2017 | 4
Nikos Wallburger, Raumordnung und Raumbegründung
in politischen Umbruchszeiten. Das Département du
Mont-Tonnerre unter französischer Verwaltung (1792–1815),
Frankfurt a. M. (Peter Lang Edition) 2015, 361 S. (Konsulat
und Kaiserreich. Studien und Quellen zum Napoleonischen
Zeitalter, 3), ISBN 978-3-631-66893-1, EUR 64,95.
Frühe Neuzeit – Revolution – Empire
(1500–1815)
DOI:
10.11588/frrec.2017.4.43388
Seite | page 1
rezensiert von | compte rendu rédigé par
Andreas Rutz, Bonn
Die militärische Besetzung des Rheinlands durch französische Revolutionstruppen seit 1792/94 und die sukzessive Integration in den französischen
Staat von 1798 bis 1814 markieren eine Epoche des tiefgreifenden Wandels
in der Region. Kaum ein Bereich des öffentlichen und privaten Lebens blieb
davon unberührt, nicht zuletzt wurde in dieser Zeit die politische Landkarte
völlig neu gezeichnet. Und so ist vor dem Hintergrund des seit geraumer Zeit
in der Geschichtswissenschaft prominenten »spatial turn« das Thema der in
Mannheim bei Erich Pelzer entstandenen Dissertation von Nikos Wallburger
mehr als einleuchtend. Es geht um die Begründung und Durchsetzung einer
neuen Raumordnung im Rheinland in der französischen Zeit am Beispiel des
Département du Mont-Tonnerre (Donnersberg), einem der vier 1798 ohne
Rücksicht auf die bisherigen Territorialgrenzen gegründeten linksrheinischen
Verwaltungsbezirke.
Der Autor verfolgt keinen systematischen Ansatz, der die verschiedenen
raumkonstituierenden und -strukturierenden Praktiken der französischen
und deutschen Akteure, also das „doing territory“ in seiner Gesamtheit in den
Blick nehmen würde. Vielmehr beschränkt sich Wallburger auf den in diesem
Zusammenhang zweifelsohne wichtigen Straßenbau. Eine umfassende
Geschichte der Verkehrswege, ihrer Konzeption, Planung und Umsetzung
sucht der Leser aber vergeblich. Die Akten zum betreffenden Thema dienen
als Grundlage für eine historische Diskursanalyse, die die Motive und Strategien der Akteure mit Blick auf Straßenbau und Raumordnung klären soll. Vor
dem Hintergrund des »spatial turn« und dessen Prämisse, dass Räume immer
das Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen sind, in denen
die unterschiedlichen Akteure vielfach divergierende und konkurrierende
Raumkonzepte verfolgen, scheint dies ein interessanter Ansatz. Allerdings
leidet die Studie an einer gewissen Übertheoretisierung und argumentativen
Redundanz. Einleitung und Kapitel 2 zum theoretisch-methodischen Vorgehen umfassen fast 70 der etwa 320 Seiten und auch die übrigen Kapitel und
Unterkapitel werden zumeist mit methodischen Erörterungen unterfüttert,
die vieles wiederholen, was der Leser bereits kennt . Dieser Eindruck wird noch
dadurch verstärkt, dass Darstellung und Analyse der behandelten Aspekte
häuig nur sehr knapp und exemplarisch ausgeführt werden, so dass die Angaben zum »Versuchsaufbau« überproportionales Gewicht erlangen.
Das etwa 70 Seiten umfassende Kapitel 3 liefert trotz einleitender methodischer Bemerkungen und diskursanalytischer Begriflichkeit einen recht
konventionellen Überblick zur politischen Organisation in den vier linksrheinischen Departements und insbesondere im Donnersberg-Departement. Das
knappere Kapitel 4 diskutiert die »Konstitution der gesellschaftlichen räumlichen Ordnung des Département du Mont-Tonnerre« anhand des Straßenbaus.
Eine genauere inhaltliche oder systematische Abgrenzung zu Kapitel 5, das
Herausgegeben vom Deutschen
Historischen Institut Paris | publiée
par l’Institut historique allemand
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CC BY 4.0
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schlicht mit »Der Straßenbau im Département du Mont-Tonnerre« betitelt ist
und »den Hauptteil der diskursanalytischen Untersuchung der vorliegenden
Arbeit dar[stellt]« (S. 185), ist nicht ersichtlich. Kapitel 6 beschreibt schließlich
Kontinuitäten und Diskontinuitäten über das Ende der französischen Herrschaft hinaus.
Gerade die Kapitel 5 und 6, in denen einzelne Personen exemplarisch
vorgestellt und Konlikte um konkrete Bauprojekte und Straßenführungen
behandelt werden, zeigen, dass die von Wallburger untersuchten Akten
und Sachverhalte spannende Einsichten in den Prozess der Raumbildung
im französischen Deutschland vermitteln. Dieser folgte, wie das Beispiel des
Straßenbaus zeigt, nicht ausschließlich einer zentralstaatlich geplanten und
organisierten Logik, sondern bedingte auch die Mitwirkung der entsprechenden Behörden und Verantwortlichen vor Ort sowie regionalen und lokalen
Unternehmern, die ihre Raumvorstellungen in den Prozess einbrachten.
Genauer in den Blick genommen werden insbesondere der Präfekt Jeanbon St. André und der ingénieur en chef Eustache St. Far (Kap. 4.4), der entrepreneur und associé Pierre François Paravey (Kap. 5.4) sowie der Kaufmann und
entrepreneur Jakob Kaetzer (Kap. 5.5), also sowohl politische bzw. staatliche
Akteure als auch solche aus dem regionalen und lokalen Wirtschaftsbürgertum, die geschäftlich am Straßenbau beteiligt waren. Als wichtigstes Bauprojekt wird die route impériale von Paris und Mainz eingehender behandelt
(Kap. 5.6). Gerade im Zusammenhang dieses Infrastrukturprojekts ergaben
sich zahlreiche Konlikte zwischen den unterschiedlichen, in den Straßenbau
involvierten bzw. von diesem betroffenen Hierarchieebenen und Akteuren.
Interessant erscheint etwa das Engagement der Kommunen, an die Straße
»angeschlossen« zu werden und auf diese Weise längerfristig von der neuen
Raumordnung zu proitieren. Die diesbezüglichen Konlikte, Verhandlungen
und Aushandlungsprozesse werden in diesem wie in anderen Fällen leider
nicht ausführlicher dargestellt, so dass die präsentierten Schlussfolgerungen
und Ergebnisse letztlich sehr abstrakt bleiben.
Frühe Neuzeit – Revolution – Empire
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