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Ueli Zahnd (Ed.) Language and Method Historical and Historiographical Reflections on Medieval Thought Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http:/dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2017. Rombach Verlag KG, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 1. Auflage. Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Bärbel Engler, Rombach Verlag KG, Freiburg i.Br./Berlin/Wien Satz: rombach digitale manufaktur, Freiburg im Breisgau Herstellung: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG, Freiburg i.Br. Printed in Germany ISBN 978-3-7930-9897-3 Contents Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 NADJA GERMANN A Matter of Method: al-Fārābī’s conception of philosophy . . . . . . . . 11 ZIAD BOU AKL Ordre et volonté dans quelques traités de théorie juridique (uṣūl al-fiqh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Annexe : Abū al-Ḥusayn al-Baṣrī Ce que sa qualification d’‹ ordre › ajoute à la signification d’un énoncé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 SILVIA NEGRI Disciplina scholastica: Vorstellungen des Hörens und des Hörers an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 GIANLUCA BRIGUGLIA Celestine’s renunciation Observations on method and language in Giles of Rome’s De renunciatione papae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 JOHN T. SLOTEMAKER William of Ockham and Theological Method . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 FLORIAN WÖLLER Fußnoten im Mittelalter Zur These einer historischen Wende im Denken des 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 KANTIK GHOSH Genre and Method in the late Sermones of John Wyclif . . . . . . . . . . 167 ISABEL IRIBARREN Question de style Langage et méthode comme enjeux rhétoriques dans l’œuvre de Gerson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 MEREDITH ZIEBART Language and Reform in the Tegernsee Debate on Mystical Theology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 UELI ZAHND Das trojanische Pferd der Scholastik: Antoine de Chandieu (†1591) über Sophistereien, Syllogistik – und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . 247 ZORNITSA RADEVA »Quo pacto ex philosophis interpretes Aristotelis facti sunt?« Die genuinen Peripatetiker der Frühen Neuzeit in Jacob Bruckers Historia critica philosophiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 MARIO MELIADÒ Die Verwandlungen der Methode: Victor Cousin und die scholastische Genealogie der cartesischen Vernunft . . . . . . . . . . . . 309 CATHERINE KÖNIG-PRALONG Entangled Philosophical Ideologies The Language of Reason: From Modern French to Scholastic Latin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 LAURENT CESALLI Brentano philosophe de l’histoire de la philosophie . . . . . . . . . . . . 357 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 ZORNITSA RADEVA (FREIBURG I.BR.) »Quo pacto ex philosophis interpretes Aristotelis facti sunt?« Die genuinen Peripatetiker der Frühen Neuzeit in Jacob Bruckers Historia critica philosophiae1 1. Einleitung: ein genuiner Gegner Im Jahre 1518 hielt Philipp Melanchthon seine Antrittsrede, die Declamatio de corrigendis adolescentiae studiis, als Inhaber des neu gegründeten Lehrstuhls für Griechisch an der Universität Wittenberg. Diese Rede, die in gut humanistischer Manier die Missstände des traditionellen scholastischen Systems anprangert, enthält auch eine Formulierung, die Melanchthons Programm zur Wiederaufnahme des Aristoteles trotz Luthers heftiger Kritik auf den Punkt bringt. Die Studenten der Universität Wittenberg sollten demnach einen »nativus ac sincerus Aristoteles« kennenlernen,2 einen Aristoteles also, der von den scholastischen Verkrustungen befreit und im griechischen Originaltext (oder wenigstens in den neuen humanistischen Übersetzungen) studiert werden sollte.3 1 2 3 Der vorliegende Aufsatz ist Teil meiner Arbeit im Rahmen des Forschungsprojektes ERC-2013-CoG 615045 MEMOPHI (Medieval Philosophy in Modern History of Philosophy, Leitung: Catherine König-Pralong). Ich möchte mich bei Nadja Germann, Catherine König-Pralong, Mario Meliadò und Ueli Zahnd für ihre aufmerksame Lektüre und hilfreichen Bemerkungen herzlich bedanken. Für die sorgfältige sprachliche Korrektur gilt mein Dank Nadja Germann und Friederike Schmiga. Philipp Melanchthon, Declamatio de corrigendis adolescentiae studiis, in: Opera quae supersunt omnia, Bd. 11, hg. von Karl Gottlieb Bretschneider, Halle 1843 (Corpus Reformatorum 11), Sp. 15–25, hier Sp. 22. Bekanntlich kam Melanchthon nach Wittenberg mit dem Plan, eine humanistische Ausgabe der aristotelischen Texte zu erstellen. Die Forschung geht allgemein von einer Zwischenphase der Abwendung von Aristoteles bzw. von der ›Philosophie‹ aus, die bald darauf eingesetzt und bis etwa 1524 angedauert haben soll. Ohne eine Aussage über diese Problematik treffen zu wollen, nehme ich das Stichwort aus der Wittenberger Antrittsrede nur insofern als repräsentativ für Melanchthons Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie, als dies der Wahrnehmung Jacob Bruckers entspricht (siehe unten). Zu Melanchthons Aristotelesprojekt im Kontext seiner Bildungsreform siehe Günter Frank, Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497–1560), Hildesheim 1995 (Erfurter theologische Studien 67), S. 16–23 und 50–86; Heinz Scheible, »Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform. Zum Quellenwert von Lutherbriefen«, in: Michael Beyer und Günther Wartenberg (Hg.), Humanismus und Wittenberger Reformation, Leipzig 1996, S. 123–144; Nicole Kuropka, Die genuinen Peripatetiker der Frühen Neuzeit 305 narrative Stilisierung der genuinen Peripatetiker als Produkt des ›kritischen Geistes‹ des 16. Jahrhunderts plausibilisierte ihre methodologische Rolle als Garanten für die Aristotelesinterpretation des Philosophiehistorikers, da er bei dieser Aufgabe auf die ›ars critica‹ besonders stark angewiesen war. Kompetente Hilfe wusste Brucker zu schätzen, aber auch für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Denn die frühneuzeitlichen genuinen Peripatetiker bescheinigten ihm in erster Linie die Irrtümer ihres Meisters und beförderten dadurch obtorto collo die vielleicht wichtigste Moral der Geschichte der Philosophie: der Überwindung des ›praeiudicium auctoritatis‹. 4. Fazit: Ironien der Wiederholung Nicht nur tritt Philipp Melanchthon in der Historia critica philosophiae als eine der zentralen Figuren unter den frühneuzeitlichen genuinen Peripatetikern auf, sondern auf ihn wendet Brucker auch explizit die Formel ›vielmehr ein Ausleger des Aristoteles als ein Philosoph‹ an.69 Dies tut er mit derselben Mischung aus Wertschätzung und Herablassung, die seinen gesamten ›kritischen‹ Umgang mit den ›restauratores‹ der aristotelischen Philosophie in der Frühen Neuzeit charakterisiert. Im Unterschied zu Christian Thomasius, einem seiner prominentesten eklektischen Helden, weigert sich Brucker, diese Erscheinungsform der peripatetischen Tradition, die mächtigste unter den Vorgängerinnen und Antagonistinnen der Eklektik, pauschal als scholastisch zu ächten. Stattdessen konstruiert er einen starken Kontrast zwischen Scholastikern und genuinen Peripatetikern, nimmt also Parolen wie Melanchthons Wiederherstellung eines »ursprünglichen und reinen Aristoteles« beim Wort. Allerdings schwächt Brucker dabei keineswegs die Sache der Eklektik, denn es gelingt ihm, dieses Wort gegen die genuinen Peripatetiker selbst zu wenden. 69 Brucker, Historia critica philosophiae, Bd. 4/1, II.3.5, S. 155: »Quod [sc. die Wiedereinführung des Aristoteles unter die Protestanten] exigua philosophantium vtilitate factum esse, merito dolendum, indignandumque est Philippo, viro cetera optimo, et de literatura elegantiori inter Germanos immortaliter merito, quod abiecto licet auctoritatis et antiquitatis studio, cum proprio Marte philosophandum fuisset, maluerit sectariam philosophiam eligere, et ea duce interpretem magis Aristotelis, more seculi sui, agere, quam suo ingenio, quod nactus erat optimum, philosophari.« 306 Zornitsa Radeva Auf der narrativen Ebene der Historia critica erlebt Aristoteles’ Philosophie in der Frühen Neuzeit eine authentische Wiederholung. Diesem Ereignis weiß Brucker einen positiven historischen Wert beizumessen: Zumindest holten die genuinen Peripatetiker dank ihrer philologischen Bewandtheit den Rückstand auf, den die Philosophie im barbarischen Mittelalter mit einem verfälschten und missverstandenen Aristoteles erlebt hatte.70 Gleichzeitig erfährt diese positive Einschätzung in Bruckers Händen eine dezidierte Wendung. Das Philosophische hat er als Selbständigkeit definiert, als bewusste Kreation von etwas Neuem und Selbstabhebung vom Alten, als Differenz. Gemessen an diesem Philosophieideal erweist sich die Wiederholungsgeste, in der der philologische Eifer der genuinen Peripatetiker kulminiert, als die denkbar unphilosophischste Geste überhaupt. Als reine Sektierer bilden sie das Gegenstück des Eklektikers: bloße Interpreten, keine Philosophen. Dieselben gegenläufigen narrativen Züge bestimmen ihre Rolle auf der Ebene der Methodologie bzw. der historiographischen Praxis. Die zur Entschlüsselung der Schriften des Aristoteles notwendige Beschlagenheit in der ›ars critica‹ erkennt der Philosophiehistoriker Brucker in der Arbeit der frühneuzeitlichen humanistisch gesinnten Aristoteliker. In ihrem Interpretationsunternehmen erreichen sie einen solchen Grad an ›Genuinität‹, dass jegliche Differenz gegenüber der Vorlage, jegliches philosophische Moment ausgeschlossen bleibt. Solche Figuren kann Brucker zu Garanten für die Richtigkeit seiner eigenen Aristotelesauslegung machen: keine Philosophen, hervorragende Interpreten. Allerdings ist mit der genauen Rekonstruktion von Aristoteles’ ›System‹ Bruckers Aufgabe nicht gänzlich erledigt. Wie der eklektische Philosoph vorurteilsfrei die Lehren der vergangenen Philosophie beurteilt, um das Beste davon zu behalten, muss auch der Philosophiehistoriker sein unvoreingenommenes ›iudicium‹ fällen, um seine Geschichte für das Philosophieren selbst nützlich zu machen. Bruckers eigene ›kritische‹ Kunst erschöpft sich nicht in der bloßen philologischen Kompetenz, sondern enthält sachliche, philosophische Elemente. Letztere machen aus ihm einen eklektischen Richter.71 Beim historiographischen Gerichtsverfahren, das Brucker im Namen der Eklektik über die Philosophie des Aristoteles veranstaltet, ist eine Aussage der von Thomasius vorgeladenen 70 71 Zu Bruckers Stilisierung der Scholastik nicht bloß als ein Stillstand, sondern als ein Rückschritt in der Gesamtentwicklung der Philosophie siehe Meliadò, »Scholastica sive pseudophilosophia«. Cf. die Ausführungen in Anm. 8 und 55. Die genuinen Peripatetiker der Frühen Neuzeit 307 Scholastik nichts wert. Da diese die aristotelischen Texte missverstanden und verfälscht hat, ist sie nicht in der Lage, den ›reinen‹ Aristoteles zu repräsentieren. Eine solche Funktion können allein die frühneuzeitlichen aristotelischen Philosophen erfüllen, aus denen die Historia critica bloße und hervorragende Interpreten machte. Zum einen legen sie ein authentisches Zeugnis über Aristoteles’ Irrtümer ab. Zum anderen bezeugen sie gerade durch ihre Treue zum Meister bei all seinen Verirrungen die urfalsche Haltung jedes sektiererischen Denkens. Nur die restlos gelungene Wiederholungsgeste der genuinen Peripatetiker kann Bruckers eigene Aristotelesinterpretation verbürgen und gleichzeitig die Negation des Philosophischen, die von Anfang an im peripatetischen Projekt angelegt ist, bis in die letzten Konsequenzen ausdrücken. So gelingt es Brucker, die aristotelische Tradition ausgehend von ihrer eigenen Geschichte ad absurdum zu führen. Die Eklektik erklärte Aristoteles für überholt, indem sie eine genuine Wiederholung seiner Philosophie in der Frühen Neuzeit inszenierte und sich damit ›kritisch‹ auseinandersetzte.