Felix Biermann, Matthias Müller
und Christofer Herrmann (Hrsg.)
CASTELLA MARIS BALTICI VII
Beiträge der Tagung
"Die Stadt als Burg. Architektur-, rechts- und
sozialhistorische Aspekte befestigter Städte im Ostsee
raum vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit",
03 .-06. September 2003 in Greifswald
GREIFSWALD 2006
Herrmann: Burgensymbolik im Rathausbau des Deutschordenslandes
51
Christofer Hemnann
BURGENSYMBOLIK IM
RATHAUSBAU DES
DEUTSCHORDENSLANDS
PREUSSEN (THORN,
MARIENBURG)
Castles as models for medieval town halls in Prussia (Thorn/Torun, Marienburg/Malbork)
The architecture of two town halls in medieval
Prussia show a close relation to the style ofthe castles
of the Teutonic Order. The town hall in Thorn, newly
erected in 1393, has four wings and a rectangular inner
courtyard. This was one of the characteristic elements
of the great convent castles of the Teutonic Order. The
Christo/er Herrmann
Barlqg 82d
10-693 Olsztyn, Polen
town hall in Marienburg, erected between the years
1390/1400, has many features corning directly from the
Grand Masters Palace in Marienburg. \¼ can assurne
that the master builder of the palace also designed the
town hall.
52
D
ie Rathäuser des Preußenlands präsentierten
sich als recht einheitliche Architekturgruppe.
Üblicherweise handelte es sich um einen unterkellerten Saalgeschossbau über längsrechteckigem
Grundriss. Glockentürme kamen fast nie vor, stattdessen war die Ratsglocke in einem Dachreiter aufgehängt.
Die meisten Rathäuser standen in der Mitte des Marktes, oft umgeben von Hakenbuden (Abb. 1). Diese waren jedoch nicht immer von Anfang an vorgesehen. So
verdeckten die Anbauten in Braunsberg die mittelalterlichen Fenster des Erdgeschosses. Eine kleine Gruppe
von Rathausbauten reihte sich in die Zeile der am Markt
stehenden Bürgerhäuser ein. Dies war dann der Fall,
wenn die Stadt an Stelle eines großen Marktplatzes nur
eine lang gestreckte und verbreiterte Marktstraße hatte, so in Elbing (vom mittelalterlichen Rathaus sind nur
die Fundamente erhalten), Marienburg und Preußisch
Holland. Diese randständigen Rathäuser besaßen zur
Marktseite hin eine Laube und setzten sich dadurch architektonisch von den angrenzenden Bürgerhäusern ab.
Die in der Marktmitte stehenden Rathäuser waren nur
in Ausnahmefällen mit einer Laube ausgestattet; überliefert ist dies lediglich für Braunsberg (vgl. Lutterberg
1942). Das Erdgeschoss diente als Zeughaus, Kauf- oder
Tuchhalle. Das Obergeschoss erfüllte die Rats- und Gerichtsfunktion, wobei es gewöhnlich einen großen und
kleinen Saal gab. Der Zugang erfolgte üblicherweise
durch Portale an den Schmalseiten. Tm Erdgeschoss gab
es meist nur kleine Fenster. An den Längsseiten konnte
Castella Maris Baltici Vif
sogar auf Öffnungen verzichtet werden, wenn dort von
Anfang an der Anbau größerer Hakenbuden vorgesehen
war. Das Obergeschoss zeigte demgegenüber große, oft
regelmäßig angeordnete Fensterreihen. Der erhöhte
Raumbedarf führte in Thorn - sowohl beim ersten Bau
des Altstädter als auch beim Neustädter Rathaus - zur
En'ichtung eines zweiten, niedrigeren und parallel zum
Hauptbau verlaufenden Flügels. Die zwei Rathaustltigel waren durch Mauern miteinander verbunden, so dass
zwischen ihnen noch ein Innenhof entstand (Abb. 2).
Im Äußeren waren die preußischen Rathäuser sehr
zurückhaltend gegliedert. Nur die profilierten Hauptportale an den Schmalseiten und die regelmäßige Anordnung der Fenster im Obergeschoss setzten gestalterische
Akzente. Blendengliederung und Zinnenkranz gab es nur
bei den (auch ansonsten außergewöhnlichen) Rathäusern in Thorn/Altstadt - J1ier ist die Rekonstruktion eines Zinnenkranzes jedoch nur hypothetisch - und Marienburg. Strebepfeiler fanden sich an den beiden '.orlauben in Preußisch Holland und Braunsberg. Glasierte
Backsteine kamen ebenso wenig vor wie die bei vielen
Burgen und Kirchen beliebten Muster aus schwarzen
Köpfen. Eine gewisse Schmuckfreude zeigten lediglich
die Schaugiebel an den Schmalseiten der Rathäuser.
Durch diese ,spartanische' Gmndhaltung unterschieden
sich die preußischen Bauten in auffälliger \\leise von
vielen anderen Rathäusern im Ostseeraum.
Der unterkellerte Saalgeschossbau findet sich als
Standardtypus von Rathäusern auch bei den meisten
Abb. 1. Wormditt,
Rathaus. Ein typischer preußischer Rathausbau aus dem späten 14. Jh. Foto C.
Herrmann l 999
Herrmann: Burgensymbolik im Rathausbau des Deutschordenslandes
53
Abb. 2. Thorn, Altstädtisches Rathaus. Rekonstruktion
des zweiflügeligen Baus vom Ende des 13. Jhs. Nach
Gqsiorowski 1971
Städten des Ostseeraums - gut erhaltene Beispiele gibt
es in Cammin, Königsberg/Neumark, Stargard, Stettin
und Reval ~ und weit darüber hinaus (vgl. Zlat 1997).
Es handelt sich um ein allgemein verbreitetes Grundmodell. Daher dürfte die Ermittlung von möglichen konkreten \brbildern sehr schwer fallen. Ab dem Zeitpunkt
Abb. 3. Thorn, Altstädtisches Rathaus.
Ansicht von Südosten.
Foto Grimm 1940/44;
Herder-Institut, Bildarchiv
der Etablierung dieses Rathaustyps im Preußenland ist
mit der Rezeption fremder \brbilder ohnehin nicht mehr
zu rechnen. Zusätzliche Elemente, wie Belfried und
Schildgiebel, fanden dagegen - mit einer Ausnahme keinen Eingang in die preußische Rathausarchitektur.
Man beschränkte sich auf das Grundmodell ohne besondere zusätzliche Ausstattung oder dekorative Umkleidung.
Die Ausnahme ist der 1393 (bis auf den Turm und
einige Mauerpartien des Ostflügels) abgerissene erste
Rathaus bau der Thorner Altstadt. Er besaß im Westen
und Osten zwei parallel verlaufende Flügel, die an der
Südseite durch eine blendengegliederte Schauwand
miteinander verbunden waren. Dafür gibt es etwas
voneinander abweichende Rekonstruktionsversucbe
(vgl. Gmber 1940,Abb. 64; Gclsiorowski 1974:63). Diese
grundlegenden Merkmale verweisen auf\brbilder der
großen Hansestädte im Ostseeraum, insbesondere Lübecks und Stralsunds. Der in der südöstlichen Ecke stehende Belfried (Abb. 2, 3) hingegen geht aufAnregungen aus Flandern zurück, ohne dass jedoch mit Bestimmtheit ein genaues \brbild genannt werden könn-
54
Castella Maris Baltici VII
Abb. 4. Thorn, Altstädtisches Rathaus. Grundriss des
Erdgeschosses. Zeichnung C. Herrmann
®
10m
e.
um 4 . Viertel
13.Jh.
~
1393·99
te. und auch die Stellung in der Ecke ist nicht flandrisch). Aufgrund der Handelsbeziehungen käme hier
insbesondere Brügge in Frage (G<1,siorowski 197 1:39).
Das Thomer Rathaus blieb jedoch ohne Nachwirkun-
gen im Preußenland. Lediglich in der Thomer Neustadt
errichtete man ebenfalls zwei parallel liegende Flügel.
Belfried und Schauwand kommen im eigentlichen Preußenland nirgends sonst mehr vor. Nur in Danzig treten
diese Elemente nochmals in Erscheinung, hier jedoch
deutlich später als in Thom. Dies unterstreicht die Exklusivit11t der Thomer Rathausarchitektur, in der sich
zwei unterschiedliche Bautraditionen vereinten.
Eine besondere Beziehung des für die meisten
Rathäuser üblichen Typs des Saalgeschossbaus zur Burgenarchitektur des Deutschen Ordens ist nicht zwingend; der Saalgeschossbau war schließlich in vielen Regionen Europas Ublich, ohne dass dort ein Bezug zur
Burgenarchitektur hergestellt werden kann. Gewisse
Ähnlichkeiten zum Erscheinungsbild der großen Burghäuser bestehen aber durchaus. Dies zeigt etwa die Gegenüberstellung der Rathäuser von \\brmditt und Mohrungen mit den Deutschordensburgen in Soldau und
Bäslack, Die Rathäuser besaßen allerdings kein zweites Obergeschoss mit \Vehrfunktion. Insbesondere die
einfache Außengestaltung verbindet die landesweit etablierte Rathausarchitektur des Preußenlands mit dem
Burgenbau des Deutschen Ordens. Der andernorts bei
den Rathäusern anzutreffende reiche Zierrat der Giebel
und Schaufassaden, wie hervorragende Beispiele in
Abb. 5. Marienburg, Hofteite des Gästeflügels im Mitte/schloss. Foto C. Herrmann !997
Herrmarm: Burgensymbolik im Rathausbau des Deutschordenslandes
55
Marienburg.
Thorn/Altstadt
Abb. 6. Marienburg, Ralhaus. Ansicht von 1#:sten. Foto
C. Herrmann 1999
Königsberg/Neumark, Frankfurt/Oder, Stettin und 'fangermünde illustrieren, blieb den preußischen Bauten
fremd.
Es gibt jedoch zwei Rathäuser, die aus dem Rahmen der landesüblichen Baugewohnheit fallen und unmitlelbar mit Deutschordensburgen in \krbindung gebracht werden können: jene von Thorn/Altstadt und
Das 1391 /93 begonnene neue Rathaus der Altstadt
Thom (vgl. Gruber 1941; G<lsiorowski 1971; 1974; Arszynski/Mroczko 199S:238 f.) ist als vierfülgeliger Bau
mit Innenhof aus typologischer Sicht einmalig in Europa und hat seine Entsprechung im Kastellburgtypus des
Deutschen Ordens (Abb. 4). Die regelmäßigen Kastellanlagen nahmen die höchste Stufe in der Hierarchie
des landesherrlichen Burgenbaus in Preußen und Livland ein. Sie finden sich bei fast allen Konventssitzen
aber auch bei den Bischofsresidenzen. 'IM::nn die Bürgerschaft von Thom, der damals mächtigsten und einflussreichsten Stadt des Landes, dieses architektonische
Modell für ihr neues Rathaus wählte, dann kann dies
nicht unbeabsichtigt oder zufällig erfolgt sein. E ine
weitere Anleihe fürThorn aus der Burgenarchitektur des
Preußenlands ist die ansonsten im Rathausbau unbekannte Gliederung der Außenwände durch beide Geschosse umfassende Blendarkaden. Eine sehr vergleichbare Gestaltung (mit allerdings breiteren Blenden) zeigt
der Gastkammerflügel des Mal'ienburger Mittelschlosses (Abb. 5; so auch G:'l_siorowski 1971 :61 ).
Es ist eher unwahrscheinlich, dass mit der \¼hl
des Architekturtypus eine irgendwie geartete politische
Botschaft verbunden werden sollte. Die Altstadt Thom
gehörte zweifellos zu den preußischen Städten die ihre
Abb. 7. Marienburg, Ralhaus. Zinnenkranz. Fo10 C. Herrmann 1999
56
Castella Maris Baltici VII
OG
EG
10m
~
um 1390
Abb. 8. Marienbwg, liochmeisteqJa!art. Eckwarte. Foto
C. Herrmann 1999
Abb. 9. Marienburg, Rathaus. Grundriss der heiclen
Hauptgeschosse. Zeichnung C. Herrmann
Freiheiten Lu behaupten und auszubauen wussten, bis
hin zur gewaltsamen Loslösung von der Ordensherrschaft im Dreizehnjährigen Krieg ( 1454-66). f-ür die
Interpretation der burgartigen Erscheinung des Thomer
Rathauses als ein Symbol des Macht- oder Autonomieanspruchs der Altstadt Thom gegenüber dem Landesherrn gibt es dennoch keine Hinweise. Dagegen spricht
schon die 1htsache, dass der Hochmeister und die Großgebietiger des Deutschen Ordens persönlich von den
Planungen unterrichtet wurden und diese genehmigt
haben. Dies geht aus der Baugenehmigung von 1393,
der eine Ortsbegehung vorangegangen war, eindeutig
hervor (Steinbrccht 1885:35 f.; CDP IV, Nr. 117). Ein
in irgendeiner ~ise gegen die Ordensmacht gerichtetes Symbol der städtischen Unabhängigkeit hätte der so
streng auf die Wahrung seiner landesherrlichen Rechte
hedachte Deutsche Orden gewiss nicht geduldet. Sowohl das erste als auch das zweite Rathausprojekt der
TI10rner Altstadt zeugen vielmehr von einem ausgeprägten Ehrgeiz der Bilrgerschaft in architektonischen Fragen. Man wählte selbstbewusst und anspruchsvoll die
höchste Klasse der zur \erfügung stehenden Architekturmodelle. Im späten 13. Jh. orientierten sich die Thorner Bürger an den Rathäusern der führenden Hansestadt
(Lübeck) und der bedeutendsten nordeuropäischen Handelstadt (Brügge). Einhundert Jahre später diente der
Konventsburgentypus des Deutschen Ordens als \orbild. Die jeweiligen Anregungen wurden jedoch in eigenständiger Weise für die Thorner Bedürfnisse adaptiert. So gibt es bei der sehr originellen inneren Raumstruktur der Rathauses, die allerdings nur noch im Erdgeschoss den mittelalterlichen Zustand zeigt, keinerle i
f le1T111a1111: ßwgensy 111bolik im Ra1/w usbau des De11tschorde11s/a11de.1·
Ahh. 10. Marienhur-g, siidwesrficher Ratha11ssaal. Foto
C. Herrmann 2003
\~rbindung zur Burgenarchitektur. Diese Struktur war
ganz fiir die spezifischen Nu1zungsbedürfnisse (Handelsfunktion) entwickell worden.
Die außerordentliche konzeptionelle Qualität und
typologische Einzigartigkeit des altsfädtischen Thorner
Rathauses ist in der Forschung immer wieder betont
worden (Gc1.siorowski 1971 :61 ). Seltsamerweise wurde
aber fast nie der eigentlich nahe liegende Gedanke einer bewussten Bezugnahme auf den ·1ypus der Deutschordensburg geäußert.Angesichts der außerordentlichen
und allgegenwärtigen Bedeutung des Kastellburgentyps
im Preußenland (vgl. Torbus 1998:297) ist eine zufällige formale \trwandtschaft aber äußerst unwahrscheinlich.
Marienburg
Beim Marienburger Rathaus (vgl. Schmid 1902;
Arszy11ski/Mroczko 1995: 155 f.) ist nicht der Typus von
der Burgenarchitektur abzuleiten, vielmehr der Bauschmuck und die Innenraumgestaltung. Der Außenbau
schließt mit einem Zinnenkranz und Eckwarten ab, die
in einigen Details exakt denen des Hochmeisterpalastes entsprechen (Abb. 6). Dies gilt insbesondere für die
eingelieften und mit Maßwerkeinsätzen gefüllten Zinnenfüichen (Abb. 7, 8). Hier liegt unzweifelhaft ein
Architekturzitat vor. Der Bezug zum nur wenige hun-
57
Abb. 11. Marie11b111g, Hochmeiste,palast, Kanzleiraum
unter dem Sommerremtet Foto: C. Herrmann 2003
dert Meter entfernten \orbild geht aber noch weiter. Die
beiden im Grundriss quadratischen Ratssäle sind gewölbt, von mehreren Kreu:1..stockfenstern beleuchtet und
der südliche Saal hat einen zierlichen achteckigen Mittelpfeiler (Abb. 9, 10). Eine derartige Raumstruktur
kommt bei vergleichbaren Rathausbauten im Preußenland nicht vor. Sie ist vielmehr von den beiden Haupträumen des Hochmeisterpalastes (Sommer- und \1/interremter) inspiriert. Dieser Zusammenhang wird noch
deutlicher, wenn man das direkt unterhalb des Sommerremters liegende Geschoss betritt. Die dort befindlichen,
zum ¼rwaltungsbereich des Hochmeisters (Tressler/
Kanzlei) gehörenden kleinen Räume entsprechen, bis
in viele Details hinein, exakt den beiden Hauptssälen
im Marienburger Rathaus (J\bb. 11 ).
Die Bürgerschall der Stadl Marienburg ließ sich
ganz offenbar ein Rathaus errichten, dessen Architektur eine verkleinerte und vereinfachte Kopie der herrschaftlichen Residenz war. Die bei einem Rathausbau
einziga1tige Konzeption sowie die für das Preußen land
außergewöhnliche Schmuckfreude und handwerkliche
Qualität lassen vermuten, dass der Baumeister des Marienburger Rathauses nicht zum Kreis derjenigen gehörte, die üblicherweise solche Bauten errichteten. Die
strukturellen Parallelen und einige der bis in Einzelheiten identischen Formen verweisen möglicherweise auf
58
den am Hochmeisterpalast tätigen, bis heute unbekannten Baumeister oder einen seiner Mitarbeiter als Schöpfer des Marienburger Rathauses. Da die \bllendung der
Bauarbeiten am Palast vor 1399 erfolgte, dürfte die
Caste/la Maris Baltici VII
Bauzeit des .Rathauses um 1390/J 400 anzusetzen sein.
Es handelt sich um den einzigen überlieferten Bau im
Preußenland, der in der unmittelbaren Nachfolge des
Hochmeisterpalastes steht.