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Geschichte im Museum. Theorie - Praxis - Berufsfelder

2018, UTB: Tübingen

Dieses Lehrbuch widmet sich (kultur-)historischen Museen. Sie vermitteln nicht nur Geschichte, sondern produzieren eigene Geschichten und öffentliche Geschichtsbilder, sind Symptome und Gestalter der Erinnerungskultur unserer Gesellschaft. Die Arbeit im Museum setzt Kenntnisse über seine Geschichte und Theorie ebenso voraus wie Sensibilität für fachwissenschaftliche Erkenntnisinteressen, kuratorische Praktiken, Erzähl- und Sammlungsformen sowie Verhaltenserwartungen. An der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Ethnologie, Kultur- und Geschichtswissenschaft stellt das Lehrbuch Studienangebote und Berufsfelder vor. Es unterstützt Studierende dabei, sich diesen vielfältigen Anforderungen zu stellen und ihren Platz in den komplexen Abläufen des Museumsbetriebs zwischen Depot und Ausstellung zu finden.

Thomas Thiemeyer Geschichte im Museum Theorie – Praxis – Berufsfelder Public History – Geschichte in der Praxis © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 5045 utb 0000 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer Public History – Geschichte in der Praxis Herausgegeben von Irmgard Zündorf (Potsdam) und Stefanie Samida (Heidelberg) Prof. Dr. Thomas Thiemeyer lehrt Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen mit Schwerpunkt Museumsforschung. Er leitet zusammen mit Prof. Dr. Ernst Seidl die Tübinger Master-Profillinie ‚Museum & Sammlungen‘. © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer Thomas Thiemeyer Geschichte im Museum Theorie – Praxis – Berufsfelder A. Francke Verlag Tübingen © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer Umschlagabbildung: Historisches Museum Frankfurt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Printed in Germany utb-Nr. 5045 ISBN 978-3-8252-5045-4 © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer Inhaltsverzeichnis .............................................................................. 1 1 1.1 1.2 Was ist ein Museum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die fünf Museumsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koordinaten: Kultur, Geschichte, Identität und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . 5 7 17 2 2.1 31 35 2.4 2.5 Geschichte des (kulturhistorischen) Museums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Curiositas und Repraesentatio: Die Kunst- und Wunderkammern der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgeklärtes Wissen: Der Beginn des modernen Museums im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur, Nation und Bürgertum: Das 19. Jahrhundert als Museumszeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das 20. Jahrhundert als Ausstellungszeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Museum im 21. Jahrhundert: Themen der Gegenwart . . . . . . . . . . . 3 3.1 3.2 3.3 Geschichte im Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räume: Depot und Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dinge: Der Wert der Dinge für das Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kuratorische Praktiken: Werk, Exemplar, Zeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 119 121 129 4 4.1 4.2 4.3 Studium und Berufsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Volontariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsfeld Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 137 138 139 Links, Institutionen, Zeitschriften ..................................................... 149 ............................................................. 153 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Einleitung 2.2 2.3 Abbildungsverzeichnis © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 31 41 62 97 © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer Einleitung Nein, es war kein Unglück. Ich habe das Feuer gelegt, an einem Abend, am Abend des achtzehnten August, mir blieb nichts anderes mehr übrig, als das Museum zu zerstören, das einzige masurische Heimatmuseum, in Engenlund drüben, bei Schleswig. Kein Zufall, mein Lieber. So wie es einst allein mein Plan war, das Museum zu erbauen und einzurichten, so war es jetzt auch allein mein Entschluß, es vollkommen zu zerstören, einschließlich all der Zeugnisse, Beweise und Dokumente, die es beherbergte und die ich gemeinsam mit den Leuten in den Jahren nach dem Krieg hier gesammelt habe. Mit einem Brand beginnt Siegfried Lenz 1978 seinen Roman „Heimatmuseum“, in dem der im Zweiten Weltkrieg aus Masuren ausgewanderte Zygmunt Rogalla willentlich sein Lebenswerk vernichtet. Bereits in den 1930er Jahren musste er das Heimatmuseum seines Onkels in Masuren gegen die Nationalsozialisten verteidigen, die mit dem dort gesammelten Fundus an Dingen ihre Ostpolitik legitimieren wollten. Nun, nachdem er die Reste dieses Museums in die junge Bundesrepublik verbracht hatte, droht dort eine Ideologie, die Rogalla fremd ist, seine masurischen Zeugnisse ebenfalls zu vereinnahmen. Er brennt sein Museum – ein Heimatmuseum außerhalb der alten Heimat – nieder, um es vor Instrumentalisierung zu schützen. Mit sicherem Gespür bündelt der Romancier Lenz in der Eingangssequenz seines Romans charakteristische Details, die nicht nur das Heimatmuseum, sondern das Museum als solches betreffen. Er erzählt von der „Monumentation“ (Gottfried Korff) der Sachzeugen aus der Vergangenheit. Rogalla ist sich bewusst, dass sie fähig sind, unterschiedliche Versionen von Geschichte zu beglaubigen, wenn man sie nur richtig zu nutzen weiß. Sie verfügen über eine Wirkung, die so gewaltig sein kann, dass er sich nicht anders zu helfen weiß, als die Dinge zu verbrennen, um ihre Potenz als Geschichtszeichen für die Gegenwart zu brechen und sie als ‚Beweise‘ für eine falsche Geschichte zu vernichten. Er schützt die Vergangenheit vor der Geschichte. Willentlich zerstört Rogalla Kulturgut, das, so der zeitgenössische Konsens, unbedingt wert sei, bewahrt und öffentlich präsentiert zu werden. Der Wert dieser Dinge liegt, wie Lenz spezifiziert, in ihrer Funktion als „Zeugnisse, Beweise und Dokumente“. Damit trifft er genau jene Kategorien von Objekten, die für historische Museen charakteristisch sind (er spricht nicht von Werken oder Exemplaren, wie wir sie gewöhnlich Kunstmuseen oder naturhistorischen Häusern zuordnen). © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 2 E INLEITUNG Lenz’ Roman ist eine mehrdimensionale Parabel auf das Thema dieses Buches: das Verhältnis von Kultur, Geschichte und Museum. Er zeigt, mit welchen Mitteln Museen arbeiten, wie sie Geschichte konstruieren und wie diese Geschichte in Dienst genommen werden kann. In der kurzen Eingangsszene aus Lenz’ „Heimatmuseum“ scheinen drei Grundannahmen durch, die den vorliegenden Band fundieren und ihm eine spezifische Perspektive geben: Er will erstens das Museum als Institution des kulturellen Erbes vorstellen und die Idee, dass materielles Kulturgut einen Wert darstellt, der unbedingt zu bewahren sei, als Idee der Moderne kennzeichnen. Was wir heute unter einem Museum und seinen Aufgaben verstehen ist eine erlernte Sicht auf diese Institution und ihre Sammlungen. Sie basiert immer noch auf Kulturvorstellungen, die Idealen der Aufklärung folgen und die Bildungsbürger im 19. Jahrhundert prägten. Zweitens gehe ich davon aus, dass Museen Erinnerungskultur nicht nur abbilden (Geschichte im Museum), sondern dass Museen gleichermaßen Ausdruck und Produkt von Erinnerungskultur sind. Sie entstanden, weil man sich etwas von ihnen versprach, und sie geben Auskunft davon, wie Gesellschaften zu bestimmten Zeiten ‚ihre‘ Kultur und Geschichte tradierten. Deshalb brennt Zygmunt Rogallas Museum. Museumssammlungen und -ausstellungen sind also Quellen, die etwas über das historische Bewusstsein einer Gesellschaft verraten. Drittens scheint mir, dass sich das Verhältnis von Geschichte und Museum am besten entlang eines Konzepts entwickeln lässt, das gerade viel diskutiert wird: Kultur. Museen versteht dieses Buch als Orte, an denen Kultur verhandelt wird. Kultur in ihren verschiedenen Spielarten – als Lebensstil, nationale Zuschreibung, Kunst, Bildungsgut und ‚Erbe‘ – ist der rote Faden der Darstellung. Was ich erzähle, ist eine kulturwissenschaftliche Geschichte und Theorie des Museums, die sensibel für gesellschaftliche Kontexte, Machtstrukturen, Abgrenzungsmechanismen, Erkenntnisinteressen, kuratorische Praktiken und Verhaltensweisen ist. Das Museum ist aus dieser Perspektive vor allem Wissens- und Repräsentationsort. Deshalb stelle ich dem Kulturbegriff drei weitere Begriffe zur Seite, die Koordinaten des heutigen Museumsdiskurses bilden: Geschichte, Identität und Wissen. Diese vier Begriffe stehen am Beginn dieses Buches. Sie folgen auf einleitende Überlegungen, was wir heute unter einem Museum verstehen und welche Aufgaben das Museum hat (Kapitel 1). Im zweiten Kapitel folgt ein stark selektiver Gang durch die Museumsgeschichte, der die Etablierung der Institution aus gesellschaftlichen Entwicklungen heraus erklärt: Die Idee des Kulturerbes ist ohne die Französische Revolution nicht zu verstehen, und wer die politische Idee der Bildungsreform nicht kennt, dem bleibt der Museumsboom der späten 1970er Jahre ein ewiges Rätsel. Das dritte Kapitel erklärt anhand der drei Kategorien Räume, Dinge und Praktiken, wie Museen Geschichte sammeln und erzählen, welcher Techniken und Strategien sie sich bedienen, kurzum: was sie als Medium besonders macht und wie sie Geschichte produzieren. Das vierte Kapitel unterscheidet sich © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer E INLEITUNG grundlegend vom Vorherigen: Es fungiert als Praxisleitfaden für all jene, die sich im Studium oder beruflich näher mit dem Museum beschäftigen wollen. Es hat, wie das gesamte Buch, vor allem Bachelor- und Masterstudierende unterschiedlicher Disziplinen im Auge und will ihnen ein wenig Orientierung im Dschungel der Museumsausbildungen und -berufe geben. Wenn ich bislang etwas salopp von ‚dem Museum‘ gesprochen habe, so muss ich nun genauer werden: Dieses Buch widmet sich vor allem (kultur-)historischen Museen. Nun ist überhaupt nicht klar, welche Museen in diese Kategorie fallen. Jedes Museum befasst sich mit Kultur, und so gut wie jedes Museum argumentiert historisch, ob es nun Kunst, ausgestopfte Tiere oder Relikte der Industriekultur zeigt. Wenn ich von (kultur-)historischen Museen rede, geht es mir deshalb nicht allein um den historiografischen Zugriff auf einen Inhalt, sondern um die Bezugsdisziplinen: Die Museen, denen sich dieses Buch widmet, sind Museen, die sich an den Erkenntnisinteressen historisch arbeitender Disziplinen wie der Geschichtsoder (volkskundlichen) Kulturwissenschaft orientieren (die durchaus divergieren) – allerdings ohne die stark ästhetisch ausgerichtete Kunstgeschichte. Konkret fallen darunter die Heimat-, Regional- und Stadtmuseen, etliche kulturhistorische Museen, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden (als sie ihre Exponate noch stärker historisch und nicht primär ästhetisch kontextualisierten), sowie historische Museen im engen Sinne – deshalb auch die Schreibweise ‚(kultur-)historisch‘. Darunter fallen auch kulturpolitisch ausgerichtete Ausstellungen wie die „PRESSA“ (1928) oder die Wanderausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ (1971), die keinem Museum entstammten, aber museal arbeiteten und Museen wichtige Impulse gaben. Ich folge also nicht der Trennung zwischen ‚historischen‘ und ‚kulturhistorischen‘ Museen, wie sie die Fachgruppen des Deutschen Museumsbundes abbilden, bei denen die kulturhistorischen Museen mit den Kunstmuseen zusammengefasst sind. Es ist mir klar, dass ich nicht allen Museumstypen und Ausstellungsformaten, die ich unter der Rubrik ‚(kultur-)historische Museen‘ zusammenfasse, im Einzelnen gerecht werden kann. Mir geht es um etwas Anderes: Diese Museen und Ausstellungen teilen wesentliche Annahmen davon, was sie sollen, wie sie es zeigen, was sie sammeln und was sie dürfen und nicht dürfen. Sie sind sich darin nicht immer einig, aber folgen doch anderen Diskursen, Vorbildern und Leitideen als z. B. Kunst- oder naturkundliche Museen. Es geht mir, kurz gesagt, um Museen, die ähnliche Objekte in den Blick nehmen und sie ähnlich perspektivieren. Um diese Unterschiede deutlich zu machen, ziehe ich manchmal Museen anderer Gattungen zum Vergleich heran, vor allem dort, wo sie unser heutiges Museumsverständnis prägten. Im Mittelpunkt stehen Museen aus Deutschland, die ich zuweilen um besonders einflussreiche Beispiele aus anderen Ländern ergänze. Zum Schluss noch eine Warnung: Dieses Buch ist eine Einführung in Geschichte, Theorie, Praxis und Berufsfelder des Museums. Es ist kein Handbuch © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 3 4 E INLEITUNG (siehe dafür Walz 2016; Graf / Rodekamp 2012). Ihm geht es nicht darum, eine umfassende Museumsgeschichte und -theorie zu erzählen (siehe dazu ergänzend te Heesen 2012 und Korff 2007a), sondern möglichst stringent anhand von Beispielen die großen Linien herauszuarbeiten, die unser Verständnis von Museum heute prägen. Das Bekenntnis zur Teleologie und der Mut zur Lücke sind der Preis, den ich dafür zu entrichten habe. Tübingen, August 2018 © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer Was ist ein Museum? Das Museum ist eine europäische Kulturinstitution. Seine Vorläufer – die Kunstund Wunderkammern – fanden sich an europäischen Höfen und in Gelehrtenstuben in Italien, Frankreich, England oder den deutschsprachigen Ländern. In Europa entwickelten sich auch die ersten modernen Museen: das Ashmolean Museum in Oxford (1683), das British Museum in London (1759), das Muséum central des Arts im Pariser Louvre (1793) oder das Alte Museum in Berlin (1830). Das Museum ist aufs Engste mit einer Epoche verknüpft, die wir ‚die Moderne‘ nennen, also mit der Zeit der Republikgründungen, die auf die Ära der Feudalstaaten folgte. In Kontinentaleuropa markiert die Französische Revolution hierfür die entscheidende Zäsur. Erst jetzt, um 1800 (in England schon früher), bilden sich flächendeckend Museen eines neuen Typus heraus. Diese modernen Museen folgten den neuen Idealen der Aufklärung (v. a. dem Vernunftpostulat), hatten es mit einer neuen Öffentlichkeit zu tun, basierten auf dem neuen Konzept des Kulturerbes, waren maßgeblich von einer neuen Schicht – dem Bürgertum – geprägt und standen oft im Dienst einer neuen Idee: der Nation. Sie sind Teil einer groß angelegten gesellschaftlichen Umformung, die alle Wissens-, Repräsentationsund Bildungsinstitutionen betraf, neben Schulen und Universitäten die Institutionen des sogenannten Informations- und Dokumentationskomplexes (IuD-Komplex): Museen, Bibliotheken und Archive. Lange, bis ins 18. Jahrhundert, war der Begriff ‚Museum‘ nicht klar konturiert (siehe Blank / Debels 2002). Oft war er kultisch grundiert und bezeichnete den Tempel der Musen als Ort der Musenverehrung, an den Pilger Opfergaben brachten und exponierten. Zuweilen bezog er sich auf das ‚Museion‘ von Alexandria, das nicht wegen seiner Sammlungen so hieß, sondern wegen der Gelehrtengemeinschaft (der unter anderem Ptolemäus und Euklid angehörten), die dort lebte und forschte. Hier wurden Dinge gesammelt und geordnet, und hier entstand im dritten Jahrhundert vor Christus die weltberühmte Bibliothek. Dieses ‚Museion‘ war also bereits ein Erkenntnisort mit Dingen, wenngleich es mit dem, was wir heute als Museum bezeichnen, nicht zu vergleichen ist. Erst um 1800 schälte sich – parallel zur Gründung der ersten modernen Museen – ein neues Verständnis von Museum heraus, das der Internationale Museumsrat ICOM inzwischen wie folgt definiert hat: © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 1 WAS IST EIN M USEUM ? 6 Infobox Museum „A museum is a non-profit, permanent institution in the service of society and its development, open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits the tangible and intangible heritage of humanity and its environment for the purposes of education, study and enjoyment.“ (ICOM 2007) Diese Definition besteht aus drei Teilen. Sie definiert den Status, die fünf Aufgaben und den Zweck eines Museums. Seinem Status nach ist das Museum „a non-profit, permanent institution in the service of society and its development, open to the public“. Es verfolgt keine kommerziellen Ziele, ist – im Unterschied zum Ausstellungshaus oder der Galerie – ein Haus der langen Dauer, das Dinge für die Ewigkeit sammelt und bewahrt. Es ist gemeinnützig und steht jedermann zum Besuch offen. Seine fünf Aufgaben sind es, Dinge und Kunstwerke zu sammeln, zu bewahren, zu erforschen, bekannt zu machen und auszustellen. Sein Zweck schließlich besteht im Schutz und dem Zugänglich-Machen des „tangible and intangible heritage of humanity and its environment for the purposes of education, study and enjoyment.“ Museen bewahren und präsentieren materielles wie immaterielles ‚Kulturerbe‘ – das sind Dinge bzw. Bräuche, Traditionen oder Lieder – , um die Menschen zu belehren, zu unterhalten und um ihnen neues Wissen zugänglich zu machen (z. B. indem sie es ermöglichen, dass an den Dingen geforscht wird). Die ICOM-Definition – 1946 erstmals lanciert – ist international die heute maßgebliche. ICOM überarbeitete sie mehrmals, bis die Generalversammlung 1974 eine Neufassung beschloss, die der heutigen Definition nahekommt. Enthielt die alte Definition bis dato nur die beiden Museumsaufgaben Bewahren und Ausstellen, kamen nun Forschen, Erwerben und Vermitteln hinzu. 2007 ergänzte ICOM schließlich die Kategorie des ‚intangible heritage‘. Die Definition passte sich damit der UNESCO-Kulturerbepolitik an, die von 2006 an auch ‚immaterielles Kulturerbe‘ wie die Mittelmeerküche, die Deutsche Brotkultur oder den Karneval von Binche (Belgien) unter Schutz stellt. Die ICOM-Definition transportiert ein spezifisches Museumsverständnis, unter das streng genommen keine kommerziell betriebenen Privatinstitutionen, die sich ‚Museum‘ nennen (die Bezeichnung ist nicht geschützt), fallen. Auch stellt sich inzwischen die Frage, ob sie einem entgrenzten Verständnis von Museum, das über die Ausstellungs- und Depoträume hinausgeht – wie Online-Museen oder all jene Museen, die sich als genreübergreifende öffentliche Kulturinstitutionen mit zahlreichen Angeboten jenseits der Sammlungen, Ausstellungen und Führungen verstehen – , noch gerecht wird. 2019 will die ICOM Generalkonferenz über eine Neudefinition beraten. © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer D IE FÜNF M USEUMSAUFGABEN Die fünf Museumsaufgaben Sammeln Bleiben wir noch kurz bei den von ICOM definierten Museumsaufgaben (siehe dazu vertiefend Walz 2016; Graf / Rodekamp 2012), um zu verstehen, wofür unsere Gesellschaft diese Institutionen nutzen soll. Museen sollen sammeln, das heißt, systematisch Objekte zusammentragen, um Wissen zu stiften oder eine bestimmte Sicht auf die Welt nahezulegen: „Collecting“, schreibt die Kulturanthropologin Sharon Macdonald, „is a set of distinctive […] practices that not only produces knowledge about objects but also configures particular ways of knowing and perceiving.“ (Macdonald 2006, 94 f.) Anders als das private Sammeln z. B. von Souvenirs, die allein für den Sammler wichtig sein können, beziehen systematische Sammlungen Dritte in ihre Logik ein, sind öffentlich und nicht privat (ICOM: „open to the public“). Museumssammlungen haben einen übergeordneten Erkenntniszweck, für den sie so sortiert und klassifiziert werden, damit, unabhängig von den Personen, die eine Sammlung aufgebaut haben, ihr System nachvollziehbar ist. Das ist nicht selbstverständlich: Allen voran die Sammlungen der Renaissance, auf denen einige unserer heutigen Museen basieren, waren allein dem Willen und der Weltsicht ihrer Sammler verpflichtet und kannten keine allgemeingültigen Kategorien, nach denen sie ihre Dinge ordneten. Sammlungen im Museum ändern den Status der Dinge. Darauf hat vor allem der französische Museumsphilosoph Krzysztof Pomian hingewiesen mit seiner inzwischen klassischen Definition: „Eine Sammlung ist jede Zusammenstellung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem abgeschlossenen, eigens für diesen Zweck eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt werden und angesehen werden können.“ (Pomian 1998, 16) Das Museum macht Dinge des täglichen Gebrauchs zu Objekten von rein symbolischer Bedeutung. Es enthebt sie ihrer Gebrauchsfunktion, um sie als Gegenstände der Reflexion zu nutzen, an denen man etwas verstehen und erkennen kann. Das Museum gilt deshalb als Erkenntnisort, als Ort, an dem Wissen durch die Ordnung der Dinge in einem räumlichen Arrangement entsteht (ICOM: „education and study“). Wir werden noch sehen, dass nicht alle Museumsdinge derart gleichförmig funktionieren, sondern Werke der bildenden Kunst anderen Gesetzen folgen als kulturhistorische Objekte (siehe die Kategorien Werk, Exemplar, Zeuge in Kap. 3.3). Warum aber sammelten Menschen überhaupt systematisch, also festen Vorgaben folgend? Was versprachen sie sich davon? Mit Blick auf das Museum lassen sich drei Motive unterscheiden: ein wissenschaftliches, ein politisches und ein © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 7 1.1 WAS IST EIN M USEUM ? 8 psychologisches. Wissenschaftliches Sammeln versteht Dinge als Wissensspeicher. Es geht davon aus, dass Dinge Wissen dauerhaft konservieren und es freigeben können, wenn man sie entsprechend ordnet und befragt. Die naturkundlichen Sammlungen der Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts zum Beispiel dienten als Orte des experimentellen Umgangs mit Objekten, denen man die Geheimnisse der Natur entnehmen wollte. Sammeln zu politischen Zwecken hingegen will mit den Dingen nicht primär neues wissenschaftliches Wissen stiften, sondern eine politische Botschaft lancieren. Adel und Klerus nutzten zu diesem Zweck früh ihre Sammlungen, um politische Macht, Reichtum und Status zur Schau zu stellen. Diese Dinge repräsentierten vor allem, das heißt sie nobilitierten ihren Eigentümer, weil sie besonders selten, kostbar oder teuer waren oder aus fernen Ländern importiert werden mussten. Das konnte sich kaum jemand leisten. Wichtiger als die Selbstdarstellung von Dynastien oder Individuen wurde bald aber die identitätsstiftende Funktion von Sammlungen, wie sie sich z. B. im Germanischen Nationalmuseum (gegründet 1852) finden lässt. Dieses Museum sollte Dinge zusammentragen, die eine gemeinsame kulturelle Identität der deutschsprachigen Gebiete belegen und so wirkmächtige Symbole für eine neue Gemeinschaft stiften, die politisch erst 1871 Realität wurde: das Deutsche Reich. Das politische Sammeln unterscheidet sich vom Sammeln aus psychologischen Motiven. Dieses Sammeln soll „innerweltliche Verlusterfahrungen kompensieren“, wie der Philosoph Hermann Lübbe (1982) das in seiner berühmten Kompensationstheorie formuliert hat. Für Lübbe fungierte das Museum als Ort, an dem sich ein Stück gute alte Welt finden lässt, die einem noch vertraut ist, und zwar in Zeiten rasanten gesellschaftlichen und politischen Wandels. Wo sich das Individuum immer stärker fremd fühlt in seinem Alltag, z. B. weil um 1900 die Trambahnen das Leben auf der Straße schnell und hektisch hatten werden lassen oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zechen und Webereien schließen mussten, da könne das Museum eine Gegenwelt des Vertrauten bieten. Diese Gegenwelt helfe, Modernisierungsprobleme zu moderieren, weil sie zwischen den Zeiten agiert. Im Kern geht es bei diesem Argument darum, dem Einzelnen Ängste vor einem ihm fremd gewordenen Alltag und Umfeld zu nehmen, indem er sich in vertraute Herkunftswelten oder an Sehnsuchtsorte wie das Landleben im 19. Jahrhundert flüchten kann, die ihm als authentisch und ursprünglich erscheinen. Dieses Sammeln ist oft nostalgisch. Bewahren Das Museum trägt Dinge zusammen, um sie auf Dauer zu bewahren. Das unterscheidet es von der Ausstellung, die auf begrenzte Zeit angelegt ist. Bewahren heißt zuerst, Dinge so zu lagern, dass sie nicht kaputtgehen, gestohlen oder beschädigt werden können. Dazu verfügen Museen über Depoträume, die – im © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer D IE FÜNF M USEUMSAUFGABEN Idealfall – klimatisiert und besonders gesichert sind und hohen Brandschutzstandards entsprechen sollen. Das kostet Geld, weshalb die Frage, was es uns als Gesellschaft wert ist, dass bestimmte Objekte dauerhaft aufgehoben werden, immer häufiger politisch diskutiert wird: Brauchen wir das wirklich oder kann das weg (siehe Kap. 2.5, Grenzen des Wachstums)? Bewahren heißt zweitens, Dinge zu erschließen, das heißt sie in Ordnungen zu überführen, in denen sie Sammlungsleiter (Kustoden) wie Nutzer wiederfinden können. Dafür muss das Museum sie zunächst erfassen und in Inventaren und Datenbanken verzeichnen. Das ist die Voraussetzung, damit der Kustos sie dicht an dicht in abgeschlossenen Lagerräumen verstauen kann, wo er sie nicht mehr in Gänze überblickt. Ohne Inventareintrag wären diese Dinge verloren, weil man sie in der Masse des Materials nicht mehr finden könnte. Eine erschlossene Sammlung bildet einen Bestand. Bestände findet ein Museum nicht in Gänze vor, sondern es bildet sie, indem es seine Sammlungen systematisch aufbaut und – in der Regel einer Sammlungsstrategie folgend – vervollkommnet. Zwei Prinzipien können wir bei der Bestandsbildung in Archiven und Museen unterscheiden: das Provenienz- und das Pertinenzprinzip. Für das Provenienz- oder Herkunftsprinzip gilt, dass „das bei einer bestimmten Behörde, Einrichtung oder Einzelperson erwachsene Dokumentationsgut im Archiv in einem diesem ‚Registraturbildner‘ vorbehaltenen Bestand oder Fonds zusammengefasst wird“ (Franz 2004, 45 f.). Wer so sammelt – z. B. Behördenarchive – , belässt die Dinge in jenen Zusammenhängen, in denen sie ins Archiv oder Museum gekommen sind. So kann er klar abgegrenzte, in sich geschlossene Einheiten „unter weitgehender Wahrung des ursprünglichen Registratur- und Organisationszusammenhangs“ bilden (ebd.). Der Überlieferungszusammenhang wird also nicht verändert. Was für Behördenarchive gut funktioniert, ist für (Museums-)Sammlungen wenig zielführend. Denn wo das Behördenarchiv davon ausgehen kann, dass die Behörden, deren Akten es übernimmt, ihre Ablagen nach demselben Schema organisieren (alphabetisch, nach Jahren etc.), wählt man für eine Sammlung gezielt einzelne Objekte aus und ergänzt sie um Dinge aus anderen Kontexten: aus Privatsammlungen, von Auktionen, Flohmärkten oder im Tausch mit anderen Museen. Für Museumssammlungen ist in der Regel das Pertinenzprinzip relevant. Es sortiert seine Dinge nach neuen Sachzusammenhängen, ordnet sie Kategorien unter, die für die jeweilige Leitdisziplin relevant sind: Ein historisches Museum sortiert seine Dinge dann z. B. nach Epochen, ein Kunstgewerbemuseum nach Materialien, ein naturkundliches Museum taxonomisch nach Arten oder ein Literaturmuseum nach Autorennamen. Die vormuseale Ordnung der Dinge geht verloren (wenngleich sie inzwischen immer häufiger dokumentiert wird), um sie dem übergeordneten Erkenntnisinteresse des Museums anpassen zu können. Andernfalls bestünden Museumssammlungen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ordnungen, die kaum noch jemand überblicken könnte. © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 9 WAS IST EIN M USEUM ? 10 Bewahren bleibt drittens nicht beim sauberen Verräumen und Ordnen der Dinge stehen, sondern es kann die Dinge auch materiell verändern. Ein Museum konserviert das Material, wenn es weiteren Verfall stoppt, also z. B. Schimmel beseitigt oder Rost entfernt. Es restauriert die Dinge, wenn es sie in einen früheren Zustand zurückversetzt. In welchen Zustand der Restaurator das Objekt zurückversetzt, hängt – neben den technischen Möglichkeiten – davon ab, welche Fragen die Forschung aktuell interessieren und welche Wertkriterien sie anlegt. Restaurierungsfragen unterliegen also immer zeittypischen Interessen und verändern sich. Forschen Zu forschen heißt, systematisch mit wissenschaftlichen Methoden nach neuer Erkenntnis zu suchen und das neue Wissen zu dokumentieren und zu veröffentlichen, damit die Wissenschaft es diskutieren kann. Forschen ist ein offener Prozess mit ungewissem Ausgang. Forschung im Museum basiert auf den Sammlungen und kennt drei Zweige: Grundlagenforschung als Erkenntnisgewinn über Sammlungsobjekte ohne konkretes Verwertungsinteresse, disziplinäre Forschung, um Objekte nach fachwissenschaftlichen Kriterien zu erschließen und angemessen zu bewerten, und Forschung in benachbarten Wissenschaften, die nötig sind, um die Objekte für die Museumsarbeit zu nutzen (konservatorische Maßnahmen, Ausstellungstheorie, Dokumentationsstandards etc.) (Waidacher 1999, 180 – 185). Bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts definierten sich viele Museen als Orte der Forschung (und grenzten sich damit von pädagogisch ausgerichteten ‚Volksbildungsstätten‘ ab). Ihre Sammlungen dienten Wissenschaftlern im Museum und an den Universitäten als Grundlage für neues Wissen. Besonders galt dies für die Naturkunde, die Tier- und Pflanzenpräparate so lange in Schränken und Schubladen neu sortierte, bis sie zu konsensfähigen Ordnungen und Kategorien kam, die wir heute als Taxonomien bezeichnen. Die Kunstgeschichte nutzte die Skulpturen und Gemälde in den Kunstmuseen, um ihre Stilgeschichte zu entwickeln und formale Prinzipien zu verstehen. Volks- und Völkerkunde schließlich bedienten sich der Museumssammlungen, um mit ihnen das Alltagsleben der einheimischen Bauern bzw. der indigenen Bevölkerung aus Übersee untersuchen zu können. Diese Gruppen hatten nur selten schriftliche Selbstzeugnisse hinterlassen. Ihrem Leben konnten sich die Volks- und Völkerkundler mithin nicht über schriftliche Quellen in Archiven nähern, sondern nur über die materielle Kultur: über die Trachten und Speere, die Küchengeräte und Bambushütten, die Möbel und Masken, die von Exotik und Naturnähe gleichermaßen zeugen sollten. Der Völkerkundler Leo Frobenius hoffte, mithilfe von völkerkundlichen Museumssammlungen die Frühzeit der Menschen neu interpretieren zu können © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer D IE FÜNF M USEUMSAUFGABEN und so zum „Ursprung der Völker“ vorzudringen. „Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind ein Triumph der Museumswissenschaft […]“, verkündete er 1898, „denn nur mithilfe der in den Museen aufgespeicherten Schätze ist es gelungen, die Kulturorganismen zu verstehen.“ (Frobenius 1898, 301) Diese unmittelbare Nähe zur (universitären) Forschung verloren viele Museen im 20. Jahrhundert. Die Volks- und Völkerkundler zum Beispiel gingen nun selbst ins Feld, um mit den Menschen, die sie untersuchen wollten, zu sprechen, bei ihnen zu leben und sie zu beobachten. Erkenntnis suchten sie nicht mehr in den alten Dingen, sondern in selbst erhobenen, oft immateriellen Daten aus der eigenen Feldforschung. Je stärker sich die Wissenschaften ausdifferenzierten, desto stärker verloren Museum und Universität den Kontakt. Mittelfristig führte das dazu, dass der Forschungsauftrag der Museen aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand und von der Kulturpolitik immer weniger honoriert wird. Museen sollen mit ihren Ausstellungen wissenschaftliches Wissen für ein breites Publikum vermitteln. Wie sehr etliche von ihnen dabei aus ihren Beständen genuine Forschungsbeiträge leisten, wird oft nicht erkannt. Die Realität vieler kleinerer Museen freilich sieht so aus, dass ihnen das Tagesgeschäft – vor allem die Arbeit an den regelmäßig erwarteten Wechselausstellungen und die aufwendige Vermittlungsarbeit – kaum noch Zeit für Grundlagenforschung lässt. Geforscht wird dann höchstens themenbezogen für die nächste Sonderschau. Das Museum wird inzwischen – darauf komme ich später ausführlich zu sprechen – nicht mehr primär über seine Sammlungen wahrgenommen, sondern über seine Ausstellungen. Als Reaktion auf den bedrohten Forschungsauftrag der Museen deklarierten sich 1977 Museen der Leibniz-Gemeinschaft als „Forschungsmuseen“: Zu diesen Museen der sogenannten „Blauen Liste“ zählen das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum, das Deutsche Museum in München, das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz, das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn und seit 1980 das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven sowie seit 2009 das Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität Berlin. Hinzu kommt das Senckenberg-Naturmuseum Frankfurt. Die Forschungsmuseen der Blauen Liste sind außeruniversitäre Forschungsinstitute, die für sich in Anspruch nehmen, für ihren Fachbereich „Aufgaben von zentraler Bedeutung zu erfüllen“. „Die Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft“, heißt es im Bund-Länder-Eckpunktepapier zu diesen Museen, „sind Orte von Wissenschaft und Forschung […]. Traditionell verstehen sich die Forschungsmuseen als Orte der Bildung, der Wissenschaftskommunikation und des Wissenstransfers. Sie formen mit ihrer Arbeit das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft und können mit ihren Ausstellungen kulturelle Identität und gesellschaftliche Integration stiften – und nicht zuletzt Menschen jeder Herkunft und jeden Alters für Wissenschaft und Forschung begeistern.“ © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 11 WAS IST EIN M USEUM ? 12 (https://www.bmbf.de/files/Bund-Laender-Eckpunktepapier-Forschungsmuseen-Leibniz.pdf) Konkret bedeutet Forschung in diesen Museen, dass sie (natur-) wissenschaftliche Verfahren zur Altersbestimmung von Artefakten entwickeln, Restaurierungs- und Konservierungswissenschaften, Materialforschung sowie Bildungs- und Besucherforschung betreiben. Sie wollen neue Erkenntnisse über die Entwicklung von Wissen, Wissenschaft und Wissensordnungen liefern. Inzwischen ist der Forschungsauftrag der Museen in Deutschland auch jenseits dieser Leuchtturmprojekte wieder stärker ins Bewusstsein getreten, wofür etwa die Förderlinien „Forschung in Museen“ (VolkswagenStiftung) oder „Die Sprache der Objekte“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung) ein Indiz sind. Kurzum: Nachdem Wissenschaft und Museum sich nach 1900 immer stärker voneinander entfernten, lassen sich aktuell Zeichen einer Wiederannäherung erkennen (siehe Kap. 2.5, Museen als Wissens- und Forschungsorte). Ausstellen Neben den Aufgaben Sammeln, Bewahren und Forschen, die Museen vor allem mit und in den Sammlungen bewältigen, gibt es zwei besonders öffentlichkeitswirksame Aufgaben: das Ausstellen und das Vermitteln. Mit beiden versucht ein Museum, seine Erkenntnisse zu popularisieren, das heißt öffentlich bekannt zu machen. Das klassische Format innerhalb des Museums dafür ist die Ausstellung. Ihr Ursprung ist ein dreifacher: Kunstsalon, Gewerbeschau und Museum sind die Entstehungsorte der modernen Ausstellung als ästhetischer, ökonomischer und epistemischer Praxis. Eine Ausstellung ist eine zeitlich begrenzte Präsentation von Objekten im Raum zu Demonstrationszwecken. Sie ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern mobil und ein Instrument, dessen sich so unterschiedliche Institutionen wie Museen, Galerien, Bibliotheken, Universitäten, Kaufhäuser oder Messen bedienen. Ausstellungen sind Schauzusammenhänge, die auf sinnliche Erfahrungen zielen und beanspruchen, das Publikum gleichermaßen zu unterhalten und Wissen zu vermitteln. Das Ausstellen im Museum unterschied sich lange Zeit von den Präsentationen der Weltausstellungen, Messen oder Warenhäuser. Es folgte (und folgt in der Regel immer noch) einer anderen Logik. Die Formate beeinflussten sich gegenseitig, blieben aber, wie die Kulturwissenschaftlerin Gudrun König gezeigt hat, verschiedenen Präsentationslogiken verpflichtet. Statt die Dinge zu wissenschaftlichen Typologien, Stilräumen oder rekonstruierten Stuben zu arrangieren, wie im Museum üblich, feierte die Warenwelt um 1900 das Einzelobjekt, das sie durch Serien des Immergleichen in seiner Präsenz noch zu steigern wusste. Die kommerzielle Warenausstellung als flüchtiges Medium reagierte schneller auf neue Sehgewohnheiten des modernen Konsumenten, als es dem an seiner Sammlungs© Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer D IE FÜNF M USEUMSAUFGABEN ordnung orientierten Museum seinerzeit möglich war. Solche Schauen machten Dinge zu Symbolen modernen Lebensstils und verliehen ihnen durch räumliches Arrangement in ansprechenden Raumbildern ganz neue Bedeutungen, die sich durch das Sehen erschlossen: „Labor und Experimentierfeld für Operationen des Zeigens waren nicht kulturhistorisches Museum und Museumsausstellung, sondern Gewerbeausstellung und Warenhaus.“ (König 2009, 353) Für die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen handelt es sich bei „Ausstellung und Museum um zwei verschiedene Präsentationsweisen, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zueinander fanden“ (te Heesen 2012, 14). Grundsätzlich können wir zwei Arten von musealen Ausstellungen unterscheiden: Dauer- und Wechselausstellungen. Dauerausstellungen sind für einen längeren Zeitraum konzipiert (10 – 15 Jahre) und entsprechen dem musealen Prinzip der Schausammlung, d. h. sie beruhen vor allem auf Beständen aus der eigenen Sammlung und repräsentieren den Sammlungsbestand des Hauses. Wechselausstellungen hingegen sind von kurzer Dauer, können zwischen verschiedenen Museen wandern („Wanderausstellung“) und sich ihre Exponate aus anderen Sammlungen zusammenleihen. Sie können stärker zuspitzen und kühner inszenieren als Dauerausstellungen, da sie nach wenigen Monaten wieder abgebaut werden. „Sie müssen den Mut zur These und den Mut zum Bild haben, damit sie mit ihren Botschaften der öffentlichen Diskussion Stoff und Richtung geben können. Sie sind Ausgangspunkte für Trends und weitreichende Verständigungsund Deutungsprozesse, die nachdrücklich jene diskursive Unruhe bewirken können, die für eine lebendige Geschichtskultur Voraussetzung ist.“ (Korff / Roth 1990, 21 f.) Wechselausstellungen sind flexibel, weil sie kurzfristig auf aktuelle Debatten reagieren können. So inszenierte das Deutsche Historische Museum in Berlin 2016 / 17 eine Ausstellung zur Geschichte des deutschen Kolonialismus genau zu dem Zeitpunkt, als rund um das geplante Berliner Humboldt Forum darüber gestritten wurde (und wird), welchen Rang die deutsche Kolonialvergangenheit in der deutschen Erinnerungskultur einzunehmen habe (siehe Kap. 2.5, Kulturerbe und Provenienzforschung). Besonders eindrücklich zur „diskursiven Unruhe lebendiger Geschichtskultur“ hat 1995 – 1999 die sogenannte Wehrmachtsausstellung beigetragen, die mit der Botschaft antrat, „die Lüge von der sauberen Wehrmacht“ zu entkräften. Sie wollte nachweisen, in welchem Ausmaß deutsche Soldaten an den Massenermordungen im Vernichtungskrieg im Osten beteiligt waren, und wurde zum Skandal. Neuere Formate wie die sogenannten ‚Interventionsausstellungen‘ versuchen, die kategorische Differenz zwischen Dauer- und Wechselausstellung aufzubrechen: Sie ‚überspielen‘ mit temporären Präsentationen einzelne Stationen der Dauerausstellung, indem sie neue Objekte und Texte einbringen und so alten Inszenierungen eine neue Aussage geben. Aufgabe jeder Ausstellung ist es, Themen mithilfe von Dingen, Texten und Medien zu zeigen. Ausstellungen dekontextualisieren ihre Objekte, um sie narra© Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 13 WAS IST EIN M USEUM ? 14 tiv neu zu ordnen, das heißt sie nehmen Objekte aus ihrem früheren Gebrauchszusammenhang, um sie zu Gegenständen des Nachdenkens und zu Symbolen zu machen, also zu Exponaten. Diese Dinge inszenieren sie, ordnen sie „nach Maßgabe einer Deutung im Raum“ an (Korff 2007a, 144), um Deutungen nahezulegen und die Wahrnehmung zu lenken. Inszenierungen sind zwar stets bewusst hergestellt, werden aber nicht immer bewusst decodiert, sondern können einen überwältigen, einem zustoßen. Sie beziehen sich auf früher Erlebtes, Gelerntes, Erfahrenes und basieren gleichermaßen auf einmalig subjektiv erlebten Ereignissen wie auf intersubjektiv gültigen kulturellen Codes, die der Betrachter verinnerlicht hat, ohne sich ihrer bewusst sein zu müssen. Inszenierungen entziehen sich weitgehend einer Nacherzählung in Begriffen, weil man sie nur partiell kommunizieren, vollständig nur wahrnehmen, erleben kann. Ein Gutteil der Inszenierung ist inkommensurabel, also nicht übersetzbar in andere Darstellungsformen, sondern nur im Schauraum fassbar. Infobox Inszenierung Inszenierungen sind Strategien, die in einer Ausstellung Exponate mithilfe von Ausstellungsmobiliar, audiovisuellen und atmosphärischen Medien (Licht, Töne) räumlich in Szene setzen, um Deutungen nahezulegen und Objekteigenschaften und -bedeutungen sinnlich erfahrbar zu machen. Sie sind mehr als die Summe ihrer Teile und nur partiell analytisch zu verstehen oder in Begriffe zu übersetzen. Man muss sie erleben. Vermitteln Vermittlungsarbeit im Museum gestaltet den Dialog zwischen den Besuchern und den Objekten und Inhalten in Museen und Ausstellungen. Sie veranschaulicht Inhalte, wirft Fragen auf, provoziert, stimuliert und eröffnet neue Horizonte. Sie richtet sich an alle Besucher / innen und versetzt sie in die Lage, in vielfältiger Weise vom Museum und seinen Inhalten zu profitieren, das Museum als Wissensspeicher und Erlebnisort selbständig zu nutzen und zu reflektieren. Vermittlungsarbeit ist integraler Bestandteil der Institution Museum und realisiert maßgeblich und nachhaltig ihren Bildungsauftrag. (Deutscher Museumsbund / Bundesverband Museumspädagogik 2008, 8). Diese Idee von Vermittlung sieht das Museum als dialogische Institution, die den Besucher nicht belehrt, sondern vor allem mit ihm in Kontakt kommen will. Das Museum ist ein öffentlicher Raum der Begegnung und des Austausches mit Objekten, Kuratoren, anderen Besuchern und Experten sowie der Institution Museum im Rahmen unterschiedlicher Veranstaltungen. © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer D IE FÜNF M USEUMSAUFGABEN Dem Bundesverband Museumspädagogik (BVMP) gilt all das als Teil des „Bildungsauftrags“ der Museen – eine Denkfigur, die sich im 19. Jahrhundert etablierte. Seit dieser Zeit ist Bildung in Deutschland ein Zentralbegriff der Vermittlungsarbeit. Im Doppel mit Kultur wurde sie zu einem „deutschen Deutungsmuster“ (Bollenbeck 1994, 25) (siehe Kap. 1.2, Kultur), das dem Humboldt’schen Ideal der umfassenden (zweckfreien) Bildung der Persönlichkeit dienen soll (siehe Kap. 2.3, Das Museum als Erziehungsanstalt und der Exhibitionary Complex). Diese Idee von ‚Bildung‘ stand in den 1960er und 1970er Jahren zwischenzeitlich in der Kritik, weil sie bürgerlichen Idealen verpflichtet schien. Erst in den späten 1980er Jahren wurde sie wieder diskutiert und unter dem Schlagwort ‚kulturelle Bildung‘ neu vermessen. „Kulturelle Bildung bedeutet Bildung zur kulturellen Teilhabe. Kulturelle Teilhabe bedeutet Partizipation am künstlerisch kulturellen Geschehen einer Gesellschaft im Besonderen und an ihren Lebens- und Handlungsvollzügen im Allgemeinen.“ (Ermert 2009, 1) Neben ‚(kultureller) Bildung‘ ist der Begriff ‚Lernen‘ der zweite zentrale Topos heutiger Vermittlungsarbeit im Museum. Während Bildung stärker auf ein umfassendes Konzept von Persönlichkeitsentwicklung zielt, das Urteilsfähigkeit bei permanenter Selbstkritik einfordert, definiert der Kognitionspsychologe Stephan Schwan Lernen „als relativ dauerhafte Verhaltensänderung aufgrund von Übung oder Erfahrung“ (Schwan 2015, 64). Allen voran die Besucherforschung hat neue Theorien und Konzepte zum Lernen im Museum entwickelt, bei denen das ‚informelle‘ Lernen im Zentrum steht, das „beiläufig aus einer anderen Aktivität heraus“ entsteht (ebd. 66). Im Museum basieren Bildung und Lernen auf der direkten Konfrontation mit Dingen im Raum als eigenständiger ‚ästhetischer‘ Erfahrung. Die Ausstellung fungiert eher als Impulsgeber für Kommunikation, denn als Ziel der Vermittlungsarbeit: „Lernen und Bilden umfasst […] ästhetische Erfahrung und ist als produktiver, selbsterzeugender Wissens- und Erfahrungsaufbau zu verstehen – und nicht unbedingt an die Erzähllinie einer Ausstellung gebunden.“ (Noschka-Roos 2016, 46) Vermittlung bezeichnet heute jegliche Kommunikation im und über das Museum – von der Ausstellungs- oder Depotführung über die Öffentlichkeitsarbeit, Konzeptentwicklung bis zum Besucherservice, der Besucherforschung und dem sogenannten Audience Development. Sie soll – zumindest in der Theorie – integraler Bestandteil jeglicher öffentlicher Museumsarbeit sein. Im englischsprachigen Raum ist ein solches Verständnis von Vermittlung traditionell stark in den Museen verwurzelt. Die Macht der Education Departments innerhalb der (großen) Museen ist ungleich größer als in Deutschland, wo der ‚Museumspädagoge‘ lange Zeit als Anhängsel zum wissenschaftlichen Kurator gesehen wurde. Das ändert sich inzwischen. In der Bundesrepublik war dafür die Bildungsreform der 1970er verantwortlich, die mit ihren Ideen des Museums als „Lernort“ und einer „Neuen Kultur© Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer 15 16 WAS IST EIN M USEUM ? politik“ (siehe Kap. 2.4, Museen in der Bundesrepublik) leicht zugängliche Kulturangebote für jedermann etablieren wollte. Immer mehr Museen begannen nun (nochmals verstärkt seit den 1990er Jahren), ihre Angebote vom Besucher und nicht mehr allein von den Sammlungen aus zu konzipieren. Zwar gab es Vorläufer wie die Museumsreformbewegungen um 1900, die versuchten, die deutschen Museen als Institutionen der ‚Volksbildung‘ zu ‚demokratisieren‘ und besucherfreundlicher zu machen; damals aber waren die meisten großstädtischen Museen – anders als die dezidiert volkspädagogisch ausgerichteten Technik- oder Heimatmuseen – in ihrem ganzen Habitus nicht offen für Klassen unterhalb des Bürgertums und fest in den Händen von Verwaltungsbeamten, die sich allein für die Sammlungspflege zuständig fühlten. Das änderte sich großflächig erst, als sich die westlichen Gesellschaften Ende der 1960er Jahre im Zuge der Neuen Sozialen Bewegungen grundlegend wandelten und sich eine internationale Kulturpolitik der Teilhabe etablierte, wie sie sich 1976 in der „Empfehlung über die Teilnahme und Mitwirkung aller Bevölkerungsschichten am kulturellen Leben“ der UNESCO oder in neuen Museumsformen wie dem Ecomusée in Frankreich oder den Neighborhood Museums in den USA äußerte. Beide Konzepte basierten auf der Mitarbeit der Menschen vor Ort beim Aufbau neuer Stadtteilmuseen. Die 1970er Jahre sind in der Bundesrepublik die Zeit, in der Museen erste Planstellen für Museumspädagogen einrichteten. In der DDR geschah das bereits Mitte der 1960er Jahre. Heute versteht sich die Museumspädagogik als dialogische Disziplin, die ihre Themen bevorzugt „handlungsorientiert“ vermittelt. Sie ist bestrebt, dass sich die Besucher eigenständig Ausstellungen und Museumsangebote aneignen: „Vermittlungsarbeit macht die Institution Museum transparent und fördert eigene Zugänge der Besucher zu den Präsentationen.“ (Deutscher Museumsbund/ Bundesverband Museumspädagogik 2008, 10) Dafür hat sich der Begriff ‚Partizipation‘ als Chiffre für aktive Teilhabe an Museumsaufgaben eingebürgert, um den es in Kapitel 2.5 gehen wird. Weiterführende Literatur Commandeur / Kunz-Ott / Schad 2016: Beatrix Commandeur / Hannelore Kunz-Ott / Karin Schad (Hg.), Handbuch Museumspädagogik. Kulturelle Bildung im Museum (München 2016). Korff 2007a: Gottfried Korff, Museumsdinge. Deponieren – exponieren. In: Martina Eberspächer / Gudrun Marlene König / Bernhard Tschofen (Hg.), Museumsdinge. Deponieren – exponieren (Köln, Weimar, Wien 20072 ). Macdonald 2006: Sharon Macdonald (Hg.), A Companion to Museum Studies (Oxford 2006). Pomian 1998: Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln (Berlin 1998). Pearce 1994: Susan Pearce (Hg.), Interpreting objects and collections (New York 1994). Walz 2016: Markus Walz (Hg.), Handbuch Museum. Geschichte – Aufgaben – Perspektiven (Stuttgart 2016). © Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018, Licensed for Prof. Dr. Thomas Thiemeyer