätsprofessor für Inter- • Adorno, T. W. (1989): Minima Moralia. Relexionen kulturelle Bildung am Institut für Pädagogik der Fakul- aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: tät Bildungs- und Sozialwissenschaften an der Carl Suhrkamp. von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Schwer- • Auernheimer, G. (2001): Anforderungen an das punkte sind Migration und Bildung, Interkulturelle Bildungssystem und die Schulen in der Einwande- Pädagogik, Pädagogische Professionalität, Rassismus- rungsgesellschaft. In: G. Auernheimer (Hrsg.): forschung. Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen. Opladen: Leske + Budrich Verlag, S. 45–58. • Bauman, Z. (1995): Moderne und Ambivalenz. Frankfurt am Main: Fischer. • Bourdieu, P. (1992): Die Kodiizierung. In: ders., Rede und Antwort. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 99–110. • Brecht, B. (2003): Flüchtlingsgespräche. Frankfurt am Main: Suhrkamp. • Butler, J. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. • Dewey, J. (1998): Kunst als Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. • Gomolla, M./Radtke, F.-O. (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften. • Lösch, K. (2005): Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: L. Allolio-Näcke/B. Kalscheuer/A. Manzeschke (Hrsg.): Differenzen anders denken. Bausteine einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main: Campus, S. 22–45. • Mecheril, P. (2003): Prekäre Verhältnisse. Über natioethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit. Münster: Waxmann. • Mecheril, P. (2009): Politik der Unreinheit. Über die Anerkennung von Hybridität. Wien: Passagen (2. Auflage). • Mecheril, P./Castro Varela, M. do Mar/Dirim, İ./Kalpaka, A./Melter, C. (2010): Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. • Mollenhauer, K. (1998): Bildung, ästhetische. In: D. Lenzen (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe, Bd. I. Reinbek: Rowohlt, S. 222–229. 36 SHORT CUTS – EINBLICKE IN DIE PRAXIS 37 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Daniela Bystron Bei dem vorliegenden Text handelt sich um eine Montage von zwei Texten: Der erste Teil wurde Institutionelle Kunstvermittlung: Für wen und mit wem? Monate vor Beginn der Ausstellung für den Reader zu Who Knows Tomorrow verfasst, in dem erstmals in der Geschichte der Nationalgalerie ein Text zur Kunstvermittlung in einem Ausstellungskatalog Platz haben sollte. Dieser schilderte nicht die Umsetzung, sondern die Überlegungen der Planungsphase, die Möglichkeiten und Grenzen der am Beispiel der Sonderausstellung Vermittlungsarbeit im Rahmen der Sonderaus- »Who Knows Tomorrow« der National- stellung und machte die Bedingungen der Kunst- galerie Berlin 1 vermittlung transparent. Letztendlich wurde der Text nicht abgedruckt, da er sich von den anderen Im Kontext von Who Knows Tomorrow, einer Ausstel- wissenschaftlichen Herangehensweisen unter- lung mit fünf zeitgenössischen Künstler_innen afri- schied und zu selbstrelexiv erschien. Der zweite kanischer Herkunft, entstand im Sommer 2010 ein Teil besteht aus Auszügen der nach der Ausstellung Begleitprogramm, das nicht nur Ausstellung und erschienenen Publikation der Kunstvermittlung; künstlerische Positionen vermittelte, sondern darü- dabei handelt es sich um eine Dokumentation der ber hinaus Diskussionen anregen, Fragen aufwerfen Programme und Diskussionen aus unterschied- und Unsichtbares sichtbar machen wollte: lichen Perspektiven. Vor- und Rückschau zeigen „Sie [die Ausstellung Who Knows Tomorrow] lädt die Überlegungen zum Programm für Who Knows fünf international anerkannte Künstlerinnen und Künstler, Tomorrow, behandeln aber auch Fragen, Konlikte deren Arbeiten durch ihre afrikanische Herkunft geprägt und Möglichkeiten der institutionellen Kunstver- sind, zu einer Ausstellung nach Berlin ein. Ihre an vier mittlung. Standorten der Nationalgalerie [Friedrichswerdersche Kirche, Alte und Neue Nationalgalerie und Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart] realisierten und größtenteils im Außenbereich installierten Werke laden ein zu einem Dialog über Fragen, die angesichts der gegenwärtigen Teil I Mehr sein als Besucher_in3 Umbrüche unerschütterlich geglaubter politischer, gesell- „Es genügt nicht, dass da Dinge zu sehen sind. [...] Es schaftlicher und ökonomischer Systeme aktueller sind denn kommt vielmehr darauf an, was wir dort machen, denn je: Ist die Unsicherheit der Zukunft die größte Sicherheit, da sind, neben den Dingen und den Orten, schließlich auch die wir heutzutage haben? Welche und wessen Geschichte wir selbst. [...] Was tun denn die Menschen im Museum? gilt es, heute zu erzählen und zu verhandeln? Welchen Bei- Und was könnten sie tun? Können sie mehr sein als Besu- trag leistet die Kunst, um (kunst-)historische Konstrukte, cher? [...] Die Orte der Begegnung und der Diskussion kom- Klischees und Stereotype zu überwinden?“ 2 men uns abhanden.“4 3 Zeitpunkt der Textverfassung ist Januar 2010 unter Mitarbeit von Maren Ziese. 1 Sonderausstellung „Who Knows Tomorrow“ der Nationalgalerie Berlin vom 4.6. bis 26.9.2010. 2 www.whoknowstomorrow.de, (10.6.2010). 4 Hans Belting: „Das Museum als Medium“, in: Ekkehard Mai (Hrsg.) (2001): Die Zukunft der alten Meister. Perspektiven und Konzepte für das Kunstmuseum von heute. Köln u. a.: Böhlau, S. 41. 38 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Im Gegensatz zur kuratorischen Arbeit in einem Auseinandersetzung. 5 Pierangelo Maset zufolge Museum, die im Allgemeinen als sichtbares Ergeb- ist es Aufgabe einer kritischen Kunstvermittlung, nis Ausstellung und Katalog hervorbringt, bleibt Türen zu öffnen für eine ästhetische Erfahrung, die die Kunstvermittlung meist unsichtbar. Häuig als im direkten Zusammenhang mit den eigenen sozi- bloße Dienstleistung gesehen, werden Bildungsan- alen und kulturellen Erfahrungen steht. „Pädago- gebote und Begleitprogramme kaum veröffentlicht, gik wird hier zu einer Pädagogik der Ermöglichung dokumentiert oder evaluiert und sind mit Beendi- – oder räumlich ausgedrückt, einer Erfahrung von gung der Ausstellung nicht mehr sichtbar. Doch Raumschaffung.“6 welchen Überlegungen folgt, welche Handlungsspielräume hat Kunstvermittlung? Dies soll im Fol- Bei den jüngeren Ansätzen geht es darum, Me - genden anhand der Ausstellung Who Knows Tomor- thoden zu entwickeln, wie Informationen über row transparent gemacht werden. Dabei stellen sich die Künstler_innen, Kunstwerke und die Ausstel- einige Fragen: Wie kann Vermittlungsarbeit für die- lungsthematik an das Publikum weitergegeben, mit ses Projekt aussehen? Welche Kontexte müssen auf- Diversität umgegangen und existierende Konlikte gezeigt werden? Mit welchen Diskussionen, Schwie- produktiv gestaltet werden können. Zunehmend rigkeiten, Überraschungen und Bereicherungen ist kristallisiert sich heraus, wie schwer es heute ist, zu rechnen? In welchem Verhältnis stehen die Betei- auszumachen, wer Kultur deiniert, welche Kunst ligten? Wer spricht in Ausstellungen worüber und vermeintlich wertvoller ist als andere und wo die wie? Wie setzen sich die Verantwortlichen zu kul- Grenzen zwischen Kunstmarkt und Kulturpoli- tureller Differenz ins Verhältnis, und welche nor- tik, Bildungs- und Emanzipationskultur verlaufen. mierenden Vorannahmen liegen dem zugrunde? Ziele, Publikumsgruppen, Formen und Konzeptionen der Kunstvermittlung sind somit vielfältig. Das Feld der Kunstvermittlung ist in Deutsch- Ein Fazit lautet: Kunstvermittlung kann nur in der land eine junge Disziplin – auch wenn es seit den Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen 1970er-Jahren Bildungsreformbestrebungen gab, Verhältnissen stattinden. Transformative Ansätze die das Museum als Ort für Eingeweihte kritisier- entwerfen die Kunstvermittlung demnach weniger ten und als einen Lernort mit der Garantie „Bil- als einen Transfer im Sinne von Dienstleistung und dung für alle“ einforderten. Doch bisher sind diese Übertragung von Vorgedachtem, sondern im Sinne Visionen kaum verwirklicht und Programme der einer Veränderung der Institution und Emanzipa- institutionalisierten Museumspädagogik meist tion des Publikums. Damit stellt sie eine Situation standardisiert. Sie richten sich in der Regel an nicht kalkulierbarer Erfahrungsprozesse für beide ein vorab interessiertes Publikum, das aus eige- Seiten dar: für die Institution und das Publikum.7 nem Antrieb kommt, anstatt gezielt Einladungen an sogenannte Nicht-Besucher_innen auszusprechen. Die Ansätze im Bereich der kulturellen Bildung sind sehr unterschiedlich: Während die einen argumentieren, dass es darum gehe, das Publikum dazu zu erziehen, Kunst zu erkennen und zu verstehen, betonen die anderen die Bedeutung einer künstlerisch-ästhetischen, offenen und kritischen 5 Vgl. Pierangelo Maset: „Zur Notwendigkeit ästhetischer Operationen“, in: Sabine Baumann, Leonie Baumann (Hrsg.) (2006): Wo laufen S(s)ie denn hin?! Neue Formen der Kunstvermittlung fördern. Wolfenbütteler Akademie-Texte, Band 22. 6 María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: „Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus“, in: Carmen Mörsch u. a. (Hrsg.) (2009): Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Berlin/Zürich: Diaphanes, S. 339. 7 Vgl. Christine Litz: „Projektfonds Kulturvermittlung Niedersachsen“, in: Baumann/Baumann (2006), S. 28. 39 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Das Publikum ist in diesem Sinne mehr als (nur) Bezüge zwischen Nationalgalerie und den Einzel- Besucher_in und wird als mündig, kritisch und kul- positionen von Who Knows Tomorrow? turell teilhabend deiniert. Und genau dafür gilt es von Institutionsseite, Foren zu schaffen. Mit der Ausstellung geraten auch allgemeine Aspekte des deutsch-afrikanischen Verhältnisses in den Blick, wie etwa Afrikas kultureller Beitrag zur Bei Who Knows Tomorrow handelt es sich um eine Gegenwart, das Leben der afrikanischen Diaspora Ausstellung, die, erstmalig in diesem Umfang, der in Berlin sowie die Methoden und Materialien der zeitgenössischen afrikanischen Kunst bei den Staat- afrikanischen Gegenwartskunst. lichen Museen zu Berlin und im Berliner Außen- Hier spielt die Nationalgalerie als Institution raum eine Bühne bietet. So sind fünf international der Moderne eine wichtige Rolle bei der Herausbil- etablierte afrikanische Kunstschaffende – El Anat- dung nationalstaatlicher Identitäten und kolonialer sui, Zarina Bhimji, Antonio Olé, Yinka Shonibare, Denkweisen. Die Konstruktion der Nation in muse- Pascale Marthine Tayou – eingeladen, die Häuser alen Diskursen und Sammlungen ist historisch eng der Nationalgalerie mit ihren Arbeiten ortsspezi- mit der Konstruktion von „Andersheit“9 verknüpft. isch zu bespielen. Die Gegenwartskunst Afrikas spielte bei den Staatlichen Museen zu Berlin bislang Die Vermittlung in der Nationalgalerie ist von im Kontext der Nationalgalerie keine bedeutende strukturellen Bedingungen und Alltagsroutinen Rolle. Afrikanische Sammlungsstücke inden sich bestimmt, wie beispielsweise standardisierte Ver- allenfalls im Ethnologischen Museum der Staatli- mittlungsprogramme, Zusammensetzung und Her- chen Museen zu Berlin, darunter auch vereinzelt kunft des Personals und Publikums zeigen. Die Ver- zeitgenössische Kunstwerke. Neben dem kunstwis- mittlung thematisiert die Wahrnehmung von und senschaftlichen – und gerade nicht ethnologischen das Sprechen über differente Kulturen und fragt, – Zugang wird die Auseinandersetzung mit der Ber- wie eurozentrische Vorstellungen Konzepte der liner Kolonialgeschichte angestrebt. eigenen Identität und kultureller Zugehörigkeit In Who Knows Tomorrow beschäftigen sich die prägen. Künstler_innen aus ihrer Sicht mit der deutschen Kolonialgeschichte, mit den Folgen der Berliner Wichtige Aspekte bei der Kunstvermittlung von Kongo-Konferenz von 1884/85 und mit der Genese Who Knows Tomorrow sind die Auseinandersetzung der Berliner Museumslandschaft mit ihren Samm- mit dem bereitgestellten Wissen der Kurator_innen lungen und Häusern der „deutschen Kunst“8. Insbe- und die Offenlegung der Funktionsweisen der Insti- sondere die Gründungs- und Sammlungsgeschichte tution. Das bedeutet konkret, dem Publikum Werk- der Nationalgalerie wird befragt: Wie sind die Aus- zeuge und Kontexte zu geben, die es ermöglichen, wahlkriterien von Sammlungen europäischer die Ausstellung mit ihren Botschaften zu hinterfra- Museen zu umreißen? Was war die ursprüngliche gen. Die Arbeit der Kunstvermittlung wird beein- Vision der Nationalgalerie, und wo wurde der natio- f lusst durch die Einbeziehung der historischen nale Sammlungsweg verlassen? Ist Kunst aus Afrika und gegenwärtigen Diskurse um Kunst, Pädago- in der Sammlung der Nationalgalerie vertreten? gik, Öffentlichkeit und Partizipation. Relevant sind Wo markieren die künstlerischen Positionen Leer- ferner auch die Theorien des Postkolonialismus und stellen der Sammlung? Wo und wie ergeben sich 8 Teil der Giebelinschrift „DER DEUTSCHEN KUNST MDCCCLXXI“ der 1876 eröffneten Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel Berlin. 9 Siehe zum Prozess des „Othering“ beispielsweise das Kapitel „The Spectacle of the ‘Other’“, in: Stuart Hall (Hrsg.) (1997): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices. London/Thousand Oaks/New Delhi, S. 223–292. 40 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Überlegungen zum Expertenbegriff. Für die Ent- hier auf einer anderen Ebene erarbeitet werden, wicklung von Bildungsangeboten heißt das, bisher um sie so durch Gespräche und Workshops für das nicht im Museum repräsentierte Gruppen einzula- Publikum nachvollziehbar zu machen. Die Gestal- den und in der Begegnung mit neuen Interessens- tung des Begleitprogramms ermöglichte, bisher im gruppen Vielstimmigkeit zu gestalten. Museum nicht repräsentierte – also nicht sichtbare Die Kunstvermittlung im postkolonialen Dis- – Themen, Gruppen und Akteur_innen in die Dis- kurs sieht sich als kritische Übersetzungsarbeit. kussionen mit einzubeziehen; so wurden bei Who Das bedeutet, dass Wissen nicht mehr autoritär Knows Tomorrow nicht nur Kulturschaffende mit weitergegeben wird, sondern Dialoge entstehen.10 afrikanischem Hintergrund und Expert_innen zu Im Sinne von Jacques Rancière kann die Rolle der Kontextthemen der Ausstellung, sondern auch Ini- Vermittelnden zu einer der Mitlernenden werden11, tiativen der afrikanischen Diaspora bei der Mitge- Leerstellen und Lücken werden offengelegt, um sich staltung des Programms eingeladen. so auf das Wagnis des gemeinsamen Lernens einzulassen. Begonnen hat die Vorbereitung für das Programm im Februar 2010: Aus Gesprächen mit Initi- TEIL II Sichtbar machen ativen, Expert_innen und Künstler_innen der afrikanischen Diaspora und zivilgesellschaftlichen Vereinen entwickelte sich schnell die Idee für die Reihe Wir haben Gäste: Einmal wöchentlich trafen Zeigen, eine der häuigsten Gesten in Museen, hat wir uns entweder in den Räumlichkeiten der ein- viele Ebenen: Durch die Zusammenstellung aus- geladenen Initiativen oder in denen der National- gewählter Kunstwerke können Aspekte sichtbar galerie. Beide Parteien stellten sich vor und berich- gemacht werden, die vorher unsichtbar waren. Die teten über ihre Aufgaben und Pläne. Diese Treffen zeitgenössische Kunst Afrikas, die in der National- fanden öffentlich statt und luden das Publikum zu galerie in Ausstellungen und Sammlungen unter- Diskussionen ein. repräsentiert ist, erhielt bei Who Knows Tomorrow erstmals einen Raum. Die daraus entstandenen Begegnungen – Diskussionen in der Ausstellung – eröffneten Expert_ innen und professionellen Amateur_innen neue Wenn mit der Eröffnung im Wesentlichen die Sichtweisen auf Themen der Schau und gaben dem Arbeit der Kurator_innen endet, beginnt meist erst Publikum vielfältige Perspektiven; diese ergaben die eigentliche Arbeit mit dem Publikum. Diese Pro- sich entweder durch den Blick aus unterschiedli- zesse sind gekennzeichnet durch ihren situativen chen Disziplinen oder durch kulturelle sowie per- und performativen Charakter. Der Kunstvermitt- sönliche Erfahrungshorizonte. So diskutierten lung kommt im Prozess des Sichtbarmachens eine beispielsweise Kerstin Pinther, Professorin für die entscheidende Rolle zu: Was ist unsichtbar und was Kunst Afrikas, mit dem Künstler Robin Rhode über soll sichtbar werden? Diese Frage, die eine Frage von Urban Art and Urban Space, die Historikerin Paulette hegemonialer Repräsentation ist, war entscheidend Reed-Anderson mit dem Historiker Joachim Zel- für die Konzeption des Vermittlungsprogramms. ler über Berlin als (post-)koloniale Metropole und die Wissensinhalte, Kontexte und Diskurse können Autorin Grada Kilomba las aus ihrer Publikation 10 Vgl. Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: „Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus“, in: Mörsch 2009. von Judith Strohm, AfricAvenir International e. V., 11 Jacques Rancière (2007): Der Unwissende Lehrmeister. Wien. interviewt. Aus der theoretischen und relexiven Plantation Memories vor und wurde anschließend 41 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Auseinandersetzung mit Themen wie kulturelle preis und wurden durch gemeinsames Recherchie- Differenz, Postkolonialismus und Kritisches Weiß- ren innerhalb der Besucher_innengruppe zu Mit- sein und deren Bedeutung für das Sprechen über lernenden. Kunst mit dem Publikum entstand ein Fortbildungsseminar für das Vermittlungsteam im Vorfeld der Praxisorientierte Workshops für Kinder und Ausstellung mit Referent_innen des Vereins Bil- Jugendliche stellten Verbindungen zur eigenen dungswerkstatt Migration & Gesellschaft. Lebenswirklichkeit her. Ich und die Anderen, ein Angebot für Kinder, untersuchte altersgerecht Eine weitere Herausforderung für die Arbeit der und kritisch die Konstruktion von Bekanntem und Kunstvermittlung waren die räumlichen Gegeben- Unbekanntem. Im Radiolabor erforschten Jugend- heiten: Fünf Werke, größtenteils Außeninstallati- liche die Ausstellung und berichteten über sie in onen, wurden in vier Museen der Nationalgalerie einer einstündigen Livesendung aus ihrer persön- über die Stadt verteilt gezeigt. Die Orte von W ho lichen Sicht. Profis aus den Bereichen Bildende Knows Tomorrow waren die Alte Nationalgalerie, die Kunst, Journalismus und Radio gaben Einblicke in Friedrichswerdersche Kirche, die Neue Nationalga- ihre Arbeit und Tipps zur Produktion der Sendung. lerie und der Hamburger Bahnhof – Museum für Kunstvermittlung, Postkolonialismus, Critical Whiteness Gegenwart – Berlin. Um die Ausstellung als Gan- Studies – unter diesem Titel fand die begleitende zes erfahrbar zu machen, konnten die Besucher_ Lehrveranstaltung am Kunsthistorischen Institut innen alle Werke an den jeweiligen Standorten in der Freien Universität Berlin statt, in der sowohl das moderierten Fahrradtouren erkunden. Die Art der Programm als auch theoretische Referenzpunkte Wahrnehmung durch die Bewegung schaffte zwi- vorgestellt wurden. schen den einzelnen Stationen viel Freiraum; Kontexte zur Stadtgeschichte, wie beispielsweise die Von Fortbildungen und Diskussionen während Berliner Kongo-Konferenz von 1884/85, konnten der Ausstellung bleiben im Nachhinein oft nur Erin- vor Gedenktafeln oder historischen Gebäuden vor nerungen. Um diese in der Rückschau unsichtbaren Ort thematisiert werden. Die Tour Afrika im Wed- Prozesse abzubilden, entstand die Idee der Doku- ding – Der schwarze Kiez in Kooperation mit Nächste mentation zur Kunstvermittlung von Who Knows Ausfahrt Wedding e.V. und geleitet durch Jose- Tomorrow, die unterschiedliche Perspektiven und phine Apraku vertiefte diese Kontexte außerhalb Positionen von Referent_innen und Teilnehmer_ der Ausstellung. Der performative Ansatz der Künst- innen versammelt. Damit erhält das Begleitpro- lergruppe Hajusom ließ einen künstlerisch-prak- gramm eine dauerhafte Sichtbarkeit und wird im tischen Zugang zur Ausstellung zu. Der Workshop Rückblick kritisch relektiert. Erinnerung 1884/85–2010 unter Mitwirkung von Aminatu Jalloh, Claude Jansen, Mable Preach und Ben Sanogo-Willers ließ Dialoge entstehen, in denen Fazit: sich Personen unterschiedlicher Herkunft, diverser Biograien und Wissensstände über die Koloni- Die Sonderausstellung Who Knows Tomorrow bot der algeschichte und heutige Beziehungen zwischen Kunstvermittlung thematisch, mit ihrer konzepti- Afrika und Europa zwischen Personen unterschied- onellen Setzung und den inanziellen Ressourcen licher Herkunft, diverser Biograien und Wissens- eine Möglichkeit, neue Interessensgruppen anzu- stände austauschten. Die Vermittelnden nahmen sprechen und mit ihnen Kooperationen anzubahnen. dabei eine neue Rolle ein: Sie gaben Wissenslücken Vor allem von den vorgeschalteten Netzwerktreffen 42 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Wir haben Gäste erhofften wir uns, neben ersten Kontaktaufnahmen, neue Perspektiven, Kooperationen und neues Wissen. Im Rückblick lässt sich aber feststellen, dass solche Prozesse langfristiger angesetzt werden müssen, um eine wirksame Zusammenarbeit für beide Seiten herbeiführen zu können12. Die gegenseitigen Erwartungen, hierarchischen Strukturen und inanziellen Ressourcen waren sehr unterschiedlich – was die Treffen als Subtext begleitete. Vertrauen und wirksame Kooperationen mit nicht institutionalisierten Gruppen brauchen mehr Zeit, mehr Raum und eine intensivere Kultur der Debatte. Die Bedingungen dafür sind in den Institutionen häuig noch nicht geschaffen. Am Ende bleiben Fragen, die vor allem aus der Situation einer temporären Sonderausstellung zum Thema Afrika an eine institutionelle Bildungsarbeit gestellt werden: Wie können marginalisierte und im Museum nicht repräsentierte Gruppen tatsächlich in die Konzeption und Gestaltung der Museumsarbeit eingebunden werden? Was sind die Erwartungen der jeweiligen Gruppen? Welche Formate können helfen, diese in einer respektvollen und ehrlichen Auseinandersetzung zu debattieren? Wie müssen sie gestaltet sein? Wie kann man jenseits von temporären Projekten eine gemeinsame und diverse Kulturarbeit gestalten? Welche Bedingungen müssen dafür geschaffen werden? Daniela Bystron ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Bildung bei den Staatlichen Museen zu Berlin und verantwortlich für die Kunstvermittlung im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart und die Neue Nationalgalerie. Sie ist Lehrbeauftragte der Freien Universität Berlin, an der Bundesakademie für kulturelle Bildung und dem Institut für Kulturkonzepte Wien. 12 Siehe hierzu die Texte von Yvette Mutumba und Judith Strohm in der Dokumentation zum Begleitprogamm von „Who Knows Tomorrow“, Berlin 2010. 43 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Annika Niemann / Ev Fischer Kulturen verbinden? 1. einLaden Im Frühjahr 2010 zeigte die ifa-Galerie Berlin mit Kunstvermittlung in der ifa-Galerie Berlin der Ausstellung „connect: Kunstszene Vietnam“2 elf aktuelle künstlerische Positionen aus Hanoi und Der folgende Text skizziert zwei Vermittlungspro- Ho-Chi-Minh-Stadt. Die hier versammelten Arbeiten jekte, die im Jahr 2010 von der ifa-Galerie Berlin des thematisierten die Ausbildungs- und Produktions- Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) initiiert bedingungen von Künstler_innen in Vietnam, den wurden. Als Akteure im internationalen Kunst- Wertewandel der sich rasant verändernden Gesell- austausch zeigen die ifa-Galerien Berlin und Stutt- schaft, die Spätfolgen des Krieges, Zensur und Kor- gart Ausstellungen aktueller Kunst, Architektur ruption; die historischen Konliktlinien zwischen und Design aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Nord- und Südvietnam schienen dabei jedoch kaum Osteuropa. Dabei verstehen sich die Ausstellungen eine Rolle zu spielen. als eine Plattform für den Dialog zwischen Menschen und Kulturen. Der Ansatz der begleitenden Wir fragten uns: Wie ist das eigentlich in Ber- Kunstvermittlungsprogramme ist es, die in den lin? Hier leben laut Statistischem Landesamt Berlin Ausstellungen präsentierten Positionen und aufge- rund 12.000 Menschen vietnamesischer Herkunft worfenen globalen Fragen an den lokalen Lebens- – die Eingebürgerten, Illegalen und Asylbewerber_ kontext anzubinden – also internationale Themen innen nicht mitgezählt.3 Die Motive ihrer Migra- mit den Perspektiven und Erfahrungen unterschied- tion sind dabei ganz unterschiedlich – und ihre licher Öffentlichkeiten vor Ort zu verschränken. Geschichte eng mit der deutsch-deutschen Vergan- Die folgenden Beispiele aus der Vermittlungs- genheit verknüpft. Aber wer weiß eigentlich, wann, praxis mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen wie und warum die Menschen hierhergekommen wurden ausgewählt, da sie zum einen, aus unter- sind? Welche Ausgangsbedingungen haben sie vor- schiedlichen Richtungen, die Realität der Migra- gefunden, welche Partizipationsmöglichkeiten tionsgesellschaft zum Gegenstand machen. Zum boten ihnen die beiden deutschen Staaten? Was anderen verweisen sie auf jenes Paradox, das Paul geschah nach der Wende, und wie ist die Situation Mecheril als den Widerspruch zwischen der Aner- der nachfolgenden Generation heute?4 kennung und der Herstellung des Anderen formuliert hat.1 2 „connect: Kunstszene Vietnam“, ifa-Galerie Berlin, 18.12.2009– 05.04.2010, http://www.ifa.de/ausstellungen/dt/rueckblick/ 2009/kunstszene-vietnam/ (15.09.2012) 3 Vgl.: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) (Hg.) (2007): Die vietnamesische Diaspora in Deutschland. Struktur und Kooperationspotenzial mit Schwerpunkt auf Berlin und Hessen. http://www.gtz.de/de/dokumente/de-vietnamesische-diaspora-2007.pdf (12.04.2012) 1 vgl. z. B. Mecheril, Paul u.a. (2010): Migrationspädagogik. Weinheim/Basel: Beltz, S. 190. 4 Siehe auch: Beth, Uta / Tuckermann, Anja (2008): Heimat ist da, wo man verstanden wird – Junge VietnamesInnen in Deutschland. Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag. 44 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Wir beschlossen, diesen Fragen gemeinsam mit Migrationsgeschichten Jugendlichen nachzugehen und uns – losgelöst von der Ausstellung – dem lokalen Kontext zuzuwen- Als Endpunkt eines fast 30 Jahre andauernden Krie- den: den Migrationsbiograien der vietnamesischen ges wurde im Jahr 1976 aus Nord- und Südvietnam Communities in Berlin. Das JugendKunstProgramm die Sozialistische Republik Vietnam. In der Folge „einLaden“ entstand in Kooperation mit Schüler_ nahm die Bundesrepublik Deutschland zwischen innen der 9. Klasse der Hildegard-Wegscheider- 1975 und 1986 rund 38.000 Flüchtlinge (sogenannte Oberschule in Anbindung an den Fachunterricht Boots- oder Kontingentslüchtlinge) aus Südviet- Geschichte. Während zwei Monaten und 5 Work- nam auf; 60.000 Vietnames_innen aus der Sozia- shops entwickelte sich ein transdisziplinäres Pro- listischen Republik Vietnam kamen danach in den jekt, das historische und geograische Aspekte, die 1980er-Jahren als Vertragsarbeiter_innen in die im Unterricht erarbeitet wurden, mit einer künst- DDR.5 lerischen Forschung verknüpfte. Besonders für sie hatte der Berliner Mauerfall gravierende Konsequenzen, verloren sie doch mit Zwischen Landsberger Allee und dem Ende der DDR die vertragliche Grundlage ihres Warschauer Straße – Versuch einer Aufenthaltes. Wie wirkt sich die Verwurzelung im Annäherung ehemaligen Osten bzw. Westen Berlins auf die heutige Lebenssituation aus? Und wie gestaltete sich das Projektstart war eine Exkursion in den ehemaligen Zusammenleben der beiden Migrant_innengruppen Ostteil der Stadt: Wir machten uns auf den Weg im wiedervereinten Deutschland? nach Friedrichshain, wo viele vietnamesische Läden und Imbisse das Stadtbild prägen, um uns auf einem Bei einem folgenden Workshop trafen wir Thi Fotospaziergang den visuellen Codes im Straßen- Hoang Lan Do, die selbst als Studentin nach Berlin bild anzunähern und hierüber etwas über Kultu- kam und heute als Soziologin über die Geschichte ren und Alltag vietnamesischer Migrant_innen in der vietnamesischen Vertragsarbeiter_innen Berlin zu erfahren. Zwischen Landsberger Allee forscht. Sie berichtete uns von den Lebensbedin- und Warschauer Straße trafen wir in regelmäßi- gungen der Vertragsarbeiter_innen in der DDR, gen Abständen auf Blumen- oder Textilläden, auf wo jeder Lebensbereich reglementiert wurde und Geschäfte mit Geschenkartikeln oder Nagelstu- eine Integration gar nicht vorgesehen war. Im Work- dios, deren Schilder auf vietnamesische Besitzer_ shop arbeiteten wir mit Archivmaterial und alten innen schließen ließen. Ins Gespräch zu kommen, Dokumenten der DDR-Verwaltung, die uns unter erwies sich derweil als schwer – die Vietnames_ anderem Einblick gaben in die Ausstattung der innen reagierten meist freundlich, aber reserviert. Gemeinschaftsunterkünfte (geschlechtergetrennt), Auch die Jugendlichen hinterfragten die Situation: Familienplanung (nicht er w ünscht; bei einer „Sind unsere Blicke zu neugierig oder aufdringlich? Schwangerschaft bedeutete dies für eine Frau die Warum sollten die Angesprochenen überhaupt mit prompte Rückreise) und sogenannte Endausreise- uns reden?“ Die Erfahrung gab Anlass, darüber kisten (vorgeschrieben maximal 2 Tonnen, darun- nachzudenken, wie nahe man einem anderen mit ter höchstens 5 Fahrräder). Fragen und Blicken treten darf; und wie wir in Dialog kommen können, ohne das Gegenüber aufgrund seiner Andersheit zu adressieren. 5 vgl. GTZ 2007, S. 4–6 45 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Beim nächsten Treffen berichtete uns der heute in Berlin lebende Modedesigner Huy Thong von den Migrationswegen der Bootslüchtlinge. Aus poli- 2. Kulturtransfers tischen Gründen musste seine Familie nach der Machtübernahme durch Ho Chi Minh die Heimat- „Kulturen verbinden“, so das Motto des ifa6, bedeutet, stadt Saigon verlassen. Im Gespräch erfuhren wir den Kulturbegriff stets aufs Neue zu hinterfragen am Beispiel seiner Familiengeschichte viel über und zum Ausgangspunkt für Austauschprozesse zu die politische Situation und Repression infolge des machen. Thematisiert werden solche „Kulturtrans- Krieges zwischen Nord- und Südvietnam, die viele fers“ in der gleichnamigen Ausstellungsreihe, die Menschen zur Flucht bewog, von den lebensbedroh- Anfang 2010 mit der Ausstellung „Another Country lichen Fluchtbedingungen auf See und den trauma- – Eine andere Welt“7 startete: Sieben künstlerische tischen Folgen – und von dem Neubeginn im West- Positionen aus dem Nahen Osten, aus Europa, der teil der Stadt. Türkei, Nord- und Südamerika befragten die Begegnungen und Wanderungen von Ideen, Waren, Tech- EinLaden, AufLaden, UmLaden niken, Strategien und Motiven als wesentlicher Teil einer von Migration geprägten, globalen Wirklich- Die Eindrücke aus den Begegnungen, aus Recher- keit. chen und den ganz persönlichen Anliegen der In inhaltlicher Fortsetzung nahm das Vermitt- Jugendlichen wurden im Weiteren zum Ausgangs- lungsprogramm die Ausstellung zum Anlass, die punkt einer künstlerischen Verarbeitung. Formal verschiedenen Formen und Richtungen kulturel- griffen wir dabei das in der Ausstellung themati- ler Transfers im Berliner Kontext zu thematisie- sierte Motiv des liegenden Händlers in Form eines ren und dabei insbesondere den Perspektiven Bauchladens auf: als kleinste mobile Ausstellungs- junger Migrant_innen als Akteur_innen des Kultur- läche, als Werkraum und als Kommunikations- transfers Raum zu geben. Das Projekt basierte auf zentrum. Entstanden sind 10 museale Bauchläden, einer Kooperation der ifa-Galerie Berlin mit dem die jeweils eigene Themenstellungen künstlerisch AWO Jugendmigrationsdienst8 und fand im Rah- umkreisen und mit den Lebensbedingungen der men eines mehrwöchigen Kurses statt, der neben Jugendlichen in Beziehung setzen: die vietname- berulichen Qualiikationsangeboten und Sprach- sische Küche in Berlin, die Kriegsspätfolgen von vermittlung auch ein interkulturelles Training Agent Orange, die Geschichte der Flüchtlingshilfe umfasste. Gemeinsam mit den zehn Teilnehmer_ am Beispiel der Cap Anamur, Migrationswege oder innen zwischen 16 bis 26 Jahren nahmen wir die die reglementierten Wohnbedingungen der Ver- Ausstellung zum Ausgangspunkt, um uns über die tragsarbeiter_innen. Den Projektabschluss bildete eine „Ausstellung in der Ausstellung“, mit der die Schüler_innen ihre Ergebnisse in der ifa-Galerie Berlin vorstellten: Ein Tableau, das für eine Woche zum Auladen, Abladen und Umladen von Gedanken, Ideen und Eindrücken einlud. 6 Siehe: http://www.ifa.de/ifa/ziele/leitbild/ (14.09.2012) 7 „Kulturtransfers #1: Another Country – Eine andere Welt“, ifaGalerie Berlin 22.10.2010 – 23.01.2011, http://www.ifa.de/ausstellungen/dt/rueckblick/2010/another-country/ (aufgerufen am 14.09.2012) 8 Der Jugendmigrationsdienst (JMD) der AWO in den Berliner Bezirken Tempelhof-Schöneberg und Charottenburg-Wilmersdorf begleitet und moderiert den Integrationsprozess für neu zugewanderte junge Menschen zwischen 12 und 27 Jahren; vgl.: http://www.awoberlin.de/public/content4_a/de/ 00000011250000000305.php (13.09.2012). 46 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen, Res- deutsche Wörter arabischen Ursprungs, sammelten sourcen und Widersprüche in Bezug auf Kultur- Imbiss-Speisekarten, suchten in Küchenschränken transfers auszutauschen: Wer transferiert da eigent- und Supermarktregalen nach „hybriden“ Lebens- lich was von woher nach wohin, und wie geht der mitteletiketten, auf denen sich in Sprache oder Transfer vonstatten? Wer sind die Akteur_innen, Bildern unterschiedliche kulturelle Bezugsräume was sind die Gegenstände, welche Wege und Medien kreuzten, oder fotografierten die Klingelschil- „bewegen“ die Kultur(en) in unserem Umfeld? der großer Wohnblocks, um Rückschlüsse auf die Das Vermittlungsformat9 verfolgte dabei zwei Bewohnerstrukturen zu ziehen. Spuren: Zum einen inszenierte es im Kleinen einen Das Material wurde künstlerisch weiterverar- Kulturtransfer innerhalb dieser von ganz unter- beitet in Form einer Projektzeitung im Rahmen der schiedlichen Herkunfts- und Lebenskontexten folgenden Ausstellung vorgestellt und verschränkte geprägten Gruppe, der eine ästhetische Ausein- so die konkrete Transferpraxis im lokalen Kontext andersetzung mit kultureller Aneignung und Dif- mit den globalen Fragen der Ausstellung. ferenz ermöglichen sollte. Zum Auftakt hatten Wichtiger als das sichtbare Produkt waren je - wir die Teilnehmer_innen gebeten, einen Gegen- doch die Erfahrungen, die während des Tuns – stand mitzubringen, der von ihrer Kultur erzählt. manchmal zunächst als Störung – zur Sprache Im Ausstellungsdisplay platziert, eröffnete dieser kamen. Ein Beispiel hierfür war die Fluktuation zum einen die Auseinandersetzung mit den Kunst- der Gruppe, die den begonnenen Prozesse ab- oder werken der Ausstellung und zum anderen einen unterbrach. Wie sich im Gespräch zeigte, waren Austausch über die Frage: Was ist eigentlich „Kul- diese „Bruchstellen“ häuig auf die ganz konkrete tur“? Den so initiierten ästhetischen Kulturtransfer (Über-)Lebenssituation zurückzuführen, wie etwa führten wir in den kommenden Wochen sinnbild- Formalitäten des Aufenthalts, Jobs oder der Kampf lich fort: Wöchentlich wechselten die Objekte ihre um die Anerkennung von Berufsabschlüssen. Sie Besitzer_in und begleiteten jede_n in den Alltag. In machten die Kategorie der sozialen Differenz zu einem Logbuch konnten Beobachtungen und Erfah- einem zentralen Bezugspunkt im Projekt. rungen mit diesem Gegenstand dokumentiert werden. Die Aufzeichnungen dienten uns im weiteren Verlauf als Grundlage, den Umgang mit dem Ande- Fazit ren im eigenen Lebenskontext zu relektieren und Prozesse der Aneignung und Abgrenzung zu befra- Die gezielte Kooperation mit Migrant_innen ba - gen: Wie verändert sich die Wahrnehmung, wenn sierte auf dem Gedanken der Anerkennung einer der Gegenstand seinen Kontext wechselt? Inwie- Erfahrung, die oft als nachteilig besetzt wird, und fern wandelt sich die Beziehung zum Anderen? Und im Kontext der Ausstellungen als Ressource sichtbar wann wird das Andere zum Eigenen? wurde. Indem die Projekte die Teilnehmer_innen jedoch von vornherein in ihrer „Expertise“ als Mig- Die zweite Projektspur lenkte den Blick auf die rant_innen adressierten, wurden diese gewisser- sichtbare Präsenz kultureller Übersetzungen im urba- maßen in die Rolle von „Lieferanten des Fremden“ nen Alltag. Die Teilnehmer_innen recherchierten gedrängt. Zugleich führte die starke Betonung der kulturellen Dimension dazu, dass eigentlich viru- 9 Ausführlich nachzulesen in: Niemann, Annika: Kulturtransfers. In: Trunk, Wiebke (2011): Voneinander lernen – Kunstvermittlung im Kontext kultureller Diversität, Hg. Institut für Auslandsbeziehungen (ifa). lente soziale und politische Themen in den Hintergrund gerieten. 47 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Erkennt man eine gesellschaftliche Realität an, die von hybriden Identitäten geprägt ist, liegt auf der Hand, dass Kulturtransfers alle Menschen in der Migrationsgesellschaft gleichermaßen betreffen; eine Fokussierung migrantischer Perspektiven führt insofern nicht nur zu einer Verschiebung des Bildes, sondern produziert zugleich eben jene Differenzen, die es eigentlich zu überwinden gilt. Insbesondere für eine Institution wie die ifaGalerie Berlin, die sich die Vermittlung von Kunst aus nicht-westlichen Herkunftskontexten zur Aufgabe gemacht hat, stellt sich daher die Frage, in welchem Verhältnis die Betonung nationaler, ethnischer oder kultureller Kategorien in Ausstellungskontexten zu einer Herstellung jener Differenzen steht, die ja letztlich durch die eigene Arbeit dekonstruiert werden sollen. Die skizzierten Vermittlungsprojekte stellten einen Versuch dar, Produktionsbedingungen und Thematiken der „global art“ an lokale Erfahrungen und Fragestellungen anzubinden – und provozieren zugleich ein Nachdenken darüber, wie sich Vermittlung positionieren kann, ohne eine Zugehörigkeitsordnung fortzuschreiben, die die Position des „Anderen“ im „Außen“ markiert. Ev Fischer, Diplom-Kulturarbeiterin, lebt und arbeitet in Berlin; seit 1991 ist sie Projektkoordinatorin der ifaGalerie Berlin. Annika Niemann, Dipl.-Kunsttherapeutin/-pädagogin, lebt und arbeitet als freie Kunstvermittlerin und Kuratorin in Berlin; seit 2007 Kunstvermittlung für die ifaGalerie Berlin und seit 2011 für den Kunst-Raum des Deutschen Bundestags. 48 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Frauke Miera gegründet; seit einigen Jahren tauschen sich Stadtund Regionalmuseen in einem offenen Netzwerk Die Geschichte der „Anderen“? darüber aus, wie sie ihre Sammlungen um das Thema Migration erweitern können. Die Anzahl historischer Ausstellungen und Kunstausstellungen, die sich mit Einwanderung, Auswanderung, Flucht und Asyl, Identität und Hybridität befas- überlegungen zum Sammeln und sen, haben in den letzten zwei Jahrzehnten deut- Ausstellen von „Migration“ lich zugenommen. Das ist erfreulich. Ich möchte jedoch zwei Punkte zu bedenken geben: Ich habe eingangs gesagt, dass uns interessiert, Das Thema meines Beitrags lautet „Die Geschichte wie wir langfristig sinnvoll Museumsarbeit machen der ‚Anderen‘? Überlegungen zum Sammeln und können, die der Differenzierung und Vielschichtig- Ausstellen von ‚Migration‘“. Zu diesem Thema keit unserer Gesellschaft gerecht wird – es geht also möchte ich einige Beispiele aus der Praxis vorstel- nicht allein um Migration, sondern, kurz gesagt, len, die sich vor allem auf meine Erfahrungen im auch um Themen wie gesunder Körper/Behinde- Projekt „Migration macht Geschichte“ am Bezirks- rung, soziale Ausgrenzung, Geschlecht und Hete- museum Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin, bezie- ronormativität. Diese Forderungen sind nicht neu. hen.1 Langfristig entwickeln und realisieren wir 2 Sie beschäftigen Aktivist_innen sowie die Nouvelle Projekte, die danach fragen, wie wir sinnvoll Muse- Muséologie bzw. die New Museology seit den 1960er- umsarbeit machen können, die der Differenzierung und 70er-Jahren bzw. die Museum Studies heute.4 und Vielschichtigkeit unserer Gesellschaft gerecht Dennoch inden Theorien eines inklusiven Museums wird, und wie in der Regel von Museen vernachläs- zumindest im deutschsprachigen Raum bisher nur sigte oder marginalisierte Gruppen teilhaben bzw. wenig Eingang in die Praxis. Auch wenn wir uns ihre Themen Eingang in die Museumsarbeit inden hier auf das Thema Migration konzentrieren, denke können. ich dennoch, dass es sinnvoll ist, sich immer wieder Bevor ich auf konkrete Praxisbeispiele eingehe, ein paar Anmerkungen vorab: zu fragen, was in unseren Beiträgen wirklich migrationsspeziisch ist und welche Thesen und praktischen Erfahrungen sich auf die Öffnung von Kultur- Die Fragen, ob Migrant_innen ins Museum institutionen allgemein übertragen lassen. gehen, wie man sie dazu motivieren könnte, ob und Darüber hinaus denke ich, dass der Fokus auf wie Themen der Migration in Ausstellungen auftau- das Thema Migration mit der allgemeinen öffentli- chen oder ob es „eine Ästhetik der Migration“3 gibt, chen Integrationsdebatte zu tun hat. Dies hier wei- scheinen Konjunktur zu haben. Der Deutsche Muse- ter auszuführen, würde den Rahmen sprengen. umsbund hat 2010 einen Arbeitskreis Migration Die Zunahme entsprechender Förderprogramme 1 Das Projekt wurde vom Hauptstadtkulturfonds gefördert und hatte eine Laufzeit von Januar 2010 bis März 2012. 4 Vgl. z. B. Sharon MacDonald: „Museen erforschen. Für eine Museumswissenschaft in der Erweiterung“, in: Joachim Baur (Hrsg.) (2010): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld, S. 49–69; Jocelyn Dodd, Richard Sandell (Hrsg.) (2001): Including Museums: Perspectives on Museums, Galleries and Social Inclusion, Leicester; Léontine Meijer-van Mensch: „Vom Besucher zum Benutzer“, in: Museumskunde 74 (2009), Heft 2, S. 20–26. 2 Die nachfolgenden Ausführungen gehen auf die Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Lorraine Bluche zurück. 3 Vgl. Mieke Bal: „Migratory Aesthetics: Double movement“, in: Exit Nr. 32 (Exodus), Nov. 2008/Januar 2009 http://www.exitmedia.net/prueba/eng/articulo.php?id=266, (18.10.2011). 49 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 bei Stiftungen ist aber ein Indiz für die Konjunk- Zunächst möchte ich hier die Laborausstellung tur des Themas Integration und Migration. Ein wei- „NeuZugänge. Migrationsgeschichten in Berli- terer wichtiger Grund dafür, dass sich Kulturein- ner Sammlungen“6 als Beispiel für den Versuch richtungen zunehmend für das Thema Migration der strukturellen Öffnung der Museen vorstellen. interessieren, ist sicher die Tatsache, dass diese Ein- Anschließend gehe ich am Beispiel der Ausstellung richtungen Migrant_innen stärker als Besucher_ des Bezirksmuseums Friedrichshain-Kreuzberg mit innengruppen erschließen wollen.5 In den letzten dem Titel „ortsgespräche“ auf stärker konzeptio- Jahren sind daher einige Initiativen zu beobach- nelle Fragen ein. ten, um diese Besucher_innengruppe zu gewinnen. Nach meinem Eindruck bilden sich aber in vielen Initiativen von Museen und anderen Kultureinrichtungen zwei Aspekte des in der Integrationsdebatte dominanten Diskurses ab. Zum einen herrscht die Vorstellung vor, dass Migrant_innen ein Deizit hät- Was sammeln? Laborausstellung „NeuZugänge. Migrationsgeschichten in Berliner Sammlungen“ ten, das es auszugleichen gelte, in dem man sie zum Besuch deutscher Kulturinstitutionen motiviert. Ein Schwerpunkt unseres zweijährigen Projekts war Zum anderen werden in partizipativen Projekten die Frage, welche Objekte ein historisches Museum und speziellen Führungen Besucher_innen mit in Bezug auf das Thema Migration und kulturelle Migrationshintergrund in der Regel genau als diese Vielfalt sammeln sollte. Anstatt damit zu begin- angesprochen, also allein in ihrer Eigenschaft als nen, relativ konzeptlos Objekte von Migrant_innen Menschen mit Migrationshintergrund, und damit zu sammeln, um ihr „kulturelles Erbe“ zu sichern, erneut zu den „Anderen“ gemacht. wollten wir zunächst einmal zurückschauen. Unsere Annahme war, dass es einige Objekte in den Muse- Unserer Ansicht nach geht es aber um mehr, umssammlungen gibt, die etwas über Migration nämlich um die Öffnung und Veränderung der erzählen, aber bisher kaum oder nicht als solche Kultur institutionen der Aufnahmegesellschaft, und wahrgenommen werden. Unser zentrales Anliegen zwar strukturell und konzeptionell. Das haben wir bestand also darin, die Museums- bzw. Sammlungs- – in kleinen Schritten – mit dem Projekt „Migration mitarbeiter_innen dafür zu sensibilisieren, solche macht Geschichte“ versucht und werden diese Ziele Informationen und Erzählungen überhaupt wahr- in zukünftigen Projekten weiterverfolgen. zunehmen und zu dokumentieren, also auch entsprechend zu verschlagworten und zu kontextualisieren. Das von uns ursprünglich als Kooperation zwischen Stadtmuseum Berlin und Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg geplante Projekt weitete sich erfreulicherweise durch die Beteiligung der Forschungsgruppe „Experimentierfeld Museologie“ 5 Vgl. Vera Allmanritter, Klaus Siebenhaar (2010): Kultur mit allen! Wie öffentliche deutsche Kultureinrichtungen Migranten als Publikum gewinnen. Berlin: B & S Siebenhaar. 6 Die Laborausstellung „NeuZugänge“ war vom 30.01. bis 27.01. 2011 im Berliner Kreuzberg Museum zu sehen. Sie war eine Kooperation zwischen dem Berliner Bezirksmuseum FriedrichshainKreuzberg, dem Stadtmuseum Berlin, dem Museum für Islamische Kunst (Berlin) und dem Werkbundarchiv/Museum der Dinge (Berlin) und der Forschungsgruppe der Technischen Universität Berlin „Experimentierfeld Museologie“. 50 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 der Technischen Universität Berlin sowie des Muse- Kriterien bestimmt, halten wir diesen Ansatz für ums für Islamische Kunst und des Werkbundar- sinnvoll. chivs/Museum der Dinge aus. Wie sind wir vorgegangen? Zunächst haben wir die Museumsmitarbeiter_innen gebeten, Objekte auszuwählen, von denen sie meinten, dass sie etwas über Migration erzählen. Um aber die eigenen Wahr nehmungsmuster und das in Museen ixierte Die Ausstellung „ortsgespräche. stadt – migration – geschichte. vom halleschen zum frankfurter tor“ im Kreuzberg Museum ab 29.01.201210 Wissen zu relektieren, haben wir diese Objekte in Diskussionsrunden mit verschiedenen sogenannten Im nationalen wie im lokalen Geschichtsmuseum Laien – mit und ohne Migrationshintergrund – vor- werden klassischerweise die dominanten Vorstel- gelegt und die Teilnehmer_innen zu den Objekten lungen von kollektiver Identität repräsentiert und befragt. Ihr Wissen und ihre Assoziationen fanden das scheinbar eindeutige kulturelle Erbe gezeigt. ebenso wie die Objekte und die Texte der Museums- Bisher kommen in den Dauerausstellungen deut- mitarbeiter_innen Eingang in die Ausstellung.7 Lei- scher Museen in der Regel die Geschichte und die tend war die Idee des „revisiting collections“8 bzw. Erfahrungen von Migrant_innen entweder gar im Grunde das von Annita Kalpaka und Paul Meche- nicht vor oder aber sie werden meist in einer recht ril genannte Prinzip, zunächst einmal vom eigenen kleinen Extra-Abteilung verhandelt, nicht aber Nicht-Wissen auszugehen und offen zu sein für als Querschnittsthema oder selbstverständlicher neues oder anderes Wissen.9 Bestandteil von allgemeiner Geschichte. Diese Diskussionsrunden hatten unseres Erach- Auf der anderen Seite gibt es, wie eingangs tens Modellcharakter für einen Weg wie man Muse- erwähnt, seit den 1990er-Jahren einen gewissen umssammlungen auf ihre gesamtgesellschaftliche Boom von Migrationsausstellungen, in denen zum Bedeutung hinterfragt und gegen den Strich bürs- Beispiel die Geschichte einzelner Gruppen – sor- ten kann. Diesen Weg halten wir für zukunftsfä- tiert nach Herkunftsland oder Migrationsform – hig, allerdings möglichst mit einer wesentlich län- oder aber die Chronologie von Einwanderungen geren Vorbereitungs- und Praxisphase, als sie uns in eine Stadt oder eine Region erzählt werden.11 zur Verfügung stand. Auch in Bezug auf die Fragen, wie man eine gesamtgesellschaftlich relevante Sammlung in einem Museum aufbauen kann, nach welchen Kriterien gesammelt wird und wer diese 7 Die Ergebnisse sowie die Auswertung weiterer partizipativer Elemente der Laborausstellung „NeuZugänge. Migrationsgeschichte(n) in Berliner Sammlungen“ werden an anderer Stelle ausgeführt (Publikation zur Ausstellung in Vorbereitung). 8 Zum Projekt „Revisting Collections, Revealing Signiicance, Museums, Libraries and Archives“, London, vgl. http://www.mlalondon.org.uk/uploads/documents/revisiting_collections.pdf (26.9.2011). 9 Annita Kalpaka, Paul Mecheril: „‚Interkulturell‘. Von speziisch kulturalistischen Ansätzen zu allgemein relexiven Perspektiven“, in: Paul Mecheril u. a. (2010): Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz, S. 96f. 10 Vgl. hierzu ausführlich Lorraine Bluche, Frauke Miera: „Die Ausstellung „ortsgespräche“ im Kreuzberg Museum. Partizipation und ‚geteilte‘ Erinnerungsräume aus der Sicht der Kuratorinnen“, in: Felix Ackermann, Anna Boroffka, Georg H. Lersch (Hrsg.): Partizipative Erinnerungsräume. Theorie und Praxis dialogischer Vermittlung und Wissensbildung in Museen und Ausstellungen, i. E. 11 Vgl. z. B. die zufällige Auswahl: „Angekommen. Russlanddeutsches Leben“, LWL-Freilichtmuseum Detmold, 2009; „gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration“, Wien-Museum, 2004; „Hier geblieben. Zuwanderung und Integration in Niedersachsen 1945 bis heute“, Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, 2004; „Zwischen Kommen und Gehen... und doch Bleiben – ‚Gastarbeiter‘ in Deutschland 1955–1973“, Südwestdeutscher Rundfunk International, 2005; „Projekt Migration“, DOMiT, Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. und andere, 2005; „Von Fremden zu Frankfurtern – Zuwanderung und Zusammenleben“, Historisches Museum Frankfurt am Main, 2004; „Geteilte Welten. Einwanderer in Hamburg“, Museum der Arbeit 51 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Auch hier bleibt Migrationsgeschichte Sonderge- Wir erzählen auf zwei Ausstellungsetagen die schichte und wird nicht als Teil der allgemeinen Geschichte von Orten. In der einen Etage werden Geschichte verstanden. Im Mittelpunkt stehen sechs Orte vertieft dargestellt – also z. B. in Ber- zudem oft die Erfahrungen des Fremd-Seins, des lin-Kreuzberg der Görlitzer Park, ehemals Görlit- Anders-Seins. zer Bahnhof, oder das Urbankrankenhaus und in Berlin-Friedrichshain die heutige Oberbaum-City, Nun gibt es gute Gründe für solche Migrations- ehemals Narva-/Osram-Glühlampenwerk. In der ausstellungen: Sie verweisen auf das bisherige Dei- zweiten Etage stellen wir eine Vielzahl von persönli- zit in der Geschichtspräsentation und machen die chen Geschichten zu mehr als einhundert Orten in Geschichte der Migrant_innen einem größeren Publi- Form von virtuellen, sich kreuzenden Stadtspazier- kum bekannt. Schließlich inden sich Migrant_innen gängen vor. Sie beruhen auf Audiointerviews mit in solchen Ausstellungen oft erstmalig in einem deut- Bewohner_innen des Bezirks. Wir fragten bezogen schen Museum mit ihren Geschichten repräsentiert auf beide Etagen, wer sich wie an diese Orte erin- und anerkannt. Gerade den Aspekt der Repräsenta- nert und stellten die gleichen Fragen an verschie- tion und möglichen Identiikation halten wir für sehr dene Akteur_innen. Wir suchten jeweils bewusst wichtig. Dennoch ist zu kritisieren, dass in den Aus- nach Migrant_innen und ihren Nachkommen und stellungen meist Migrant_innen auf eben ihre Mig- deren Aktivitäten an den Orten – wir haben in der rationsgeschichte reduziert werden. ersten Etage auch bewusst Orte gewählt, die zumindest in bestimmten Zeiten Relevantes über Migra- Bei der Konzeption einer neuen stadtgeschicht- tion erzählen können (die Orte in der zweiten Etage lichen Ausstellung für das Kreuzberg Museum wählten die Befragten selbst). Dabei sei angemerkt, stellte sich für uns als Kurator_innen also die Frage: dass das kein Problem war; eher war es ein Prob- Wie sollen wir den Spagat schaffen, einerseits Mig- lem, die Zahl der Orte zu beschränken. Das heißt, rationsgeschichte deutlich sichtbar zu machen, wir rückten bewusst den Fokus auf den Einluss zu repräsentieren und gleichzeitig andererseits von Migration und Migrant_innen, aber wir redu- zu „normalisieren“, eben Migrant_innen nicht als zierten unseren Blick nicht darauf. Und: Wir frag- Migrant_innen zu exponieren, zuzuordnen und so ten Migrant_innen nicht gezielt nach ihrer Migrati- wieder zu den „Anderen“ zu machen? Wie Migra- onsgeschichte. Dennoch erzählt die Ausstellung viel tionsgeschichte als wesentlichen Bestandteil von über das Leben und die Erinnerungen von Migrant_ Stadtgeschichte erzählen? Wie die Unterschied- innen und Nicht-Migrant_innen. Wir hoffen, dass lichkeit, Vielstimmigkeit von Erinnerung hör- und damit beides gelingt, Repräsentation und „Norma- sichtbar machen? lisierung“ oder, anders gesagt, Anerkennung und Wir haben uns für folgendes inhaltliches Kon- die Dekonstruktion einheitlicher Geschichtsbilder. zept entschieden: Schließlich setzten wir bei der Konzeptionalisierung und Ausstellungsvorbereitung verschieHamburg, 2003; „Fremde in Deutschland – Deutsche in der Fremde. Schlaglichter von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart“, Museumsdorf Cloppenburg, 1999; „Jeder nach seiner Façon. 300 Jahre Zuwanderung nach Friedrichshain-Kreuzberg“, Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg Berlin, 2005; „Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005“, Deutsches Historisches Museum Berlin, 2005; „Gastarbeit in Hannover. Geschichten vom Kommen, Gehen und Bleiben“, Historisches Museum Hannover, 2011. dene Formen der Partizipation um. In Workshops mit Teilnehmer_innen, die politisch, sozial, kulturell im Bezirk aktiv waren oder sind, überprüften wir das Orte-Konzept und bauten es aus. Aus dem Kreis der Workshop-Teilnehmer_innen und weiteren Personen entstand ein Beirat, der im Dreimonatsturnus 52 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 tagte, und den Fortgang des Projekts kritisch und unterstützend begleitete. Auch wenn die Entscheidungsmacht über die Inhalte und ihre konkrete Umsetzung letztendlich bei uns als Kuratorinnen lag, nahmen die Beiratsmitglieder doch in verschiedenen Punkten Einluss auf bestimmte Elemente der Ausstellung. So änderten wir zum Beispiel aufgrund der Diskussionen im Beirat die Auswahl der in der Ausstellung vertieft zu präsentierenden Orte. Einzelne Beiratsmitglieder wurden Interviewpartner_innen und Leihgeber_innen für bestimmte Ausstellungsbereiche. In beiden Ausstellungen, die wir im Rahmen des Projekts „Migration macht Geschichte“ realisiert haben, haben wir neue konzeptionelle Ansätze und partizipative Methoden erprobt. Ob es uns auf diesem Wege gelungen ist, gerade nicht die Geschichte der „Anderen“ zu erzählen, sondern die Vielschichtigkeit von Geschichte und Erinnerung zu zeigen, entscheiden letztlich die Besucher_innen. Frauke Miera, Dr. phil., Politologin, freie Kuratorin und Projektentwicklerin hinsichtlich eines inklusiven Museums (mit Lorraine Bluche), 2010/2011 Leiterin des Projekts „Migration macht Geschichte“, Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin, zuvor Ausstellungsmitarbeit in verschiedenen Museen und Forschung zu Migration/Integration/Inklusion. 53 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Rubia Salgado sind. Freire sagt, dass der Unterschied zwischen Lernenden und Lehrenden epistemologischer Natur Aufrisse zur Relexivität sei, und dass dieser Unterschied die Rechtfertigung aller pädagogischen Handlungen bilde. Die Lehrenden verfügen über hegemonial legitimiertes Wissen, das sie autorisiert in einem bestimmten Lernsetting in der Funktion der Lehrenden (oder Ich wurde eingeladen, bei der Tagung „Kunstver- Vermittler_innen) aufzutreten, zu sprechen und zu mittlung in der Migrationsgesellschaft“ einen kur- handeln. Die Lehrenden sind in seiner Konzeption zen Input zum Thema der Zusammenarbeit zwi- jedoch keine Wissensvermittler_innen, sondern sie schen Migrant_innen und Kunstvermittler_innen strukturieren und begleiten den Prozess der Wis- zu präsentieren. Dieser Text ist eine leicht bearbei- sensproduktion (Mayo 2006, S. 69–72). Die Lernen- tete Wiedergabe des damaligen Beitrags, bei dessen den verfügen ebenfalls über ein Wissen, das auf- Vorbereitung ich mich für die Bezeichnung „päda- gewertet und anerkannt werden sollte, ohne es zu gogisches Verhältnis in der Migrationsgesellschaft romantisieren oder zu idealisieren, d. h. auch der im Feld der Kulturarbeit“ entschied. Im Beitrag Umgang mit dem sogenannten marginalisierten werden aus der Perspektive einer Kulturarbeiterin Wissen soll laut Freire (und wiederum im Einklang und Erwachsenenbildnerin in einer Selbstorgani- mit Gramsci) einer kritischen relexiven Auseinan- sation von Migrantinnen1 in Form kurzer Aufrisse dersetzung im Rahmen des Lernprozesses unterzo- Themen wie Dialog, Differenz, Anerkennung, Wis- gen werden (ebd., S. 78). sen und Macht behandelt. Da die Tagung den Versuch unternahm, Kunstvermittlung in Verschrän- Wir orientieren uns in unserer Arbeit bei maiz kung mit dem Konzept der Migrationspädagogik zu am Prinzip der Wechselseitigkeit, ohne den Unter- relektieren, wird vorrangig auf den Ansatz der päd- schied zwischen Lernenden und Lehrenden zu agogischen Relexivität Bezug genommen, die Paul leugnen. Aber obwohl die Beschreibung des Unter- Mecheril im Rahmen seines Konzeptes zur Migrati- schieds als epistemologische Differenz notwendig onspädagogik entwirft. ist, halten wir sie jedoch für nicht hinreichend. Und nicht nur im Fall der Arbeit zwischen Mig- Dialog und Differenz rant_innen und Mehrheitsangehörigen wäre es nötig aber nicht hinreichend, den Unterschied als epistemologischen zu beschreiben, denn auch für Bei maiz beziehen wir uns oft auf Paulo Freire, einen den Fall, dass Lernende und Lehrende zum Beispiel brasilianischen Pädagogen, der hier in Europa mit Mehrheitsösterreicher_innen wären, würde unse- dem Konzept der „Pädagogik der Unterdrückten“ res Erachtens diese Behauptung gelten. Um jedoch bekannt wurde/ist. Paulo Freire beharrt, wie auch das gewählte Thema dieses Beitrags zu fokussieren, Antonio Gramsci, auf dem Prinzip der Wechselsei- beschränke ich meine Überlegungen auf das päda- tigkeit im pädagogischen Verhältnis. Das heißt, gogische Verhältnis zwischen lernenden Migrant_ es geht um lehrende Lernende und auch um ler- innen und lehrenden Mehrheitsangehörigen. Der nende Lehrende. Das bedeutet jedoch nicht, dass epistemologische Unterschied zwischen Lehrenden Lehrende und Lernende gleich oder auf Augenhöhe und Lernenden ist deshalb nicht hinreichend zur 1 maiz – Autonomes Zentrum von & für Migrantinnen in Linz/ Oberösterreich – www.maiz.at Beschreibung des Verhältnisses, weil er mit anderen Unterscheidungen verschränkt ist, die strukturell 54 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 bedingt und markiert sind: unterschiedliche gesell- impliziert Dialog gesellschaftliche Handlung, d. h. schaftliche Positionen und rechtliche Stellungen, er erschöpft sich nicht im Sprechen (Streck/Redin/ unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen, unter- Zitkoski 2008, S. 115–117). schiedliche Ansprüche auf soziale Leistungen, Privilegien und Ausschlüsse, ungleiche Machtverhältnisse. Bei maiz beharren wir auf Mitgestaltung und Partizipation der beteiligten Migrant_innen in allen Phasen und auf allen Ebenen eines Projektes; Im Bewusstsein um diese Asymmetrien sind wir auch Entscheidungen sollen gemeinsam getroffen bei maiz im Feld der Bildungs- und der Kulturarbeit werden. Die Migrant_innen übernehmen nicht die immer an Dialog und Dissidenz interessiert; immer Rolle der Objekte der Darstellung oder der Befor- interessiert an einer Arbeit, die realitätsverändernd schung. Um die Arbeit zwischen Akteur_innen, die wirken will, die Partizipation thematisiert, fördert, in ungleichen Positionen sind, wechselseitig und, aber sie auch kritisch relektiert, einer Arbeit, die trotz der Asymmetrien, dialogisch zu gestalten, Kritik ausübt und Strategien erarbeitet, die Forde- bedarf es Zeit, Achtsamkeit, Bereitschaft für Kon- rungen artikuliert und vermittelt. likte und Relexivität. Wir sind an Dialog und Zusammenarbeit mit Kulturarbeiter_innen und Künstler_innen interessiert, die Migrant_innen jenseits eines Viktimisierungsdiskurses wahrnehmen und die eine Arbeit in Anerkennung, Dekonstruktion und pädagogische Relexivität einem kritischen Verhältnis zur eurozentristischen Im Sinne einer demokratischen Bildungsarbeit ist es Perspektive entfalten wollen. unmöglich, Differenzen nicht anzuerkennen. Denn alle Lernenden gleich zu behandeln, ohne gege- Dialog wird hier nicht bloß als Interaktion ver - bene Unterschiede und ungleiche Bedingungen zu standen und erschöpft sich im Einklang mit Paulo berücksichtigen, würde Benachteiligung bewirken Freire nicht im Austausch über Erfahrungen, und bestätigen. Die Anerkennung von Differenzen Wissen, Meinungen usw. Dialog ist keine selbst- führt aber möglicherweise zu einer Verfestigung verständliche Folge von partizipatorischen Prozes- der hegemonialen Ordnung, denn dadurch werden sen und Methoden. Vor allem weil Partizipation „Andere“ im Gegensatz zur Imagination eines „Wir“ als ein Mittel zur Insertion in die dominanten Ver- hergestellt und folglich eine Logik weitertradiert, hältnisse und zur Stabilisierung dieser Verhältnisse die der Argumentation für Unterscheidungen, Dis- fungieren kann, während Dialog in Rahmen einer kriminierungen und Ausschlüsse dient. Die Migra- radikalen pädagogischen Praxis als dialektisch und tionspädagogik beschäftigt sich daher vordergrün- problematisierend verstanden wird. Der Dialog dig mit Formen und Praxen der dekonstruktiven ermöglicht einen Blick auf unsere gesellschaftliche Verschiebung von Zugehörigkeiten. Existenz als Prozess, als etwas, das aufgebaut wird, „Die dekonstruktive Verschiebung ist eine, die das nicht gegeben, sondern veränderbar ist. Der Dia- an solchen alltagsweltlich praktizierten und wahr- log ermöglicht zwar Interaktion und das Mit-Teilen nehmbaren Formen anschließt, in denen Zuge- unterschiedlichen Wissens und unterschiedlicher hörigkeitsgrenzen sprachlicher, kultureller und Realitäten, aber sein Ziel ist, dadurch neues Wissen den Körper betreffender Art überschritten wer- herzustellen, um in der geteilten Hoffnung etwas den. Wo es pädagogischer Achtsamkeit gelingt, an anderes („um ser mais“) aufzubauen. Außerdem diese Phänomene anzuschließen, gewinnt sie eine 55 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Perspektive, die das einteilende, das vereindeuti- Das vorhandene und nicht bewusste (oder nicht als gende, das klassiizierende und das ixierende Den- solches explizit benannte) Wissen über die Migrant_ ken und Handeln schwächt und unterläuft.“ (Meche- innen in Hinblick auf seine Funktion im Prozess der ril u. a. 2010, S. 189–190). Erzeugung „Anderer“ sowie auf seine diskriminie- Sie erkennt jedoch den unausweichlichen Wider- renden Effekte zu relektieren und zu befragen, spruch, der aus der Berücksichtigung des (demokra- erscheint uns als – politisch und ethisch betrach- tischen) Prinzips der Anerkennung bei gleichzeiti- tet – sinnvoller Ansatz zur Gestaltung einer kriti- ger Einhaltung eines dekonstruktiven Vorgehens schen und professionellen pädagogischen Praxis in entsteht. Trotz einer kritischen Betrachtung des der Migrationsgesellschaft. Aus der Perspektive der Prinzips der Anerkennung gilt dieses als hand- Arbeit bei maiz müsste jedoch der Gegenstand der lungseinleitend, und zugleich werden die Katego- Relexivität, wie er in der Migrationsgesellschaft rien dekonstruiert, auf deren Basis Differenzen beschrieben wird, erweitert werden. Nicht nur das anerkannt werden sollten. scheinbare/bewusste/unbewusste Wissen über die Um Professionalität angesichts dieser parado- Migrant_innen müsste relektiert werden, sondern xen Handlungsorientierung zu gewährleisten, wird auch das abwesende Wissen über die Migrant_innen. für die Einführung einer rigorosen relexiven Hal- Damit könnte eine Auseinandersetzung mit tung plädiert. Durch die Einrichtung einer Praxis einer bestimmten „privilegierten Distanz“ zur Rea- der Relexivität soll erreicht werden, dass die For- lität von lernenden Migrant_innen gewährleistet men des Ausschlusses und der Erzeugung „Anderer“ werden. Es handelt sich dabei um eine speziische (als different) im pädagogischen Feld beschrieben, Distanz, die es Lehrenden erlaubt, vieles von und bedacht und verändert werden, um Diskriminie- über die Lernenden nicht zu wissen. Gayatri C. Spi- rungen und Ausschlüssen wirksamer entgegenwir- vak schreibt in diesem Zusammenhang über gestat- ken zu können. (Mecheril u. a. 2010, S. 180). tete Ignoranz2: Jene Ignoranz, „die nicht blamiert, sondern gegenteilig die eigene Position der Macht In Anlehnung an die Deinition wissenschaft- stabilisiert“ (Castro Varela 2007). licher Relexivität von Pierre Bourdieu entwirft Mecheril für die Migrationspädagogik das Konzept Die Praxis einer professionellen Relexivität wirft einer pädagogischen Relexivität. Diese unterschei- eine Reihe von Fragen auf: nach den Grenzen des det sich von „interkultureller Kompetenz“ als tech- westlichen Wissens, nach gewaltvollen Prozessen nischem Vermögen für professionelle Handlung in der Aberkennung von Wissen, nach den Kriterien Interaktionssituationen, in denen Differenz bedeut- zur Legitimierung von Wissen; Fragen nach dem sam ist. Sie ist auch nicht als individuelle Relexion gestatteten Nichtwissen; Fragen, die Prozesse der zu verstehen, sondern als professioneller relexiver Herstellung und Reproduktion von Wissen über die Habitus innerhalb eines relexiven professionellen „Anderen“ (als different) unterbrechen und unter- Felds. „Gegenstand pädagogischer Relexivität ist suchen; Fragen, die die eigene machtvolle Position primär nicht der individuelle Pädagoge/die Päd- in der Migrationsgesellschaft destabilisieren; Fragen, agogin, sondern das im pädagogischen Handeln durch die eine_r sich selbst widerspricht. und Deuten maskierte erziehungswissenschaftliche, kulturelle und alltagsweltliche Wissen (zum Beispiel über ‚die Migrant/innen‘)“ (Mecheril u. a. 2010, S. 191). 2 Zum Konzept gestatteter Ignoranz und einem Beispiel Spivaks vgl. Castro Varela/Dhawan 2005, S. 61. 56 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Literatur Rubia Salgado ist als Erwachsenenbildnerin, Kultur- • Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2005): arbeiterin und Aktivistin in selbstorganisierten Kon- Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Biele- texten tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen im Feld feld: Transcript. der kritischen Bildungs- und Kulturarbeit in der Mig- • Castro Varela, María do Mar (2007): Verlernen und rationsgesellschaft. Sie ist Mitbegründerin und Mitar- die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns. Bildung beiterin der Selbstorganisation maiz. und Postkoloniale Kritik. http://www.igbildendekunst. at/bildpunkt/2007/widerstand-macht-wissen/varela. maiz ist ein unabhängiger Verein von und für Migran- htm (13.4.2012) tinnen mit dem Ziel, die Lebens- und Arbeitssituation • Freire, Paulo (1988): Pedagogia do oprimido. Rio de von Migrantinnen in Österreich zu verbessern und Janeiro: Papirus. ihre politische und kulturelle Partizipation zu fördern • Freire, Paulo/Macedo, Donaldo (1990): Alfabetização: sowie eine Veränderung der bestehenden, ungerech- Leitura do mundo pela palavra. São Paulo: Paz e Terra. ten gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewirken. maiz • Gramsci, Antonio (2004): Erziehung und Bildung. In: arbeitet in folgenden Bereichen: Erwachsenenbildung, Gramsci-Reader. Andreas Merkens im Auftrag des Ins- Kulturarbeit, Beratung und Begleitung von Migrantin- tituts für Kritische Theorie (Hrsg.), Hamburg: Argu- nen, Forschung. ment Verlag. • Mayo, Peter (2007): Politische Bildung bei Antonio Gramsci und Paulo Freire. Perspektiven einer veränderten Praxis. Hamburg: Argument Verlag. • Mecheril, Paul/Castro Varela, María do Mar/Dirim, İnci/Kalpaka, Annita/Melter, Claus (2010): Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz. • Streck, Danilo R./Redin, Euclides/Zitkoski, Jaime José (Orgs.) (2008): Dicionário Paulo Freire. Editora Autêntica, Belo Horizonte. 57 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 ANTIKULTI ATELIERGRUPPE1 kreisen um die Fragen: Wie umgehen mit Kulturprojekten, für die Flüchtlinge gesucht werden? Was Wir gestalten zusammen neue Interessen. Das ANTIKULTI ATELIER heißt es, eine Stimme „gegeben zu bekommen“, was heißt es, eine Stimme zu nehmen, und was, sie auszuüben? Wie handeln zwischen dem Interesse, als „Flüchtlinge“ zu sprechen, und dem Interesse, die Kategorie „Flüchtling“ und die damit verbundenen Zuschreibungen in der Arbeit in einer heterogenen Gruppe aufzubrechen? Seit Februar 2010 entwickelt in Zürich eine Gruppe – zunächst unter dem Namen „Atelier“, nun als ANTIKULTI ATELIER – gemeinsam gestalterisch-politische I. Entstehung und Projekte Projekte. Bei den wöchentlichen Treffen in institutionellen Räumen (wie dem Museum für Gestaltung Entstanden ist die Zürich2) und autonomen Räumen (wie dem autono- einem Vermittlungsprojekt im Rahmen von Kunst- men Biutisalon3) in Zürich werden neue Ideen dis- vermittlung in Transformation 4. Das Projekt entstand kutiert, Entscheidungen getroffen und gearbeitet: in Kooperation zwischen drei Organisationen: dem zum Beispiel an einem Schattenspiel, an alternati- Museum für Gestaltung Zürich, einem Museum für ven Stadtplänen oder einem Bleibeführer. Der Fokus Design, visuelle Kommunikation und Architektur, der Projekte liegt auf dem Kampf für die Rechte der Autonomen Schule Zürich, einer selbstverwal- aller Menschen, die hier sind. teten Bildungsinitiative für Menschen, die vom Bil- Der folgende Beitrag gliedert sich in drei Teile: ANTIKULTI ATELIERGRUPPE aus dungssystem ausgeschlossen sind 5, und dem Ins- Wir wollen zunächst eine kurze Zusammenfassung titute for Art Education der Zürcher Hochschule der Entstehung der Gruppe und der realisierten Pro- der Künste, einem Forschungsinstitut für Vermitt- jekte geben, um dann im zweiten Teil die Perspekti- lung und kulturelle Bildung.6 Ausgangspunkt des ven und Ziele des ANTIKULTI ATELIERs zu beschreiben gemeinsamen Modellprojektes war die Ausstellung und damit unsere Arbeit im gegenwärtigen Migra- Global Design am Museum für Gestaltung Zürich, die tionsdiskurs zu positionieren. Der dritte Abschnitt sich mit den gestalterischen Aspekten von Globali- schließt an Themen an, die bei der Arbeitstagung sierung entlang von Themen wie Kommunikation, „Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ Mobilität und Kapital beschäftigte. Felipe Polania im Zentrum standen: an das Begehren des Kultur- und Nora Landkammer luden die Teilnehmer_ betriebs nach seinen „Anderen“, an die Machtver- innen der Deutschkurse in der Autonomen Schule hältnisse im „Eine-Stimme-Geben“ und an den Widerspruch zwischen der Anerkennung und der Dekonstruktion von Differenz. Die Auszüge aus einem Gespräch der ANTIKULTI ATELIERGRUPPE 1 Beitrag von Harika Yilmaz, Niş timan Erdede, Khalid Ahmad, John Mwangi Njuguna, Vanessa Seliner, Benjamin Jafari, Ismail Balsak, Felipe Polania, Onur Karakoyun, Nora Landkammer, Annatina Caprez, Simon Sontowski, Ibrahim Haydari, Julia Huber 2 http://www.museum-gestaltung.ch/, (15.04.2012) 3 http://autonomerbeautysalon.wordpress.com/, (15.04.2012) 4 Bernadett Settele, Carmen Mörsch et al. (2012): Kunstvermittlung in Transformation. Perspektiven und Ergebnisse eines Forschungsprojektes. Zürich: Scheidegger & Spiess. Vgl. zur Arbeit des ANTIKULTI ATELIERS die Beiträge „Kunst gegen die Fremdmacherei“ von Niştiman Erdede und der Ateliergruppe und „Atelier. Ein Dialog über die Zusammenarbeit“ von Felipe Polania und Nora Landkammer in der Publikation. 5 An der Autonomen Schule Zürich inden Deutschkurse sowie Kurse in Informatik und im Kulturbereich statt, die mehrheitlich von Flüchtlingen – mit oder ohne Papiere – besucht werden. http://www.bildung-fuer-alle.ch/, (15.4.2012) 6 http://iae.zhdk.ch/, (15.4.2012) 58 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 zu einem Modul „Atelier“ mit Workshops zu gestal- hat sich unser Projekt entwickelt, eigene politische terischen Medien und Ausstellungsbesuchen ein. Kartograien zu erstellen. Entstanden ist die Stadt- Auf diese Einladung hin fand sich die Ateliergruppe karte Die Welt in Zürich: Wir haben den Stadtplan mit ca. 15 Teilnehmer_innen zusammen. von Zürich als Collage bearbeitet und dabei histo- Bei den wöchentlichen Treffen im Vermittlungs- rische, politische, wirtschaftliche und persönliche raum des Museums und in der Ausstellung wur- Verbindungen zwischen der Schweiz und Ereig- den das Leben, die Möglichkeiten für Kommunika- nissen an anderen Orten in der Welt hergestellt – tion und Mobilität und der Umgang mit Kontrolle Ereignisse, die oft der Grund dafür sind, warum wir in der Stadt Zürich zum Thema von Austausch lüchten mussten. und Diskussion in der Gruppe. Aus dieser Ausein- Mit der Stadtkarte fanden eine Reihe von Ver- andersetzung entstand ein erstes kollektives Pro- anstaltungen und Kartograie-Workshops statt: im jekt: der Bleibeführer Zürich.7 Der Bleibeführer Zürich Altersheim Limmatstraße, beim Internationalen ist ein Orientierungsbuch für Zürich. Viele im Ate- Volksfest am 1.5.2011 und mit Studierenden der lier kennen die Schwierigkeiten, keine Informa- Hochschule der Künste Bern. tionen zu bekommen. Das Buch gibt Meinungen Nach einer Reihe weiterer Aktionen und Ver- von Flüchtlingen wieder, die anderen Flüchtlingen anstaltungen, in besetzten und institutionellen mit Erfahrungen und Information helfen können. Räumen, in Zürich und per Videobotschaft und In der reichen Stadt Zürich gibt es viele Reisefüh- Skype auch bei der Biennale in Venedig8, hat uns rer für reiche Leute. Die Ateliergruppe teilt im Blei- die kritische Diskussion der Ausstellung „Schwarz- beführer Zürich ihr Wissen über die Stadt mit ande- Weiss: Design der Gegensätze“ im Museum für ren Flüchtlingen und Bewohner_innen von Zürich. Gestaltung Zürich zu unserem aktuellen Projekt Der Bleibeführer Zürich enthält Informationen über geführt: einem Schattenspiel. Was ist Krieg? Was Zürich für alle, die hier bleiben wollen: Wo kann ist Freiheit? Diese Fragen diskutieren im geplan- man Deutsch lernen? Wo trifft man Leute? Wo gibt ten Stück die Schatten von Dedan Kimathi, Don es gratis Internet? Mit wem kann man um Rechte Quijote, Lautaro, Phoolan Devi, Kemal Pir, Kawa, kämpfen? Nach seiner Vorstellung im Vermittlungs- Babieca, Anne Bonny, Granny Nanny, Emma Gold- raum am Museum für Gestaltung wurde der Blei- mann u. v. m. beführer Zürich in Notunterkünften, Asylheimen, Treffpunkten und an soziale Organisationen verteilt. Mittlerweile gibt es eine zweite Aulage. Durch die gemeinsame Arbeit am Bleibeführer Zürich konstituierte sich die Gruppe als eigenständiges II. Perspektiven und Ziele – eine Deinition im Prozess Kollektiv. In einem nächsten Projekt haben wir uns Wir sind keine homogene Gruppe, sondern dei- mit Kartograie auseinandergesetzt. Über die Dis- nieren uns durch eine gemeinsame Tätigkeit. kussion von historischen und aktuellen Weltkar- Wir haben verschiedene Geschichten und kom- ten und kartograischen künstlerischen Arbeiten men aus unterschiedlichen Kontexten, aber wir leben alle hier in der Schweiz. In der ANTIKULTI ATE- 7 Ibrahim Haydari, Benjamin Jafari, Zuher Kara Ahmad, Saleban Abdi Askar, Aras Hemn Hassan, Tagharrobi Farzad, Fabiana González, Khider Karim, John Mwangi Njuguna, Rose, Motina, Katy Ekator, Marguerite Kengmoe, Nareeman Shawkat, Marco Weibel, Felipe Polania, Nora Landkammer (2010): Bleibeführer Zürich, Zürich: Institute for Art Education/Bildung für Alle/ Museum für Gestaltung Zürich. LIERGRUPPE versuchen wir, mit unserer Arbeit die 8 Skype-Gespräch und Videobeitrag zum Vortrag „Chewing the Borders, oder Kauen um wach zu bleiben, oder Widerstand im Widerspruch“ von Rubia Salgado, Chewing the Scenery, 54. Biennale di Venezia, 8.9.2011. 59 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Stimme gegen die rassistischen Verhältnisse, die fanden und inden Kollaborationen mit der Autono- uns aufteilen und isolieren, zu erheben und aus- men Schule Zürich, dem Museum für Gestaltung grenzende Bilder, die über uns produziert werden, und dem Institute for Art Education der ZHdK statt. anzugreifen. Gemeinsam entwickeln wir eine politische Kunstpraxis, die uns ermöglicht, mit unseren unterschiedlichen Geschichten eine neue Posi- III. Ein Gespräch tion zu inden. Wir wollen nicht „integriert“ werden, nur Flüchtlinge als „Stoff“ für Kunstprojekte um ausgebeutet zu werden. Wir suchen nach alternativen Formen der (Selbst-)Integration: Wir neh- A: Was ist das Thema dieses Gesprächs? men uns die nötigen Werkzeuge, wie die Sprache, B: Das Thema ist „Flüchtlinge als Stoff für Kunst- und die nötigen Räume. Wir wollen Integration, um projekte“. hier aktiv unser Leben realisieren zu können. Das C: Was genau bedeutet das? heißt auch, Kritik an den herrschenden Lebensre- B: Stoff ist das Material, aus dem du etwas machst. alitäten zu üben. Durch Aktivitäten und kritische Die Frage geht dann in die Richtung, ob wir Flücht- Diskussionen lernen wir, Orte und Lebensrealitäten linge Material sind und ein_e Künstler_in kommen mit unseren unterschiedlichen Hintergründen in kann, aus dem Material Kunst machen und dann Verbindung zu setzen. sagen: „Ich mache Kunst für Flüchtlinge“. Ein Bei- Der Zugang zu kulturellen Aktivitäten ist ein- spiel dafür war eine Anfrage von einem Künstler geschränkt. Was wir im ANTIKULTI ATELIER tun, ist vor etwa einem Jahr, der ein Flüchtlingscamp in nicht nur Kultur zu konsumieren, sondern wir einer Ausstellung in Basel inszenieren wollte.9 Ich machen uns unsere Kultur. Wir organisieren kann mir vorstellen, dass da ein Gitter gewesen selbst kulturelle Anlässe und realisieren unsere wäre und dahinter eine Notunterkunft. Es wurde eigenen künstlerischen Projekte. angefragt, ob ein paar Flüchtlinge organisiert wer- Der Name der ANTIKULTI ATELIERGRUPPE richtet den könnten, die in diesem Kunststück einfach die sich bewusst gegen ein „Abfeiern“ von „Multi-Kulti“ ganze Zeit herumstehen und so tun, als wären sie – gerade in einer Stadt wie Zürich, in der einer fol- in ihrem Leben. Diese Person hat gesagt, dass sie kloristisch inszenierten Weltoffenheit alltägliche gerne Leute aus Nordafrika dort haben möchte. Sie rassistische Ausgrenzung gegenübersteht. Wir kri- sagte, sie mache Kunst und sie will kritisch sein: tisieren die Festschreibung von Menschen auf eine Sie will, dass Besucher_innen der Kunstausstel- homogene „Herkunfts-Kultur“ und das Reden von lung sehen, wie Flüchtlinge in der Notunterkunft Kultur, wenn es um Politik und Menschenrechte leben, dass es auch Menschen sind, dass sie ein- geht. ANTIKULTI bedeutet nicht „gegen Kultur“, fach sitzen, essen, schlafen, einfach da sind. Dafür sondern die Arbeit an Gegenkultur! wollte sie „echte“ Flüchtlinge, damit dieses Kunst- Wir lassen uns nicht in Kategorien pressen stück richtig echt und realistisch ist und an Glaub- oder als „interessante Thematik“ missbrauchen, würdigkeit gewinnt. Dazu stellt sich die Frage: die, sobald sie nicht mehr aktuell ist, fallen gelassen Sind wir Flüchtlinge Ausstellungsobjekte, die alle wird. Auch wollen wir selbst niemanden auf ein anschauen kommen können? Sind wir Objekte, die Objekt reduzieren. Wir vernetzen uns mit anderen Projekten und in konkreten Aktionen. Bei jedem Projekt diskutieren wir gemeinsam, mit wem und in welcher Form wir zusammenarbeiten wollen. Es 9 „Flüchtlingslager“ im Rahmen der „CHASOS-Kampagne 2011“ (13–19. 6. 2011, Halle 32, Messegelände Basel) von Andreas Heusser. Das Flüchtlingslager blieb schließlich während der Ausstellung leer. http://www.andreasheusser.com/, 08.6.2012. 60 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 einfach dargestellt werden? Oder können wir auch Eine Stimme geben – wer erlaubt wem selber entscheiden, mitbestimmen, reden, diskutie- wann zu sprechen? ren und sagen, was wir schlussendlich wollen oder nicht? F: C: Niemand ist ein Objekt, weder in der Kunst an der Kunst ist. So wie wir es jetzt besprochen Ich frage mich dann immer, was das Besondere noch sonst wo. Wir müssen selber erklären, was haben, ginge es eher in die Richtung, Leuten eine wir machen. Ich inde, manchmal benutzen Künst- Stimme zu geben und möglichst unverstellt die Rea- ler_innen Leute. Du hast von dem Camp-Projekt lität oder die vorhandenen Probleme aufzuzeigen. erzählt, und ich glaube, die Flüchtlinge hatten Das kann man ja auch politisch machen. Das ist ja keine Stimme, sie sollten nur schlafen oder essen. nicht per se Kunst. Da frage ich mich dann schon, Sie sind wie Tiere in einem Käig. Denn du weißt was die künstlerische Darstellung beitragen kann. nicht, was sie denken, was sie machen; sie sind nur Die müsste ja eigentlich mehr machen, als Personen hinter dem Gitter. Ich inde es erst richtig, wenn nur eine Stimme zu geben. Sie müsste darüber hin- man die Leute fragt: „Was ist los? Was ist mit eurem ausgehen. Man muss sich schon fragen, was Kunst Leben? Was denkt ihr?“ Dialoge und Meinungen, eigentlich leisten kann, wenn sie sich mit Flücht- das ist die richtige Kunst. Das Gitter müsste man lingen beschäftigen will. weglassen und die Flüchtlinge direkt erklären las- I: sen wie sie mit Schwierigkeiten leben. Sie sollten aktiv zu sein und meine Anliegen und Ansichten direkt reden. Somit wüsste man auch die genauen vor ein Publikum zu bringen. Mit der Ateliergruppe, Probleme. Es ist eine Frage der Entscheidungen für mit Kunst und Theater können wir durch die Auf- die Kunst. führungen oder durch andere Veranstaltungen mit D: Was wichtig ist, ist eine Perspektive zu haben dem Publikum direkt sprechen. Das ist wichtig für und diese zu thematisieren: Was ist mein Wunsch? mich. Mit der Ateliergruppe waren wir in Luzern, Wofür arbeite ich? Was ist mein Ziel in dieser Situ- und dort konnten wir beobachten, dass sehr viele ation? So, dass auf diese problematische Situation, Leute Interesse haben an unseren Projekten. Ich die ja vorhanden und real ist, ein anderer Blickwin- war so glücklich, weil so viele Leute interessiert kel, ein anderer Themenschwerpunkt gelegt wer- waren. Auch fragen mich immer Leute, ob es noch den kann, dass nicht nur immer auf die gleichen Bleibeführer Zürich gibt. Die Leute brauchen das Heft. Probleme fokussiert wird. Die Leute haben Prob- Ich glaube, die Kunst funktioniert so, dass wir mit leme, aber sie leben auch im Jetzt und Hier und sie einer anderen Sprache mit anderen Menschen spre- haben Ideen und Wünsche. Irgendwie braucht es chen können. Ohne Krieg. Wir können alles sagen, auch Punkte, wo man verarbeiten kann, was man was wir möchten. Für mich ist die Kunst die beste erlebt hat. Dazu soll die Kunst doch auch dienen. Sprache, um ein Publikum zu erreichen. Politische E: Künstler_innen nehmen Leute und machen Kunst ist die beste Kunst für mich. ein Projekt und man weiß nicht, was das Ziel von B: Also, das wirft die Frage auf, was wir eigentlich diesen Leuten ist. Ich kann nicht an einem Projekt unter Kunst verstehen. Diese Argumentation von teilnehmen, wenn ich nicht weiß, welche Rolle ich „eine Stimme geben“ ist oft zu hören bei Menschen, spiele und was das Ziel von diesem Projekt ist. die irgendein Projekt mit Flüchtlingen machen. B: Also entscheiden und mitbestimmen? Dann kommt oft dieses Argument: „Wir wollen die- E: Ja! sen Leuten, die keine Stimme in dieser Gesellschaft Für mich ist die Kunst die Möglichkeit, politisch haben, eine Stimme geben.“ 61 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 A: Das ist schon hierarchisch: Wenn man eine vom LKW fallen oder elend ertrinken. Der Künst- Stimme gibt, ist man schon da und sagt: „Ah, ich ler produzierte genau diesen in den Medien allge- bin so großzügig und gebe dir eine Stimme.“ genwärtigen Proto-Flüchtling, der schlussendlich B: Genau. Aber da stellt sich zuerst die Frage: Wer in der Schweiz strandet. gibt die Stimme wem? Wann, wo und wie? A: Am Schluss gab es allerdings eine Kehrtwen- D: Und genau solche Fragen klammern wir aus, dung. Es ist aber absurd, dass stereotype Geschich- denn im Atelier versuchen wir hauptsächlich, uns ten immer wieder gezeigt werden müssen, als ob die Stimme zu nehmen. das die einzige Weise wäre, Kritik zu üben. B: Vielleicht geht es auch darum, die Stimme auszuüben, weil wir schlussendlich alle eine eigene Fremd- und Selbstzuschreibung – Stimme haben. Das Problem ist aber, dass wir Flüchtlingsein als einzige „soziale manchmal nicht gehört werden. Beispielsweise bei einer Demonstration am 1. August, als Widmer- Position“? Schlumpf geredet hat und die Leute kamen, um A: Es geht in der Ateliergruppe auch darum, sich mit ihr zu reden, da sagte sie: „Hier in der Schweiz mit Zuschreibungen und Identitäten wie „Ihr seid reden wir nicht so. Seid nicht so laut und sagt nicht: alle Flüchtlinge“ auseinanderzusetzen. Wir sind ‚He, ich will reden!‘ Ich rede nach der Veranstal- Leute mit ganz unterschiedlichen Aufenthalts- tung mit drei Sprecher_innen und gebe euch 5–10 rechten und machen zusammen politische Arbei- Minuten.“ Die Leute sagten: „Okay!“ Also, Widmer- ten oder politische Aktionen zur Flüchtlingsthema- Schlumpf sagte aus ihrer Machtposition, wann, wo, tik. Vielleicht kann diese Zuschreibung darum gar wie und wie lange zu reden sei. Wenn wir das ein- nicht mehr so einfach gemacht werden. fach annehmen, dann akzeptieren wir das: „Du bist B: Genau, der Punkt ist: Wir werden oft zu einem die, die entscheiden kann und wir sind die, die sich Subjekt gemacht, das so und so reden muss. Dann anpassen.“ Dabei kann ein Schweigen selbst sub- wird immer betont, schau mal wie wichtig es ist, versiv sein. Wir müssen nicht wie Zirkuspapageien dass Flüchtlinge über Flüchtlinge reden. Aber es reden, wenn sie es uns sagen. Sondern wir können geht darum, was gesagt wird, die Voraussetzung für reden, wann wir wollen, und schweigen, wenn wir eine antirassistische Arbeit ist nicht, dass Flücht- nicht reden wollen. linge immer selber reden müssen. Antirassistisch D: Zur Problematik, wer wem und wie lange eine ist was wir sagen, egal ob es ein Flüchtling, eine Stimme gibt, kommt mir ein Animationsilm10 in sogenannte Schweizerin oder ein Deutscher sagt. den Sinn, welchen wir vor einiger Zeit zusammen Was wir hier versuchen, ist zusammen eine Aus- angeschaut haben. Ein junger Künstler hat sich mit einandersetzung zu führen und eine gemeinsame dem Thema Fluchtweg auseinandergesetzt und Stimme zu erarbeiten. Wenn Schweizer_innen z. B. damit sogar einen Preis gewonnen. Problematisch sagen: „Dazu können wir nichts sagen, das müssen empfand ich die Art und Weise seiner Umsetzung, die Betroffenen selbst sagen“, dann ist es weiterhin bspw. die zum Lachen provozierende Darstellung so, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, welche der Flüchtlinge. Krieg, ein überfüllter Lastwagen, die Zuschreibung „ihr Flüchtlinge seid so“ und „wir Grenzübergänge, Meerüberquerung in Nussschalen- Schweizer_innen sind anders“ machen können. booten und mittendrin die Strichmännchen-Flücht- G: Ich inde schon, dass es eine Berechtigung gibt, linge, welche mal erschossen werden, mal theatral zu sagen: „Ich muss jetzt nichts dazu sagen“. Wenn in einer Gesprächssituation sich Leute einfach 10 Animationsilm „Bon Voyage“ (2011) von Fabio Friedli. tun, Deutsch zu sprechen und sowieso immer die 62 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 gleichen Leute reden, dann ist es manchmal gut, Flüchtlingsthematik beschäftigt. Wir sind selbstbe- zu sagen: „Nein, dazu sag ich jetzt nichts“, und sich stimmt, niemand kommt und sagt: „Ihr seid Flücht- dafür einzusetzen, dass Sprechzeiten und Sprech- linge und ihr müsst es so machen.“ Unsere Arbeit ist positionen gleich verteilt sind, dass auf Ungleich- für uns, ohne Grenzen zwischen Flüchtlingen und heiten in der Situation geachtet wird. Nicht-Flüchtlingen. B: Der Unterschied ist aber immer noch, Flücht- E: Viele Leute haben dieses Gefühl „ich bin Flücht- linge als Differenz zu konstruieren: „Ihr seid die ling“ auch selber. Wir haben alle dieses Gefühl, dass Flüchtlinge und ihr solltet jetzt reden“ ist weiter- wir anders sind. Er ist Europäer oder Schweizer, ich hin eine Ausübung von Macht. Wir sollten auch die bin Flüchtling. Aber bevor ich ein Flüchtling bin, verschiedenen Möglichkeiten anschauen wie sich bin ich ein Mensch. verschiedene Leute unterschiedlich an Prozessen B: Genau diese Schubladisierung wollen wir nicht beteiligen können. mehr. Weder wollen wir die „guten Armen“ sein, G: Einverstanden. noch die „bösen Drogendealer“. Z. B. bei der Integra- H: Viele Leute sprechen über uns und unsere Pro- tion geht es doch darum: „Du darfst nicht böse sein, jekte. Wir sind aber nicht nur Flüchtlinge. Ich bin du musst gut sein und wenn du ein Guter bist, dann gleichzeitig auch H. oder er ist K., nicht nur Flücht- kannst du hierbleiben.“ Integration hier heißt, aus ling oder Asylbewerber_in. Aber wir sprechen allen gute Flüchtlinge zu machen: Arme Leute, die immer darüber und erklären nur unsere Probleme. dankbar und anständig sind, die immer „Guten Ich möchte aber nicht mehr über die Probleme spre- Morgen“ sagen und keine Probleme machen. chen; ich kann auch mit anderem „Material“ etwas I: Roboter! chen. Die ANTIKULTI G: Ich inde es sehr interessant, was du sagst, dass Ni ş timan Erdede, Khalid Ahmad, Onur Karakoyun, es auch darum gehen muss, über andere Sachen zu John Mwangi Njuguna, Vanessa Seliner, Benjamin sprechen. Jafari, Ismail Balsak, Felipe Polania, Nora Landkammer, H: Ja, „Flüchtling“ ist meine soziale Position. Aber Annatina Caprez, Simon Sontowski, Ibrahim Haydari, ich bin nicht nur diese „soziale Position“. Aber das Julia Huber, Nareeman Shawkat, Zuher Kara Ahmad, machen wir auch selbst, uns auf diese soziale Posi- Karim Khider, Omar Pieras und weitere Mitwirkende. machen. Das wäre auch möglich, aber wir denken nicht so. Wir möchten nur über Flüchtlinge spre- tion beschränken. Doch wir haben verschiedene Charaktere und wir können andere Methoden und Mittel wählen. Das Schattenspiel gefällt mir jetzt, weil wir etwas anderes machen. Das Thema ist auch anders. C: Ich glaube, auch in der ANTIKULTI ATELIERGRUPPE machen wir nicht immer nur etwas für Flüchtlinge. Der Bleibeführer Zürich ist nicht nur für Flüchtlinge; er ist für alle Bewohner_innen von Zürich. Auch das Schattenspiel ist nicht nur über das Thema Flüchtlinge, sondern zum Thema Freiheit, weil alle Leute Freiheit brauchen. Deshalb inde ich auch, dass die Gruppe ganz offen ist; wir sind nicht immer mit der ATELIERGRUPPE sind Harika Yilmaz, 63 WORKSHOPS 64 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Differenz nicht anerkennen“ Soran Ahmed Im Workshop stellte sich schon die Deinition von einem „Wir“ und „den Anderen“ als ein Problem Differenz nicht anerkennen dar. „Wir“ waren in diesem Workshop die Teilnehmer_innen und die „Anderen“ die Migrant_innen. Da alle Teilnehmer_innen außer mir aus dem deutschsprachigen Raum stammten, war ich der Einzige, der sowohl „Wir“ als auch „Anderer“ war. Workshop-Protokoll Im Grunde war dies ein Workshop über eine Zielgruppe, die nicht anwesend war. Ein relevantes Thema des Workshops war die Am Workshop „Differenz nicht anerkennen“ nah- Definition der Menschen mit Migrationshinter- men ca. 20 Personen teil, welche aus unterschiedli- grund. Wir teilten diese in Gruppen auf. Zum chen Fachbereichen, wie der Museumspädagogik, einen die, welche hier geboren sind oder hier auf- Soziologie, Theaterpädagogik und Kunstpädagogik, gewachsen, zum anderen diejenigen, die erst seit stammten. Alle Teilnehmer_innen waren zudem einigen Jahren hier sind. Weiterhin besprachen wir aus dem deutschsprachigen Raum. die unterschiedlichen Probleme von Menschen mit Der Workshop beschäftigte sich mit dem Aner- Migrationshintergrund bezüglich ihres Alters. Dar- kennen bzw. Nicht-Anerkennen eines „Wir“ und aufhin stellten wir uns die Frage, wie diese unter- „der Anderen“. Laut Paul Mecheril umfasst Aner- schiedlichen Gruppen angesprochen werden kön- kennung „immer zwei Momente, das der Identiika- nen, um eine Basis zu inden für eine gegenseitige tion und das der Achtung. An-Erkennung beschreibt Anerkennung. Daraus ergab sich auch die Frage, eine Art von Achtung, die auf einem Zur-Kenntnis- welche Gruppe sich für die Herrschaftskultur und Nehmen gründet. Um jemanden zu achten, ist es welche für die Kultur der Immigrant_innen inter- notwendig, ihn und sie zunächst erkannt zu haben. essiert und warum. Es wurde festgestellt, dass es Und jeder Prozess der identiizierenden Wahrneh- schon Museen und Ausstellungen über fremde Kul- mung einer Person leitet zu der Frage über, ob die turen gibt, aber diese aus der Sicht der Herrschafts- Identifizierte auch respektiert werden soll und kultur erstellt wurden. Da die Träger der Konferenz kann.“1 Sind Kriterien zur Anerkennung geschaf- große Institutionen waren, haben wir uns mehr der fen, ergibt sich daraus, dass eine Abgrenzung zu Arbeit der Institutionen und weniger individuellen den „Anderen“ stattindet.2 Fragen gewidmet. Während des Workshops kamen verschiedene Vorschläge: u. a. dass wir die Hälfte von unseren Jobs für die „Anderen“ lassen sollten. Oder sollen wir zusammenarbeiten? Nach dem Workshop fragte ich mich: Warum sollten wir so denken? Dies ist eine klassische „Wir“-Haltung. Das „Wir“ plant für die „Anderen“, wie diese zu denken haben und auch, wie sie das „Wir“ wiederum anerkennen sollen. Die Beteiligten suchten immer nach einer 1 http://www.ida-nrw.de/projekte-interkulturell-nrw/such_ ja/12down_1/pdf/mecheril.pdf (14.2.2012) 2 ebd. Lösung für die Probleme „der Anderen“. Mein Problem war, dass ich beiden Gruppen zugehörig bin. So sollte ich die Lösungen mitinden 65 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 und diese auch gleichzeitig auf mich beziehen. Soran Ahmed, studierte am Kunstinstitut und der Uni- Ich konnte nicht, wie die anderen Teilnehmer_ versität der Künste in Sulaymaniyah in Kurdistan/Irak innen, das Thema von außen betrachten. Deswe- Freie Kunst. Zurzeit ist er Masterstudent am Institut gen musste ich mich mit jeder Frage neu deinieren. für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Nachdem ich im Workshop gesagt hatte, dass ich zu Berlin. Zahlreiche Ausstellungen und Redakteur des den „Anderen“ gehöre, kam sofort die Nachfrage, Magazins „Concept“. ob ich mich auch als „Anderer“ deiniere. Daraus ergab sich auch die Überlegung, dass man sich mit Absicht den „Anderen“ zuordnen kann. Wir haben uns ausführlich mit abstrakten Deinitionen beschäftigt und nach abstrakten Lösungen gesucht, wie zum Beispiel mit der Deinition der Macht und der Ausländer. Weiterhin beschäftigten wir uns mit der Frage, wer Differenz deiniert. Durch die Beschäftigung mit den Begriffen und deren Deinition haben wir uns weniger mit Erfahrungen und Beispielen auseinandergesetzt. Zudem ergab sich das Problem, dass weder das „Wir“ noch „die Anderen“ homogene Gruppen darstellen, für die man je eine Einheitslösung schaffen kann. Warum überhaupt ein Anerkennungsproblem mit den „Anderen“ als Problem sehen, für das es einer Lösung bedarf? Auf dem Papier sind alle für die Anerkennung und Gleichheit zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“. In der Realität sieht dies aber schon anders aus, auch bei den Teilnehmer_innen des Workshops. So schilderte eine Teilnehmerin, dass sie zwar für die Anerkennung und Gleichberechtigung sei, sie aber nicht wolle, dass ihre Kinder auf eine Schule mit „Machos“ gehen. Sie meinte mit „Machos“ Jungen mit Migrationshintergrund. Damit hat sie nicht nur die Jungen abgestempelt, sondern auch eine Mauer zwischen ihren deutschen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund gebaut. Viele Teilnehmer_innen waren auch erschrocken über diese Äußerung. Es geht bei dem Thema nicht um Täter und Opfer, sondern wie wir als Menschen uns gegenseitig betrachten und miteinander verhalten. 66 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Differenz nicht anerkennen“ Alexander Henschel Ich werde den Bericht allerdings mit einer längeren Passage unterbrechen, die den Ausdruck „Wir“ Das „Wir“ ist die sichere Seite. als abstrakte Größe selbst untersucht. Dabei nehme ich eine Deinition des Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm zum Ausgangspunkt, bei der sich „Wir“ „[…]auf den engeren und weiteren Kreis [bezieht, A.H.], zu dem sich der Sprechende oder Logische Zusammenbrüche und ihr Schreibende rechnet.“3 Ich gehe also davon aus, dass politischer Kitt „Wir“ eine Hier- und eine Dort-Seite hat und damit ein ein- und zugleich ausschließender Begriff ist. „Wir“ – das ist ein Ausdruck, der je nach Kontext Damit ist auch eine speziische Logik angesprochen, große Begehrlichkeiten weckt. „Wir“ – das kann die meist unter dem Label „binäre Logik“ von dif- nach Solidarität und organisiertem Widerstand ferenztheoretisch informierten Positionen kritisch klingen. Es kann aber ebenso gut eine präsidial hinterfragt, subvertiert oder/und abgelehnt wird.4 geäußerte Überformung sein. „Wir“ kann auch Auch diese Verstrickung zwischen Logik und „Wir“ eine kulturpolitische Größe meinen. Ein „ästheti- will ich hier zum Thema machen und eine andere sches Wir“ fordert zum Beispiel Juliane Rebentisch Logik vorstellen, die gleichfalls binär ist und den- im Sinne eines öffentlichen und gleichfalls umstrit- noch die Hier- und Dort-Seiten des „Wir“ durchei- tenen Kunstdiskurses.1 „Wir“ – noch so ein großes, nanderbringt. gut klingendes Versprechen. Nicht ganz so groß wie der Universalismus „für alle“ – der, genauer betrachtet, so universal gar nicht ist 2 –, aber doch Wir sind ein Workshop irgendwie mächtig. „Wir“ – das hat den Workshop, an dem ich teil- Das Wir des Workshops wird schnell geklärt. Wir nahm, in mehrerer Hinsicht beschäftigt. Zum einen stellen uns reihum vor. Name, Beruf, Interesse übernahmen wir mit dem Thema „Differenz nicht an diesem Workshop. Ein Teilnehmer sagt selbst anerkennen“ auch das Thema der Differenz „Wir/ von sich, er sei ein Migrant, also einer derjeni- Andere“. Zum anderen schreibe ich „wir übernah- gen, über die bei der Tagung gesprochen würde. Er men“, meine also auch ein Wir, das den Workshop fühle sich als Objekt. „Und wo kommen Sie her?“ und seine Teilnehmer_innen selbst anspricht. Die- kommt prompt die Nachfrage einer Teilnehmerin. ses Workshop-Wir war in mehrerer Hinsicht fragil Eine andere fragt zurück: „Warum fragen Sie das und stabil zugleich. Über diese Spannungsverhält- jetzt?“ Wir sind also eigentlich schon mittendrin, nisse zwischen Thema-Wir und Workshop-Wir, zwi- machen aber weiter im Programm. Die Situation schen Fragilität und Stabilität möchte ich im Fol- lässt Unbehagen zurück, ich fühle mich unsicher, genden berichten. sage aber nichts. Der Workshop schreitet fort, es gibt traditionellen Streit zwischen Praxis- und 1 Juliane Rebentisch (2003): Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 288. 2 Vgl. Alexander Henschel (2010): „Wen meint ‚alle‘? Zur Möglichkeit der Totalinklusion im Rahmen kultureller Prozesse.“, in: Wolfgang Schneider (Hrsg.): Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik. Hilmar Hoffmanns „Kultur für alle“ reloaded. Hildesheim: Universität Hildesheim, S. 185–192. 3 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (1960): Deutsches Wörterbuch. Leipzig: S. Hirzel, Sp. 524. Vgl. auch Nico Fried (2009): „Sind ‚Wir‘ alle Merkel?“, in: Süddeutsche Zeitung http://www.sueddeutsche.de/ politik/cdu-wahlkampf-sind-wir-alle-merkel (15.10.2011). 4 Vgl. z. B. Homi K. Bhabha (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg, bes. S. 5. 67 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Theoriepositionen. Irgendwann wird ein neues und keine Fragen offen lässt. gesellschaftliches Wir gefordert, ein offenes Wir, Ich unterbreche mich. in dem alle Platz haben. Es klingt gut. Das Wir muss attraktiv gemacht werden, damit auch alle kommen. Das klingt nach Integration. Wir kom- Wir sind Wir men nicht weiter. Eine Teilnehmerin ist zwar „für Anerkennung und Gleichberechtigung“, will aber „Wir sind Wir.“ Von diesem scheinbar redundan- ihre Kinder nicht mit den „türkischen Macho- ten Satz kann man viel lernen. Abstrahiert man Jungs“ auf eine Schule schicken. Es gibt bestürzte zunächst den Satz als Formel „A=A“, dann hat man Gesichter. Das Wir hat offensichtlich Risse. Aber den so genannten Satz der Identität vor sich. Der die Risse kommen nicht zur Sprache. Ich sage auch ist Teil eines Regelwerks, genauer: einer von drei nichts dazu, bin betreten, stehe auch nicht auf fundamentalen Regeln der auf Aristoteles zurück- und sage, dass es so nicht geht, dass wir nicht nach gehenden formalen Logik, die vervollständigt wird dem Vortrag am Vortag5 verdeckte und offene Ras- durch den Satz vom verbotenen Widerspruch (etwas sismen einfach reproduzieren können, frage auch kann nicht A und zugleich nicht A sein) und dem nicht warum wir uns und unser merkwürdiges Satz vom ausgeschlossenen Dritten (etwas muss A Workshop-Wir eigentlich nicht selbst zum Thema oder nicht A sein).6 Als „binär“ wird diese Logik machen. deshalb oft bezeichnet, weil das strikte Befolgen In der Pause gehe ich spazieren und inde einen der Regeln nur zwei Wahrheitswerte zulässt: ja oder Auf kleber der NPD: „Vom Ich zum Wir – Hier ist nein, wahr oder falsch, 1 oder 0, Freund oder Feind. Deutschland“ steht drauf. Alles was gegen die Regeln, was para doxa ist – jein, Es geht weiter. Wir haben jetzt eine konkrete Aufgabe zu erfüllen, sollen Statements formulieren sowohl wahr als auch falsch, 1 und 0 zugleich, weder Freund noch Feind –, wird ausgeschlossen. und auf Zetteln festhalten für das spätere kaleido- „Wir sind Wir“ – das wäre also eine logisch skopische Manifest der Tagung. Wir müssen also korrekte Aussage, aber sie scheint keinen Sinn zu etwas liefern, werden als Wir für die Anderen sicht- machen, oder mit Ludwig Wittgenstein: Als Tauto- bar. „Pragmatisches Othering macht handlungsfä- logie ist der Satz bedingungslos wahr und deshalb hig“, steht auf einem Zettel. (Ein bemerkenswerter sinnlos.7 Dennoch taucht die Wendung in abgewan- Satz. Ich komme darauf zurück.) Wir können jetzt delter Form in der Philosophie Johann G. Fichtes nicht weiter diskutieren, die Zeit drängt. Fraglos auf, als „Ich bin Ich“. Dabei ist zunächst der Aus- erhält jedes Statement, das in den Raum geworfen druck „Ich“ für Fichte kein Ausdruck, der etwas wird, Platz auf einem Zettel. Das „neue Wir“ inde beschreibt, sondern eine „Thathandlung“, eine per- ich wieder und auch die bereits erwähnte Teilneh- formative Äußerung.8 Das Ich behauptet sich selbst. merin kann ihre Frage erneut loswerden: „Darf ich Damit das Ich aber nicht leer bleibt, setzt sich das fragen: Woher kommst du?“ Am liebsten würde ich Ich ein Nicht-Ich entgegen, also alles andere, was die Mit-Verantwortung für dieses temporäre Wir abgeben, mich ausklinken, vom Wir zum Ich werden. Was ist das mit dem Wir? Was für eine politische Größe ist das? Ich muss irgendwie an den Satz „Mia san Mia“ denken, der so schön einfach klingt 5 Vgl. den Beitrag von Paul Mecheril in dieser Publikation. 6 Vgl. Aristoteles [1847]: Metaphysik, hrsg. von Paul Gohlke, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1961, S. 115–117. 7 Ludwig Wittgenstein [1918]: Tractatus logico-philosophicus. In: ders.: Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1960, Bd. 1, S. 41. 8 Johann Gottlieb Fichte [1794]: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, in: Werke, hrsg. von Reinhard Lauth/Hans Jacob, Stuttgart/Bad Cannstatt: Bayrische Akademie der Wissenschaften, 1965, Bd. 2., S. 255. 68 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 nicht zum Ich gehört: Gegenstände, andere Perso- selbst bewusst und damit auch als nationales Wir nen usw. Das Ich vollzieht also eine Unterscheidung. handlungsfähig. Wir (Subjekt) sind Wir (Objekt). Gerhard Gamm schreibt dazu über Fichte: „Das Ich Das mag als „pragmatisches Othering“, das hand- setzt sich […] notwendig ein ‚Nicht-Ich‘ entgegen, es unter- lungsfähig macht, gelten. Es ermöglicht aber scheidet sich von sich selbst und öffnet damit den Raum, keine Handlungsfähigkeit, die auf ein Miteinander in dem die Welt der Gegenstände aufgeht und themati- abzielt, sofern die Markierung nur von einer Seite sierbar wird. Umgekehrt vermag das Ich erst in dieser ausgeht und die/der Andere lediglich Produkt der Unterscheidung vom Nicht-Ich sich auf sich als ein Selbst Projektion des Wir ist. Handlungsfähig wird hier zu beziehen.“9 nur das Wir auf Kosten des Anderen. In diesem Sinne Aus diesem Zusammenhang ließe sich aber keine stabile Identität des Ich bilden. Denn Identi- wurden Fichtes Reden auch als „performativer Rassismus“ kritisiert.13 tät heißt ja nichts anderes, als dass etwas mit etwas Fichtes besonderer Streich war es, aus einer identisch ist. „Ich = Nicht-Ich“ kann aber nicht sein, Pa ra doxie eine innerhalb aristotelischer Logik weil es paradox, gegen die aristotelische Logik ist. funktionierende stabile Identität gemacht zu Sofern Fichte nun aber das Nicht-Ich, die Welt der haben. Eine andere, gleichsam auf einem binären Gegenstände, als performative Setzung des Ich Kalkül basierende Logik ist die des Mathematikers begreift und nicht als vom Ich unabhängige Außen- George Spencer-Brown. Wie die Philosophie Fich- welt, folgt daraus, dass das, was das Ich als Welt tes beginnt auch diese mit einer Handlung. „Triff sieht, „[…] in Wahrheit nur der Entwurf einer Welt eine Unterscheidung“14 fordert Spencer-Brown auf, im schöpferischen Ich […]“ ist.10 Wenn in dieser und die Tat der Unterscheidung hinterlässt einen Weise das Ich sich selbst betrachten kann, dann fal- markierten und einen unmarkierten Zustand. Das len Ich als Subjekt und Ich als Objekt zusammen, Grimmsche „Wir“, das einen Kreis um das Wir zeich- sie sind identisch. „Ich (Subjekt) = Ich (Objekt)“ oder: net, ist hierfür ein gutes Beispiel. „Wir“ benennt mit „Ich bin Ich“. seinem Kreis einen markierten Zustand, den das Der Weg zum „Wir sind Wir“ ist – grob gesagt – „Wir“ bezeichnet, und einen unmarkierten Zustand, der gleiche und Fichte vollzieht diesen in seinen der außerhalb dieses Kreises liegt. In der Notation Reden an die deutsche Nation.11 In der vierten Rede Spencer-Browns schreibt sich das so: mit dem Titel „Hauptverschiedenheit zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft“ setzt Fichte dem nationalen Wir ein klar deiniertes Nicht-Wir, genauer: ein „Andere“ Der vertikale Strich des Zeichens trennt die zwei entgegen, so dass sich Wir überhaupt erst herstel- Seiten der Unterscheidung, während der horizon- len kann.12 Durch die Markierung der Anderen als tale Strich auf die markierte Seite der Unterschei- Andere wird sich das Wir überhaupt erst seiner dung verweist. Das „Wir“ ist aber nicht die Unterscheidung selbst, sondern das, was Spencer-Brown 9 Gerhard Gamm (1997): Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart: Reclam, S. 52. Herv. im Orig. 10 Ralf Ludwig (2009): Hegel für Anfänger. Phänomenologie des Geistes, München: dtv, S. 20. 11 Johann Gottlieb Fichte [1808]: Reden an die deutsche Nation, hrsg. von Alexander Aichele, Hamburg: Felix Meiner, 2008. 12 Vgl. ebd. S. 60–76. die „Bezeichnung“ nennt. Dabei legt er fest, „[…] 13 Christian Strub (2004): „Absonderung des ,Volks der lebendigen Sprache‘ in deutscher Rede. Die Performanz von Fichtes Reden an die deutsche Nation“, in: Philosophisches Jahrbuch, Heft 111, S. 384–415, hier S. 412. 14 George Spencer Brown [1969]: Laws of Form. Gesetze der Form, übers. von Thomas Wolf, Lübeck: Bohmeier, 1999, S. 3. 69 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 daß wir keine Bezeichnung vornehmen können, – das sich ja in „Ich = Ich“ aulöst, weil Nicht-Ich als ohne eine Unterscheidung zu treffen.“15 Sage ich Ich (Objekt) gilt –, nämlich der, dass die andere Seite also „das da“, dann bezeichne/markiere ich etwas der Unterscheidung Spencer-Browns stets außer- und treffe aber gleichzeitig eine Unterscheidung halb der Kontrolle des Unterscheidenden liegt. zu allem, was nicht „das da“ ist. Die unmarkierte Ich sehe sie eben nicht, die andere Seite. Will ich Seite der Unterscheidung ist demnach die Nega- sie markieren, so treffe ich eine neue Unterschei- tion der Bezeichnung. Bezeichne ich, unterscheide dung, deren Markierung wieder eine neue Unter- ich gleichzeitig. Aber ich kann die beiden Seiten scheidung produziert usw. Der blinde Fleck lässt der Unterscheidung nicht gleichzeitig „sehen“. Ich sich also nicht einfangen. sage z. B. „Ich“ und nenne nicht noch alles mit, was Nun habe ich schon angemerkt, dass auch die Ich nicht ist. Will ich nun aber die andere Seite der Logik Spencer-Browns binär ist. Sie ist das inso- Unterscheidung sehen, dann ist dazu eine neue fern, als sie jeden Raum in zwei Seiten trennt. Sie Bezeichnung notwendig, z. B. ist es aber auch wieder nicht, weil jede getroffene binäre Unterscheidung damit rechnen muss, von einer dritten, gleichfalls möglichen Unterscheidung eingeholt zu werden. Damit lebt die Logik Es zeigt sich dann aber auch, dass „Andere“ nicht Spencer-Browns mit der Verletzung der dritten Regel die einzig mögliche Negation des Ausdrucks „Wir“ aristotelischer Logik, dem Satz vom ausgeschlosse- ist, sondern dass die Opposition Wir/Andere im nen Dritten, weil sie dritte Möglichkeiten immer Grunde ein Spezialfall von Nicht-Wir ist. Das zeigen schon mit einschließt – wenn auch nur potenziell. folgende, ebenfalls mögliche Unterscheidungen: In diesem Sinne schaltet die Logik Spencer-Browns um von der Frage „Was ist etwas?“ oder „Was ist der Unterschied?“ – diese Fragen wären nämlich nicht sinnvoll zu beantworten – auf „Wie wird Dabei wird deutlich, dass „Wir“, je nach Unterschei- unterschieden?“.17 „Wir“ ist nicht mit „Wir“ iden- dung, eine je andere Bedeutung erhält. „Wir“ ist tisch, es kann je nach Unterscheidung etwas völ- nicht stabil, sondern „Wir“ hängt ab von der ande- lig anderes sein. So hat z. B. Nico Fried das „Wir“ ren Seite der Unterscheidung. In aller Konsequenz: in den Wahlkämpfen Barack Obamas und Angela Merkels verglichen.18 Während – um im Vokabular zu bleiben – Obama die Unterscheidung „Wir/verfeindete Parteien“ verdeutlichte, ließ Merkel ihr Hätte auch Spencer-Brown einen Satz der Identität „Wir“ scheinbar unterscheidungslos. Sie machte formuliert, so müsste dieser also gegenteilig lauten nicht deutlich, von was „Wir“ sich unterscheidet wie jener der aristotelischen Logik. Er müsste lau- und erzeugte so ein präsidiales rhetorisches „Wir“, ten, „[…] dass jedes gegebene ‚Ding‘ mit dem identisch ist, was es nicht ist.“16 Dabei besteht ein fun- 15 Ebd. S. 1. 17 Vgl. hierzu auch Kathrin Wille (2007): „Gendering George Spencer Brown? Die Form der Unterscheidung und die Analyse von Unterscheidungsstrategien in der Geschlechterforschung“, in: Christine Weinbach (Hrsg.): Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive, Wiesbaden: VS-Verlag, S. 15–50, hier S. 19. 16 Louis H. Kauffman (2005): „Das Prinzip der Unterscheidung. Über George Spencer-Brown“, in: Dirk Baecker (Hrsg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie, Wiesbaden: VS-Verlag, S. 173–190, hier S. 183. Herv. A.H. 18 Das jeweilige „Wir“ ergab sich hier aus den Slogans „Yes we can“ und „Wir haben die Kraft“. Vgl. Nico Fried (2009): „Sind ‚Wir‘ alle Merkel?“ , in: Süddeutsche Zeitung http://www.sueddeutsche.de/politik/cdu-wahlkampf-sind-wir-alle-merkel (15.10.2011). damentaler Unterschied zu Fichtes „Ich = Nicht-Ich“ 70 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 das scheinbar alle, ohne Ausnahme meint – was so dass klar zu sein scheint, wer wie zu handeln hat. per deinitionem nicht möglich ist. „So dient das Maria do Mar Castro Varela und Paul Mecheril sch- ‚Wir‘ einem ‚Trickbetrug‘ zur Erzeugung von Un- reiben dazu: „Das Konzept des Othering erläutert, wie verbindlichkeit.“19 die „Fremden“ zu „Fremden“ gemacht werden und dabei gleichzeitig ein „Wir“ konstruiert wird, welches anders als das fremde „Nicht-Wir“ beruhigend unambivalent, ohne Wir sind die sichere Seite grundlegende Spannung erscheint und darin eine sichere Gemeinschaft symbolisiert.“21 Der Ausdruck „Wir“ scheint also ebenso viele Versprechen zu leisten, wie Bedeutungen anzunehmen „Wir“ verleiht also ein gewisses Maß an (Hand- er imstande ist. Mit dabei ist aber immer das Ver- lungs-)Sicherheit. Das wird besonders deutlich, sprechen, dass jene, die auf der Seite des Wir ste- wenn die strikte Unterscheidung „Wir/Andere“ hen, auch gleichzeitig auf der sicheren Seite sind. sabotiert wird. Soran Ahmed, der Teilnehmer, Nicht nur deshalb, weil die speziische Unterschei- der sich mit der Frage „Und woher kommen Sie?“ dung „Wir/Andere“ meist mit asymmetrischen konfrontiert sah, schreibt in seinem Protokoll des Machtoptionen ausgestattet ist – vor allem dann, Workshops: „Da alle Teilnehmer außer mir aus wenn „Andere“ als Fremde markiert werden –, son- dem deutschsprachigen Raum stammten, war ich dern weil die Handlungsoptionen eines Wir redu- der Einzige, der sowohl ‚Wir‘ als auch ‚Anderer‘ ziert sind. Was meint das und warum macht das war.“22 Ein Zustand wiederum, den die aristoteli- „sicher“? Wer zum Wir gehört, muss nicht in jeder sche Logik nicht zulässt. Was passiert aber genau? Situation neu entscheiden, was richtig oder falsch Ein Wir konstituiert sich als Workshop-Wir. Es hat ist, weil jedes Wir einen mehr oder weniger rei- ein bestimmtes Thema, nämlich die Differenz Wir/ chen Vorrat an Handlungskonventionen bereithält, Andere im Rahmen von Migration. Das Workshop- der an der Identität des Wir mitarbeitet. Wenn ich Wir bemerkt nun durch das Othering eines Teilneh- mich in einer Vorstellungsrunde weigere mich vor- mers, dass es noch von einem anderen Wir getra- zustellen, wird es schwer, Teil des Workshop-Wir gen wird, das akademisch, an Kunst interessiert, zu werden. Die Seite „Wir“ beschneidet demnach aber auch weiß und deutschsprachig ist. Wir (Work- den Handlungsspielraum, verleiht aber auch gleich- shop) sind Wir (weiß, deutschsprachig). Die Posi- zeitig Sicherheit, weil sie vor einem unüberschau- tion, in die sich der Teilnehmer gedrängt fühlte, baren Feld multioptionaler Handlungshorizonte erzeugte also eine Situation, in der „die Anderen“, bewahrt. Wer also Teil eines solchen Wir, wer inte- von denen im Workshop die Rede war – etwa als griert wird, wird in seinen Handlungsoptionen ein- „Migrant_innen“ – nun Teil des Workshop-Wir wur- geschränkt. Technologisch ausgedrückt meint Inte- den. Das Wir war also nicht mehr bruchlos, son- gration auch nichts anderes als „Einschränkung der dern barg die Differenz Wir/Andere selbst in sich. Freiheitsgrade von Komponenten“, wie Niklas Luh- Übersetzt in die Logik Spencer-Browns heißt das, mann schreibt.20 Insofern mag – um zum Workshop dass „Andere“ zweimal vorkommt, nämlich sowohl zurückzukommen – Othering tatsächlich hand - auf der Außenseite, als auch auf der Innenseite des lungsfähig machen. Jemanden als Anderen mar- „Wir“: kieren stellt das Wir – im Sinne Fichtes – erst her, 19 Ebd. 20 Niklas Luhmann/Dirk Baecker (Hrsg.) (2004): Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg: Carl-Auer, S. 338. 21 Paul Mecheril u. a. (2010): Migrationspädagogik, Weinheim/ Basel: Beltz, S. 42, Herv. im Orig. 22 vgl. den Text „Differenz nicht anerkennen“ von Soran Ahmed in dieser Publikation. 71 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Aussagen bedurft. Eine Form von Aussagen, die – wiederum in Bezug auf formale Logik gesprochen – dazu neigen, die Sprecher_innen in Paradoxien zu Die Unterscheidung wird also erneut in die Unter- verstricken.24 Ich fühlte mich jedenfalls blockiert, scheidung eingeführt. Spencer-Brown nennt das auch durch den vermeintlichen Druck alles „rich- einen „re-entry“.23 Die Notation dafür ist folgende: tig“ machen zu wollen, also irgendwie „anti-rassistisch“ zu agieren; nur um dann doch nichts zu tun. Stattdessen bekam ich nur meine eigenen schematisierten Unterscheidungen, meine eigenen Rassis- Ein solcher Widereintritt der Unterscheidung in men in den Blick. Statt aber darauf zu reagieren, die Unterscheidung erzeugt aber wiederum eine überging ich meine Unsicherheit, rief die Work- Paradoxie, oder „pragmatisch“ ausgedrückt: Das shop-Wir-Konventionen ab, und stritt aus einer Wir weiß nicht mehr was es machen soll, weil es Theorie-Position heraus mit Praxis-Positionen über sich einer paradoxen Handlungsanweisung, einem Begriffe. Das kenne ich schon, da fühle ich mich Doublebind ausgesetzt sieht. Du bist Wir, Wir ist sicher. Andere; du bist auf der sicheren Seite, du bist nicht Letzteres ist dann auch eine Technik – neben auf der sicheren Seite; du weißt, wie du dich ver- dem Othering –, um aus einer Paradoxie wieder her- halten sollst, du weißt nicht, wie du dich verhalten auszukommen, um wieder handlungsfähig zu wer- sollst. Indem also die andere Seite der Unterschei- den. Man schiebt den re-entry zurück in den blin- dung – der blinde Fleck – auf die markierte Seite den Fleck. Man spricht einfach nicht mehr drüber der Unterscheidung eingeführt wird, wird auch der und macht stattdessen wie gewohnt weiter und per- blinde Fleck des Wir erst sichtbar. Es zeigt, dass die formt so den Satz vom verbotenen Widerspruch. Je Identität von Wir die Identität der Differenz von kontrollierter also die Unterscheidung Wir/Andere, Wir und Andere ist. Aber genau das ist ein Zustand, desto stabiler das Wir, desto bequemer lässt es sich der sich in aristotelischer Logik nicht handhaben handeln. Und eben diese Technik ist der politi- lässt; der Zustand ist, mit dem Satz vom verbotenen sche Kitt, mit dem sich Risse und Zusammenbrü- Widerspruch, verboten. Die Logik, aufgrund derer che füllen lassen. In einer Situation, die ihre eigene Wir handlungsfähig war, bricht zusammen. Im Falle des Workshops wurde dieser Zusammenbruch auch dadurch verstärkt, dass die Unterscheidung Wir/Andere schließlich dezidiertes Thema war. Schien es zu Beginn des Workshops noch darum zu gehen, über ein abstraktes Thema zu sprechen, über etwas anderes, so wurde in der Vorstellungs-Situation klar, dass wir und unser Verhalten selbst zum Thema werden müssten. Es hätte also nicht mehr um das „Was sagst du über xy?“ gehen müssen, sondern um das „Was tust du hier und jetzt?“. Es hätte also selbstbezüglicher 23 George Spencer Brown (1969): Laws of Form, übers. von Thomas Wolf, Lübeck: Bohmeier, 1999, S. 60. In der deutschsprachigen Ausgabe übersetzt als „Wiedereintritt“. 24 Heinz von Foerster schreibt dazu, dass selbstbezügliche Aussagen von der modernen aristotelischen Logik „in dieser Weise charakterisiert wurden: Man hat behauptet, sie seien sinnlos. Denn sie zwingen einen, so das Argument, ständig von einem Ja zu einem Nein, von einem Nein zu einem Ja überzugehen. Man erinnere sich nur an das berühmte Paradox mit dem Barbier, der in einer kleinen Stadt lebt und alle Menschen rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert sich der Barbier selbst? Wenn er sich selbst rasiert, darf er sich nicht rasieren, denn er rasiert ja nur jene Menschen, die sich nicht selbst rasieren. Und wenn er sich nicht rasiert, dann muß er sich rasieren, da er jene Menschen rasiert, die sich nicht selbst rasieren.“ Dabei ist es der aristotelischen Logik klar, „[…]daß es die Selbstbezüglichkeit sein muß, die das merkwürdige Paradoxon erzeugt. Das heißt, daß genaugenommen schon das Wörtchen Ich [und damit auch das Wörtchen Wir, AH], das ja stets diese Selbstbezüglichkeit etabliert, nicht mehr verwendet werden dürfte. Das ist natürlich grotesk.“ (Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen (2004): Wahrheit ist die Erindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, Heidelberg: Carl-Auer, S. 118.) 72 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Unentscheidbarkeit vorführt, wird dennoch ent- Markierungen einen Raum herstellt, in dem etwa schieden – bewusst oder unbewusst, kollektiv oder eigenes als fremd und fremdes als eigenes erscheint singulär.25 Wir können jetzt nicht mehr diskutie- und so stabile Identitäten destabilisiert werden. ren, wir müssen ja schließlich fertig werden, wir Eine Praxis also, die im Grunde genau das zu errei- müssen etwas präsentieren. Wir wollen unbedingt chen versucht, was im Workshop mutmaßlich zur wieder auf die sichere Seite, wollen irgendwie wir Blockade geführt hat. Nur geht es Bhabha nicht sein. Die Anderen warten sicher schon. darum, an genau diesem Punkt logischer Zusam- Durch Othering, durch überspielte Konlikte, menbrüche aufzuhören und schon gar nicht in alte durch heruntergeschluckten Ärger, durch Verges- Unterscheidungsschemata zurückzufallen, sondern sen, durch Übersehen, durch Bequemlichkeit, vor ab hier soll sich ein Prozess des Streitens und Ver- allem aber durch Angst vor dem Risiko selbst aus handelns in Gang setzen. Bhabha schreibt dazu: dem Wir zu fallen, wurde unser Wir handlungsfä- „Der transformatorische Wert der Veränderung liegt hier hig. Gleichzeitig wiederholten sich etablierte Struk- in der Neuartikulierung – oder Übersetzung – von Elemen- turen, in denen Rassismen sich entfalten konn- ten, die weder das Eine […] noch das Andere […] sind, ten. Aber ist das alles? Gibt es – wiederum logisch sondern etwas weiteres neben ihnen, das die Begriffe betrachtet – keinen Handlungsspielraum außerhalb und Territorien von beiden in Frage stellt.“28 Dabei geht des Wir-Diskurses? Noch einmal Spencer-Brown: es Bhabha durchaus um einen Begriff von Gemein- Betrachtet man die Unterscheidung Wir/Andere schaft.29 Aber einer, die nicht wie das „Wir“ Fich- als historisch gewachsenes und politisch wirksa- tes von der Außenabgrenzung lebt, sondern von der mes Schema,26 also als eigenständige Bezeichnung, Differenz innerhalb einer Gemeinschaft. Also gewis- dann gibt es notwendig mögliche Negationen die- sermaßen eine unsichere Gemeinschaft. Wobei – ser Bezeichnung. Ein Beispiel: mit Spencer-Brown – nicht übersehen werden darf, dass auch eine solche Gemeinschaft ihren blinden Fleck hat. An das Konzept des Dritten Raums anschließend Der auf Homi K. Bhabha zurückgehende Ausdruck ein weiteres Beispiel für eine mögliche Negation des „Dritter Raum“ bezieht sich dabei nicht nur auf Wir/Andere-Schemas: die Negation des speziischen Wir/Andere-Schemas, sondern er negiert im Rahmen von sozialen Zusammenhängen die strikte Entweder/Oder-Unterscheidung an sich und kann so als Alternative zur Im Gegensatz zu Bhabhas Drittem Raum negiert Politik aristotelischer Logik begriffen werden. 27 dieser Begriff Mecherils dezidiert die Unterschei- Die Praxis des Dritten Raums ist dabei eine Inter- dung Wir/Andere und macht sie zum Thema mig- ventionspraxis, die durch die De-Platzierung von rationspädagogischer Praxis, genauer: die Relexion der Unterscheidung Wir/Andere ist selbst Praxis und 25 Zum Begriff politischen Handelns als Entscheiden in unentscheidbaren Situationen vgl. Ernesto Laclau (1993): „Power and Representation“, in: Mark Poster (Hrsg.): Politics, Theory and Contemporary Culture, New York: Columbia University Press, S. 277– 296, hier S. 295. hat nicht allein im Feld der Wissenschaft, sondern 26 Vgl. Paul Mecheril u. a. (2010): Migrationspädagogik, Weinheim/Basel: Beltz, S. 187. 28 Ebd., S. 42, Herv. im Orig. 29 Vgl. ebd., S. 8f. 27 Vgl. Homi K. Bhabha (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg, bes. S. 1–28. 30 Vgl. Paul Mecheril u. a. (2010): Migrationspädagogik, Weinheim/Basel: Beltz, S. 190f. mitten in den Feldern pädagogischen Handelns stattzufinden. 30 Auftauchende Paradoxien und 73 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Widersprüche gilt es auch hier nicht aufzulösen, Vier Punkte möchte ich zum Schluss hervorheben. sondern in einem Spannungsverhältnis zu halten, Erstens: Es geht mir nicht um einen Ausschluss des zu dem in relexiver, d. h. in Unterscheidungen beob- Wir-Diskurses. Der Ausdruck „Wir“ kann als rheto- achtender Distanz getreten werden kann.31 Entschei- risch wirkmächtige Geste eingesetzt werden, um dend ist dann, dass pädagogische Relexion als Selbst- gemeinsam etwas zu erreichen. Es hat sich aber thematisierung der Pädagogik in die Handlungsfelder gezeigt, dass kein „Wir“ fraglos hingenommen der Pädagogik wieder eintritt. Mecheril fordert also werden kann. Jedes Vorkommnis von „Wir“ trifft genau das ein, was in formaler Logik zu lästigen Unterscheidungen und diese gilt es – etwa im Rah- Paradoxien führen kann: die Relexion selbstbezüg- men migrationspädagogischer Arbeit – jeweils in licher Aussagen. Aussagen wie etwa die meine, im den Blick zu nehmen, zu hinterfragen, gegebenen- Workshop selbst „[…] alles ‚richtig‘ machen zu wol- falls neu zu situieren oder auch zu durchkreuzen. len, also irgendwie ‚anti-rassistisch‘ zu agieren […]“, Nimmt man die Unterscheidungen genauer unter nur um dann durch mein Nichtstun die Entweder/ die Lupe, sieht man zudem, dass es jede Wir-Unter- Oder-Logik, die auch die des Rassismus ist, zu ermög- scheidung mit Widersprüchen zu tun bekommt. lichen. Mecheril dazu: „Es scheint eine Eigenart von Oder noch mal mit Luhmann: ein paradoxiefreies Gegen-Strategien zu sein, die Logik dessen, woge- Wir, das „[…] nur klare und distinkte Elemente und gen sie sich richten, unbeabsichtigt aufzugreifen Begriffe zulässt, muß aus dieser Perspektive aufge- und zuweilen zu bestätigen.“33 Genau einen solchen gebenen werden, denn es erfordert […] einen nichtre- Widerspruch aber gilt es zu relektieren. Aus dieser flektierten Einsatz von Unterscheidungen.“34 Dass dabei Warte taugt dann auch das Selbstverständnis alles „Wir“ eine zwei-Seiten-Unterscheidung ist, lässt sich „richtig“ machen zu wollen nichts, sofern es auf die nicht hintergehen. Das heißt aber nicht, dass sich strikte Unterscheidung „richtig/falsch“ verweist. An die zwei Seiten nicht durcheinanderbringen lie- der kann man selbst, aber vor allem ein Workshop, ßen. Es kommt auf die Logik an, mit der die Unter- der sich selbst in den Blick bekommt, nur scheitern. scheidung bearbeitet wird. Damit will ich zweitens Wir haben uns nämlich für jenes „richtig“ entschie- das Label „binäre Logik“ präzisieren als Unterschei- den, das in der rechtzeitigen Abgabe von beschrie- dung „aristotelische/nicht-aristotelische Logik“, um benen Zetteln seine Erfüllung fand. Im Umgang mit- so auf die Projekte zu verweisen, die Systeme for- einander sind wir dagegen grandios gescheitert, er maler Logik entwickeln und sich gleichzeitig als lief „falsch“. Um einen solchen Widerspruch aber den aristotelischen Wahrheitsdiskurs subvertie- gemeinsam sehen, aussprechen und auch bearbei- rend entfalten. 35 Mit der Wendung „Unterschei- ten zu können, bedarf es eben der Zeit und der struk- dungen bearbeiten“ will ich drittens, in Anleh- turellen Möglichkeit, sich als Workshop-Wir neben nung an Spencer-Brown, den Arbeitscharakter von sich selbst stellen zu können, sprich: einer relexi- Logik hervorheben. Jede Logik verrichtet etwas oder 32 ven Haltung. 31 Dabei ist klarzustellen, dass mit „Beobachten“ hier kein Passivum gemeint sein kann. Ich greife dabei auf ein Konzept zurück, das Beobachtung immer auch als Intervention in das Beobachtete begreift. Vgl. u. a. Heinz von Foerster (1993): „Über das Konstruieren von Wirklichkeiten“, in: ders.: Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 25–49. 32 Vgl. Fnt. 24. 33 Paul Mecheril u. a.(2010): Migrationspädagogik, Weinheim/ Basel: Beltz, S. 171. 34 Ich paraphrasiere Luhmann. Er schreibt nicht vom paradoxiefreien „Wir“, sondern von „paradoxiefreier Wissenschaft“: Niklas Luhmann (1993): „Die Paradoxie der Form“, in: Dirk Baecker (Hrsg.): Kalkül der Form, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 197–212, hier S. 201, Herv. im Orig. 35 Dass solche Logiken dann durchaus binär angelegt sein können, zeigt das Kalkül Spencer-Browns. Ein Beispiel für eine dreioder mehrwertige, nicht-aristotelische Logik ist etwa die Arbeit von Gotthard Günther. Vgl. z. B.: Gotthard Günther (1991): Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, Hamburg: Felix Meiner. 74 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 richtet auch etwas an. Sie kann nicht ohne Weite- Alexander Henschel ist Kunstvermittler in Theorie und res in die scheinbar wirkungsfreie Theorie-Ecke ver- Praxis. 2008–2010 arbeitete er als wissenschaftlicher schoben werden, sondern muss selbst als eine Pra- Mitarbeiter am Institut für Kulturpolitik der Universi- xis gelten. tät Hildesheim und seit 2010 am Institut für Kunst und Letztens möchte ich betonen, dass sich mit visuelle Kultur der Universität Oldenburg. Der Begriff dem Formkalkül Spencer-Browns keine Superfor- der Vermittlung im Kunstkontext sowie Vermittlung mel etabliert, die Lösungen – im engsten Sinne des als ästhetische Praxis sind dabei Schwerpunkte in Wortes – anbieten könnte. Gleichfalls sind die Kon- Lehre und Forschung. zepte „Dritter Raum“ und „pädagogische Relexivität“ keine Auswege, keine Fluchttunnel, keine alles mit allem versöhnenden Gesten, sondern nur je eine Möglichkeit das Schema „Wir/Andere“ zu negieren. Und auch hinter diesen Möglichkeiten lauern weitere Negationen, weitere (selbst-)kritische Unterscheidungen, weitere Figuren des reentry, die gleichfalls aufgedeckt werden müssen, um nicht einem Heilsversprechen zu erliegen, wo keines ist.36 Noch einmal: hat sich ein Widerspruch erst mal eingenistet, lässt er sich nicht mehr einholen. Aber erst wenn ihnen – den Widersprüchen, Reibungen, Zusammenbrüchen – der Raum und die Zeit gegeben wird sich zu zeigen, kann auch mit ihnen gearbeitet werden: als Theorie, als Praxis, als Workshop. 36 Und das auch weder von Bhabha noch von Mecheril behauptet wird. 75 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Differenz nicht anerkennen“ Stephan Fürstenberg „Für diese jungen Männer und ihre Kumpel war Ficken eine Möglichkeit, sich dem Anderen zu stellen. Außerdem Anfänge einer Auseinandersetzung konnten sie sich so selbst verändern, die weiße ‚Unschuld‘ hinter sich lassen und die Welt der ‚Erfahrung‘ betreten. Wie es in dieser Gesellschaft häufig der Fall ist, waren sie sicher, daß Nichtweiße mehr Lebenserfahrung hätten, weltlicher, sinnlicher und sexueller, weil anders, wären. Kommentar zum Workshop Ein Biß-chen vom Anderen zu bekommen, sahen sie als „Differenz nicht anerkennen“ Ritual der Transzendierung an. In diesem Fall ging es darum, sich auf sexuelle Begegnungen mit nichtweißen Ich habe bei der Tagung den Workshop „Differenz Frauen einzulassen, was soviel hieß, wie sich in eine Welt nicht anerkennen“ gewählt, weniger, weil ich mich der Differenz hinauszubewegen, die umwandeln würde – mit dieser Thematik besonders gut auskenne, als ein annehmbarer Einführungsritus. Das unmittelbare Ziel vielmehr, weil ich mich davon angesprochen und war nicht einfach, sich das Andere sexuell anzueignen; es herausgefordert fühlte und mein Interesse geweckt ging darum, durch die Begegnung irgendwie verändert war. Während des Workshops machte sich jedoch zu werden. In ihren Augen gab es die Anderen und ihre schnell ein Gefühl der Unzufriedenheit, der Irrita- Körper ‚natürlich‘, um dem weißen männlichen Begehren tion und des Unbehagens breit, was es mir im Nach- dienlich zu sein. Hal Foster schreibt in »The ‘Primitive’ hinein schwer macht, einen Kommentar dazu zu Unconscious of Modern Art, or White Skin, Black Masks« formulieren. Gerne hätte ich aufgrund meines über das Wiederaufleben der Differenz im Westen. Er Schweigens und meiner Sprachlosigkeit während erinnert seine LeserInnen daran, daß für Picasso Gegen- und nach dem Workshop einfach das nebenste- stände, die er von Stämmen erworben hatte, ‚Zeugen‘ und hende Zitat als alleinige Kommentierung für mich nicht etwa ‚Modelle‘ waren. Foster kritisiert diese Zuord- sprechen lassen – mit seiner Distanz und gleichzei- nung des Anderen und betont, daß diese Einstellung ‚an tigen Nähe zum Ereignis, zur Arbeitstagung und Instrumentalisierung grenze‘. Auf diese Weise stellt frau/ zum Workshop – da sich mit bell hooks Ausführun- man das Primitive durch Anverwandlung und Gebrauch gen etwas formuliert, was ich scheinbar nicht zu in den Dienst der westlichen Tradition (der es dann zum fassen bekommen habe.1 Teil zugeschrieben wird). Von weißen Männern ausgehende Kontakte mit Menschen anderer Hautfarbe sowie sexuel- Im Rückblick war der Workshop „Differenz les Begehren zwischen Menschen verschiedener Hautfarben nicht anerkennen“ für mich ein Anfang: der Ver- sind heute Trends, auf die eine ähnliche Kritik zutrifft. Sie such einer Auseinandersetzung, wo in einer beanspruchen den Körper des farbigen Anderen als Hilfs- spezifischen Gruppenkonstellation mit einem mittel, als unerforschtes Gelände. Er ist ein symbolisches spezifischen thematischen Rahmen über Diffe- Grenzgebiet, ein fruchtbarer Boden, auf dem die weißen renzproduktion, die Konstruktion des Anderen Männer die maskuline Norm wiederherstellen und sich als und den Umgang mit dem Anderen in gesellschaft- grenzüberschreitende, begehrende Subjekte ausleben. Sie lichen Kontexten – hier im Speziellen im Feld der verlangen von den Anderen, diese Umwandlung zu bezeugen und sich daran zu beteiligen. 1 Da vielleicht Begriffe wie Dominanz, Rassismus und Naturalisierung im Zusammenhang mit unserem gemeinsamen Versuch eines offenen Umgangs mit Differenzen hätten ausgesprochen werden müssen, um die dominante Konstruktion des Anderen zu unterbrechen, statt sie während des Workshops fortzuführen. 76 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Kunstvermittlung – diskutiert wurde, ohne aus der Wenn weiße junge Männer offen ihr Verlangen nach ‚far- gleichzeitigen (Re-)Produktion von dominanten bigen‘ Mädchen (oder Jungen) diskutieren, so bekunden sie Dichotomien und Prozessen des Otherings ausstei- damit öffentlich, daß sie mit der Vergangenheit der wei- gen zu können bzw. dies konsequent zu relektie- ßen Herren gebrochen haben, in der solches Begehren nur ren und zu problematisieren.2 als Tabu, Geheimnis oder Schande galt. Ihre Bereitschaft, Doch ich möchte im Folgenden versuchen, die offen ihr Begehren nach den Anderen auszusprechen, deu- Rahmenbedingungen dieses Workshops in den ten sie als Bekenntnis zu kultureller Vielfalt (mit ihren Aus- Blick zu nehmen, um damit vielleicht einen klei- wirkungen auf sexuelle Vorliebe und Wahl). Anders als ras- nen Impuls für eine werdende Auseinanderset- sistische weiße Männer, die in der Geschichte die Körper zung mit dieser Thematik zu setzen. Drei struktu- schwarzer Frauen/women of color verletzten, um sich ihre relle Gegebenheiten seien hierfür kurz umrissen, Position als Eroberer zu bestätigen, halten sich diese jun- die die Gestaltung der Auseinandersetzung um das gen Männer für nichtrassistisch. Vielmehr ist es ihre Ent- Thema „Differenz nicht anerkennen“ aus meiner scheidung, rassistische Grenzen auf sexuellem Gebiet zu Sicht schwierig machten bzw. die fragilen Anfänge überschreiten, und zwar nicht, um die Anderen zu beherr- vorschnell beendeten. schen, sondern damit mit ihnen eine völlige Veränderung geschehen kann. Sie befinden sich dabei nicht im Einklang (1) Am Anfang ein Manifest? mit denjenigen Aspekten ihrer sexuellen Fantasien, die sie eindeutig mit der kollektiven weißen rassistischen Domi- Die Präsentation des Workshops im Rahmen eines nanz verknüpfen. Sie glauben, ihr Verlangen nach Kontakt „kaleidoskopischen Manifests“ war eine stark struk- stelle eine fortschrittliche Verhaltensänderung der Weißen turierende Komponente des Arbeitsprozesses wäh- gegenüber Nichtweißen dar. Sie merken nicht, daß sie wei- rend des Workshops und dabei wenig produktiv für terhin den Rassismus pflegen. In ihren Augen ist der schla- die dort sich entwickelnden Anfänge einer Ausei- gendste Beweis für ihren Wandel, daß sie sich freimütig zu nandersetzung um dieses komplexe Thema. Der ihrem Sehnen bekennen, offen ihr Begehren zu verstehen Sprung vom fragilen Anfang einer Auseinanderset- geben, ihr Bedürfnis nach Intimität mit dunklen Anderen. zung hin zur Verfertigung eines Manifestbeitrags – Es geht darum, durch das Zusammentreffen von Lust und auch in der dabei gewählten Form von Fragen statt Anderssein verändert zu werden. Man wagt – handelt – Antworten – war aus meiner Sicht eine Überforde- und geht dabei von der Annahme aus, die Erkundungs- rung und erwirkte eine vorschnelle Schließung reise in die Welt der Differenz, in den Körper des Anderen, bzw. Disziplinierung der Auseinandersetzung. 3 werde größere, intensivere Freuden bereiten als alles sonst „Lose Fäden“, bei denen die Frage, wer wen wie in der gewohnten Welt der eigenen vertrauten ‚rassischen‘ nicht anerkennt, begann, etwas mit uns Workshop- Gruppe. Und obwohl sie überzeugt sind, daß die vertraute Teilnehmer_innen zu tun zu haben, wurden mit Welt intakt bleibt, während sie sich nach draußen wagen, Blick auf den zu erfüllenden Manifestbeitrag nicht hoffen sie, daß sie bei ihrer Rückkehr in diese Welt nicht erneut aufgegriffen und eingehender bearbeitet. mehr dieselben sein werden.“ (hooks 1994, S. 36f.) 2 Zur Diskussion der Produktion von Identität und Differenz in diesem Workshop vgl. auch die Beiträge von Soran Ahmed und Alexander Henschel in dieser Publikation. 3 Der Begriff „kaleidoskopisches Manifest“ legt für mich den – gewollten oder ungewollten – hohen Anspruch offen, welcher durch diese Präsentationsform mit hergestellt wird. Schließlich heißt „kaleidoskopisches Manifest“ nichts weniger als ein „Programm“ bzw. eine „Grundsatzerklärung“ „in bunter Folge“ (vgl. Duden). 77 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 (2) Kontroverse möglich machen Der vor fast zwanzig Jahren veröffentlichte Text Das Einverleiben des Anderen von bell hooks (1994) „Begreifen“ hat etwas mit Berührung, mit Kon- könnte bspw. neben den Texten von Paul Mecheril takt untereinander zu tun, welcher nicht immer für eine kommende Auseinandersetzung um „Diffe- schmerz- und verletzungsfrei ist – wenn es bspw. renz nicht anerkennen“ produktiv gemacht werden, zum Aufeinanderstoßen von Argumenten, Positi- wenn dieser – vor dem Hintergrund seiner histo- onen oder Emotionen kommt. Nützlich für einen risch-thematischen Speziik – diskutiert und seine tiefergehenden Prozess des Begreifens rund um das Aktualität sowie seine Bezüge zum Feld der Kunst- Thema „Differenz nicht anerkennen“ wäre aus mei- vermittlung erörtert werden würden. Der Schluss ner Sicht deshalb eine im Vorfeld bestimmte und dieses Textes könnte dabei aus meiner Sicht ein wei- (vor)bereite(te) Person zur Leitung des Workshops. terer möglicher Anfang eines Prozesses des gemein- Dabei ist es aus meiner Sicht weniger wichtig, eine samen selbstkritischen Begreifens werden: „Expert_in“ oder einen „Experten“ zu diesem „Wenn wir eingestehen könnten, daß Verlangen nach Thema zu haben, als vielmehr ein_e Akteur_in, die Freude – und das schließt erotische Wünsche ein – unsere die schwierige Aufgabe der Vertrauens- und Verant- Politik und unser Verständnis von Differenz durchdringt, wortungsperson übernimmt, welche die Gruppen- können wir eher begreifen, wie Begehren Gewohntes auf- prozesse begleitet und in diese wenn nötig eingreift bricht, es untergräbt und Widerstand möglich macht. Wir – gerade um eine offene, respektvolle und kritische können diese neuen Bilder jedoch nicht unkritisch überneh- Kontroverse innerhalb der Gruppe zu ermöglichen. men.“ (hooks 1994, S. 56) (3) Eine gemeinsame Basis schaffen Literatur In der Rückschau würde ich außerdem sagen, dass • hooks, b. (1994): „Das Einverleiben des Anderen. Be- eine gemeinsame Wissens- und Diskussionsbasis gehren und Widerstand“, in: Dies., Black Looks. Pop- erarbeitet werden sollte. Es kann nicht selbstver- kultur-Medien-Rassismus, Berlin: Orlanda-Frauenverlag. ständlich davon ausgegangen werden, dass zuvor verschickte Textauszüge, ein Vortrag und die unterschiedlichen Praktiken und Erfahrungen im Feld Stephan Fürstenberg bewegt sich als Kunst-/Medien- der Kunstvermittlung allein die „gemeinsame“ Basis wissenschaftler (M.A.) im Bereich feministisch und einer Arbeitstagung resp. für einen Workshop bil- postkolonial informierter und engagierter Kunst-/ den können. Kulturwissenschaften und beschäftigt sich dabei mit Bei einem solch komplexen Themenfeld wie Repräsentation und Partizipation im Feld der Kunst- „Differenz nicht anerkennen“ wäre neben der Zeit vermittlung. Mitarbeit im Promotionskolleg Kultur- für die Diskussion mehr Raum für ein gemeinsames Stu- wissenschaftliche Geschlechterstudien an der Uni- dium nützlich – wo bspw. frühere Auseinanderset- versität Oldenburg (2008–2010) und derzeit wissen- zungen um Differenz(en) und Othering und somit schaftlicher Mitarbeiter am Institute for Art Education um Deinitionsmacht und Dominanzverhältnisse (IAE) der ZHdK. gemeinsam erarbeitet werden können. Diese Materialien können dann möglicherweise auch als eine Art Korrektiv innerhalb der Arbeitsgruppe eingesetzt werden und den Gegenstand der Diskussion und die Art und Weise der Auseinandersetzung mitgestalten. 78 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Zwischenräume“ Lena Siebertz auf territorialen oder kulturellen Zuschreibungen basierenden Konzepten etwas entgegenzusetzen. Der Tisch dazwischen – Zwischenraum als Arbeitsbegriff Als eine Strategie hierfür wurde unter anderem „Queering“ vorgeschlagen. Dabei wurde auf Judith Butlers performatives Modell von Geschlecht Bezug genommen, in dem die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ als Produkte angesehen werden, die aus einer Wiederholung von Handlungen und Sprache heraus entstanden sind. „Queering“ kann, durch Workshop-Protokoll eine Unterbrechung dieser Wiederholung, die Kategorien infrage stellen. Diese Strategie des „Quee- Der Workshop zum Thema „Zwischenräume“ geht rings“ könnte, übertragen auf den Kontext von dem Ende zu: Die Tische wurden beiseite geschafft Migration und die Herstellung starrer Identitäts- und die circa 20 Teilnehmer_innen des Workshops konstruktionen, die Kraft haben durch Verunein- sind dabei, ihre Performance für die spätere Prä- deutigungen und Verwirrungen „Zwischenräume“ sentation im Plenum zu diskutieren. Ein wichtiges zu eröffnen. Element ist dabei eine Leiter; mit ihr wird versucht, einen Überblick zu bekommen über die Begriffe Das Potenzial von Kunst und Kunstvermitt- und Sätze, die auf dem Boden ausgelegt wurden lung als Störfaktor im Kulturbereich – die sub- und nun miteinander in Bezug gesetzt werden: Die versive Strategien nutzen können, um ebensol- „Verwirrung als subversive Strategie“ steht nun der che Veruneindeutigungen und „Zwischenräume“ „Angst vor Unordnung“ gegenüber und wird von zu produzieren, – wurde zwar erwähnt, allerdings „Einschränkungen“ und „Ambivalenzen“ begleitet. nicht konkretisiert. Die allgemeine Fragestellung, ob ein „Zwischenraum“ tatsächlich erst produziert In einem weitestgehend basisdemokratischen werden muss oder ohnehin schon stellenweise vor- Verfahren zur Bestimmung der Workshopthemen handen ist, bzw. die genaue Lokalisierung dieses war im Vorfeld ein gemeinsames Interesse der Kon- Raumes, konnte nicht eingehend geklärt werden. ferenzteilnehmer_innen an den Möglichkeiten des Vielmehr war das Format Workshop selbst in den Konzeptes „Zwischenraum“ im Kontext von Kunst- Vordergrund gerückt, als ein Ort der Gruppendy- vermittlung und Migrationsgesellschaft deutlich namiken, des Aufeinandertreffens verschiedener geworden. Nun sollte in dem Workshop dieses Mög- Vorstellungen und Erwartungen und nicht zuletzt lichkeitsfeld umrissen, hinterfragt und diskutiert verschiedener Individuen mit verschiedenen (z. B. werden. Hierbei waren verschiedene Tendenzen sprachlichen) Hintergründen. Für mich als mut- und Bedürfnisse der Teilnehmenden zu beobach- tersprachlich deutsche Begleiterin des Workshops ten, die von Praxisnähe und Anwendbarkeit bis taten sich gerade an dieser Stelle Schwierigkeiten hin zu abstrakter Terminologie- und Prozessana- und Ambivalenzen auf, hierbei nicht in eine Für- lyse reichten. Einigkeit konnte weitestgehend über sprecherinnenrolle zu geraten und gleichzeitig das Begehren, die Projektion oder die Erwartung sensibel zu bleiben für sprachlich bedingte Hier- gefunden werden, welche an den Begriff „Zwischen- archien innerhalb des Workshops. Es musste also raum“ gerichtet wurden: Es ging den Teilnehmer_ geklärt werden, wie es möglich wäre, den ver - innen darum, binäre Strukturen – geograische schiedenen individuellen Bedürfnissen und dem oder soziale – aufzubrechen und polarisierenden, Anspruch der Konferenz gerecht zu werden. Hierbei 79 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 wurde das Thema „Sprache und Repräsentation“, Literatur welches aus organisatorischen Gründen dem Work- • Butler, J. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. shop „Zwischenräume“ zugeordnet war, aber bis Frankfurt am Main: Suhrpamp. dahin nicht explizit diskutiert worden war, doch • Mecheril, P. u. a. (2010): Migrationspädagogik. Wein- noch präsent. heim/Basel: Beltz. Sprache wurde als Produzent deinierter und undefinierter Räume immer wieder angeführt. Lena Siebertz, studiert und arbeitet in Berlin. In ihren Allerdings indet eine Aulösung dominanter deut- Videos, Installationen und Performances beschäf- scher Sprachpraxis nur schwerlich statt, wie sich tigt sie sich mit gesellschaftlichen Denkmustern und auch an der gesamten Konferenz bzw. den Räu- Repräsentationsstrukturen. men, in denen Kunst vermittelt wird oder Kunstvermittler_innen ausgebildet werden, ablesen lässt. Das Aulösen dieser Monolingualität, wie es auch in Paul Mecherils Buch „Migrationspädagogik“ in dem zusammen mit İnci Dirim verfassten Kapitel „Die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft“ hervorgehoben wird, ist einerseits Voraussetzung für eine Nicht Anerkennung in der Migrationsgesellschaft und skizziert andererseits in der Realität bereits existierende Zwischenräume, die sich nicht der dominanten Sprachlichkeit unterordnen. Durch beispielsweise Crossing, Code-Switching und CodeMixing, also dem Variieren, Mixen, Wechseln zwischen und innerhalb verschiedener Sprachen, entsteht eine Multilingualität, die in den Räumen der Institutionen bisher wenig Raum indet. Ein letzter Blick von der Leiter auf die beschrifteten Zettel am Boden: Um die Beweglichkeit und Veränderbarkeit der Produktion immer neuer Zwischenräume darstellbar zu machen, legen die einzelnen Teilnehmer_innen immer wieder Begriffe an oder um und stellen neue Verbindungen her. Die „Kunst“ liegt mal in der Mitte, mal ganz außen; und neben dem „Wir“ liegt nun „der Tisch dazwischen“. 80 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Zwischenräume“ Deniz Sözen dem Heute, Morgen und Übermorgen. Zwischen dir und mir: der Kunst und der Sprache, dem Sprechen Relexionen zum Workshop „Zwischenräume“ und dem Schweigen. Zwischen dem Hier und dem Jetzt: dem Dazwischen. Der Zwischenraum beinhaltet sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Konnotation. (Tagungsnotiz: Workshop Zwischenräume) Ich schlüpfe nun in die Rolle einer Astronautin und schreibe fortan aus (m)einer Zwischenraumsta- In diesem Text möchte ich meine Gedanken zu tion: Ich schreibe, erzähle, zähle und verzähle mich manch diskursivem Feld versammeln, welches sich als eine sich immerfort zwischen Räumen beindli- mir durch die Teilnahme an einem Workshop zum che; aus dem Zwischenraum schreibe ich. Aus wel- Thema „Zwischenräume“ im Rahmen der Fachta- chem nun, fragst du? gung „Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ in Berlin eröffnet hat. Seit einigen Monaten lebe und arbeite ich in Zürich. Was ich hier mache, wundern sich viele. Ich Mit Blick auf den speziischen Kontext der Ta- bezeichne mich als „Gastarbeiterin“. Diese Antwort gung, welche die Fragestellungen und Herausforde- schockiert. Ich passe nicht in das Bild einer „Gastar- rungen, die sich beim Vermitteln von Kunst an eine beiterin“: Mir fehlt der Schnurrbart. Oder das Kopf- transmigrantisch geprägte Gesellschaft stellen, tuch. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte zum Thema machte, wird es in diesem Text, aus- ich vielleicht hinzufügen, dass ich meine privile- gehend von Relexionen zu dem Workshopthema gierte Situation in keiner Weise mit dem Schick- „Zwischenräume“, insbesondere um eine Annähe- sal jener Menschen, die diesen Begriff mit all sei- rung an theoretische Konzepte wie das der Hybri- nen Konnotationen prägen sollten – damit meine dität und der (kulturellen) Übersetzung in Bezug ich jene, die als sogenannte Gastarbeiter_innen ab auf ihre vielfältigen Anwendungsbereiche im Feld Mitte der 1950er-Jahre nach Deutschland, Schwe- der Kunstvermittlung gehen. In diesem Zusam- den, in die Schweiz und etwas später auch nach menhang soll insbesondere die Figur und Rolle des Österreich zur Ankurbelung der Wirtschaft „ein- Tricksters als Modell für eine widerständige Kunst- geladen“ wurden, um schon bald darauf mit „Aus- vermittlungspraxis in den Blick genommen werden. länder raus“-Parolen ausgeladen zu werden – vergleichen möchte. Trotzdem bin ich Gast; trotzdem bin ich Arbei- Wer spricht? terin: Gastarbeiterin. Im Zuge einer mikropolitischen Annäherung an zwischen Sätzen, Worten und deren Bedeutungen. Es gibt Räume und Lücken zwischen Sprachen, die im Workshop verhandelten Themen möchte ich zunächst versuchen, mich selbst zu lokalisieren im Mein Körper, meine Sprache(n), die Kunst, das ist mein Zuhause.1 Sinne der einer jeden Art von kritischer Praxis vorausgehenden Frage: „Wer spricht?“ Wie so viele Menschen meiner Generation in Europa (und darüber hinaus) bin ich zwischen ver schiedenen Kulturen, Sprachen und Räumen Zwischen Raum und Zeit suche ich mich, inde aufgewachsen. Durch meinen deutsch- türkisch- ich mich – beinde ich mich. Zwischen dem Hier und dem Dort. Zwischen dem Vorgestern und Gestern; 1 Vgl. Lygia Clarks Ausspruch: „My body is my home.“ 81 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 österreichischen Background und meine Migra - Ausstellungsmacher_innen3, Vermittler_innen und tionsgeschichte (er)lebe ich Nicht-Zugehörigkeiten Besucher_innen etwas entgegenzusetzen. Der Frage, permanent. Ich gehöre keinem Ort. wie hier das Konzept des Zwischenraums als wider- Du hast Glück, sagt der Bäcker, du bist überall zu Hause! Mein Lieblingsbäcker in Zürich: Artos möchte ständiges Instrumentarium der Vermittlung fungieren könnte, wollten wir bei dem Workshop nachgehen. ich ihn nennen. Er musste im Alter von zwölf Jahren Der Zwischen-Raum: das ist keine feste Größe, speku- mit seiner Familie aus Griechenland in die Schweiz lierten wir. Dieser Raum wird geschaffen, er konstruiert migrieren. Ich war gerade neun Jahre alt, als meine sich durch bestimmte Koordinaten und diese bestimmten Eltern beschlossen, dass ich lieber in Österreich als wir durch unsere Bewegungen. (Tagungsnotiz: Work- in der Türkei zur Schule gehen sollte. shop Zwischenräume) Als er mit zwölf Jahren in die Schweiz kam, Ich wurde in Wien geboren. Meinen „fremdländi- erzählt Herr Artos, fühlte er sich ausgeschlossen. Er schen“ Namen verdanke ich meinem Vater türkischer war ein Außenseiter in der Schule und hatte große Herkunft. Er kam durch ein Stipendium nach Wien, Mühe, mehrheitsschweizerische Freund_innen zu um Lebensmitteltechnologie zu studieren. Jetzt pro- inden. So begann er mit den „türkischen Kids“ Fuß- duziert er Fleischwaren und beliefert ganz Wien mit ball zu spielen. Er ist bis heute mit ihnen befreun- Dönerspießen. Meine Mutter hat einen deutschen det. Ich war sehr erstaunt, als ich hörte, dass Herr Migrationshintergrund. Sie erblickte das Licht der Artos nebst perfektem Schweizerdeutsch, Deutsch, Welt in Kiel, wuchs allerdings bedingt durch die Italienisch und seiner Muttersprache Griechisch Arbeitsmigration ihrer Eltern größtenteils in der nahezu akzentfrei Türkisch spricht.2 Er hat diese österreichischen Provinzhauptstadt Eisenstadt auf. Sprache erst in der Schweiz gelernt: beim Fußball- Mein Körper ist mein Zuhause. spielen! Meine burgenländische Großmutter ostpreu- Voraussetzung für eine Praxis der (Nicht-)Aner- ßischer Herkunft wurde ohnmächtig, als meine kennung kultureller Differenz und Alterität in Mutter ihr gestand, dass sie mit einem Türkenkind der Kunstvermittlung wäre es, die in diesem Bei- schwanger war. (Dies ist zugegebenermaßen eine spiel veranschaulichte Komplexität kultureller, maßlose Übertreibung, aber beschreibt den Schock, nationaler, ethnischer, sprachlicher und biograi- den sie erlitten haben muss.) scher Zugehörigkeiten zu erkennen und zu versu- Die Kunst ist mein Zuhause. Zugleich meine Ant- chen, den oftmals vereinfachenden und essentia- wort auf die kuriose und oftmals deplatzierte Frage: listischen Identitätskonzepten in den Köpfen von 2 Wenn man bedenkt, dass die geschichtsbedingten Ressentiments zwischen Griechen und Türken nach wie vor andauern, so ist Herr Artos‘ Adaptation einer türkischen Identität umso bemerkenswerter. Ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte: In dieser Form konnte sich die soziokulturelle Identiikation eines Teenagers griechischer Herkunft mit türkischsprachigen Jungs nur in einem dritten Raum, besser gesagt, in einem Raum „dazwischen“ ereignen. In dem Migrationsland Schweiz gelang es diesen Jugendlichen, sich im Zuge der gemeinsam und somit als verbindend erlebten Diskriminierung durch Mehrheitsschweizer_innen ihren eigenen hybriden Raum zwischen zwei nach wie vor geschichtsbedingt wirksam antagonistisch erlebten Nationen zu schaffen. „Wo kommst du her?“ 3 Auch manch künstlerische Position sei davon nicht ausgenommen. 82 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Wie es Stuart Hall in dem weiter oben angeführten Kunst und Vermittlung in der Migrationsgesellschaft: Zwischenräume Zitat treffend formuliert, sind Bedeutungen, Identitäten und Kulturen durch ininite Prozesse der Übersetzung ständig in Wandlung begriffen. Nach Sarat Maharaj ginge es vorerst darum, diasporische oder kulturell differente Arbeiten als „[…] dislokale Über- „One has to think of meaning as constituted by an infinite, setzungen in die Gegenwart zu erkennen […]“6. Was incomplete series of translations. I think cultures are like bedeutet diese Erkenntnis bzw. eine nicht essentia- that too, and so are identities. I think cultural production listische Konzeption von Identität und Differenz is like that and I am sure texts are like that. In fact the jedoch konkret für die Arbeit an und in Zwischen- notion of ‘cultural translation’ is absolutely central to an räumen in der Kunstvermittlung? Wo oder was ist understanding of this whole field.“4 ein Zwischenraum? In dem Workshop ging es darum, durch die gemein- Über eine konkrete Bedeutung und Anwendung same Diskussion das Konzept des Zwischenraums des Begriffs des Zwischenraums im Feld der Vermitt- als Arbeitsinstrumentarium für die Praxis der Kunst- lung konnten wir uns als Gruppe bis zum Schluss vermittlung im Kontext der Migrationsgesellschaft nicht einigen, kamen aber zu folgender Erkenntnis: produktiv zu machen. Der Zwischenraum, was auch immer man darunter Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft verstehen mag, ist (wahrscheinlich) nicht gegeben, sollte meiner Meinung nach nicht als Dienstleis- sondern wird vielmehr durch unsere Bewegungen tung für angeblich deizitäre Jugendliche mit Migra- und Handlungen konstruiert. Zwischenräume sind tionshintergrund missverstanden werden, sondern, vielgestaltig und lassen sich nicht statisch festschrei- wie wir im Workshop feststellten, vielmehr als kon- ben. Sie können sich physisch, virtuell oder auch als tinuierliche Arbeit an und mit multiplen Perspekti- mentale Räume manifestieren und entziehen sich in ven – in und an Zwischenräumen, für und von Men- diesem Fall möglicherweise sogar der Repräsentation.7 schen mit und ohne Migrations(hinter)grund. Unsere Abschlusspräsentation mündete in einer Eine zentrale Frage, die heutzutage viele Ver- Performance, bei der wir unterschiedliche Karten mit mittler_innen insbesondere auf internationalen Begriffen, die wir im Zuge eines Brainstormings zum Großausstellungen zeitgenössischer Kunst oder in Thema Zwischenraum gesammelt hatten, bewegten, ethnograischen Sammlungen außereuropäischer verlegten, durchmischten und in neue Zusammen- Kunst beschäftigen sollte, scheint mir folgende zu hänge setzten. Die Performance betonte den Prozess- sein: Wie gehen wir mit der Herausforderung um, charakter und die Beweglichkeit des Zwischenraums. Arbeiten zu vermitteln, die im Bezug zu differen- Ohne unser Wissen hatten wir Homi Bhabhas ten Sprach- und Kulturräumen stehen, ohne sie auf Konzeption des Zwischenraums als einen Raum der „[…] rein ethnograische Phänomene zu reduzieren kontinuierlichen Verhandlung8 in eine Performance und so zu tun, als verfügten sie über einen kultu- übersetzt. rellen Wesenskern?“5 4 Stuart Hall/Sarat Maharaj/Sarah Campbell (Hrsg.) u. a. (2001): Modernity and difference. London: International Institute of Visual Arts, S. 37. 5 Annie Fletcher (2000) „Sounding Difference. Ein Gespräch zwischen Sarat Maharaj und Annie Fletcher über den Umgang mit kultureller Differenz“, in: Springerin, Jg., 6, Heft 1. http://www.springerin.at/dyn/heft.php?id=12&pos=1&textid=210&lang=de (17.10.2011). 6 Ebd. 7 Derzeit beschäftigt mich in diesem Zusammenhang die Frage, in welcher Weise der virtuelle Raum als translokaler ZwischenRaum, der sich eventuell sogar ein Stück weit der institutionellen Kontrolle entzieht, für eine transkulturelle Kunstvermittlungspraxis im Kontext der Migrationsgesellschaft genutzt werden könnte. 8 Vgl.: Felipe Hernandez (2010): Bhabha for Architects. London/ New York: Routledge, S. 95. 83 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Im Dazwischen wird ein neuer Möglichkeitsraum In den Erzählungen und Mythen verschiedenster eröffnet: Kulturen weltweit vermag die Figur des Tricks- Befinden wir uns bei der Kreation, Vermitt- ters12 als Übersetzer_in und Vermittler_in zwischen lung und Rezeption von Kunst nicht ohnehin stän- den Welten potenziell oder zumindest für einen dig in einem Akt der permanenten Übersetzung? Moment binäre Ordnungsmuster und eindeutige In einem Zwischen-Raum? Zuschreibungen kultureller, nationaler, ethnischer Wir dürfen eines nicht vergessen: Gerade bei oder geschlechtlicher Natur zu sprengen. der Kunst handelt es sich, mit Jean Fishers Wor- „Der Schlüssel zur Funktion des Tricksters liegt ten, um „[…]eine Sprache und Struktur, die darauf nicht in der Konliktlösung, sondern in der Entfal- angelegt ist, gegenüber dem Betrachter mit Bedeu- tung von Komplexität.“13 tungen zu operieren, die sich nicht ohne weiteres Das Potenzial dieser Figur als Modell für eine von einem bereits kodierten symbolischen Diskurs transkulturell ausgerichtete Kunstvermittlung her interpretieren und einem solchen einverleiben mit kritischem Anspruch besteht demnach nicht lassen.“9 in der Aulösung, sondern in der Verkomplizierung Welche Rolle spielen wir als Vermittler_innen bei der Übersetzung des Unübersetzbaren? von eindeutigen, essentialistischen „natio-ethnokulturellen“ 14 Zuschreibungen. Unsere Hauptaufgabe als Trickster und Vermittler_innen in der Vermittler_innen als Trickster Migrationsgesellschaft wäre meines Erachtens die Problematisierung nach wie vor wirksamer eurozentrischer Kultur- und Bildungskonzepte in Aus- Diese Frage führt mich zu der Figur des Tricksters stellungen. Dies bedeutet eine kontinuierliche als einem Agenten oder einer Agentin zwischen den Arbeit an der Entwicklung von Strategien der Dif- Welten. Jean Fisher erörtert die Figur des Tricks- ferenzierung, Vervielfältigung und Verschiebung ters in einem Essay zur Documenta11 mit dem wun- festgefahrener Wahrnehmungsmuster durch und dersam-provokativen Titel „Zu einer Metaphysik der in der Praxis der Vermittlung. Scheiße“ mit Blick auf ihre Rolle als „Motor kultureller Veränderungen“ und befragt, inwieweit sie Deniz Sözen studierte Bildende Kunst an der Universi- als „[…] ein Modell beim Nachdenken über Wider- tät für angewandte Kunst in Wien und am Goldsmiths stand leistende Formen von Kunst dienen kann.“10 College in London. Danach folgte ein Lehrauftrag für Fisher schreibt: „Der Trickster fungiert traditionell als zeitbasierte Medien an der Kunstuniversität Linz. Von Vermittler und Übersetzer zwischen der menschlichen 2011–2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sphäre und der göttlichen oder zwischen verschiedenen IAE, ZhdK und arbeitet derzeit als Kunstvermittlerin Sprachen oder diskursiven Systemen. Das heißt der Tricks- am Museum Rietberg Zürich. www.denizsoezen.net ter artikuliert den Zwischen-Raum der Andersheit durch ein Manipulieren der Sprache.“11 12 Vgl.: Jean Fisher: „Hermes in Griechenland, der Rabe, der Hase und der Kojote in Nordamerika, das Kaninchen in Mexiko, der Affenkönig in China, Ganesha in Indien, Loki in Skandinavien, Pulcinella bei der italienischen Commedia dell’Arte, Legba bei den Fon in Benin, Eshu bei den Yoruba in Nigeria, etc.“ 9 Jean Fisher: „Zu einer Metaphysik der Scheiße“, in: Okwui Enwezor (Hrsg.) (2002): Documenta 11 Platform 5: Ausstellung. Ostildern: Hatje Cantz, S. 66. 13 Jean Fisher: „Zu einer Metaphysik der Scheiße“, in: Okwui Enwezor (Hrsg.) (2002): Documenta 11 Platform 5: Ausstellung. Ostildern: Hatje Cantz, S. 67. 10 Ebd., S. 67 14 Paul Mecheril u. a. (2010): Migrationspädagogik, Weinheim/ Basel: Beltz, S. 14 11 Ebd., S. 66 84 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Methoden“ Sidar Barut Der Umgang der Kunstvermittlung mit den unterschiedlichen Biograien der Kinder und die ästhe- Methoden – Wahrnehmung der Wahrnehmung tische Umsetzung dessen waren dabei ein Ansatz. Doch wie bekommt man die erwachsenen Besucher_innen dazu, sich auf biograisch-ästhetische Themen einzulassen – auch um sensibilisiert zu werden? Bei Erwachsenen ist von bereits deinierteren Identitäten auszugehen. Während bei den Kindern diese Vorgehensweise in der Identitäts- Workshop-Protokoll bildung helfen kann, sich auf viele unterschiedliche Themen einzulassen, werden Erwachsene die Das Protokoll des Workshops „Methoden – Wahr- „ästhetische Umsetzung von Biograien“ doch nur nehmung der Wahrnehmung“ beinhaltet vor allem von außen betrachten. viele Fragen, die immer wieder in den Gesprächen Es folgten weitere Beispiele von Museen und von der Gruppe an die Gruppe gestellt wurden. Es ihrem Umgang mit der „Migrationsgesellschaft“. handelte sich um Ausgangspunkte und gedankliche Dabei stellte sich auch die Frage, wie Museen eigent- Suchbewegungen. Daher wurden die Fragen auch lich mit dem Thema Migration umgehen und ob nicht immer beantwortet, sondern haben vielmehr das auch inhaltlich in den Ausstellungen stattin- das Gespräch in verschiedene Richtungen geführt – det. Darüber hinaus wurde über die Motive der und immer wieder auch zur nächsten Frage. Museen, sich mit Migration zu beschäftigen, nach- Der Workshop „Methoden – Wahrnehmung gedacht: Geht es darum, die Migrant_innen als der Wahrnehmung“ war mit ca. 20 Personen sehr Besucher_innen in die Ausstellungen zu holen? gut besucht. Nachdem sich alle Teilnehmer_innen Wenn ja, warum? kurz vorgestellt hatten, ergaben sich aus den unter- Viele Teilnehmer_innen konnten aus Erfah- schiedlichen professionellen Biograien schon die rung feststellen: Die Gründe der Museen, sich dem ersten Fragen an die Gruppe: Wie stellt man Bio- Thema Migration zu widmen, sind oftmals auch graien ästhetisch dar? Wie gehen Kinder mit der inanzieller Natur. Es gibt die Möglichkeit, Subven- eigenen Biograie um? tionen zu erhalten, wenn Institutionen sich mit den Bereits zu Beginn der Diskussion wurde der „richtigen“ Themen auseinandersetzen. Begriff „ästhetisch“ anstelle von „künstlerisch“ verwendet. Der Grund lag darin, dass das Wort „ästhe- Zwischenfragen aus der Gruppe: tisch“ für die meisten mit weniger Bedeutungen „Welche Ausstellung mit oder für Migrant_innen und Zuschreibungen beladen zu sein schien. Im hat eigentlich funktioniert?“ Zusammenhang mit der Frage, was an einer Bio- „Wann gilt eine Ausstellung als gelungen? Woran graie ästhetisch ist, haben die Workshopteilneh- ermisst man das Scheitern?“ mer_innen einige Beispiele genannt, welche sich „Warum stehen Migrant_innen als die ‚nicht Er - auf unterschiedliche Weise mit individuellen Bio- reichbaren‘ da?“ graien auch von Kindern beschäftigen.1 „Wer soll warum ins Museum?“ 1 So wurde etwa das Geschwister- und Künstlerinnenpaar Anny und Sibel Öztürk genannt, die vorwiegend biograisch arbeiten, und denen es dadurch gelingt, emotionale Räume für Biograien zu schaffen. Außerdem wurde die „Lebenswege“-Ausstellung in Ber- lin angeführt, in der Kinder die Möglichkeiten haben, von ihrer Familie zu erzählen, indem jedes Kind eine „Schachtel als Familienzimmer“ gestaltet und so mit der eigenen Biograie umgeht. 85 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Eine Workshopteilnehmerin fasste zusammen: Wel- „Methode = Instrument, Werkzeug, um etwas zu che Deinition von Hochkultur wird hier eigentlich erreichen“ vermittelt? Es stellten sich doch anthropologische und vor allem soziale Fragen und keine kulturellen, wie häuig indirekt vorgegeben wird. Methode als Strategie Vor der Pause wurden die Fragen fokussierter und fünf zentrale Themen und Fragen herausgear- Kunstvermittlung sollte als Bildung der Wahrneh- beitet: mungsfähigkeit begriffen werden. Hierfür werden 1. Warum wollen Institutionen/Museen, dass Mig- konkrete Methoden zur Anwendung benötigt. Aber rant_innen kommen? wen oder was sollten sie eigentlich fördern? Ein wei- 2. Was kann Kunst, was andere nicht können? teres Ziel der Methoden müsste es sein, so wurde 3. Methodensammlung: Methode wofür? im Workshop gesagt, Dominanzverhältnisse wahr- 4. Schule ist gesellschaftsbildend nehmbar zu machen, die Perspektive zu wechseln 5. Umgang mit Rassismus und Irritation zu schaffen. Migration ist ein Prozess und sollte als solcher verstanden und differen- Ein Vorschlag kam aus der Gruppe: Das Wort „Mig- ziert behandelt werden. Das ästhetische Denken ist rant_in“ sollte nicht benutzt werden! Als Vorschlag eine Methode und auch ein Weg der Kommunika- wurden „Transmigrant_in“ oder „Wanderer/Wande- tion in einer Gesellschaft. Die Teilnehmer_innen rin“ ins Spiel gebracht. verstanden die herausgearbeiteten Fragen als Pro- Nach der Pause wurde klar, dass es hilfreich zess. Eine Frage tauchte dabei immer wieder auf: und nötig war, zunächst den Begriff „Methode“ im Warum wollen (Kunst-)Institutionen/Museen, dass Kontext des Workshops zu deinieren, bevor sich Migrant_innen kommen? Methoden entwickeln können. Ferner sollten sich Ich meine: Das eigene Verständnis von Gesell- alle, die Kunstvermittlung betreiben oder Teilneh- schaft und der Wert der künstlerischen Perspek- mer_innen der Konferenz sind, ihrer eigenen Posi- tive bewegt „uns“ doch zur Kunstvermittlung. Es tion bewusst werden. Eine Äußerung, die darauf ist unsere Motivation, anderen Menschen die Mög- anspielte, dass fast alle Teilnehmer_innen weib- lichkeit zu geben, zu differenzieren, Horizonte auf- lich, gebildet und über 30 Jahre alt waren. Außer- zuzeigen, Prozesse in Gang zu setzen. dem gab es wenige Teilnehmer_innen mit „Migrationshintergrund“. Sidar Barut, Studierende am Institut für Kunst im Kontext, Universität der Künste, Berlin. 86 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Methoden“ Barbara Campaner Die Fragen, die mich seit Anfang meiner Tätigkeit begleiten, sind immer noch aktuell. Das habe ich Kunstvermittlung und Migration oder: Nicht nur Selbstgespräche führen. auch bei den Teilnehmerinnen des Workshops gespürt: Ich habe – mal wieder – feststellen können, dass unser Beruf so facettenreich ist wie die Vorstellungen, die Zweifel und die Ansprüche, die jede_r Kunstvermittler_in auch im Alltag hat. Es war sofort klar, dass eine gemeinsame Basis aufgebaut werden müsste, um sich über Methoden unterhalten zu können. Genau in Richtung die- Die circa zwanzig Teilnehmerinnen des Workshops, ser Aushandlung einer gemeinsamen Basis entwi- der sich mit Methoden in der Kunstvermittlung für/ ckelte sich auch die Arbeit der Gruppe. Es ging so mit Migrant_innen beschäftigte, nahmen die Dei- weit, dass am Ende des Treffens dann doch keine nition der Methode als Erkenntnisweg1 ernst. Vieles Vorschläge für Methoden auf dem Tisch lagen, son- musste erkannt werden, vieles wurde besprochen, dern vor allem Fragen und einige Feststellungen, und der Weg wurde, wie es so oft passiert, zum Ziel. die zunächst einen Versuch markierten, quasi neue Die Erkenntnis lag darin, dass Methoden in der Schilder auf dem Weg zur Methodenkonzeption auf- Kunstvermittlung erst entwickelt werden können, zustellen. wenn der Weg gut ausgeschildert ist. Aber die Schilder auf unseren gemeinsamen Im Folgenden werde ich nun versuchen, einige Weg zeigten erst mal in Richtung der Grundlagen dieser Thesen und Fragen, die gemeinsam erarbeitet unseres Berufes. wurden, wiederzugeben und meine eigenen, durch meine Erfahrung in der Praxis geleiteten Gedan- Der Weg führte an einigen der Themen entlang, ken dazu zu schreiben. Ich habe mir von jeman- die sich vor allem mit der Wahrnehmung und dem helfen lassen, die selbst Migrantin ist: Als Form Selbstwahrnehmung der Kunstvermittlung und der habe ich ein Gespräch mit mir selbst gewählt. Ich Kunstvermittler_innen beschäftigten. Es wurden nehme die Perspektiven meines „Ichs“ als Kunst- Fragen in den Raum gestellt, die unsere Position in vermittlerin (BCK) und meines „anderen Ichs“ als den Institutionen hinterfragten und es wurde auch Migrantin (BCM) ein und lasse beide zu Wort kom- angedeutet, dass Kunstvermittlung in Deutschland men. Diese beiden Persönlichkeiten sind, natür- immer noch auf kein klares Berufsbild zurückgrei- lich, sehr schwer voneinander zu trennen: Ich bin fen kann. Die Unterschiede zwischen freiberuli- schließlich beide. chen Kunstvermittler_innen und denen, die an eine Institution gebunden sind, wurden festgestellt. Das Berufsproil der Kunstvermittler_innen ist immer noch nicht klar deiniert, auch „unter uns“ bedarf es an Begriffserklärungen, Positionierungen und Wertschätzung. 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Methode_(Erkenntnistheorie) (15.09.2012) 87 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 seien diese politischer, kultureller, nationaler, ethni- 1. These: Wir wollen nicht von „der Gruppe der Migrant_innen“ sprechen. scher oder religiöser Natur, die sie besonders interessieren könnten; und vielleicht bevorzuge ich diese dann. Und natürlich meine ich auch Künstler_innen und Kunstwerke, die vielleicht auch nicht vor gewissen Spannungen schonen, sondern bei der Begegnung auch herausfordern. BCK: Die Frage der Zielgruppendeinition spielt eine wichtige Rolle in der Konzeption und Planung BCM: Du meinst also, du würdest in einer Ausstel- eines Kunstvermittlungsprojektes. Die Arbeit fängt lung Themen aussuchen, die zu einer Gruppe von an, indem ich zu erforschen versuche, mit wem ich Migrant_innen „besser passen“? Und das bedeutet arbeiten werde. Was sind die Ausgangspunkte und dann, dass du eine Auswahl triffst, also eine Ent- die Bedürfnisse des Publikums? Diese Recherche ist scheidung für das Publikum, und dabei Themen nicht immer tiefgehend; es kommt darauf an, was meidest, die dir nicht adäquat vorkommen? Ich für einen Umfang das Projekt hat. Im Idealfall treffe inde, dass du in diesem Fall eine diskriminierende ich die gesamte Gruppe im Voraus oder wenigstens Haltung einnimmst und dir auch arroganterweise den/die Gruppenleiter_in, um Informationen aus- erlaubst zu wissen, was die Besucher_innen interes- zutauschen, oder – im Falle eines größeren Projek- siert und was nicht. Das würdest du auch bei Nicht- tes – gestalten wir den Ablauf gemeinsam und kon- Migrant_innen machen? zipieren auch Kriterien und Ziele. BCK: Wenn eine Ausstellung oder ein Projekt so BCM: Das inde ich prinzipiell gut, dass Menschen, umfangreich ist, dass die Zeit, die man mit den Besu- die zusammenarbeiten möchten, sich erst kennen- cher_innen zur Verfügung hat, nicht ausreichend lernen. Aber was bedeutet es, wenn die Menschen ist, inde ich es nicht verkehrt, eine Auswahl zu tref- Migrant_innen sind? Gibt es ein spezielles Verfah- fen, die sich dann natürlich in der Vermittlungssitu- ren? Weil es sich so anhört, als ob du das grundsätz- ation auch jederzeit ändern kann. Und das mache ich lich machen würdest. Oder ist es jetzt von besonde- stets so. Wenn ich die Gruppe überhaupt nicht kenne, rem Interesse, woher ich komme und wie lange ich dann es wird spannend zu sehen, wie wir uns durch hier wohne? Bekommen Migrant_innen eine andere die ästhetische Erfahrung kennenlernen werden. „Behandlung“? BCM: Esatto! Ich denke, die ästhetische ErfahBCK: Nein, aber es gibt Aspekte, die vordergründig rung und die ästhetische Bildung sind genau die sind, wie zum Beispiel die Sprache. Kann ich mit Momente, in denen du als Kunstvermittlerin die den Migrant_innen alleine arbeiten oder brauche Besucher_innen kennenlernst und durch die du ich jemanden, der ihre Sprache spricht? dann auch eine Beziehung zu ihnen auf bauen kannst. Zu wissen, ob ich einer Religion angehöre BCM: In meinem Fall gibt es kein Problem, mein und wenn ja welcher, oder ob ich mit der politi- Deutsch ist lüssig. schen Situation zum Beispiel Italiens einverstanden bin, ist für mich und für meinen Besuch in einer BCK: O.K., dann wäre das erledigt. Dann versuche ich, herauszuinden, ob es in der Kultur meiner Ansprechpartner_innen gewisse Themen gibt, Ausstellung im Vorfeld nicht relevant. 88 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 BCK: Dann sind wir uns einig, wenn wir sagen, Weg, Geld zu verdienen, zu betrachten. Und natür- dass erst einmal alle Besucher_innen gleich sind? lich auch, weil es mir Freude bereitet. Ich bin davon Oder nur darin, dass Gruppen von Migrant_innen überzeugt, dass Bildung durch Kunst (nennen wir sie und Nicht-Migrant_innen grundsätzlich erst einmal ästhetische Bildung) einer der wirksamsten Wege ist, die gleichen Bedürfnisse haben? Für mich ist ganz Menschen zum Nachdenken zu bringen und dazu, klar, dass meine Arbeit mit Kindern sich von der sich selbst und die Gesellschaft zu hinterfragen. Arbeit mit Erwachsenen unterscheidet, aber unter Die Entscheidung einer Institution, ein Vermitt- Erwachsenen sollte es keine Unterschiede geben, lungsprogramm anzubieten, soll von ihren Aufga- die in der Kunstvermittlung diskriminierend wir- ben geleitet werden. Wenn man die bekannten Auf- ken könnten. gaben betrachtet (Sammeln, Bewahren, Forschen und Dokumentieren, Ausstellen und Vermitteln), BCM: Ja, dann wäre mir lieber, nicht als Migran- wird man die Kunstvermittlung als unverzichtbar tin von dir wahrgenommen zu werden, wenn das einordnen müssen. Kunstvermittlung deckt einen bedeutet, dass ich wegen meiner Herkunft und Teil des Bildungsauftrages eines Museums ab. Den- Biograie als „anders“ gesehen werde. Ich möchte noch sind die Rolle und die Funktion nicht immer eigentlich dazugehören... es ist manchmal schon selbstverständlich. Kunstvermittlung ist für ein schwierig genug... Museum wie das Salz in der Suppe. Bildungsarbeit für ein breites Publikum hat eine politische Dimen- BCK: Einverstanden. Lass uns also nicht von der sion, die die Menschen im besten Fall als Freude am „Gruppe der Migrant_innen“ sprechen... Lernen, an ihrer Neugierde, an der Kunstbetrachtung mit in die Gesellschaft hinausnehmen. 2. Frage: Welches Interesse haben die Beteiligten an der Kunstvermittlung? Publikum, Kunstvermittlung, Institution, Öffentlichkeit. Es gibt auch die andere Seite der Medaille: Kunstvermittlung hat auch ein starkes ImagePotential. Institutionen, welche mit dem Publikum arbeiten, tun das oft, weil sich so die Besucherzahl steigern lässt und das „Image“ des Hauses davon proitiert. Die Öffentlichkeit sieht es gerne, wenn Museen und Ausstellungsorte gut besucht werden, es weist darauf hin, dass das kulturelle Angebot BCK: Von Interesse/n zu sprechen, ist für mich eine Stadt bereichert. immer schwierig. Wenn man der Deinition dieses Es gibt leider auch viele Institutionen, die kei- Wortes aber nachforscht, indet man folgende Erklä- nerlei Kunstvermittlung anbieten – ob aus inanzi- rung: von lat. inter – „zwischen, inmitten“ und esse ellen Gründen oder wegen mangelnder Erfahrung – „sein“ bzw. interesse – „teilnehmen an“. Mit dem in diesem Bereich. Wort Teilnahme kann ich mehr anfangen. Das Publikum eines Kunstvermittlungsprojektes BCM: Auch ich gehe freiwillig ins Museum, weil ich beteiligt sich in der Regel freiwillig. Persönliche Neu- am kulturellen Leben meiner Wahlheimat teilneh- gier, Vorliebe für Kunst und Lust auf eine kollektive men und mich weiterbilden möchte und weil ich Erfahrung können einige der Gründe sein. Ich mache eine tiefgehende Leidenschaft für Kunst habe. Ich es natürlich, weil es meine Arbeit ist – das klingt jetzt weiß nicht, ob Du als Kunstvermittlerin es reizvol- sehr trocken, aber es ist nun mal so; ich will nicht ler indest, mit mir zu arbeiten, weil ich aus einem vergessen, meinen Beruf als einen ganz normalen anderen Land komme und... 89 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 BCK: Bitte, ich möchte nicht, dass du dich jetzt allen muss die Möglichkeit gegeben sein, einen eben als jemand aufführst, die für meine Arbeit Besuch ins Museum zu unternehmen. Hier kommen „interessanter“ ist, nur, weil du Migrantin bist, wir aber auf das alte Thema der Eintrittspreise und sonst nutzt du selbst deine Herkunft aus. Oder? Und der Kosten. machst genau das, von dem du möchtest, dass ich es in meiner Arbeit unterlasse. Wir haben schließlich gesagt, wir wollen nicht von der Gruppe der Migrant_innen sprechen. BCM: Das war nur ein Versuch, kurz mal in deine 3. These: Die Klassenfrage durchdringt alles. Haut zu schlüpfen. Aber stimmt. Ich kann also nur für mich reden. Ich glaube, dass Institutionen BCK: „Kunst für alle“: ein Spruch, der immer wieder durch Projekte mit dem Publikum auch lebendiger gerne auftaucht. Wie viel Wahrheit steckt dahinter? werden und dass sich durch die Vielfalt der Besucher_innen der Diskurs über Kunst und Kultur im BCM: In meinem Land ist Kunst nicht für alle, das Allgemeinen öffnen kann. Unterschiedliche Wahr- ist ganz offensichtlich. Es wird nicht vermittelt, nehmungen und Perspektiven können dazu bei- dass die Teilhabe an kulturellen Begebenheiten tragen, die Entwicklung und das Selbstverständ- etwas für die gesamte Bevölkerung ist. Aber auch, nis einer Gemeinschaft zu öffnen; sie helfen der wenn nicht das Geld den Unterschied macht (wie Gesellschaft, ihren kritischen Blick zu schärfen. z. B. durch Eintrittspreise, Fahrtkosten usw.), bleibt Und Menschen, die aus verschiedenen Kulturen das Publikum ein bestimmtes: Es setzt sich zusam- kommen, haben sich meistens viel zu sagen. men aus den mittleren und höheren Sozialschich- Um auf die Migrant_innen zurückzukommen: ten. Ich glaube aber auch, dass in vielen Institutionen eine Art Zwang auf die Mitarbeiter_innen ausge- BCK: Kann Kunstvermittlung die Situation verbes- übt wird, gerade ein solches Publikum zu errei- sern? Wird durch sie Kunst zugänglicher? Oder ist chen, das von selbst nicht freiwillig ins Museum der Zugang zu Kunst nur eine Frage des Bildungshin- gehen würde. tergrundes? Oder doch des Geldes? Bei Migrant_innen und bei Einheimischen ist die Situation dieselbe. Es BCK: In der Diskussion mit meinen Kolleg_innen ist eine Klassenfrage, meiner Meinung nach. sprach man auch von dem Begriff der „Zwangsbeglückung“. Es ist wahr, dass kulturelle Einrich- BCM: Ich bin einverstanden. Wenn wohlhabende tungen manchmal denken, dass die Partizipation Menschen auswandern, werden sie ihre Bildung unterschiedlichen Publikums selbstverständlich und ihre kulturellen Interessen nicht vernachlässi- gut „für alle“ ist, besonders für das Publikum selbst, gen. Wenn Menschen jedoch ohnehin das kultu- das sich dadurch weiterbilden kann. Nicht alle Men- relle Angebot ihres Umfeldes nicht wahrnehmen schen bilden sich gleichermaßen. Was ich beson- und keine Interesse an Partizipation haben, egal, ders großartig an der Kunst inde, ist, dass sie, im wo sie sich beinden, werden sie weiterhin nicht Fall von visueller Kunst, keine sprachlichen Barrie- involviert sein. ren aufbaut. Insofern kann sie über Sprachgrenzen hinweg verstanden und interpretiert werden. Institutionelle Diskriminierungen sind zu verhindern; 90 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 4. Frage: Wie kann man Wahrnehmungsmuster durchbrechen – bei sich und anderen? anderen Besucher_innen, ihren Meinungen und Erfahrungen, sowie durch die aktive Teilnahme an einer Diskussion rücken Inhalte und Situationen zum Greifen nah. Dank des Austauschs mit den Besucher_innen habe ich vieles neu entdeckt; die zwischenmenschliche Kommunikation und den Wissensaustausch betrachte ich als wichtige BCK: Wahrnehmungsmuster, wodurch sind sie be - Bestandteile einer Vermittlungssituation. dingt? BCK: Ja, und deswegen ist es interessanter, wenn BCM: Ich würde sagen, durch die Persönlichkeit die Teilnehmer_innen zu einer Vermittlungssitua- und durch Erfahrungen. Ich ertappe mich leider tion ganz verschiedene Erfahrungen mitbringen. In manchmal dabei, etwas zu beurteilen, von dem ich diesem Fall wäre das Sprechen über Migrant_innen zu wenig oder gar keine Ahnung habe; das betrifft für mich nicht diskriminierend. Je unterschiedli- besonders Situationen. Ich habe das Gefühl, dass cher die Menschen sind, desto mehr Meinungen das Unbekannte bei mir erst einmal durch ein und Einsichten bringen sie mit. Sieb geiltert wird. Und dieses Verhalten kann ich schwer bewerten. Bestimmt habe ich durch meine BCM: Migration als Quelle für einen vielfältigen Migration auch viele dieser unbewussten Filter ent- Diskurs. Damit wäre ich zufrieden. fernt und bin viel neugieriger als davor. Die intensive und durchgehende Begegnung mit einem fremden Kontext hat mich sehr verändert, und mein Fazit Blickwinkel und meine Wahrnehmung sind vielfältiger geworden. Migration und Transkulturalität sind heute keine Ausnahmen mehr. Dass meine Identität durch die BCK: Genauso entstehen solche Muster, die unsere Migration geprägt worden ist, kann ich nicht wirk- Sicht beschränken, die sich auch durch ästhetische lich sagen. Als Feststellung scheint mir das zu stark, Erfahrungen analysieren und im besten Fall durch- trotzdem kommt es oft in meinem Alltag vor, auch brechen lassen. Ich denke, dass sich ein gewisses durch kleinste Dinge (eine deutschsprachige Person kreatives Potential in der Wahrnehmung entfal- kann meinen Nachnamen zum Beispiel nicht wirk- ten kann, und das erlaubt es auch, Vorbilder und lich richtig aussprechen), dass ich an mein „Anders- Festschreibungen anzuzweifeln. Kreativität ist ein sein“ erinnert werde. Migration hat mich auf jeden Instrument, das schöpferische und kritische Kraft Fall viel freier gemacht. Bin ich integriert? Will ich freisetzen kann, und Kunstvermittlung bietet einen mich integrieren? Was bedeutet das? Dahn Vo, ein Rahmen, um kreativ zu sein. Kunstvermittlung bie- in Berlin lebender dänischer Künstler vietnamesi- tet Methoden an, um über die eigenen Urteile und scher Herkunft, antwortete mal auf die Frage, ob er Einstellungen hinwegzusehen. sich integriert fühle: „Natürlich nicht, das ist meine Stärke!“ Ich glaube, dass es sich dabei nicht um BCM: Dann reicht aber manchmal die individu- eine Frage der Stärke oder der Schwäche handelt, elle Erfahrung nicht, und die Gespräche im Rah- sondern dass es darum geht, wie man die eigene men von Kunstvermittlung könnten sich als ent- Geschichte auslebt, und natürlich, was für eine Poli- scheidend erweisen. Durch die Begegnung mit tik man gegenüber Migrant_innen erlebt. 91 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Die Bedeutung, die kulturellen Einrichtungen in Museum an sich, an seinen Strukturen eine Ver- diesem Prozess zukommt, inde ich enorm. Als Orte änderung vornehmen sollte. Die Inhalte und die der kulturellen Begegnung sind sie auch Orte der Zugangsmöglichkeiten der heutigen Institutionen interkulturellen Begegnung und dienen dem Abbau könnten nicht übereinstimmen mit der schnell von Zugangsbarrieren, indem sie die Partizipation wechselnden Dynamik unserer Gesellschaft. Das am gemeinschaftlichen Leben fördern und dem Museum sollte seine Rolle als Bildungsinstitution Zusammenkommen von Menschen, die einen Ort mehr in den Vordergrund rücken und als Ort der immer schon oder für längere Zeit bewohnen, und Bildung auftreten, an dem die Bevölkerung ihre von Menschen, die neu ankommen, Raum geben. eigenen Erfahrungen und ihr Wissen einbringen Kunstvermittlung als ein Moment des wechselseiti- kann. Vielstimmigkeit und Kommunikation statt gen Wissenstransfers setzt voraus, dass alle Teilneh- kulturelle Übermacht und Bevormundung: Das mer_innen als gleichwertig auftreten, und führt wünsche ich mir, als Kunstvermittlerin und als gleichzeitig zur Erkennung (und Anerkennung) von Migrantin. Differenzen. Das ist die Grundlage des Prozesses, den man Integration nennen könnte. Barbara Campaner, freiberuliche Kunstvermittlerin, Aus meinem Selbstgespräch könnte vielleicht studierte Kunstgeschichte in Italien und Kunstvermitt- der Schluss gezogen werden, dass sich eine Kunst- lung in Deutschland. Freie Mitarbeiterin der Staatli- vermittlungssituation, an der auch Menschen mit chen Museen zu Berlin, der Landesgesellschaft Kultur- Migrationshintergrund teilnehmen, nicht prinzi- projekte Berlin. Vergangene Tätigkeiten (u. a.): Kunst- piell von einer unterscheidet, wo nur Nicht-Mig- vermittlerin bei der documenta 12 (Kassel), Centre for rant_innen sind. Kunstvermittlung an sich braucht Contemporary Culture Strozzina (Florenz), Manifesta 7 Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten. Die (Trentino-Alto Adige), Museion (Bozen). Methoden, die in dem Workshop gesucht werden sollten und am Ende nicht deiniert wurden, müssten meiner Ansicht nach nicht erst bei der Gestaltung von Vermittlungssituationen ansetzen, sondern auf einer wesentlich grundlegenderen Ebene. Wie eine Institution alle erreichen kann, das ist für mich das Entscheidende: Alle sollten über kulturelle Angebote informiert sein und den Zugang dazu erhalten, um dann selbst entscheiden zu können, ob sie Interesse an der Partizipation haben oder nicht. Das könnte der erste Schritt sein, an dem viele Institutionen oft scheitern. Der zweite Schritt, der eine Entwicklung der aktuellen Institution „Museum“ impliziert, ist ein struktureller. Um sich mit dem „Anderen“ zu konfrontieren, sollte man auch das „Bekannte“ in Frage stellen; wenn man etwas Neues braucht, muss man das Alte revidieren. Das könnte heißen, dass das 92 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Institutionen“ Persefoni Myrtsou • Die Nachhaltigkeit der Kunstvermittlung im Institutionen 1. Wie kann man in Kunsthäusern ein langfristi- Workshop-Protokoll 2. Die Nachhaltigkeit der Kunstvermittlung der Ins- institutionellen Kontext ges Programm für marginalisierte Gruppen entwickeln? titutionen sollte mehr berücksichtigt werden. Zu Anfang des Workshops „Institutionen“ hatte Daniela Bystron das Bedürfnis, ihre Position als Lei- • Die Rolle (Möglichkeiten und Grenzen) der terin des Workshops gegenüber der Gruppe zu klä- Institution in einer Migrationsgesellschaft ren; sie wünschte auf keinen Fall, aufgrund ihrer 1. Wie werden gesellschaftlich relevante Themen Position als Vertreterin einer großen Institution, als die „Besserwisserin“ der Gruppe wahrgenom- in Institutionen eingesetzt? 2. Das „Gesicht“ der Institution: Eine Institu- men zu werden, zumal die Rolle von Institutionen tion könnte von Migrant_innen als Ressource im Kulturbetrieb häuig als „herablassend“ gesehen genutzt werden; eine Institution mit einem werde. Mit dieser Äußerung schaffte sie von Anfang humanen Charakter stellte einen Schutzraum an ein freundliches Klima. Darüber hinaus sollte für Migrant_innen und Flüchtlinge dar. das Thema der Hierarchiestrukturen in kulturellen 3. Die Institution als Ressource nutzen: Wie kann Institutionen im Feld der Kunstvermittlung in der man die Standardisierung der Kunstvermitt- Migrationsgesellschaft ein Schwerpunkt des Workshops werden. lung im institutionellen Kontext vermeiden? 4. Multiperspektivität der Kunstvermittlung: Mitgestaltung, Partizipation von Migrant_innen. Im Folgenden bat sie die Teilnehmer_innen, 5. Übergreifende Zusammenarbeit von Instituti- einige Gedanken und Fragen, die sie im Workshop onen (z. B. die Kooperation eines Museums mit gerne weiter entwickeln möchten, der Gruppe mitzu- einem Amt). teilen. Manche Stichwörter und Fragen wurden, trotz ihrer Wichtigkeit, wegen Zeitmangels nicht mehr 6. Wo und wann beginnt ästhetische Bildung (sozial, institutionell und politisch)? aufgegriffen; andere waren Auslöser für anspruchsvolle Diskussionen, die z. T. als konkret formulierte • Das Publikum Problematiken mit Lösungsmöglichkeiten für die 1. Wie können Institutionen eine breitere Bevöl- Abschlussrunde der Tagung vorgeschlagen wurden. kerung ansprechen? 2. Wie kann das potenzielle Publikum sensibili- Die folgende Liste skizziert die Themen, die im Workshop erwähnt wurden, und zeigt die Bandbreite der Diskussion. Die Liste entspricht nicht der siert werden? 3. Was sind Formen der Ansprache des Publikums von institutioneller Seite? Reihenfolge der Themen im Workshop. Zunächst werden die am häuigsten analysierten Themen • Inklusion etwas detaillierter betrachtet. Zum Schluss werde 1. Welche Ausgrenzungsmechanismen existieren ich, als Protokollantin des Workshops, meine Beobachtungen und Gedanken zu den angesprochenen Fragen relektieren. in kulturellen Institutionen? 2. Was wäre ein inklusives Museum? Wie können Migrant_innen aktiv partizipieren? 93 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 3. Kuratieren und Kunstvermittlung zusammendenken. • Die Ziele der Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft im Kontext kulturel­ ler Institutionen • Das Thema „Institutionskritik“ 1. Instrumentalisierung der Künstler_innen und der Gruppe, Instrumentalisierung der Migrant_ innen durch Künstler_innen und der Künstler_ innen durch die Institution. 1. Welche Ziele und Erwartungen knüpft eine kulturelle Institution an die Zusammenarbeit mit Migrant_innen? 2. Was sind Erwartungen, Wünsche, Ziele, Forderungen von Migrant_innen an Institutionen? 2. Hierarchiestrukturen 3. Positiver Rassismus Zunächst sollte das Wort „Institution“ im Rahmen 4. Die Konstruktion der „Anderen“: Die Migrant_ des Workshops deiniert werden; es herrschte Über- innen bleiben Migrant_innen, aber wir (deutsch, einstimmung, dass hauptsächlich über kulturelle Ins- weiß und weiblich) bleiben die „Kultur“ titutionen gesprochen wurde. Die Möglichkeit, über 5. Wie viel Mitspracherecht/Macht ist eine Institution bereit abzugeben? 6. Neudeinition des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Institution. „soziale“ Institutionen zu sprechen, war aber nicht ausgeschlossen. Die Gruppe begann mit einem Basisargument von Paul Mecheril, nach dem die zeitgenössischen Gesellschaften migrantisch sind. Migration stellt nicht mehr ein soziales Phänomen dar, • Ein Migrationsmuseum? sondern „[…] die mit Migrationsprozessen verbun- 1. Verstärkt eigentlich so ein Konzept die natio- denen Veränderungen sind mit grundlegenden nale Narration? 2. Könnte es als eine Möglichkeit oder als Diskussionsraum gesehen werden? 3. „Migration“ sollte als ein erweiterter Begriff gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden“.1 Migration hat sich zu einer sozialen Institution entwickelt; sie ist nicht mehr temporär und soll deswegen mit institutionellen Bedingungen verknüpft gesehen werden, als etwas, das nicht nur Mig- werden. Solche Bedingungen sollen gemäß den rant_innen betrifft. Anforderungen und Notwendigkeiten von Migration als alltägliche Gegebenheit entwickelt werden. • Partizipation, Repräsentation, Zusammen­ arbeit, Offenheit Andererseits hat der Charakter von vielen Institu- 1. Multiperspektivität der Kunstvermittlung: Mit- tionen koloniale Elemente. So haben Institutionen gestaltung, Partizipation der Migrant_innen die Tendenz, die Norm zu deinieren und sich bevor- im Arbeitsfeld Kunstvermittlung in kulturellen mundend zu verhalten; was nicht zur Institution Institutionen. gehört, ist das „Andere“. Migrant_innen werden 2. Inreach – Outreach von der Institution als Migrant_innen adressiert, die Institution selbst behält die Rolle des „Besser- • Das Thema „Sprache“ wissers“. 1. Welche ist die „richtige Sprache“, die von einer An diesem Punkt wurde über die Möglichkeiten der Institution benutzt werden soll? Inklusion im institutionellen Kontext diskutiert: 2. Wie spricht man Migrant_innen an? Wie könnte ein „inklusives Museum“ gestaltet wer- 3. Keine Angst haben, Unsicherheiten sprachlich den? Migrant_innen sollten von Anfang an bei der zu äußern. 1 Paul Mecheril u. a. (2010): Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz, S. 8 94 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Gestaltung des Kunstvermittlungsprogramms einer Institution partizipieren und bei Entscheidungsprozessen ein Mitspracherecht haben. Die Partizipa- Relexion tion von der Institution nicht Angehörigen sollte als politische Möglichkeit der Mitbestimmung gese- Durch die Realität einer Migrationsgesellschaft (in hen werden. Der einzige Weg, um Inklusion herzu- diesem Kontext wird Migration als eine soziale Ins- stellen, sei Offenheit; der Institutionsraum sollte titution angenommen) sind institutionelle Hierar- so weit geöffnet werden, dass Ereignisse stattin- chiestrukturen nicht angebracht. Ein erweiterter den können, die eigentlich nicht unbedingt mit der Begriff der „Institution“ (z. B. die Familie als eine Institution zu tun haben. soziale Institution) bringt eine gesellschaftliche Realität wie die Migration auf eine gleichwertige Aber wie viel Mitspracherecht/Macht ist eine (kul- Ebene zu gesellschaftlich traditionell akzeptier- turelle) Institution bereit abzugeben? Es wurde ein ten Institutionen. Entsprechend sollte Migration Beispiel erwähnt: Im März 2011 fanden politisches nicht als ein vorübergehendes Ereignis der post- Asyl beantragende Flüchtlinge aus Afghanistan in industriellen und globalisierten Welt wahrgenom- einem Gebäude der Universität von Athen Unter- men werden; sie zeichnet sich nicht durch die epi- schlupf. Laut der griechischen Verfassung stehen sodische Natur eines Phänomens aus. Demzufolge Universitätsgebäude unter Asylschutz und die Poli- sollte die Gesellschaft damit anfangen, Migration zei darf sie nicht betreten. Dieses Beispiel zeigt als eine etablierte Institution und als alltägliche, deutlich die Vielfältigkeit der Möglichkeiten einer die gesellschaftliche Gegenwart mitdeinierende Institution; die Institution funktioniert als Schutz- Gegebenheit wahrzunehmen. raum für Migrant_innen, sie kann gesellschaftlich relevante Themen wahrnehmen und wird als Ressource genutzt. Wenn das Wesen des Institutionskonzeptes mithilfe neuer Formen der „Institution“ wie der Migration erweitert werden könnte, dann wäre ein Zunächst kehrte nun die Diskussion wieder zur großer Durchbruch in der häuig anzutreffenden Frage der „Inklusion“ zurück. Würde die Institution stagnierenden, kolonialen Mentalität erreicht, wel- nicht länger bevormunden, wäre eine Inklusion che die zentral-europäischen Länder immer noch möglich und darüber hinaus könnte eine Standar- beeinlusst. disierung der Kunstvermittlung im institutionellen … ich hoffe, die Auseinandersetzung mit Migra- Raum vermieden werden. Notwendig sei ein Dialog, tionspädagogik kann Wege zu einer solchen Denk- bei welchem alle Beteiligten gehört werden. weise und zu zeitgenössischen Bildungsmethoden aufzeigen. Persefoni Myrtsou, schloss 2008 ihr Studium der Bildenden Künste mit Schwerpunkt Bildhauerei an der Glasgow School of Art ab. Seit 2008 lebt sie in Berlin, wo sie bis heute am Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste studiert. Fokus ihrer aktuellen künstlerischen und wissenschaftlichen Praxis ist die künstlerische Migration. 95 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Workshop „Professionalität“ Freja Bäckman Projekte handeln kann, sondern dass Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft quer durch Professionalität das Feld der Kulturproduktion gehen sollte. Ist die Mehrheitsgesellschaft die Migrationsgesellschaft? Diese Frage tauchte im Workshop auf, und gleich Workshop-Protokoll wurde konstatiert, dass diese Frage ein Paradox an sich ist. Vielleicht war es auch das Paradox des Ist das jetzt der Professionalitäts- oder Professionali- Workshops und der Tagung, wenn bedacht wird, sierungs-Workshop? Es gab anfangs einen Moment wer die Teilnehmer_innen waren und über wen der Verwirrung, welcher der beiden Begriffe es jetzt gesprochen wurde, und wer wo die Migrationsge- eigentlich sein soll. Während des Workshops wur- sellschaft als solche benennt. den beide benutzt. Am Workshop „Professionalität“ nahmen ca. Der Begriff Professionalität wird zur Beschrei- 20 Personen teil. Zu Beginn des Workshops wur- bung der Qualität eines Produktes verwendet oder den Interessensfelder für den Workshop formu- auch um die Eignung einer Person für ihre Berufs- liert; genannt wurden Lernen und Verlernen, Wei- ausübung zu beschreiben. Im Rahmen einer Pro- terbildung und Professionalisierung, Haltung und fessionalisierung werden Menschen geschult, um Relexivität, Nationalität und Transnationalität an Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen Schulen verlernen und Macht gegenlernen. Auch herzustellen. Intention ist dabei häuig eine Steige- wurden Wünsche betreffend der Methoden geäu- rung der Efizienz. ßert, zu denen man ohne Professionalisierung nicht Im Workshop wurde betont, dass Professionali- kommt, die als Fortbildung funktionieren und zu tät Verantwortung bedeutet. Diese Verantwortung Aufträgen in Schulen führen, was wiederum zu Pro- soll durch Professionalität kommuniziert werden fessionalisierung führt. und zu solidarischem Handeln führen. Ein Wunsch, der bei vielen, die mit Kunstvermittlung arbeiten, Schon zu Beginn wurden von den Workshopteil- besteht, um durch die Arbeit eine gesellschaftliche nehmer_innen in Bezug auf ihr Arbeitsfeld auch Veränderung herbeizuführen: Hier müssen wir weg Fragen formuliert: Wie lässt sich Begleitforschung von „Wir hätten es gern ein bisschen anders...“, hin in der Kunstvermittlung mitdenken? Wie lässt sich zu „Wir wollen es anders!“. institutionell dissident bleiben? Nachdenken wie man einlädt: Warum genau lädt man ein, und was Zu realisieren ist dies durch Netzwerke und haben die Eingeladenen davon? Gruppen; mithilfe von Widerstandskraft und Aggressivität. Man sollte nicht akzeptieren, in der zweiten Das breite Feld von Kunstvermittlung war auch Reihe zu stehen. Die zweite Reihe, die sich hier auf in dem Workshop zu erahnen. Auch wenn oft gespro- die Kunstvermittler_innen bezieht, die sich aber chen wurde, als ob es ein „Wir“ gäbe, waren verschie- genauso auf alle, die durch gesellschaftliche Struk- dene Positionen, aber auch Bedürfnisse und Erwar- turen und den damit verbundenen Hierarchien in tungen an den Workshop zu spüren. Das zeigte sich der zweiten Reihe bleiben, beziehen könnte. auch beim „Miteinander“: daran, wie gesprochen Ein Aspekt von Veränderungsarbeit, der bei vie- wurde, wer zu Wort kam und wie oft. Es tauchten die- len Teilnehmer_innen des Workshops deutlich zu selben Muster auf, die gerade inhaltlich im Work- hören war, ist, dass es sich nicht nur um einzelne shop behandelt wurden. 96 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Zunächst wurde darüber gesprochen, wie wir über wozu Nein? Wo bin ich dagegen, wo dafür? Eine das Thema sprechen möchten, wie der Workshop klare Positionierung zwischen Norm und Wider- gestaltet wird, sowohl formal als auch inhaltlich. spruch muss eingenommen werden. Im Verlauf des Tages wurde der Workshop dann Ein „Nein, es soll nicht bleiben wie es ist – ein in zwei Gruppen aufgeteilt: Gruppe 1, die „vorab“ Ja zu Veränderung“ ist der Anfang von Kooperation. genannt wurde, bei der es um das Wie-man-anfängt So wird ein temporäres „Ja“ zur Bereitschaft und Vo- und die Relexivität ging, und Gruppe 2, „drinnen raussetzung. sein“, wo über das Leiten, Öffnen und Schließen gesprochen wurde. Ich war in Gruppe 1 und habe Wie könnte die Leitung von Kunstvermittlungs- deswegen nur diesen Verlauf protokolliert. Am projekten wie Workshops aussehen und wie das Ende des Workshops kamen beide Gruppen wie- Miteinander? Die Macht, die mit der Leitung eines der zusammen und stellten sich gegenseitig ihre Workshops verbunden ist, nicht verschleiern; es ist Arbeitsergebnisse vor: Was ist wichtig, was müssen ein strukturelles Problem, der Zwang der Struktur, wir als Kunstvermittler_innen bedenken, um eine wo schon die verschiedenen Ausgangspunkte von kulturelle Produktion zu begleiten? Welche Bedin- Teilnehmer_innen und Leitung (auch wenn es so gungen oder eher Zielsetzungen und Ansprüche sol- nicht genannt wird) die Bedingungen bestimmen. len wir formulieren? Wie gehen wir mit den Rah- Dissident hierzu bleiben. menbedingungen um? Was kann abgegeben werden? Geben ist auch Ein zentraler Ausgangspunkt war, dass es nicht schwierig, es ist auch machtvoll. Auch diese Macht- um eine Trennung von Theorie und Praxis geht. position sollte benannt werden. Die Voraussetzung Die Frage ist, wie über Sachen gesprochen wird. für ein gleichberechtigtes partizipatives Arbeiten Notwendig sind konkrete Beispiele aus Praxisfel- im Bereich Kunstvermittlung ist eine Arbeit, die dern. Notwendig ist, aus der Praxis zu denken und eine Offenheit anstrebt, in der Hierarchien sicht- die Wechselwirkung und das Zusammenspiel von bar gemacht und benannt werden. Eine Wissenshie- Dissidenz und Kohärenz zu beachten. Die Arbeit rarchie ist oft vorhanden, trotzdem soll und kann passiert im Kontext, in der Praxis, und beim kol- gleichberechtigt partizipativ gearbeitet werden; lektiven Zusammenarbeiten sind Konlikte und eine Augenhöhe ist zu inden, sagt jemand. Jemand Widersprüche erlaubt (oder sogar erwünscht). Der anderes mag den Begriff nicht und meint, Augen- Wunsch ungleiche Machtverhältnisse zu verändern, höhe gäbe es nicht. ist der Beweggrund. Dabei sollte einem selbst klar sein, warum man etwas verändern will, da man aus einer privilegierten Position spricht. Und es sollte klar sein, warum wir das machen, wessen Begeh- Widersprüche und Ansprüche sind voneinander abhängig. Kohärenz zwischen Ansprüchen, Bedingungen und Umsetzung. ren wir in der Arbeit verfolgen. Die Frage ist nicht Pädagogische Relexivität setzt sich aus Wider- nur, warum ich was mache, sondern auch für wen sprüchen, dem Widersprechen und Dissidenz zu- ich arbeite. Wem schließe ich mich an? Oder wem sammen. möchte ich mich anschließen? Räume sollten mitgedacht werden. Wenn die Sprache nicht vorhanden ist, wird es schwierig, Ein Vorschlag zum Ausgangspunkt oder für die Raum, Zeit und Vertrauen mitzudenken. Vertrauen erste Frage an sich selbst, war: Wozu sage ich Ja, braucht Zeit und Raum, um freundschaftlich zu 97 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 werden, sonst handelt es sich um Instrumentali- festhalten und welche Hierarchien sie festigen; sich sierung. Es ist schwierig, sich zwischen Professio- klar werden über die eigene Position und Teilhabe nalität und Freundschaft zu bewegen. Wenn das Ver- daran, wäre ein Ansatz zur Professionalität. Damit trauen da ist, funktioniert es als Empowerment. möchte ich auf den Satz vom Anfang zurückkom- Bestimmte Verhältnisse, durch welche Vertrauen men: nicht entstehen kann, sollten benannt werden. Eine wichtige Frage ist: „Warum glaubst Du, dass die (die Personen, mit denen du arbeitest) mit dir Ist die Mehrheitsgesellschaft die Migrationsgesellschaft? reden wollen?“ Selbstrelexive Auseinandersetzungen sind eine Voraussetzung; meistens gibt es keine Zeit dazu – Freja Bäckman, studierte Medienkultur mit Schwer- im Vergleich zu politischen Gruppen, wo dies punkt Fotograie, Masterarbeit zur normenkritischen immer stattindet – trotzdem ist es sehr wichtig. Pädagogik, Institut für Kunst im Kontext an der Uni- Was sind die Bedingungen, die wir brauchen? Was versität der Künste, Berlin. Sie ist an der Schnittstelle muss ausgemacht werden? zwischen Kunst, Bildung und Aktivismus interessiert. Teil der Kunstvermittlung bei Studio d(13) – Kinder- Verantwortung übernehmen, sich dessen be wusst sein, was man macht; sich des eigenen Handelns bewusst sein. Immer wieder professioneller werden. Es ist nicht eine einzelne Person, die alleine entscheidet, sondern es ist eine ständige Verhandlung, die zur Evaluation führt und zur Frage nach Qualität. Agieren in dem Feld, zusammen, braucht Deckung und Unterstützung. Perfekte Lösungen gibt es nicht, wir müssen neue Strategien lernen und inden, die dann zu Professionalität führen. Wie kann man diese Räume schaffen, wo ist es möglich? „Wir wollen nicht ein besseres Leben im falschen Zustand der Gesellschaft“ ist einer jener Sätze, die im Workshop geäußert wurden. Er könnte auch als weiterführende Anregung oder Herausforderung stehen; und damit zeigen, dass es um ein übergreifendes Thema geht, an dem nicht nur punktuell oder individuell gearbeitet werden kann. Für den falschen Zustand der Gesellschaft die Augen öffnen und dafür, wo sich die Kunstvermittlung in diesen Prozess einbringen kann und sollte; die Normen sichtbar machen und sich anschauen, was sie bewirken, an welchen Machtstrukturen sie und Jugendworkshops auf der documenta(13). 98 REFLEXIONEN/ HINTERGRUND 99 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Annette Krauss Deshalb nochmal anders gefragt: Wie können wir als Kunst- und Kulturschaffende gestaltend bei Was heißt hier sozial? der Bestimmung dessen mitwirken, was als gesellschaftlich relevant erachtet wird? Eine Arbeitstagung, die sich bereits im Titel (und ohne Fragezeichen) zur Migrationsgesellschaft bekennt und sich kritisch gegenüber dem Konzept Worum geht es eigentlich, wenn wir in den Diskus- Interkulturalität aufstellt, veranlasste mich die sionen auf der Arbeitstagung „Kunstvermittlung oben genannten Fragen weiter zu durchdenken. in der Migrationsgesellschaft“ davon ausgehen, Was bedeutet es, wenn wir, wie auch auf dieser dass es eine Auseinandersetzung mit dem Sozia- Arbeitstagung, von „sozialen Problemen“ sprechen? len in der Kunst und Kulturproduktion in Europa Noch speziischer interessiert mich: Was macht es im 20. Jahrhundert immer gegeben hat? In der Tat mit uns, wenn wir von sozialen Problemen und Mig- scheint es so, dass die gesellschaftliche Relevanz ration sprechen? Schnell wird es zu einem heiklen von Kunst und Kulturproduktion bisher kaum in Sprechen darüber, dass der oder die Migrant_in ein Frage gestellt wurde. Potenzial für Zündstoff gab soziales Problem ist oder hat, statt zu untersuchen, es in jenen Momenten, in denen sich künstlerische wie (Kunst-) Institutionen zur Entstehung, Aufrecht- Produktion anmaßte, selbst darüber zu bestim- erhaltung und Konstruktion von „sozialen Proble- men, wie ihre „gesellschaftliche Relevanz“ auszu- men“ beitragen. Dass diese Probleme also nicht sel- sehen habe, und diese Vorstellungen nach eigenen ten von den Institutionen selbst gemacht werden, Maßstäben umsetzte. Dass dies dann nicht immer war meines Erachtens eine der provokantesten Aus- den Normvorstellungen über gesellschaftliche Rele- gangspunkte dieser Tagung und ist als Relexion im vanz der Kunst entsprach, war und ist gerade Teil Kulturbereich nach wie vor eher eine Seltenheit. der kritischen Aneignung und Mitbestimmung von Die Tagung brachte mich dann auch dazu, noch ein- künstlerischer Arbeit an gesellschaftlichen Pro- mal die Kategorie des „Sozialen“ unter die Lupe zu zessen. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise nehmen und sie zu meiner eigenen künstlerische es möglich ist, die Deinitionsmacht verschiedener Praxis in Bezug zu setzen; dabei aber auch zu fra- gesellschaftlicher Gruppen und deren Ideale beim gen: Woher stammt der Begriff „sozial“ in „soziale Sprechen über die Kunst ins Blickfeld zu rücken, Probleme“ eigentlich? Und was kann ein solcher his- sichtbar und verhandelbar zu machen. torischer Einblick heute leisten? Gerade heute scheint ein solcher Konlikt wieder aufzulammen, wenn in Teilen Europas (in Groß- Laut den Historikerinnen Denise Riley und Ber- britannien bereits seit einigen Jahren und nun auch teke Waaldijk1 ist die Beschreibung von Problemen in den Niederlanden) der Kunst und kultureller Pro- als „soziale“ Probleme zurückzuverfolgen bis ins 19. duktion in entscheidendem Maße gesellschaftliche Jahrhundert in Europa. Dies ist die Zeit, in der die Relevanz abgesprochen wird und staatliche Unter- Konstruktion der Kategorie „sozial“ in direkter Ver- stützung wesentlich reduziert wird. Dass dies in direktem Zusammenhang mit neoliberaler Politik steht, ist inzwischen Common Sense. Viel weniger offensichtlich sind die Strategien, mit denen wir uns zur Wehr setzen können. 1 Für weitere Ausführungen siehe Berteke Waaldijk (2009): Gender, History, and the Politics of Florence Nightingale. Doing Gender in Media, Art and Culture. Eds. Rosemarie Buikema and Iris van der Tuin. New York and London: Routledge, 207–222. Denise Riley (1988): Am I that Name? Feminism and the Category of “Woman” in History. The ‘Social’, ‘Woman’, and Sociological Feminism. London: The Macmillan Press Ltd., 44–66. 100 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 bindung steht mit dem Beginn staatlicher Interven- Umgang und Fürsorge im Privaten und der begin- tionen in Fragen der Gesundheitssorge, Schulausbil- nenden staatlichen Intervention herauslösen ließ. dung etc. Zuvor waren diese Bereiche ausschließlich Und heute? Seit den 1980er-Jahren können wir dem privaten Bereich zugeordnet. Riley und Waal- in vielen Aspekten den Niedergang des Wohlfahrts- dijk zeigen, wie Nationalstaaten durch die Kategorie staates in Europa beobachten. Allerdings bedeu- „sozial“ vermehrt in das Leben ihrer Bürger_innen tet ein schwindender Wohlfahrtstaat keinesfalls, eingriffen, um Vorstellungen darüber geltend zu dass die Kategorie des Sozialen verschwindet, die machen, wie Erziehung, Hygiene, Fürsorge auszu- er quasi mit erzeugt hat. Ganz im Gegenteil: Neo- üben ist. In diesem Sinne ist die Kategorie „sozial“ liberale, populistische und konservative Regierun- eine ganz speziische Erweiterung des Privaten in gen beziehen sich weiterhin auf sogenannte „sozi- den öffentlichen Raum hinein. Allerdings ist es ale Probleme“; allerdings hat sich die Art und Weise kaum sinnvoll, die interventionistisch-paternalis- verändert, wie sich der jeweilige Staat um Ungleich- tische Reaktion des Staates auf Probleme, die nun heit und ökonomische Unsicherheit kümmert. So als „soziale“ Probleme zusammengefasst wurden, bedeutet die Verwirklichung von neoliberalen Stra- zu beschreiben, ohne auch die emanzipatorische tegien weniger Staat im ökonomischen Bereich, Seite zu nennen – also den Beginn von sozialen Bür- im Bereich der Bildung und medizinischen Versor- gerrechten und eben der nationalstaatlichen Ver- gung, weniger Eingriffe in Arbeitsmarkt und Kapi- antwortung für Sozialhilfe durch Fürsorge, Bil- talmarkt. Aber auf der anderen Seite bedeutete dung und öffentliche Einrichtungen. Ein Beispiel, dies auch ein Mehr an Staat. Einen Staat, der sich bei dem die emanzipatorisch-paternalistische Geste einmischt, aber nicht länger mit wohlfahrtstaat- des Nationalstaates deutlich wird, ist die Rolle von lichen Mitteln, sondern mit polizeilichen Mitteln Frauen. Einerseits erfuhr die Unterscheidung zwi- und mit der Strafjustiz. Diese neuen Kontexte ver- schen privatem und öffentlichem Raum in dieser ändern notwendigerweise auch die Art und Weise, Zeit eine entscheidende genderspeziische Festle- wie die Kategorie des Sozialen gedacht und konzep- gung, was Frauen die familiären, privaten und häus- tualisiert wird, wie soziales Engagement ausgeübt lichen Aufgaben zuwies. Auf der anderen Seite erar- und begründet wird. Für Kunst und Kulturproduk- beiteten sich Frauen (wenn es auch nur sehr wenige tion eröffnen sich hier Untersuchungsfelder, die wir waren, die die Möglichkeit dazu hatten) seit Beginn aktiv in Angriff nehmen sollten, wollen wir gesell- des 20. Jahrhunderts aber auch eine öffentliche schaftlich gestaltend mitwirken. Stimme, in dem sie ihr Wissen über Fürsorge, Erziehung und Organisation des Privaten geltend mach- Vor diesem Hintergrund hat sich Anfang 2011 in ten. Die biologistische Zuschreibung, dass Frauen Utrecht die Gruppe ASK!2 gebildet. Es handelt sich determiniert waren, ihre Fähigkeiten im Privaten dabei um eine Gruppe aus verschiedensten Kultur- auszuüben, verwandelten sie im Kontext beginnen- schaffenden und Domestic Workers. Mit dem Begriff der staatlicher Interventionen in ihre Stärke. Durch „domestic work“ beziehen wir uns auf jene Arbeit, ihre zwangsläuig entwickelte Expertise erlangten die im Deutschen ein wenig umständlich als haus- sie eine maßgebende Position in der Öffentlichkeit, haltsbezogene Dienstleistungsarbeit bezeichnet wird. was ihnen wiederum Sichtbarkeit z. B. im Kampf Oftmals wird diese Arbeit von Migrantinnen ausge- um die Anerkennung der Bürgerrechte brachte. übt. Sie arbeiten für mehrere Familien oder Arbeit- Waaldijk beschreibt diesen Prozess als den Beginn der Professionalisierung der Sozialarbeit, die sich aus einer komplexen Verschränkung von täglichem 2 Ask! hat sich formiert während des zweijährigen Research Projektes „The Grand Domestic Revolution – User’s Manual“ (GDR), entwickelt von „Casco Ofice for Art, Design and Theory in Utrecht“. 101 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 geber_innen, putzen deren Wohnungen, kochen, es darum, Domestic Workers darin zu unterstützen, waschen, betreuen die Kinder und plegen alte Ange- die Diskussion und den Kampf um bezahlte Haus- hörige. Domestic Workers arbeiten oftmals ohne haltsarbeit aus der Privatsphäre des Haushalts her- Arbeitsvertrag und ohne Aufenthaltsrecht in ungesi- auszulösen und im globalen Kontext der Arbeits- cherten Verhältnissen. Sie unterstützen jedoch maß- migration und deren Anerkennung zu verankern. geblich die Ökonomie ihres Aufenthaltslandes. Der Dies bedeutet für uns, die politische Dimension der Bedarf nach haushaltsbezogenen, privaten Dienst- Unsichtbarkeit von Haushaltsarbeit zu hinterfragen leistungen ist in den letzten Jahren in den Nieder- und öffentlich zu machen. landen, aber auch in Deutschland stets gestiegen. Die Als Kulturschaffende gehen wir davon aus, dass gewünschten Arbeitskräfte werden durch den Welt- die Frage nach Sichtbarkeit immer auch etwas mit markt gedeckt. Diesem Bedarf steht jedoch eine Mig- Ästhetik zu tun hat. Allerdings meinen wir damit rationspolitik gegenüber, die diese Arbeitsleistung weniger schönes Design, oder dass etwas einfach nicht als gesellschaftlich wertvoll anerkennt und in schön aussieht. Es geht vielmehr um die politi- die Unsichtbarkeit und Illegalität abdrängt. sche Dimension von Ästhetik. ASK! strebt die permanente Befragung und Verhandlung von Sicht- „Wir verlangen Respekt und die Anerkennung für unsere barkeiten an. Auch geht es nicht um Sichtbarkeit Arbeit.“3 per se; vielmehr fragen wir, wer davon proitiert, „Beide arbeiten wir täglich mit Ästhetik.“4 dass haushaltsbezogene Dienstleistungen weitge- „Wir lernen voneinander.“5 hend unsichtbar bleiben. Was hat (Un-)Sichtbarkeit „Wir zählen auf temporäre Allianzen. Wir brauchen Koa- mit (Un-)Sicherheit zu tun? Inwiefern ist Unsicht- litionen, und zwar jetzt.“6 barkeit von Haushaltsarbeit eine genderspezifische, historische Zuschreibung, die sich in globale ASK! ist eine Abkürzung für Niederländisch „Actie Arbeitsmärkte verwoben hat? Und wie lässt sich Schone Kunsten“, was soviel bedeutet wir Aktion die Unsichtbarkeit und Unsicherheit von Haus- Schöne Künste. Allerdings bedeutet das niederlän- haltsarbeit mit der Unsichtbarkeit und Unsicher- dische Wort „schone“ sowohl „schön“ als auch „sau- heit der Arbeitsbedingungen in der Kulturproduk- ber“, wodurch sich ein Wortspiel ergibt, dass ein tion gegenlesen? Nachdenken über die Verschränkung und Differenz ASK! arbeitet daran, mitzubestimmen, was der beiden Arbeitsgebiete (Künstlerische Arbeit/Kul- „gesellschaftliche Relevanz“ bedeutet, wer diese turproduktion und Haushaltsarbeit) anstoßen soll. Anerkennung erfährt und wer nicht. Als zu Beginn Neben regelmäßigen Treffen und Aktionen im des 20. Jahrhunderts Frauen durch eine speziische Stadtraum hat ASK! ein temporäres Manifest ver- Aneignung der Kategorie des Sozialen Öffentlich- fasst, in dem beschrieben wird, warum wir zusam- keit erlangten, ging es auch in entscheidendem menarbeiten. (Why We Work Together). Dabei geht Maße um die Anerkennung ihrer gesellschaftlichen 3 ASK! Why we work together: We both demand respect and recognition for our work. http://actiesk.tumblr.com/ Stellung. Dies bedeutet aber auch, dass gesellschaftliche Relevanz niemals stabil ist und sein kann, son- 4 ASK! Why we work together: We are both dealing with aesthetics on a daily basis. http://actiesk.tumblr.com/ dern sie muss aus praktischen, ästhetischen und 5 ASK! Why we work together: We learn from each other. http://actiesk.tumblr.com/ und erarbeitet werden – nur so können wir Verän- 6 ASK! Why we work together: We count on temporary alliances. We need coalitions and we want them right here. http:// actiesk.tumblr.com/ politischen Gründen immer wieder neu verhandelt derungen erzeugen. Um dies zu tun, gehen wir Allianzen ein, deren gemeinsame Grundlage hart erarbeitet werden muss, da sie sich den konventionellen 102 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Vorgehensweisen und Bedingungen der verschiedenen Bereiche (Künstlerische Arbeit/Kulturproduktion und Haushaltsarbeit) eher entgegenstellt. Die Frage ist also: Wie können wir solche Allianzen tragfähig machen? Welche Plattformen brauchen wir dafür? Und wie können wir zusammenarbeiten, sodass unsere individuelle Komplexität und Differenz und das, was uns ausmacht, nicht verloren gehen, sondern einließen in das, was wir als „sozial“ erachten und wofür wir eintreten? Annette Krauss arbeitet als Künstlerin an der Schnittstelle von Kunst, Alltagsforschung und Bildung. Sie befasst sich mit der Frage, wie sich (institutionalisierte) Normalisierungsprozesse auf unser (praktisches) Wissen und Alltagshandlungen auswirken und mit unseren Körpern korrelieren. Dabei gilt ihr Interesse momentan vor allem dem Phänomen des „Unlearning“. 103 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Lilian Scholtes education, education, education!1 Integration 2020: Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft Deutschland gestalten und Integration vorantreiben „Integration 2020: Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft Deutschland gestalten und Integration Mit dem Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft vorantreiben“ ist der Titel eines Textes, der im Zen- verbindet die Stiftung die Forderung nach Integ- trum meines Beitrags steht. Er ist dem Strategiepa- ration im Sinne einer „chancengleichen Partizipa- pier der Stiftung Mercator (Stiftung Mercator 2011: tion in zentralen Bereichen des gesellschaftlichen 18f.) entnommen, in dem die Stiftung Mercator ihr Lebens“.2 In der Umsetzung dieser Forderung sieht Engagement im Bildungsbereich präsentiert. sie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Chan- Im Folgenden möchte ich diesen Text vorstel- cengleichheit im Bildungswesen kommt dabei eine len, denn die Beschäftigung mit Kunstvermittlung Schlüsselrolle zu. Als „potentiell besonders benach- in der Migrationsgesellschaft erfordert nicht nur teiligte Gruppe“ sollen „Kindern und Jugendlichen einen genauen Blick auf das speziische Feld der mit Migrationshintergrund“3 höhere Bildungsab- Vermittlung, sondern auch auf die größeren bil- schlüsse ermöglicht werden. Zu diesem Zweck wird dungspolitischen Zusammenhänge und Diskurse. es als notwendig erachtet, das öffentliche Bildungs- Der Text ist besonders interessant, weil er als Fall- wesen durch betriebswirtschaftliche Maßnahmen beispiel dafür gesehen werden kann, wie das, was in zukunftsfähige Institutionen nach internationa- sich zunächst nach Politisierung des Diskurses um len Standards umzubauen. Pädagogik und Migration anhört, erstens an der Ober- Mit der Benennung systematischer Bildungsbe- läche bleibt, und zweitens eine problematische Öko- nachteiligung und einem Engagement zur Schaffung nomisierung auf verschiedenen Ebenen mit sich gleicher Zugangschancen zu Bildung vermittelt die bringt. Zur Analyse sollen entsprechende Textstel- Stiftung einen progressiven, emanzipierenden Ansatz len in pädagogische, wirtschaftliche und gesell- innerhalb des Integrationsdiskurses. Andererseits schaftspolitische Zusammenhänge gestellt wer- wird Migration im Text durchgehend im Zusammen- den und im Diskurs um die Restrukturierung des hang mit Bildungsdeiziten und mangelnder Integra- öffentlichen Bildungswesens in der Bundesrepub- tion gekennzeichnet oder in Form von „kultureller lik Deutschland verortet werden. Dabei beziehe ich und sprachlicher Vielfalt“, „wachsender Diversität“, mich in erster Linie auf die Forschungsarbeit von „dynamischem Wandel und großer Komplexität“ Ingrid Lohmann und Jürgen Klausenitzer. beschrieben (Stiftung Mercator 2011, S. 18, 19, 21). Insbesondere in den Beschreibungen der Beziehungsmuster zwischen Lernenden und Institution wird dabei eine patronisierende Haltung deutlich. Letztere beschreibt sich selbst in der Rolle des Initiators 1 Tony Blair in einer Wahlrede im September 2000 für eine „learn and earn society“, http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/education/943374.stm (18.3.2012) 2 Mit dieser Deinition bezieht sich die Stiftung auf eine Deinition des Zuwanderungsrates von 2004 (Stiftung Mercator 2011, S. 18). 3 Diese Bezeichnung verwendet der Text im Themencluster Integration für die Zielgruppe (Stiftung Mercator 2011). 104 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 und Akteurs: wir setzen uns ein, beseitigen, redu- Das Engagement der Stiftung Mercator im Bildungs- zieren, streben an, heben Potenziale, verbessern, bereich muss im Kontext einer von der Weltbank, wählen, bewegen mehr, haben die Möglichkeit, ver- OECD, WTO und EU mitbestimmten internationa- knüpfen, bringen ins Gespräch, verfügen über usw. len Entwicklung verstanden werden, die in der Bun- Den sogenannten „Bildungsempfängern“4 dagegen desrepublik Deutschland vor allem in einer umfas- wird Passivität zugeschrieben, denn sie: machen sel- senden Rationalisierung staatlicher Tätigkeit ihren tener, haben häuiger keinen, werden beeinlusst, Ausdruck indet, welche auch das Bildungswesen sollen aus- und fortgebildet werden, sollen arbei- betrifft. In erster Linie sollen damit größere Kos- ten können, es fehlt ihnen an usw. (Stiftung Mer- teneffizienz und eine allgemeine Senkung der cator 2011). Staatsquote erreicht werden sowie Entwicklungen Unterschieden wird auch weiterhin zwischen der Bildungsexpansion der 1970er-Jahre zurück- Migrant_innen/Deutschen ohne Migrationshinter- genommen werden. (vgl. Klausenitzer 2002a; Loh- grund oder Zuwanderungs-/Mehrheitsbevölkerung, mann 2010, S. 183ff.; Pleister 2010, S. 8) in der üblichen Differenzierung mit/ohne Migrationshintergrund. Ausgeblendet bleiben Aspekte Diesen Veränderungen ist das deutsche öffent- ökonomischer Herrschaftsverhältnisse und allge- liche Bildungswesen trotz Artikel 7, Absatz 1 der meine Machtkonstellationen sowie mögliche Alter- Verfassung5 („Das gesamte Schulwesen steht unter nativen durch eine Politik der Anerkennung auf der Aufsicht des Staates.“) ausgesetzt. Denn die Durch- Basis ökonomischer Verteilungsgerechtigkeit sowie führung kann an andere Organisationen abgetre- die wesentlichen Funktionen von Bildung als Teil ten werden. Bildung wird nach dem Allgemeinen gesellschaftlicher Reproduktion. Im Vordergrund Abkommen über den Handel mit Dienstleistun- steht eine Verwertungslogik von zu nutzenden gen (GATS) der Welthandelsorganisation (WTO) Potenzialen. Dabei wird meist mit einer dreiteili- von 1995 international als Dienstleistung klassii- gen Legitimationsstrategie aus Bedürftigkeit und ziert6 und fällt damit nicht mehr unter staatliches Sorge, dem Verweis auf die eigene Leistungsfähig- Hoheitsrecht. Somit steht das Bildungswesen „prin- keit sowie Deizitzuschreibung an das öffentliche zipiell im Zugriff der Proitwirtschaft“ (Lohmann Bildungswesen oder die Politik argumentiert: 2010, S. 34). Vor diesem Hintergrund müssen die „Private Stiftungen können auf dem Feld der Bildung Ansprüche der Stiftung Mercator gesehen werden. deutlich mehr bewegen als auf anderen Feldern, auf denen Sie schreiben sich ein in eine Reihe von Restruktu- Chancenungleichheit zwischen Menschen mit und Men- rierungsvorhaben, die alle Ebenen des öffentlichen schen ohne Migrationshintergrund besteht. Nach Jahr- Bildungssystems betreffen. Dabei handelt es sich zehnten unzureichender Integrationspolitik zeichnet sich nach Klausenitzer (2002b) im Wesentlichen um7: der Bildungsbereich heute im Umgang mit Migration und Diversität durch dynamischen Wandel sowie große Komplexität aus. Für Stiftungen bietet sich damit die Chance, durch fokussierte Intervention eine besonders große Hebelwirkung zu erzielen.“ (Stiftung Mercator 2011, S. 21) 5 http://dejure.org/gesetze/GG/7.html, (18.3.2012). 6 Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen. In: Bundesgesetzblatt II 1994, S. 1643–1666, zitiert in Lohmann 2010, S. 34. 4 Mit der Bezeichnung Bildungsempfänger wird die passive Rolle der Lernenden weiter unterstrichen. 7 OECD, 1995, Governance in Transition, Paris; zitiert in: Klausenitzer 2002b. 105 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 • Dezentralisierung auf operativer Ebene bspw. Teil­ autonomie von Schulen Bundes, die Stiftung Mercator und die zuständigen Ministerien der beteiligten Bundesländer. Mit dieser • Stärkung zentraler Kapazitäten auf strategischer Praxis schreibt sich eine zunehmende Abhängigkeit Ebene (z. B. Curricula, Indikatoren für Eva luati- des öffentlichen Bildungswesens von der Privatwirt- onssysteme) schaft fest. Neben Politik und Wirtschaft etabliert • Organisierung von zentralem und internem Wettbewerb, Nutzergebühren, Gutscheine • Alternativen zur öffentlichen Daseinsvorsorge • Privatisierung, Public­Private Partnerships sich ein dritter Sektor, ausgestattet mit Macht und Einluss, unabhängig vom Wähler_innenwillen. (Lohmann 2010, S. 17ff.) An dieser Stelle ist auch auf den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Grundsätzlich kommt bei den genannten Bestre- Migration (SVR) zu verweisen. Der SVR geht auf eine bungen zur bildungspolitischen Umgestaltung Initiative der Stiftung Mercator und der Volkswa- neben nationalen und transnationalen Staats- und gen Stiftung zurück. Er versteht sich als „unab- Wirtschaftsorganisationen (Weltbank, OECD, WTO, hängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, EU) einigen der rund 300 gemeinnützigen Corpo- Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu inte- rate-Social-Responsibility-Stiftungen8 in Deutsch- grations- und migrationspolitischen Themen Stel- land eine beherrschende Rolle zu. Das Instrument lung bezieht und handlungsorientierte Politikbe- der Stiftung bietet insbesondere großen Konzernen, ratung anbietet“.11 In dieser Funktion kommt dem aufgrund ihres beträchtlichen Vermögens, ihrer SVR in der Planung zukünftiger Steuerung von Mig- medialen Einlussnahmen und ihrer Lobbyarbeit, rations- und Integrationsmaßnahmen eine wich- die Möglichkeit im Forschungs- und Bildungsbe- tige Bedeutung zu. Als Ziele empiehlt der SVR im reich ihr gesellschaftliches Engagement langfris- Jahresgutachten 2011, Anwerbungsstrategien für tig und strategisch zu gestalten.9 Die gemeinsame Spitzenkräfte zu entwickeln, Abwanderung von Konzeption und Finanzierung von Pilotprojekten Spitzenkräften zu verhindern, wachsenden Fach- durch öffentliche Bildungsinstitutionen sowie pri- kräftemangel zu begrenzen, auf den Faktor Arbeit vate und öffentliche Stiftungen bieten daher ideale entfallende Kosten gering zu halten sowie die Ver- Bedingungen, um einen Umbau des Bildungswesens stärkung temporärer Migrationsformen (SVR 2011, voranzutreiben (Lohmann 2010, S. 17ff.). Die Stif- S. 19–25). tung Mercator im Speziellen beteiligt sich am Kulturellen Bildungsprojekt Kunstagenten für kreative In dieser wirtschaftspolitischen Perspektive Schulen10, gefördert durch die Kulturstiftung des wird Zu- bzw. Einwanderung zunehmend unter dem Gesichtspunkt ihres betriebs- oder volkswirtschaft- 8 www.stiftungen.org/ (12.2.2012), siehe auch: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: Privatisierungsreport 13, http:// www.gew.de/Binaries/Binary78712/Priva-13_web.pdf (17.3.2012). 9 siehe auch: Bertelsmann Stiftung, Berger Consultants, Bild, Hürriyet: Zukunft durch Bildung – Deutschland will’s wissen, online Bürgerbefragung, www.Bildung2011.de (6.3.2012). 10 Ein Modellprogramm der gemeinnützigen Forum K&B GmbH, initiiert und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Stiftung Mercator in den Bundesländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien, der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., der conecco UG – Management städtischer Kultur und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. lichen Nutzens zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts bewertet. Darauf bezieht sich auch die Integrationsinitiative der Stiftung Mercator: „Deutschland ist auf die bestmögliche Nutzung aller im Land lebender Talente angewiesen, denn eine Vergeudung von Potenzialen führt zu hohen gesellschaftlichen und fiskalischen Kosten. Chancengleichheit zu schaffen ist somit keine sozialkaritative, sondern eine 11 www.svr-migration.de/content/ (6.3.2012). 106 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 gesellschaftspolitische Herausforderung und liegt im Inte- „Es zeigt sich zudem, dass mangelnde Integration zumeist resse der Einwanderungsgesellschaft insgesamt.“ (Stiftung mit sozialen Problemen einhergeht. Erst wenn dieser Zusam- Mercator 2011, S. 19) menhang nicht mehr besteht, wird integrationsspezifische Förderung zugunsten milieuspezifischer Ansätze an Bedeu- Dem Begriff der Chancengleichheit kommt in der tung verlieren“ (Stiftung Mercator 2011, S. 20). Argumentation aufgrund seiner Aura von Gerechtigkeit und Menschenrecht eine zentrale Vermitt- Die Annahme, dass sich durch Wettbewerb und Prü- lungsfunktion zu. In einem Memorandum der EU fungskultur die Leistungen der Lernenden verbes- aus dem Jahr 2000 indet sich folgende Anwendung: sern ließen, beschreiben Clarke und Newman als „Alle in Europa lebenden Menschen – ohne Ausnahme – einen „der großen Mythen der gegenwärtigen Dis- sollten gleiche Chancen haben, um sich an die Anforderungen kussion“ (Clarke/Newman 1997, S. 149, zit. in Klau- des sozialen und wirtschaftlichen Wandels anzupassen und senitzer 2002a). aktiv an der Gestaltung von Europas Zukunft mitzuwirken.“ Dieser Mythos liegt auch dem Text der Stiftung (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000, S. 3) zu Grunde. Die Strategie des Textes „Integration 2020: Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft Deutsch- „Chancengleiche Partizipation“ steht hier für das land gestalten und Integration vorantreiben“ besteht Recht, sich dem Arbeitsmarkt anzupassen. Damit darin, die Behebung der Bildungsbenachteiligung wäre ein Konzept vorgestellt, das Integration direkt von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachse- an marktwirtschaftliche Bedingungen von „employ- nen mit Migrationshintergrund in einen kausalen ability“ (Beschäftigungsfähigkeit) und die sie beglei- Zusammenhang mit einer betriebswirtschaftlichen tenden Kompetenzen knüpft. Diese Kompetenzen zu Restrukturierung des öffentlichen Bildungswesens schaffen wird aus betriebswirtschaftlicher Perspek- zu setzen und als Einheit festzuschreiben. Die Gren- tive zur zentralen Funktion von Bildung. zen zwischen Gemeinnützigkeit und eigenen Interes- Ein behaupteter Zusammenhang von restruktu- sen der Stiftung verwischen sich dabei in der Rhe- rierter Schule und verbesserter Leistungsfähigkeit torik von einer „freiheitlichen und sozial gerechten und Efizienz kann in internationalen empirischen Gesellschaft“ (Stiftung Mercator 2011, S. 19). Wer Studien nicht belegt werden (Bellmann/Weiß 2009, Chancengleichheit will, muss Restrukturierung Gewirtz 2003, Ball 2003, Klausenitzer 1999). Insbe- zustimmen – so stellt sich etwas verkürzt der Ver- sondere lässt sich eine gesteigerte Chancengleich- mittlungsmodus dar. Notwendig wäre, sich statt- heit potenziell Benachteiligter nicht beobachten. dessen mit den tatsächlichen Bedingungen von Im Gegenteil: Hohe Selektivität und Reproduktion Chancengleichheit in der Migrationsgesellschaft ungleicher sozialer Lebenschancen bestehender auseinanderzusetzen und öffentliche Verantwortung Schulsysteme werden, so die Autor_innen, weiter dafür einzufordern. vorangetrieben. Besonders betroffen sind davon ohnehin benachteiligte Kinder, denn Bildungserfolg hängt nicht zuletzt vom Einsatz der Eltern und der sozialen Herkunft ab (Bellmann/Weiß 2009, S. 298, vgl. auch Gresch/Kristen 2011). Bleiben schulische Erfolge aber aus, lassen sich die Ursachen dafür wiederum mit sozialen und milieuspeziischen Problemen des Elternhauses begründen: 107 Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/ Relexionen einer Arbeitstagung – 2011 Literatur • Pleister, Michael (2010): Ausgemacht und weitgehend • Ball, Stephen J. (2003): Urbane Auswahl und urbane akzeptiert: Bildung und Lernsubjekt als bloße Effekte Ängste. Zur Politik elterlicher Schulwahlmöglichkei- marktliberaler Anpassungspostulate. In: Pädagogische ten, www.bipomat.de/widerspruch/widerspruch.html Rundschau 64. Jg./ Heft 5 (2010), S. 477–507, http:// (18.3.2012) bildung-wissen.eu/fachbeitraege/ausgemacht-und- • Bellmann, Johannes; Weiß, Manfred, (2009): weitgehend-akzeptiert.html (22.3.2012) Risiken und Nebenwirkungen Neuer Steuerung im • Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Inte- Schulsystem. Theoretische Konzeptualisierung und gration und Migration: 12 Kernbotschaften. In: Jahres- Erklärungsmodelle. In: Zeitschrift für Pädagogik 55 gutachten 2011, S. 19–25, http://www.svr-migration.de/ (2009) 2, S. 286–308, http://www.pedocs.de/front- content/?page_id=2658 (22.3.2012) door.php?source_opus=4251 (22.3.2012) Stiftung Mercator (2011): Unser Ziel – Integration 2020: • Gewirtz, Sharon (2003): Die managerialistische Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft Deutsch- Schule: Konsequenzen und Widersprüche der Post- land gestalten und Integration vorantreiben. In: Ebd.: Wohl fahrtsstaatlichkeit in der Bildung. In: Wider- Mercator 2013: Ideen belügeln, Ziele erreichen. Essen, sprüche, 89, S. 19–38, www.bipomat.de/widerspruch/ http://www.stiftung-mercator.de/ileadmin/user_up- gewirtz.pdf (22.3.2012) load/INHALTE_UPLOAD/Die%20Stiftung/Downloads/ • Gresch, Cornelia/Cornelia Kristen (2011): Staatsbürger- Strategie/Strategiebroschuere_Integration_D_18–23. schaft oder Migrationshintergrund? Ein Vergleich pdf (22.3.2012) unterschiedlicher Operationalisierungsweisen am Beispiel der Bildungsbeteiligung. In: Zeitschrift für Soziologie 40 (3): S. 208–227 Lilian Scholtes arbeitet seit 2005 als Kunstvermittlerin • Klausenitzer, Jürgen (1999): Privatisierung im Bildungs- im Bereich der Kinder- und Jugendbildung. Sie stu- wesen? Eine internationale Studie gibt zu bedenken!, dierte Bildhauerei und Freie Kunst am Edinburgh In: Die Deutsche Schule 91 (1999) 4, S. 504–514 College of Art (UK) und an der Art-Academy Malmö • Klausenitzer, Jürgen (2002a): Altes und Neues – (Schweden). Für die documenta 12 arbeitete sie im Anmerkungen zur Diskussion über die gegenwärtige Team für Kunstvermittlung und im Kinder- und Ju - Restrukturierung des deutschen Bildungswesens. In: gendprogramm „aushecken“. Widersprüche 83, S. 53–68, http://www.widerspruechezeitschrift.de/article983.html (22.3.2012) • Klausenitzer, Jürgen (2002b): Schule der Globalisierung, Teil I. 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