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WIDERSPRUCH Nr. 55 Das revolutionäre Subjekt Philipp Lenhard 31 Aufstand gegen das Gesetz Zur Kritik des Neopaulinismus „Gleicht unsere heutige Situation mit der alleinigen Supermacht USA und dem konkurrenzlosen Modell des globalen Kapitalismus nicht derjenigen vor 2000 Jahren, als das römische Imperium die damals bekannte europäisch-mediterrane Welt alternativlos beherrschte?“, fragte Die Zeit in einer Sammelrezension zu den Paulusbüchern von Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek, um so fortzufahren: „Und war nicht Paulus der Einzige, der diesem imperialen Modell eine überzeugende Alternative entgegenhielt: indem er den gekreuzigten Christus zum Gegenkaiser ausrief, das römische Rechtssystem mit der Parole vom ‚Ende des Gesetzes‘ attackierte und die christliche Gemeinschaft, in der ‚alle eins in Christus sind‘ (Gal. 3, 28), als Gegenentwurf zur spätantiken Klassengesellschaft propagierte?“ Diese antikapitalistische Übersetzung der paulinischen Theologie hatte sich der Autor nicht selbst ausgedacht – sie entspricht in all ihrer Plumpheit einer Kurzzusammenfassung der postmodernen Paulus-Lektüre. Jacob Taubes als Erfinder des antinomistischen Revolutionärs Angefangen hat alles mit dem dunklen Denker Jacob Taubes, dessen Buch Die Politische Theologie des Paulus – wenige Wochen vor seinem Tod aus den Vorlesungen zum Römerbrief entstanden – die antinomistische Revolte Pauli als Vorbild für einen antiliberalistischen Aufstand der Gegenwart feierte.1 Es ist interessant nachzuverfolgen, auf welch verschlungenen Wegen Taubes zu dieser These gelangte. In seiner 1953 veröffentlichten Schrift The Issue between Judaism and Christianity: Facing up to the Unresolvable Difference hatte Taubes nämlich noch deutlich gegen Paulus Position bezogen. In diesem bemerkenswerten Essay attackierte er entschieden vor allem Franz 1 Jacob Taubes, Die politische Theologie des Paulus [1987], München 1993. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie 32 Philipp Lenhard Rosenzweig und Hans-Joachim Schoeps, welche die paulinische Theologie in der Auslegung des Johannes-Evangeliums als Möglichkeit sahen, mittels derer die Heiden zu Gott gelangen könnten. Taubes wehrte sich gegen eine christliche „Erweiterung“ des Bundes, weil diese den Wahrheitsanspruch des Judentums relativiere, und beharrte auf dem unversöhnlichen Gegensatz von Juden- und Christentum. Wie auch immer man zu Taubes‘ radikaler Differenzierung steht, so ist doch unbestreitbar, dass schon das vorrabbinische Judentum sehr wohl ein Konzept für das Heil der Nichtjuden hatte, das dann nach der Zerstörung des zweiten Tempels weiter entfaltet wurde: Jeder, der sich an die sieben noachidischen Gebote hält – eine Art jüdisches Naturrecht, das Mord, Diebstahl, Götzenanbetung, Unzucht, Brutalität gegen Tiere und Gotteslästerung verbietet sowie die Einrichtung unabhängiger Gerichte vorschreibt –, hat Anteil an der olam ha-ba, der „kommenden Welt“2. Es hat demnach in eschatologischer Hinsicht keinen Vorteil, Jude zu sein. Konsequent versteht das Judentum die Treue zur torah, also eines Korpus von 365 Verboten und 248 Geboten, durchaus als Belastung. Aber die torah ist Gottes Wille, und das Volk Israel hat sich laut biblischer Überlieferung aus freien Stücken dazu entschlossen, in den Bund mit Gott einzutreten.3 Damit kommt den Juden eine besondere Aufgabe, eine Verpflichtung zu, nämlich die Verbreitung der Botschaft Gottes unter den Juden wie Nichtjuden. Jene ist aber gerade nicht mit einer Missionierung der Heiden zu verwechseln, sondern mit der Mahnung zur universellen Gerechtigkeit. Niemand muss Jude sein, um gerecht zu handeln; aber ein Jude kann nur zaddik sein, wenn er die mizwot, die Gebote Gottes, befolgt.4 Es würde zu weit führen, die rabbinischen Diskussionen über den Sinn des Gesetzes, über die Frage, ob dieser Sinn für den Menschen überhaupt erkennbar ist, oder auch über das Verhältnis der mizwot b’nei noach zu den mizvot b’nei yisrael an dieser Stelle nachzuvollziehen. Für unser Thema – die Rezeption der paulinischen Revolte gegen das Gesetz – ist nur festzuhalten, 2 Die Literatur hierzu ist umfangreich. Vgl. Aus jüdischer Perspektive exemplarisch Nahum Rakover, Laws and the Noahides. Law as a Universal Value, Jerusalem 1998 und von christlicher (protestantischer) Seite Klaus Müller, Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum, Berlin 1994. 3 Gott hat laut rabbinischer Lehre allen Völkern die torah angeboten, aber nur Israel hat sie angenommen. Vgl. z.B. TanB Berakha 3, 28a. Vgl. auch Friedrich Avemarie, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, Tübingen 1996, 501. 4 Vgl. Moshe ben Maimon, Mishneh Torah, Erster Band: Sefer ha-Madda, Teshuvah 3:1. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie Aufstand gegen das Gesetz 33 dass das Judentum über eine naturrechtliche Konzeption für ein vernünftiges Zusammenleben der Menschen verfügt und ethisches Handeln mit einem religiösen Heilsversprechen verknüpft. Die noachidischen Gebote stehen inhaltlich durchaus in einer Verbindung zum Dekalog, der häufig als das christliche Grundverständnis von gottgerechtem Handeln angesehen wird. Das mag auch auf das gegenwärtige Christentum zutreffen, nur darf dabei nicht vergessen werden, dass Paulus im Anschluss an die Lehren Jesu die zehn Gebote relativiert hat: „Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“5 Dass Paulus jedoch aus seinem jüdischen Kontext verstanden werden muss, zeigt eine analoge Stelle im Babylonischen Talmud. Im Traktat Shabbat heißt es: „Einst trat ein Nichtjude vor Schamaj und sprach zu ihm: Ich will Jude werden unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuße stehe. Da stieß Schamaj ihn fort. Danach ging der Nichtjude zu Hillel mit der gleichen Bitte. Hillel sprach zu ihm: ‚Was dir verhasst ist, das tu deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Erläuterung, geh und lerne sie!‘“6 Was bei Paulus ganz ähnlich klingt, hat allerdings eine fundamental andere Konsequenz: Während Hillel in allgemeinverständlicher Form die Essenz des Gesetzes für einen Nichtjuden erklärt, an dessen Verhalten das Judentum aber eigentlich kein größeres Interesse hat, ist es Paulus um die Aufgabe der sogenannten Äußerlichkeiten des Gesetzes zu tun: Er kritisiert u.a. die Beschneidung als Zeichen des Bundesschlusses und stellt ihr den Glauben an die messianische Erlösung gegenüber.7 Entsprechend verortete auch der frühe Taubes den Gegensatz zwischen Paulinismus und Judentum in der Bedeutung des Gesetzes. Keiner habe das so gut verstanden wie Paulus selbst: „Es ist wohl kein Paradox, daß Paulus, ein Pharisäer und Sohn eines Pharisäers, der behauptet, bei Gamaliel studiert und sich durch seinen Eifer für Gesetz und Tradition ausgezeichnet zu haben, daß dieser Paulus die Streitfrage, die Judentum und Christentum voneinander trennt, besser beantworten konnte als moderne jüdische Apologeten. Und diese Frage ist das Gesetz.“8 Taubes wies deshalb konsequent 5 6 7 8 Gal. 5, 14. b. Schabbat 31a. Vgl. Röm. 4, 11-14. Zit. n. der deutschen Übersetzung: Jacob Taubes, Die Streitfrage zwischen Judentum und Christentum. Ein Blick auf ihre unauflösliche Differenz, in: ders., Der Preis des Messianismus. Briefe von Jacob Taubes an Gershom Scholem und andere Materialien, Würzburg 2006, 18. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie 34 Philipp Lenhard darauf hin, dass die paulinische Theologie ihrem Ursprung nach jüdisch, ihrem Wesen nach jedoch antinomistisch und ergo: antijüdisch sei: „Alle Voraussetzungen der paulinischen Theologie waren ‚jüdisch‘, ja sogar ‚pharisäisch‘, doch zog er daraus häretische Konsequenzen: so zog er aus der möglicherweise legitimen jüdischen Grundannahme, der Messias würde das Ende des Gesetzes verkünden, die häretische Schlußfolgerung des Christentums, der Messias sei bereits gekommen und damit das Gesetz schon überwunden […].“9 Taubes befand sich mit dieser Darstellung im krassen Gegensatz zu seinem ostentativen Paulinismus gegen Ende seiner Lebenszeit. Doch wie kam der Sinneswandel zustande? Die Antwort liegt in Taubes‘ Gnostizismus. Sein Denken in Widersprüchen, oder besser: Dichotomien, unterscheidet sich fundamental von dem Hegels, weil jenes Synthese als radikale Negation begreift und die Versöhnung daher der Erlösung weichen muss. Ausgeführt hat Taubes diese Philosophie bereits 1947 in seinem Werk Abendländische Eschatologie.10 Darin macht er einen mystischen Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits auf, wobei der jüdische Messianismus Israel den „Ort der Revolution“ zuweise. Vergegenwärtigt man sich, wie heftig Taubes nur sechs Jahre später gegen den Antinomismus polemisieren sollte, dann verwundert zunächst, mit welcher Verve er in Abendländische Eschatologie gegen das rabbinische Judentum wetterte, das er als rein diesseitige – und d.h. konservative – Kraft darstellte. Bei genauerer Betrachtung jedoch wird klar, dass beide Schriften nicht in einem Gegensatz zueinander stehen, sondern sich ergänzen: Der legalistische Rabbinismus bildet logisch die Voraussetzung für den das Gesetz aufhebenden Messianismus, umgekehrt ist das Gesetz immer schon negativ auf den Gesetzesbruch verwiesen. Konservativismus und Revolution bilden somit laut Taubes zwei einander bedingende Lager innerhalb des Judentums. Damit erscheint es nur folgerichtig, dass Taubes Jahrzehnte später Paulus als Verkörperung des jüdischen Revolutionärs entdeckte. Alain Badious undialektischer Universalismus Er legte damit eine Spur, die sich durch sämtliche Paulus-Bücher der letzten Jahre zieht: Paulus als Urkommunist, der im doppelten Widerstand gegen das Imperium Rom und die Reformisten im eigenen Volk die Botschaft der universellen Befreiung verkündet. Dabei ist auffällig, wie sehr Rom und das 9 Taubes, Streitfrage, a.a.O., ebd. 10 Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie © WIDERSPRUCH 2012 [1947], München 1991. Münchner Zeitschrift für Philosophie Aufstand gegen das Gesetz 35 pharisäische bzw. entstehende rabbinische Judentum in der postmodernen Interpretation in eins gesetzt werden. Es erscheint dann so, als seien ausgerechnet das Imperium und die Juden Verbündete im Kampf gegen die Heiden gewesen, welche mittels der Macht des Gesetzes unterdrückt und an ihrer Befreiung behindert worden seien. Nichts ist der realen Geschichte der Beziehung von Römern und Juden ferner: Vielmehr stellten das römische und das jüdische Gesetz parallele, einander in vielerlei Hinsicht widersprechende Rechtssysteme dar, insbesondere was die Geltung des Gesetzes anbelangt.11 Die den Römern völlig unbekannte Rückführung des Gesetzes auf Gott – und zwar den einen Gott – versetzte die Juden in die Situation, den Römern Widerstand entgegensetzen zu müssen, wenn von ihnen verlangt wurde, anderen Göttern zu opfern. Als genau dies in den ersten Jahrzehnten christlicher Zeitrechnung mit der Einführung des Kaiserkultes in Jerusalem geschah, zettelten torahtreue Zeloten einen Aufstand gegen Rom an, der sich zum offenen Krieg auswuchs und mit der Zerstörung des zweiten Tempels bzw. der vollständigen Vertreibung der Juden aus Jerusalem endete.12 Die Zeloten, später auch die Aufständischen unter dem messianischen Führer Simon ben Kosiba, stellten somit das genaue Gegenteil der paulinisch-christlichen Strömung innerhalb des Judentums dar: Sie waren radikal antirömisch und zielten auf die Verteidigung des jüdischen Gesetzes ab, während Paulus in der Liebe „die Erfüllung des Gesetzes“ sah (also dessen Aufhebung) und Gehorsam gegenüber Rom forderte: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widersprechen, werden über sich ein Urteil empfangen.“13 Wenn also der Zeit-Rezensent, ganz wie seine Untersuchungsobjekte, die Gesetzeskritik des Paulus auf Rom bezieht, so liegt er damit völlig falsch. Ganz im Gegenteil: Der Gehorsam gegenüber Rom, dessen Gesetz auch noch 11 Es war niemand geringeres als Flavius Josephus, der in seinem Alterswerk Contra Apionem eine Synthese zwischen der jüdischen șİȠțȡĮIJȓĮ und dem römischen Imperium formulierte. Vgl. dazu den Aufsatz Peter Schäfers, der in Kürze in dem von Heinrich Meier und Friedrich Wilhelm Graf herausgegebenen Dokumentationsband der Veranstaltungsreihe „Politik und Religion“ der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung erscheinen wird. 12 Vgl. Monika Bernett, Der Kaiserkult in Judäa unter den Herodiern und Römern, Tübingen 2007. 13 Röm. 13, 1-2. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie 36 Philipp Lenhard mit göttlicher Autorität ausgestattet wird, kündigt bereits das spätere Bündnis von Kirche und Staat an. Während bei Paulus die antinomistische Revolte jedoch noch durch die pragmatische Haltung gegenüber Rom gemildert ist, wird er von seinen postmodernen Liebhabern vollends für die Apologie der Willkür instrumentalisiert, die sich, wie zu zeigen sein wird, hinter dem Wort der „Liebe“ verbirgt. Spricht man von „dem Judentum“ in der Zeit des zweiten Tempels, so sollte man sich gewahr sein, dass man es mit äußerst heterogenen Strömungen zu tun hat, die sich erst gegen Ende des 2. Jahrhunderts – also nach der Katastrophe – langsam zu dem entwickelten, was wir als rabbinisches Judentum kennen. Grundsätzlich lassen sich im vorrabbinischen Judentum torahtreue und antinomistische Gruppen unterscheiden, wobei sich insbesondere bei Jesus von Nazareth – aber auch noch bei Paulus – genau diese Auseinandersetzungen als ambivalente Haltung gegenüber der Geltung der torah bemerkbar machen.14 Postmoderne Paulus-Interpreten vereinseitigen diese Ambivalenzen, um aus Paulus genau jenen Antiimperialisten zu machen, den auch der Zeit-Rezensent so zielsicher ausfindig gemacht hat. Vor allem Alain Badiou tritt dabei abermals als heideggerisierender Maoist hervor, der den Universalismus des Seins gegen den jüdischen Partikularismus, der sich ans Seiende klammert, stark macht – mit den zu erwartenden politischen Konsequenzen, von denen unten noch die Rede sein wird. So abstrus das zunächst klingen mag – wenn man sich die eingangs zitierte antikapitalistische Invektive vergegenwärtigt, ereilt einen sofort das beklemmende Gefühl, dass Badiou mit seinem Unterfangen keineswegs auf einsamer Flur steht. Er bestimmt Pauli Botschaft in doppelter Hinsicht: „1. Was uns rettet, ist der Glaube, nicht die Werke. 2. Wir sind nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.“15 Akzeptiert man diese Interpretation, dann muss man sich nur noch Badious Theorie von der „Treue zum Ereignis” vergegenwärtigen und hat sofort den kommunistischurchristlichen Führer vor Augen, um den es Badiou geht. Denn Paulus habe eine „gewaltige Zäsur“16 eingeleitet – die Gründung des Universalismus –, ein „reine[s] Ereignis“17. Ein solches Ereignis ist seinem Hauptwerk 14 Vgl. dazu Hubert Frankemölle, Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte, Verlauf, Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.), Stuttgart 2006, besonders 2336 und 119-144. 15 Alain Badiou, Paulus: Die Begründung des Universalismus, München 2002, 75. 16 Badiou, Paulus, a.a.O., 131. 17 Badiou, Paulus, a.a.O., 131. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie Aufstand gegen das Gesetz 37 Das Sein und das Ereignis gemäß eine Situation, in der sich ein revolutionäres Subjekt konstituiert, indem es die Identität der Ordnung aufbricht (eine „Zwei“ bildet) und damit den als ontologisch gefassten Mangel artikuliert.18 Badious revolutionäres Subjekt ist ein permanentes, das weniger an Trotzki als vielmehr an Maos Kulturrevolution angelehnt ist und seine besondere Kraft aus der Fähigkeit bezieht, jeden ins Kollektiv integrieren zu können, der bereit ist, gegen die Usurpatoren der Politik (im üblichen Sprachgebrauch: des Politischen) zu kämpfen. Was vom Einzelnen gefordert wird, ist die „Treue zum Ereignis“, also die bedingungslose Vereidigung auf die Gemeinschaft. Ins Politische übersetzt bedeutet das: „Der Gehorsam gegen den Gemeinwillen ist der Modus, in dem sich die bürgerliche Freiheit realisiert.“19 Die Struktur des Ereignisses ist universell, d.h. umgekehrt: gegen das Partikuläre gerichtet, das nur dann eine Berechtigung hat, wenn es eine „Zwei“ bildet, aus der eine neue „Eins“ hervorgeht. Diese scheinbare Überwindung des Heideggerschen Essenzialismus begreift zwar das Sein als ontologisch Mangelhaftes im Sinne Jacques Lacans20, löst es aber in einen ewigen Kampf auf, der niemals in einer Versöhnung der Widersprüche seine Ruhe finden darf. Damit ist klar, dass es ein „auserwähltes Volk“, das sich auf eine Besonderheit gründet, die nicht unmittelbar in ein Allgemeines verwandelt werden kann, nicht geben darf. Der urbürgerliche Gedanke der Toleranz ist Badiou suspekt. Toleranz, also die Duldung des Anderen – die, von der Souveränität aus gedacht, freilich immer vorbehaltlich ihrer situativen Rücknahme ausgesprochen wird –, kann es für einen Philosophen nicht geben, der im Namen der unterdrückten Massen zu sprechen meint. Und so richtet sich Badiou nach einem anfänglichen Lob einer „totalen Indifferenz gegenüber den Differenzen“ auch gegen die Differenzen, welche „durchquert werden [müssen], damit sich die Universalität selbst aufbaut“21. Überträgt man Badious Theorie des Ereignisses auf Paulus – vollzieht also das nach, was er selbst gemacht hat –, dann stellt sich die Auferstehung Christi als Ereignis der „Zwei“ dar, das durch Paulus zu einer Revolution 18 Vgl. Niklaas Machunsky, Alain Badiou – Meisterdenker des Ausnahmezustands. Krisenbewältigung als Lebensgefühl, in: Prodomo, Nr. 7 (2007), 37. 19 Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis [1988], Berlin 2005, 390. 20 Vgl. Robert Bösch, Über eine Theorie des Mangels. Zur Psychoanalyse von Jacques Lacan 1, in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft, Nr. 21/22 (1998), 137-190. 21 Badiou, Paulus, a.a.O., 182-184. Agamben liegt also mit seiner Kritik an Badious vermeintlicher Toleranz völlig daneben. Vgl. Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/Main 2006, 64 f. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie 38 Philipp Lenhard ausgeweitet wurde, weil er es zum Anlass nahm, gegen die herrschende Ordnung zu kämpfen und eine universalistische Bewegung zu gründen. Badiou will einem „Mann gerecht … werden, der ... ganz allein eine kulturelle Revolution ausgelöst hat, von der wir immer noch abhängen.“22 Und wie hat er das laut Badiou geschafft? „Letztlich aber lehrt uns Paulus selbst, dass es weder auf die Zeichen der Macht noch auf exemplarische Lebensläufe ankommt, sondern darauf, wozu eine Überzeugung imstande ist – hier, jetzt und für immer.“ Hier kommt Badious oben zitierte Definition der Lehre Pauli wieder ins Spiel: Nicht gute Taten, der Glaube sei das Entscheidende; der Glaube an die universelle Mission, die das Partikulare, das gegen den Gemeinwillen verstößt, auszumerzen trachtet. Was aber ist dieses Partikulare anderes als das Judentum, das darauf beharrt, durch den Bund mit Gott ein auserwähltes Volk zu sein und sich dadurch von der übrigen Menschheit abzuheben? Folgt man Badious Argumentation, dann bilden die Juden ein elitäres Kollektiv, das die Heiden ausschließt, weshalb Paulus sie zur revolutionären Gemeinschaft formte, die gegen die „Herrschaft“ Sturm lief. Insofern das Judentum durch die Anerkennung des Gesetzes charakterisiert war, habe das Ereignis notwendig in einem antinomistischen Aufstand gemündet. Und dieser Aufstand sei auch ein Vorbild für die gegenwärtige Epoche, die von rechtsförmig verfassten Souveränen beherrscht wird, welche permanent gegen den „Gemeinwillen“ verstoßen. Dass das Gesetz in einer Gesellschaft, der das Hauen und Stechen qua innerer Logik eingeschrieben ist, auch dann noch als Statthalter von Humanität gelten kann, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es zugleich den Ausschluss aller vom gesellschaftlichen Reichtum kodifiziert, kommt Badiou nicht einmal in den Sinn. Denn es geht ihm gar nicht um eine materialistische Kritik des Rechts, deren Fluchtpunkt nicht die bloße Negation des Gesetzes, sondern nur die Einrichtung einer vernünftigen Gesellschaft sein kann.23 Stattdessen propagiert er den ewigen Kampf gegen die „Eins“ und eskaliert damit den alltäglichen Konkurrenzkampf zum wahnhaften Krieg der Präkarisierten gegen den Staat, der nurmehr als Usurpator der Politik wahrgenommen wird – ganz so, wie Apologeten einer „direkten Demokratie“ 22 23 Badiou, Paulus, a.a.O., 31. Das hat der Materialismus mit bestimmten – nicht-apokalyptischen – Spielarten des Messianismus gemein. Zu Badious Konzeption der volonté générale vgl. Niklaas Machunsky, Politik gegen das Politische, Arbeiter gegen Israel. Alain Badiou und der Universalismus, In: Alex Gruber/Philipp Lenhard (Hg), Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft, Freiburg i. B. 2011, 229-238. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie Aufstand gegen das Gesetz 39 der abstrakten, hochgradig vermittelten Souveränität die konkrete Volksmacht gegenüberstellen. Ihnen ist es dabei nicht um Freiheit und Glückseligkeit des Individuums zu tun, sondern um die Herstellung einer egalitären Gemeinschaft, in der noch jeder Rest von Vermittlung – und d.h. Freiheit – ausgetilgt ist. Und hier liegt auch der Grundstein für den „Universalismus“ Badious. Giorgio Agambens messianisches Konzentrationslager Giorgio Agamben ist immer unendlich gescheiter als Badiou, und deshalb beinhaltet sein Paulus-Buch Die Zeit, die bleibt auch durchaus anregende Gedanken, die über den letztlich banalen Universalismus des französischen Meisterdenkers hinausgehen. Insbesondere Agambens philologische Detailanalyse hilft durchaus, den Römerbrief in seinem sprachlichen und zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen. Allerdings belässt er es wie immer nicht bei der Philologie, sondern diese bildet das Fundament für ins Kraut schießende Spekulationen, die des Autors anarchistische Ontologie bestätigen sollen. Agambens Benjamin-Affinität ist bekannt, und so nimmt es nicht wunder, dass wieder einmal Benjamins Forderung nach dem „wirklichen Ausnahmezustand“ dafür herhalten muss, dass die Eschatologie des Römerbriefes mit dem jüdischen Messianismus und einer kommunistischen Revolutionstheorie zusammengekleistert wird. Benjamin, der sich nicht mehr wehren kann, hatte vor Auschwitz jenen „wirklichen Ausnahmezustand“ herbeigesehnt, der „unsere Position im Kampf gegen den Faschismus“ verbessere.24 Anders als heutigen Schmitt-Fans war Benjamin, der immerhin in der Weimarer Republik politisiert wurde, vollkommen klar, dass Carl Schmitts Begriff des Politischen eine konterrevolutionäre Schrift darstellt, die direkt gegen die sozialistischen und kommunistischen Revolutionäre verfasst wurde. Wenn Benjamin den Begriff „Ausnahmezustand“ benutzt, dann meint er damit eine radikale Umwälzung der Gesellschaft, kein mystisches Ereignis.25 Ohne Frage verwendet Benjamin bisweilen Begriffe, die aus der messianisch-jüdischen Tradition stammen, aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es sich hierbei – sehr zum Leidwesen Gershom Scholems übrigens – um Metaphern und Denkfiguren 24 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/Main 1977, 254 f. 25 Dem „wirklichen“ Ausnahmezustand stellt er den alltäglichen Ausnahmezustand gegenüber, der die permanente Katastrophe bezeichnet, die der Kapitalismus für die Individuen bedeutet. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie 40 Philipp Lenhard handelte, die im Banne des Bilderverbots die Bedingungen für allgemeinmenschliche Befreiung ausloten helfen sollten. Benjamin ergreift eindeutig die Partei des „historischen Materialismus“26 – gegen Sozialdemokratie und Vulgärmarxismus einerseits, den Faschismus andererseits. Wie nun geht Agamben in Die Zeit, die bleibt mit Benjamins Begriff des Ausnahmezustandes um? Er macht ohne viel Federlesens aus der Revolutionstheorie im Moment ihres Scheiterns eine „messianische Geschichtskonzeption“27. Und das ermöglicht es ihm, Benjamin mit Paulus zusammenzubringen: Die „Thesen [d.i. Benjamin] und die Briefe [d.i. Paulus]“ seien die „beiden höchsten messianischen Texte unserer Tradition, die zweitausend Jahre voneinander trennen und die beide in einer radikal krisenhaften Situation niedergeschrieben wurden“, und diese bildeten eine Konstellation, „die aus einigen Gründen – über die nachzudenken ich Sie anregen möchte – gerade heute das Jetzt ihrer Lesbarkeit erfährt.“28 Demnach befinden wir uns heute in der Situation, dass das paulinische Ereignis „lesbar“, „erkennbar“ wird. Pauli Botschaft sei nicht nur mit der Vergangenheit, sondern im gleichen Maße mit der Gegenwart verbunden. Was so wichtig und tiefschürfend klingt, ist allerdings bei näherer Betrachtung nichts weniger als die Ineinssetzung von einer Revolution, die vor Hunger, Angst und Tod bewahrt, und einem Aufstand gegen das Gesetz, welches in einer unversöhnten Gesellschaft das Bessere repräsentiert, weil es die Menschen davor bewahrt, aufeinander loszugehen. Der absolut unkommensurable Ausnahmezustand Benjamins und Pauli wird von Agamben arglos miteinander identifiziert, um im messianischen Nebel die differentia specifica verschwinden zu lassen: wogegen nämlich der Aufstand sich richtet. Noch absurder wird es, wenn man einbezieht, was Agamben über Carl Schmitt schreibt, den er ebenfalls als Interpreten des messianischen Ereignisses verwursten will und insofern auch dem Bestand messianischer Literatur von Paulus bis Benjamin zuordnet. Zwar stelle Schmitt „seine Konzeption von Gesetz und souveräner Macht … in eine ausdrücklich antimessianische Konstellation“, aber er könne es trotzdem nicht vermeiden, „genuin messianische theologoúmena in seine Argumentation einzuführen“29. Es folgt eine Explikation des Schmittschen Begriffs des Ausnahmezustandes, 26 27 28 29 Benjamin, Geschichte, a.a.O., 251, 253, 254, 259, 260. Agamben, Zeit, a.a.O., 158. Agamben, Zeit, a.a.O., 162. (Hervorh. i. O.) Agamben, Zeit, a.a.O., 118. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie Aufstand gegen das Gesetz 41 in dem es nicht möglich sei, zwischen Befolgung und Verletzung des Gesetzes zu entscheiden, weil dieses „nur in Form der eigenen Aufhebung in Kraft“ sei – womit der Ausnahmezustand exakt dem entspricht, was aus Agambens Sicht auch das messianische Ereignis der Auferstehung kennzeichnet: die Aufhebung des Gesetzes als Überschreitung des Gesetzes. „Wer im messianischen Gesetz ist, ist nicht-nicht im Gesetz.“30 Oder: „Das messianische Gesetz ist das Gesetz des Glaubens und nicht einfach die Negation des Gesetzes: Das bedeutet aber nicht, daß die alten Miswoth durch neue Gebote ersetzt werden müßten – es geht vielmehr darum, der normativen Vorstellung vom Gesetz mit einer nichtnormativen Vorstellung zu begegnen.“31 Ein nichtnormatives Gesetz – was mag das sein? Anhand seiner Diskussion des Schmittschen Ausnahmezustandes wird das ganz deutlich: „Es gehört zur Unausführbarkeit der Regel dazu, daß das Gesetz im Ausnahmezustand absolut unformulierbar ist. Es besitzt nicht mehr – oder noch nicht – die Form einer Vorschrift oder eines Verbots. Die Unformulierbarkeit muß hier buchstäblich verstanden werden. Man denke an den Ausnahmezustand in seiner extremsten Form, wie er in Deutschland am 28. Februar 1933, d. h. kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialistische Partei, mit der ‚Verordnung zum Schutz von Volk und Staat‘ herbeigeführt wurde. Die Verordnung hält einfach fest: ‚Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reiches werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt‘ (de facto ist diese Verordnung für die ganze Dauer des Naziregimes in Kraft geblieben). Diese lakonische Äußerung befiehlt nichts und verbietet auch nichts. Aber sie macht es durch die einfache Aufhebung der die persönliche Freiheit betreffenden Verfassungsartikel unmöglich zu wissen oder zu sagen, was gesetzeskonform und was gesetzeswidrig ist. Die Konzentrationslager, in denen alles möglich wird, entstehen in diesem durch die Unformulierbarkeit des Gesetzes geöffneten Raum. Das bedeutet, daß sich das Gesetz im Ausnahmezustand nicht als neue Regel konfiguriert, die neue Verbote und neue Pflichten festlegt, vielmehr agiert es einzig durch seine Unformulierbarkeit. Vergleichen wir nun diese dreifache Deklination des Gesetzes im Ausnahmezustand mit dem Zustand des Gesetzes in der messianischen katárgesis.“32 Es war zu erwarten, dass im angekündigten Vergleich herauskommt, dass das 30 31 32 Agamben, Zeit, a.a.O., 63. Agamben, Zeit, a.a.O., 109. Agamben, Zeit, a.a.O., 119 f. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie 42 Philipp Lenhard Konzentrationslager und das messianische Ereignis eigentlich dasselbe Verhältnis zum Gesetz aufweisen. Dieser Befund bringt Agamben jedoch keinesfalls dazu, dem Aufstand gegen das Gesetz irgendwie skeptisch gegenüberzustehen. Angesichts einer solchen Konzeption des messianischen Ereignisses, die die Differenz von Auferstehung und KZ nicht auseinanderhalten kann, muss man Agambens tadelnde Beurteilung der Kritischen Theorie als Lob verstehen: „Die negative Dialektik ist – dem Anschein zum Trotz – ein absolut nichtmessianisches Denken. Sie steht der Gefühlstonart [!] Jean Amérys näher als derjenigen Benjamins.“33 Žižeks jüdisches Ur-Verbrechen Der Dritte im Bunde, Slavoj Žižek, steht ebenfalls nicht im Verdacht, Adorno zu verstehen. Er macht das in seinem Buch Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen schon im ersten Kapitel klar. Da heißt es beispielsweise, Heidegger, Adorno und Horkheimer hätten „den irren kapitalistischen Tanz der sich selbst steigernden Produktivität als Ausdruck eines fundamentaleren transzendental-ontologischen Prinzips“ begriffen, und führt dafür ausgerechnet den Begriff der „instrumentellen Vernunft“ an, der in der Kritischen Theorie (einschließlich Heidegger, was auch immer das bedeuten mag) nichts mit einer „konkreten sozialen Formation“ zu tun habe.34 Man lese, nur als Abgleich mit der Empirie, den vierten Satz in Horkheimers Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: „Hier ist es das Ziel, den Begriff der Rationalität zu untersuchen, der gegenwärtiger industrieller Kultur zugrunde liegt.“35 Man ist geneigt, ein Buch, das offenkundig von einem Scharlatan geschrieben ist, sofort wegzulegen – wenn dieser Scharlatan nicht weithin als bedeutender Philosoph anerkannt wäre und ihm nicht Tausende als Leser und Zuhörer lauschen würden. Nichtsdestotrotz bleibt die Lektüre ärgerlich, weil den aufmerksamen Konsumenten das Gefühl nicht verlässt, permanent betrogen zu werden. Einige weitere Beispiele: „Im frühchristlichen Diskurs wurde der Augustinsche Begriff des Körpers … durch eine andere Logik ersetzt, nämlich die der Asketen/Märtyrer (der Märtyrer: ein Zeuge, der durch sein Leiden die Wahrheit 33 34 Agamben, Zeit, a.a.O., 50. Slavoj Zizek, Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, Berlin 2000, 17. 35 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/Main 1985, 13. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie Aufstand gegen das Gesetz 43 Gottes bezeugt).“36 Unter Frühchristentum versteht man gewöhnlich die Epoche, bevor das Christentum römische Staatsreligion wurde, jedenfalls ganz sicher nicht die Zeit nach dem Tod des Heiligen Augustinus im Jahr 430. Ähnlich drückt sich Žižeks Ahnungslosigkeit an einer Stelle aus, wo er Petrus und Paulus verwechselt, indem er ausgerechnet Letzteren mit der „Institutionalisierung der Kirche“ identifiziert.37 Und auch auf nichtreligiösem Gebiet, nämlich bei Marx, hat der sich ständig als leninistischer Intellektueller inszenierende Žižek nicht den blassesten Schimmer. So schiebt er Marx – wie um zu zeigen, dass es tatsächlich so etwas wie einen Vulgärstalinismus geben kann – einen Begriff von Kommunismus unter, der in einer „Gesellschaft reiner ungezügelter Produktivität“ bestehen soll.38 Diesen Unsinn kann nur teilen, wer mit Žižek der Meinung ist, dass man sich Marx nicht „unter Umgehung Lenins“ zuwenden kann.39 Und ohne Heidegger geht es offenbar auch nicht: So lässt der große Marxist Žižek den Leser wissen, „daß der kapitalistische Exzeß sich nicht auf der ontischen Ebene einer bestimmten Gesellschaftsorganisation erklären läßt“40 – also doch nur auf einer ontologischen, die er doch eigentlich Adorno und Horkheimer untermogeln wollte. Wie dem auch sei: Angesichts dieser Fülle von pseudophilosophischen Beliebigkeiten ist es schwierig genug, die Kernaussage der Žižekschen Paulus-Interpretation zu extrapolieren, und es besteht immer die Gefahr, mehr Logik in die Argumentation zu projizieren als sie eigentlich aufweist. Die erste Bemerkung, die an dieser Stelle zu machen ist, lautet, dass Žižek, anders als Agamben und Badiou, kein Paulus-Buch geschrieben hat, sondern sich in insgesamt drei Monographien auch mit Paulus beschäftigt hat. Neben Die gnadenlose Liebe und Die Puppe und der Zwerg – Das Christentum zwischen Perversion und Subversion wird insbesondere in Das fragile Absolute die Beschäftigung mit Paulus gesucht. 41 Insofern das letztere Buch dabei am systematischsten vorgeht, sei die Kritik an ihm entfaltet. Für Žižek, mehr noch als für Badiou, ist das paulinische Christentum die Antithese des Judentums: „Das Judentum, mit seiner ‚hartnäckigen Bin36 37 38 39 40 41 Zizek, Absolute, a.a.O., 29. Zizek, Absolute, a.a.O., 6. Zizek, Absolute, a.a.O., 19. Zizek, Absolute, a.a.O., 6. Zizek, Absolute, a.a.O., 17. Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt/Main 2001; Slavoj Zizek, Die Puppe und der Zwerg – Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt/Main 2003. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie 44 Philipp Lenhard dung‘ an die uneingestandene gewaltsame Gründungsgeste, welche die Rechtsordnung als ihr gespenstisches Supplement verfolgt, ist nicht nur in sich selbst gespalten zwischen einer ‚öffentlichen‘ Seite des symbolischen Gesetzes und seiner obszönen Kehrseite – der ‚virtuellen‘ Erzählung von dem nicht wiedergutzumachenden Exzeß der Gewalt, der die Herrschaft des Gesetzes etablierte –, sondern diese Spaltung ist zugleich die zwischen Judentum und Christentum.“ Das Christentum sei also durchaus aus dem Judentum hervorgegangen, bilde aber gewissermaßen dessen bessere Hälfte, insofern es das „Ur-Verbrechen“ der Juden denunziere.42 Was ist mit diesem „Ur-Verbrechen“ gemeint? Auch wenn das Wort „Bindung“ eigentlich an die Nichtopferung Isaaks im Buch Genesis gemahnen müsste, ist davon auszugehen, dass Žižek so wenig mit dem Hebräischen vertraut ist, dass er hier wieder einmal völlig sinnlos von einem Wort Gebrauch macht, das er nicht versteht. Denn er meint etwas anderes: Freuds These, dass die Hebräer Moses getötet haben, weil sie dessen bilderlosem Monotheismus nicht gewachsen waren.43 Im Anschluss an diese These schreibt Freud über Paulus: „Es ist eine ansprechende Vermutung, daß die Reue um den Mord an Moses den Antrieb zur Wunschphantasie vom Messias gab, der wiederkommen und seinem Volk die Erlösung und die versprochene Weltherrschaft bringen sollte. Wenn Moses dieser erste Messias war, dann ist Christus sein Ersatzmann und Nachfolger geworden, dann konnte auch Paulus mit einer gewissen historischen Berechtigung den Völkern zurufen: Sehet, der Messias ist wirklich gekommen, er ist ja vor euren Augen hingemordet worden... Das arme jüdische Volk, das mit gewohnter Hartnäckigkeit den Mord am Vater zu verleugnen fortfuhr, hat im Laufe der Zeiten schwer dafür gebüßt. Es wurde ihm immer wieder vorgehalten: Ihr habt unseren Gott getötet. Und dieser Vorwurf hat recht, wenn man ihn richtig übersetzt.“44 Aber eben diese Übersetzung, die darin besteht, dass diejenigen, welche die Gottestötung in Form der Schuldzuweisung an die Juden aussprechen, sich durch diese Aussprache als entsühnt wahrnehmen, will Žižek nicht als Prinzip des Christentums akzeptieren. Denn für ihn ist es unmöglich, mit dem Trauma dieses Verbrechens „zu Rande kommen“ zu können.45 Paulus ist für ihn derjenige, der die „Verquickung des Gesetzes und 42 43 Zizek, Absolute, a.a.O., S. 125f. Vgl. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XVI: Werke aus den Jahren 1932-1939, Frankfurt/Main 1999, 148 f, 208. 44 Freud, Moses, a.a.O., 196. 45 Zizek, Absolute, a.a.O., 126. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie Aufstand gegen das Gesetz 45 seines gespenstischen Doubles“ genau dadurch überschreitet, dass er im Begriff der Liebe (agape) das Gesetz für tot erklärt.46 Er stimmt also mit Agamben und Badiou darin überein, dass der Aufstand gegen das Gesetz das Kennzeichen der paulinischen Theologie ist, nur ergänzt er, dass mit der Geltung des Gesetzes notwendig dessen gewalttätige Genesis verbunden ist. Das Christentum ist aus dieser Perspektive jene Religion, welche „den Teufelskreis[.] von Gesetz und Überschreitung“ überwunden hat, der das Judentum noch immer kennzeichne.47 Erst durch diese Überschreitung wäre auch eine besondere Form des Universalismus möglich, in der „jedes Individuum unmittelbaren Zugang zur Universalität (des Nirwanas, des Heiligen Geistes, der Rechte und Freiheiten des Menschen)“ habe.48 Diesem Universalismus stehe eine Konzeption gegenüber, die am Begriff des Volkes festhält und den Einzelnen diesem subsumiert. Paulus aber stehe dafür, diese „ethnische ‚Substanz‘“ abzulehnen und ihr mit „Geringachtung“ zu begegnen: „Für einen Christen gibt es weder Männer noch Frauen, weder Juden noch Griechen.“49 Das Problem für einen solchen Universalismus ist nur: Was passiert, wenn sich ein Volk dieser abstrakten Gleichheit nicht fügen will und auf seiner Besonderheit besteht? Jeder, der verfolgt, was Slavoj Žižek in der Tagespresse regelmäßig zum Besten gibt, wenn es um den Staat Israel geht, der angeblich den Gazastreifen zusehends in „das größte Konzentrationslager der Welt“ verwandele und das Westjordanland „palästinenser-rein“ machen wolle50, wird nicht erstaunt sein zu hören, dass sich auch hinter Žižeks Paulusbegeisterung ein notdürftig ‚historisierter‘ Hass auf den Zionismus verbirgt: „Es verwundert daher nicht, daß sowohl diejenigen, die sich mit der jüdischen ‚nationalen Substanz‘ identifizierten, als auch die griechischen Philosophen und die Befürworter des globalen Römischen Reiches das Auftreten Christi als lächerlichen und/oder traumatischen Skandal empfanden.“51 46 47 48 49 50 Zizek, Absolute, a.a.O., 127. Zizek, Absolute, a.a.O., 128. Zizek, Absolute, a.a.O., 131. Zizek, Absolute, a.a.O., 131. Slavoj Zizek, Was passiert, wenn nichts passiert, In: Frankfurter Rundschau vom 26. August 2009. 51 Zizek, Absolute, a.a.O., 131. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie 46 Philipp Lenhard Die Unmöglichkeit des Neopaulinismus Es scheint fast so zu sein, dass jeder Versuch, sich Paulus heute unmittelbar anzueignen – also ohne eine Reflexion auf dessen Scheitern nach dem Ausbleiben der Parusie – im Antisemitismus mündet. Um diese These zu erhärten, wäre es sicher angezeigt, sie auch an anderen als postmodernen Paulus-Interpretationen auszuweisen, weshalb sie in ihrer Pauschalität zunächst Hypothese bleiben muss. Und doch ist bemerkenswert, wie sehr sich die genannten Autoren um die Erkenntnis herumdrücken, dass die bestehende Gesellschaft, die sie doch sonst so wortreich verteufeln, weiterhin eine unversöhnte ist. Das bedeutet, auf die Ebene der Theologie übertragen, dass der Messias offenkundig noch nicht gekommen ist, weshalb die Geltung des Gesetzes – und das mosaische Gesetz ist dessen Urbild – weiterhin ein Gebot der Vernunft ist. Kritische Theorie der Gesellschaft und der muntere große Sprung nach vorn, welcher sich heute auf die fröhliche Wissenschaft eines Martin Heidegger bezieht, sind nicht nur vollkommen inkompatibel miteinander, sondern von ihrer ganzen Anlage her gegensätzlich: Geht die kritische Theorie vom falschen Ganzen aus und betrachtet gerade in dieser strengen Negativität die Dinge so, „wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten“52, setzt der Neopaulinismus auf den Triumph des Willens und akzeptiert keinerlei Grenzen außerhalb des eigenen narzisstischen Programms. Angesichts der Persistenz des Antisemitismus die Herrschaft des Menschen über den Menschen dadurch aufheben zu wollen, dass man im Namen eines abstrakten Universalismus die Menschen zur willkürlichen Jagd auf die Nichtdazugehörigen ermutigt – die „halsstarrigen Juden“ (Martin Luther) –, kann nur heißen, dass sich die postmoderne Linke näher am Umschlag in die Barbarei befindet als ihr vermutlich selbst bewusst ist. 52 Theodor W. Adorno, Zum Ende, in: ders., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main 1985, 333. © WIDERSPRUCH 2012 Münchner Zeitschrift für Philosophie