Thomas Thiemeyer
Geschichte
im Museum
Theorie – Praxis – Berufsfelder
Public History –
Geschichte in der Praxis
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Public History –
Geschichte in der Praxis
Herausgegeben von Irmgard Zündorf (Potsdam) und
Stefanie Samida (Heidelberg)
Prof. Dr. Thomas Thiemeyer lehrt Empirische Kulturwissenschaft an der
Universität Tübingen mit Schwerpunkt Museumsforschung. Er leitet zusammen mit Prof. Dr. Ernst Seidl die Tübinger Master-Profillinie ‚Museum &
Sammlungen‘.
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Thomas Thiemeyer
Geschichte im Museum
Theorie – Praxis – Berufsfelder
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Umschlagabbildung: Historisches Museum Frankfurt
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ISBN 978-3-8252-5045-4
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Inhaltsverzeichnis
..............................................................................
1
1
1.1
1.2
Was ist ein Museum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die fünf Museumsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Koordinaten: Kultur, Geschichte, Identität und Wissen . . . . . . . . . . . . . . .
5
7
17
2
2.1
31
35
2.4
2.5
Geschichte des (kulturhistorischen) Museums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Curiositas und Repraesentatio: Die Kunst- und Wunderkammern
der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aufgeklärtes Wissen: Der Beginn des modernen Museums im
18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kultur, Nation und Bürgertum: Das 19. Jahrhundert
als Museumszeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das 20. Jahrhundert als Ausstellungszeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Museum im 21. Jahrhundert: Themen der Gegenwart . . . . . . . . . . .
3
3.1
3.2
3.3
Geschichte im Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Räume: Depot und Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dinge: Der Wert der Dinge für das Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kuratorische Praktiken: Werk, Exemplar, Zeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
119
121
129
4
4.1
4.2
4.3
Studium und Berufsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Volontariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Berufsfeld Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
137
138
139
Links, Institutionen, Zeitschriften
.....................................................
149
.............................................................
153
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Einleitung
2.2
2.3
Abbildungsverzeichnis
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Einleitung
Nein, es war kein Unglück. Ich habe das Feuer gelegt, an einem Abend, am Abend des
achtzehnten August, mir blieb nichts anderes mehr übrig, als das Museum zu zerstören, das einzige masurische Heimatmuseum, in Engenlund drüben, bei Schleswig. Kein
Zufall, mein Lieber. So wie es einst allein mein Plan war, das Museum zu erbauen und
einzurichten, so war es jetzt auch allein mein Entschluß, es vollkommen zu zerstören,
einschließlich all der Zeugnisse, Beweise und Dokumente, die es beherbergte und die
ich gemeinsam mit den Leuten in den Jahren nach dem Krieg hier gesammelt habe.
Mit einem Brand beginnt Siegfried Lenz 1978 seinen Roman „Heimatmuseum“,
in dem der im Zweiten Weltkrieg aus Masuren ausgewanderte Zygmunt Rogalla
willentlich sein Lebenswerk vernichtet. Bereits in den 1930er Jahren musste er
das Heimatmuseum seines Onkels in Masuren gegen die Nationalsozialisten verteidigen, die mit dem dort gesammelten Fundus an Dingen ihre Ostpolitik legitimieren wollten. Nun, nachdem er die Reste dieses Museums in die junge Bundesrepublik verbracht hatte, droht dort eine Ideologie, die Rogalla fremd ist, seine
masurischen Zeugnisse ebenfalls zu vereinnahmen. Er brennt sein Museum –
ein Heimatmuseum außerhalb der alten Heimat – nieder, um es vor Instrumentalisierung zu schützen.
Mit sicherem Gespür bündelt der Romancier Lenz in der Eingangssequenz
seines Romans charakteristische Details, die nicht nur das Heimatmuseum, sondern das Museum als solches betreffen. Er erzählt von der „Monumentation“
(Gottfried Korff) der Sachzeugen aus der Vergangenheit. Rogalla ist sich bewusst,
dass sie fähig sind, unterschiedliche Versionen von Geschichte zu beglaubigen,
wenn man sie nur richtig zu nutzen weiß. Sie verfügen über eine Wirkung, die
so gewaltig sein kann, dass er sich nicht anders zu helfen weiß, als die Dinge zu
verbrennen, um ihre Potenz als Geschichtszeichen für die Gegenwart zu brechen
und sie als ‚Beweise‘ für eine falsche Geschichte zu vernichten. Er schützt die Vergangenheit vor der Geschichte.
Willentlich zerstört Rogalla Kulturgut, das, so der zeitgenössische Konsens,
unbedingt wert sei, bewahrt und öffentlich präsentiert zu werden. Der Wert dieser Dinge liegt, wie Lenz spezifiziert, in ihrer Funktion als „Zeugnisse, Beweise
und Dokumente“. Damit trifft er genau jene Kategorien von Objekten, die für historische Museen charakteristisch sind (er spricht nicht von Werken oder Exemplaren, wie wir sie gewöhnlich Kunstmuseen oder naturhistorischen Häusern
zuordnen).
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2
E INLEITUNG
Lenz’ Roman ist eine mehrdimensionale Parabel auf das Thema dieses Buches:
das Verhältnis von Kultur, Geschichte und Museum. Er zeigt, mit welchen Mitteln
Museen arbeiten, wie sie Geschichte konstruieren und wie diese Geschichte in
Dienst genommen werden kann. In der kurzen Eingangsszene aus Lenz’ „Heimatmuseum“ scheinen drei Grundannahmen durch, die den vorliegenden Band fundieren und ihm eine spezifische Perspektive geben: Er will erstens das Museum
als Institution des kulturellen Erbes vorstellen und die Idee, dass materielles Kulturgut einen Wert darstellt, der unbedingt zu bewahren sei, als Idee der Moderne
kennzeichnen. Was wir heute unter einem Museum und seinen Aufgaben verstehen ist eine erlernte Sicht auf diese Institution und ihre Sammlungen. Sie basiert
immer noch auf Kulturvorstellungen, die Idealen der Aufklärung folgen und die
Bildungsbürger im 19. Jahrhundert prägten.
Zweitens gehe ich davon aus, dass Museen Erinnerungskultur nicht nur abbilden (Geschichte im Museum), sondern dass Museen gleichermaßen Ausdruck und
Produkt von Erinnerungskultur sind. Sie entstanden, weil man sich etwas von ihnen
versprach, und sie geben Auskunft davon, wie Gesellschaften zu bestimmten Zeiten ‚ihre‘ Kultur und Geschichte tradierten. Deshalb brennt Zygmunt Rogallas
Museum. Museumssammlungen und -ausstellungen sind also Quellen, die etwas
über das historische Bewusstsein einer Gesellschaft verraten.
Drittens scheint mir, dass sich das Verhältnis von Geschichte und Museum
am besten entlang eines Konzepts entwickeln lässt, das gerade viel diskutiert
wird: Kultur. Museen versteht dieses Buch als Orte, an denen Kultur verhandelt wird.
Kultur in ihren verschiedenen Spielarten – als Lebensstil, nationale Zuschreibung, Kunst, Bildungsgut und ‚Erbe‘ – ist der rote Faden der Darstellung. Was
ich erzähle, ist eine kulturwissenschaftliche Geschichte und Theorie des Museums, die
sensibel für gesellschaftliche Kontexte, Machtstrukturen, Abgrenzungsmechanismen, Erkenntnisinteressen, kuratorische Praktiken und Verhaltensweisen ist. Das
Museum ist aus dieser Perspektive vor allem Wissens- und Repräsentationsort. Deshalb stelle ich dem Kulturbegriff drei weitere Begriffe zur Seite, die Koordinaten
des heutigen Museumsdiskurses bilden: Geschichte, Identität und Wissen.
Diese vier Begriffe stehen am Beginn dieses Buches. Sie folgen auf einleitende
Überlegungen, was wir heute unter einem Museum verstehen und welche Aufgaben das Museum hat (Kapitel 1). Im zweiten Kapitel folgt ein stark selektiver Gang
durch die Museumsgeschichte, der die Etablierung der Institution aus gesellschaftlichen Entwicklungen heraus erklärt: Die Idee des Kulturerbes ist ohne die
Französische Revolution nicht zu verstehen, und wer die politische Idee der Bildungsreform nicht kennt, dem bleibt der Museumsboom der späten 1970er Jahre
ein ewiges Rätsel. Das dritte Kapitel erklärt anhand der drei Kategorien Räume,
Dinge und Praktiken, wie Museen Geschichte sammeln und erzählen, welcher Techniken und Strategien sie sich bedienen, kurzum: was sie als Medium besonders
macht und wie sie Geschichte produzieren. Das vierte Kapitel unterscheidet sich
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E INLEITUNG
grundlegend vom Vorherigen: Es fungiert als Praxisleitfaden für all jene, die sich
im Studium oder beruflich näher mit dem Museum beschäftigen wollen. Es hat,
wie das gesamte Buch, vor allem Bachelor- und Masterstudierende unterschiedlicher Disziplinen im Auge und will ihnen ein wenig Orientierung im Dschungel der Museumsausbildungen und -berufe geben.
Wenn ich bislang etwas salopp von ‚dem Museum‘ gesprochen habe, so muss
ich nun genauer werden: Dieses Buch widmet sich vor allem (kultur-)historischen
Museen. Nun ist überhaupt nicht klar, welche Museen in diese Kategorie fallen.
Jedes Museum befasst sich mit Kultur, und so gut wie jedes Museum argumentiert historisch, ob es nun Kunst, ausgestopfte Tiere oder Relikte der Industriekultur zeigt. Wenn ich von (kultur-)historischen Museen rede, geht es mir deshalb nicht allein um den historiografischen Zugriff auf einen Inhalt, sondern um
die Bezugsdisziplinen: Die Museen, denen sich dieses Buch widmet, sind Museen,
die sich an den Erkenntnisinteressen historisch arbeitender Disziplinen wie der Geschichtsoder (volkskundlichen) Kulturwissenschaft orientieren (die durchaus divergieren) –
allerdings ohne die stark ästhetisch ausgerichtete Kunstgeschichte. Konkret fallen darunter die Heimat-, Regional- und Stadtmuseen, etliche kulturhistorische
Museen, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden (als sie ihre Exponate noch stärker historisch und nicht primär ästhetisch kontextualisierten), sowie historische
Museen im engen Sinne – deshalb auch die Schreibweise ‚(kultur-)historisch‘. Darunter fallen auch kulturpolitisch ausgerichtete Ausstellungen wie die „PRESSA“
(1928) oder die Wanderausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ (1971),
die keinem Museum entstammten, aber museal arbeiteten und Museen wichtige
Impulse gaben. Ich folge also nicht der Trennung zwischen ‚historischen‘ und
‚kulturhistorischen‘ Museen, wie sie die Fachgruppen des Deutschen Museumsbundes abbilden, bei denen die kulturhistorischen Museen mit den Kunstmuseen zusammengefasst sind.
Es ist mir klar, dass ich nicht allen Museumstypen und Ausstellungsformaten,
die ich unter der Rubrik ‚(kultur-)historische Museen‘ zusammenfasse, im Einzelnen gerecht werden kann. Mir geht es um etwas Anderes: Diese Museen und Ausstellungen teilen wesentliche Annahmen davon, was sie sollen, wie sie es zeigen,
was sie sammeln und was sie dürfen und nicht dürfen. Sie sind sich darin nicht
immer einig, aber folgen doch anderen Diskursen, Vorbildern und Leitideen als
z. B. Kunst- oder naturkundliche Museen. Es geht mir, kurz gesagt, um Museen,
die ähnliche Objekte in den Blick nehmen und sie ähnlich perspektivieren. Um
diese Unterschiede deutlich zu machen, ziehe ich manchmal Museen anderer
Gattungen zum Vergleich heran, vor allem dort, wo sie unser heutiges Museumsverständnis prägten. Im Mittelpunkt stehen Museen aus Deutschland, die ich
zuweilen um besonders einflussreiche Beispiele aus anderen Ländern ergänze.
Zum Schluss noch eine Warnung: Dieses Buch ist eine Einführung in
Geschichte, Theorie, Praxis und Berufsfelder des Museums. Es ist kein Handbuch
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3
4
E INLEITUNG
(siehe dafür Walz 2016; Graf / Rodekamp 2012). Ihm geht es nicht darum, eine
umfassende Museumsgeschichte und -theorie zu erzählen (siehe dazu ergänzend
te Heesen 2012 und Korff 2007a), sondern möglichst stringent anhand von Beispielen die großen Linien herauszuarbeiten, die unser Verständnis von Museum
heute prägen. Das Bekenntnis zur Teleologie und der Mut zur Lücke sind der Preis,
den ich dafür zu entrichten habe.
Tübingen, August 2018
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Was ist ein Museum?
Das Museum ist eine europäische Kulturinstitution. Seine Vorläufer – die Kunstund Wunderkammern – fanden sich an europäischen Höfen und in Gelehrtenstuben in Italien, Frankreich, England oder den deutschsprachigen Ländern.
In Europa entwickelten sich auch die ersten modernen Museen: das Ashmolean
Museum in Oxford (1683), das British Museum in London (1759), das Muséum central des Arts im Pariser Louvre (1793) oder das Alte Museum in Berlin (1830). Das
Museum ist aufs Engste mit einer Epoche verknüpft, die wir ‚die Moderne‘ nennen, also mit der Zeit der Republikgründungen, die auf die Ära der Feudalstaaten folgte. In Kontinentaleuropa markiert die Französische Revolution hierfür die
entscheidende Zäsur. Erst jetzt, um 1800 (in England schon früher), bilden sich
flächendeckend Museen eines neuen Typus heraus. Diese modernen Museen folgten den neuen Idealen der Aufklärung (v. a. dem Vernunftpostulat), hatten es mit
einer neuen Öffentlichkeit zu tun, basierten auf dem neuen Konzept des Kulturerbes, waren maßgeblich von einer neuen Schicht – dem Bürgertum – geprägt
und standen oft im Dienst einer neuen Idee: der Nation. Sie sind Teil einer groß
angelegten gesellschaftlichen Umformung, die alle Wissens-, Repräsentationsund Bildungsinstitutionen betraf, neben Schulen und Universitäten die Institutionen des sogenannten Informations- und Dokumentationskomplexes (IuD-Komplex): Museen, Bibliotheken und Archive.
Lange, bis ins 18. Jahrhundert, war der Begriff ‚Museum‘ nicht klar konturiert
(siehe Blank / Debels 2002). Oft war er kultisch grundiert und bezeichnete den
Tempel der Musen als Ort der Musenverehrung, an den Pilger Opfergaben brachten und exponierten. Zuweilen bezog er sich auf das ‚Museion‘ von Alexandria,
das nicht wegen seiner Sammlungen so hieß, sondern wegen der Gelehrtengemeinschaft (der unter anderem Ptolemäus und Euklid angehörten), die dort lebte
und forschte. Hier wurden Dinge gesammelt und geordnet, und hier entstand im
dritten Jahrhundert vor Christus die weltberühmte Bibliothek. Dieses ‚Museion‘
war also bereits ein Erkenntnisort mit Dingen, wenngleich es mit dem, was wir
heute als Museum bezeichnen, nicht zu vergleichen ist.
Erst um 1800 schälte sich – parallel zur Gründung der ersten modernen
Museen – ein neues Verständnis von Museum heraus, das der Internationale
Museumsrat ICOM inzwischen wie folgt definiert hat:
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1
WAS IST EIN M USEUM ?
6
Infobox
Museum
„A museum is a non-profit, permanent institution in the service of society and its development,
open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits the tangible
and intangible heritage of humanity and its environment for the purposes of education, study and
enjoyment.“ (ICOM 2007)
Diese Definition besteht aus drei Teilen. Sie definiert den Status, die fünf Aufgaben und den Zweck eines Museums. Seinem Status nach ist das Museum „a
non-profit, permanent institution in the service of society and its development, open to
the public“. Es verfolgt keine kommerziellen Ziele, ist – im Unterschied zum Ausstellungshaus oder der Galerie – ein Haus der langen Dauer, das Dinge für die
Ewigkeit sammelt und bewahrt. Es ist gemeinnützig und steht jedermann zum
Besuch offen. Seine fünf Aufgaben sind es, Dinge und Kunstwerke zu sammeln,
zu bewahren, zu erforschen, bekannt zu machen und auszustellen. Sein Zweck
schließlich besteht im Schutz und dem Zugänglich-Machen des „tangible and intangible heritage of humanity and its environment for the purposes of education, study
and enjoyment.“ Museen bewahren und präsentieren materielles wie immaterielles ‚Kulturerbe‘ – das sind Dinge bzw. Bräuche, Traditionen oder Lieder – , um die
Menschen zu belehren, zu unterhalten und um ihnen neues Wissen zugänglich
zu machen (z. B. indem sie es ermöglichen, dass an den Dingen geforscht wird).
Die ICOM-Definition – 1946 erstmals lanciert – ist international die heute maßgebliche. ICOM überarbeitete sie mehrmals, bis die Generalversammlung 1974
eine Neufassung beschloss, die der heutigen Definition nahekommt. Enthielt die
alte Definition bis dato nur die beiden Museumsaufgaben Bewahren und Ausstellen, kamen nun Forschen, Erwerben und Vermitteln hinzu. 2007 ergänzte
ICOM schließlich die Kategorie des ‚intangible heritage‘. Die Definition passte
sich damit der UNESCO-Kulturerbepolitik an, die von 2006 an auch ‚immaterielles Kulturerbe‘ wie die Mittelmeerküche, die Deutsche Brotkultur oder den Karneval von Binche (Belgien) unter Schutz stellt.
Die ICOM-Definition transportiert ein spezifisches Museumsverständnis, unter
das streng genommen keine kommerziell betriebenen Privatinstitutionen, die
sich ‚Museum‘ nennen (die Bezeichnung ist nicht geschützt), fallen. Auch stellt
sich inzwischen die Frage, ob sie einem entgrenzten Verständnis von Museum,
das über die Ausstellungs- und Depoträume hinausgeht – wie Online-Museen
oder all jene Museen, die sich als genreübergreifende öffentliche Kulturinstitutionen mit zahlreichen Angeboten jenseits der Sammlungen, Ausstellungen und
Führungen verstehen – , noch gerecht wird. 2019 will die ICOM Generalkonferenz
über eine Neudefinition beraten.
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D IE FÜNF M USEUMSAUFGABEN
Die fünf Museumsaufgaben
Sammeln
Bleiben wir noch kurz bei den von ICOM definierten Museumsaufgaben (siehe
dazu vertiefend Walz 2016; Graf / Rodekamp 2012), um zu verstehen, wofür
unsere Gesellschaft diese Institutionen nutzen soll. Museen sollen sammeln, das
heißt, systematisch Objekte zusammentragen, um Wissen zu stiften oder eine
bestimmte Sicht auf die Welt nahezulegen: „Collecting“, schreibt die Kulturanthropologin Sharon Macdonald, „is a set of distinctive […] practices that not only
produces knowledge about objects but also configures particular ways of knowing and perceiving.“ (Macdonald 2006, 94 f.) Anders als das private Sammeln z. B.
von Souvenirs, die allein für den Sammler wichtig sein können, beziehen systematische Sammlungen Dritte in ihre Logik ein, sind öffentlich und nicht privat (ICOM: „open to the public“).
Museumssammlungen haben einen übergeordneten Erkenntniszweck, für
den sie so sortiert und klassifiziert werden, damit, unabhängig von den Personen, die eine Sammlung aufgebaut haben, ihr System nachvollziehbar ist. Das
ist nicht selbstverständlich: Allen voran die Sammlungen der Renaissance, auf
denen einige unserer heutigen Museen basieren, waren allein dem Willen und
der Weltsicht ihrer Sammler verpflichtet und kannten keine allgemeingültigen
Kategorien, nach denen sie ihre Dinge ordneten.
Sammlungen im Museum ändern den Status der Dinge. Darauf hat vor allem
der französische Museumsphilosoph Krzysztof Pomian hingewiesen mit seiner
inzwischen klassischen Definition: „Eine Sammlung ist jede Zusammenstellung
natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweise oder endgültig aus dem
Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem
abgeschlossenen, eigens für diesen Zweck eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt werden und angesehen werden können.“ (Pomian 1998, 16)
Das Museum macht Dinge des täglichen Gebrauchs zu Objekten von rein symbolischer Bedeutung. Es enthebt sie ihrer Gebrauchsfunktion, um sie als Gegenstände der Reflexion zu nutzen, an denen man etwas verstehen und erkennen
kann. Das Museum gilt deshalb als Erkenntnisort, als Ort, an dem Wissen durch
die Ordnung der Dinge in einem räumlichen Arrangement entsteht (ICOM:
„education and study“). Wir werden noch sehen, dass nicht alle Museumsdinge
derart gleichförmig funktionieren, sondern Werke der bildenden Kunst anderen
Gesetzen folgen als kulturhistorische Objekte (siehe die Kategorien Werk, Exemplar, Zeuge in Kap. 3.3).
Warum aber sammelten Menschen überhaupt systematisch, also festen Vorgaben folgend? Was versprachen sie sich davon? Mit Blick auf das Museum lassen
sich drei Motive unterscheiden: ein wissenschaftliches, ein politisches und ein
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7
1.1
WAS IST EIN M USEUM ?
8
psychologisches. Wissenschaftliches Sammeln versteht Dinge als Wissensspeicher.
Es geht davon aus, dass Dinge Wissen dauerhaft konservieren und es freigeben
können, wenn man sie entsprechend ordnet und befragt. Die naturkundlichen
Sammlungen der Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts zum Beispiel dienten als
Orte des experimentellen Umgangs mit Objekten, denen man die Geheimnisse
der Natur entnehmen wollte. Sammeln zu politischen Zwecken hingegen will mit den
Dingen nicht primär neues wissenschaftliches Wissen stiften, sondern eine politische Botschaft lancieren. Adel und Klerus nutzten zu diesem Zweck früh ihre
Sammlungen, um politische Macht, Reichtum und Status zur Schau zu stellen.
Diese Dinge repräsentierten vor allem, das heißt sie nobilitierten ihren Eigentümer, weil sie besonders selten, kostbar oder teuer waren oder aus fernen Ländern
importiert werden mussten. Das konnte sich kaum jemand leisten. Wichtiger als
die Selbstdarstellung von Dynastien oder Individuen wurde bald aber die identitätsstiftende Funktion von Sammlungen, wie sie sich z. B. im Germanischen Nationalmuseum (gegründet 1852) finden lässt. Dieses Museum sollte Dinge zusammentragen, die eine gemeinsame kulturelle Identität der deutschsprachigen
Gebiete belegen und so wirkmächtige Symbole für eine neue Gemeinschaft stiften, die politisch erst 1871 Realität wurde: das Deutsche Reich.
Das politische Sammeln unterscheidet sich vom Sammeln aus psychologischen
Motiven. Dieses Sammeln soll „innerweltliche Verlusterfahrungen kompensieren“, wie der Philosoph Hermann Lübbe (1982) das in seiner berühmten Kompensationstheorie formuliert hat. Für Lübbe fungierte das Museum als Ort, an
dem sich ein Stück gute alte Welt finden lässt, die einem noch vertraut ist, und
zwar in Zeiten rasanten gesellschaftlichen und politischen Wandels. Wo sich das
Individuum immer stärker fremd fühlt in seinem Alltag, z. B. weil um 1900 die
Trambahnen das Leben auf der Straße schnell und hektisch hatten werden lassen oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zechen und Webereien schließen mussten, da könne das Museum eine Gegenwelt des Vertrauten bieten. Diese
Gegenwelt helfe, Modernisierungsprobleme zu moderieren, weil sie zwischen
den Zeiten agiert. Im Kern geht es bei diesem Argument darum, dem Einzelnen
Ängste vor einem ihm fremd gewordenen Alltag und Umfeld zu nehmen, indem
er sich in vertraute Herkunftswelten oder an Sehnsuchtsorte wie das Landleben
im 19. Jahrhundert flüchten kann, die ihm als authentisch und ursprünglich
erscheinen. Dieses Sammeln ist oft nostalgisch.
Bewahren
Das Museum trägt Dinge zusammen, um sie auf Dauer zu bewahren. Das unterscheidet es von der Ausstellung, die auf begrenzte Zeit angelegt ist. Bewahren
heißt zuerst, Dinge so zu lagern, dass sie nicht kaputtgehen, gestohlen oder
beschädigt werden können. Dazu verfügen Museen über Depoträume, die – im
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D IE FÜNF M USEUMSAUFGABEN
Idealfall – klimatisiert und besonders gesichert sind und hohen Brandschutzstandards entsprechen sollen. Das kostet Geld, weshalb die Frage, was es uns als
Gesellschaft wert ist, dass bestimmte Objekte dauerhaft aufgehoben werden,
immer häufiger politisch diskutiert wird: Brauchen wir das wirklich oder kann
das weg (siehe Kap. 2.5, Grenzen des Wachstums)?
Bewahren heißt zweitens, Dinge zu erschließen, das heißt sie in Ordnungen zu
überführen, in denen sie Sammlungsleiter (Kustoden) wie Nutzer wiederfinden
können. Dafür muss das Museum sie zunächst erfassen und in Inventaren und
Datenbanken verzeichnen. Das ist die Voraussetzung, damit der Kustos sie dicht
an dicht in abgeschlossenen Lagerräumen verstauen kann, wo er sie nicht mehr
in Gänze überblickt. Ohne Inventareintrag wären diese Dinge verloren, weil
man sie in der Masse des Materials nicht mehr finden könnte. Eine erschlossene
Sammlung bildet einen Bestand. Bestände findet ein Museum nicht in Gänze vor,
sondern es bildet sie, indem es seine Sammlungen systematisch aufbaut und – in
der Regel einer Sammlungsstrategie folgend – vervollkommnet.
Zwei Prinzipien können wir bei der Bestandsbildung in Archiven und Museen
unterscheiden: das Provenienz- und das Pertinenzprinzip. Für das Provenienz- oder
Herkunftsprinzip gilt, dass „das bei einer bestimmten Behörde, Einrichtung
oder Einzelperson erwachsene Dokumentationsgut im Archiv in einem diesem
‚Registraturbildner‘ vorbehaltenen Bestand oder Fonds zusammengefasst wird“
(Franz 2004, 45 f.). Wer so sammelt – z. B. Behördenarchive – , belässt die Dinge in
jenen Zusammenhängen, in denen sie ins Archiv oder Museum gekommen sind.
So kann er klar abgegrenzte, in sich geschlossene Einheiten „unter weitgehender
Wahrung des ursprünglichen Registratur- und Organisationszusammenhangs“
bilden (ebd.). Der Überlieferungszusammenhang wird also nicht verändert. Was
für Behördenarchive gut funktioniert, ist für (Museums-)Sammlungen wenig zielführend. Denn wo das Behördenarchiv davon ausgehen kann, dass die Behörden,
deren Akten es übernimmt, ihre Ablagen nach demselben Schema organisieren
(alphabetisch, nach Jahren etc.), wählt man für eine Sammlung gezielt einzelne
Objekte aus und ergänzt sie um Dinge aus anderen Kontexten: aus Privatsammlungen, von Auktionen, Flohmärkten oder im Tausch mit anderen Museen. Für
Museumssammlungen ist in der Regel das Pertinenzprinzip relevant. Es sortiert
seine Dinge nach neuen Sachzusammenhängen, ordnet sie Kategorien unter, die
für die jeweilige Leitdisziplin relevant sind: Ein historisches Museum sortiert
seine Dinge dann z. B. nach Epochen, ein Kunstgewerbemuseum nach Materialien, ein naturkundliches Museum taxonomisch nach Arten oder ein Literaturmuseum nach Autorennamen. Die vormuseale Ordnung der Dinge geht verloren (wenngleich sie inzwischen immer häufiger dokumentiert wird), um sie dem
übergeordneten Erkenntnisinteresse des Museums anpassen zu können. Andernfalls bestünden Museumssammlungen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ordnungen, die kaum noch jemand überblicken könnte.
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WAS IST EIN M USEUM ?
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Bewahren bleibt drittens nicht beim sauberen Verräumen und Ordnen der
Dinge stehen, sondern es kann die Dinge auch materiell verändern. Ein Museum
konserviert das Material, wenn es weiteren Verfall stoppt, also z. B. Schimmel beseitigt oder Rost entfernt. Es restauriert die Dinge, wenn es sie in einen früheren
Zustand zurückversetzt. In welchen Zustand der Restaurator das Objekt zurückversetzt, hängt – neben den technischen Möglichkeiten – davon ab, welche Fragen die Forschung aktuell interessieren und welche Wertkriterien sie anlegt.
Restaurierungsfragen unterliegen also immer zeittypischen Interessen und verändern sich.
Forschen
Zu forschen heißt, systematisch mit wissenschaftlichen Methoden nach neuer
Erkenntnis zu suchen und das neue Wissen zu dokumentieren und zu veröffentlichen, damit die Wissenschaft es diskutieren kann. Forschen ist ein offener Prozess mit ungewissem Ausgang. Forschung im Museum basiert auf den Sammlungen und kennt drei Zweige: Grundlagenforschung als Erkenntnisgewinn
über Sammlungsobjekte ohne konkretes Verwertungsinteresse, disziplinäre Forschung, um Objekte nach fachwissenschaftlichen Kriterien zu erschließen und
angemessen zu bewerten, und Forschung in benachbarten Wissenschaften, die
nötig sind, um die Objekte für die Museumsarbeit zu nutzen (konservatorische
Maßnahmen, Ausstellungstheorie, Dokumentationsstandards etc.) (Waidacher
1999, 180 – 185).
Bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts definierten sich viele Museen als Orte
der Forschung (und grenzten sich damit von pädagogisch ausgerichteten ‚Volksbildungsstätten‘ ab). Ihre Sammlungen dienten Wissenschaftlern im Museum
und an den Universitäten als Grundlage für neues Wissen. Besonders galt dies
für die Naturkunde, die Tier- und Pflanzenpräparate so lange in Schränken und
Schubladen neu sortierte, bis sie zu konsensfähigen Ordnungen und Kategorien
kam, die wir heute als Taxonomien bezeichnen. Die Kunstgeschichte nutzte die
Skulpturen und Gemälde in den Kunstmuseen, um ihre Stilgeschichte zu entwickeln und formale Prinzipien zu verstehen. Volks- und Völkerkunde schließlich
bedienten sich der Museumssammlungen, um mit ihnen das Alltagsleben der
einheimischen Bauern bzw. der indigenen Bevölkerung aus Übersee untersuchen
zu können. Diese Gruppen hatten nur selten schriftliche Selbstzeugnisse hinterlassen. Ihrem Leben konnten sich die Volks- und Völkerkundler mithin nicht
über schriftliche Quellen in Archiven nähern, sondern nur über die materielle
Kultur: über die Trachten und Speere, die Küchengeräte und Bambushütten, die
Möbel und Masken, die von Exotik und Naturnähe gleichermaßen zeugen sollten. Der Völkerkundler Leo Frobenius hoffte, mithilfe von völkerkundlichen
Museumssammlungen die Frühzeit der Menschen neu interpretieren zu können
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und so zum „Ursprung der Völker“ vorzudringen. „Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind ein Triumph der Museumswissenschaft […]“, verkündete er 1898,
„denn nur mithilfe der in den Museen aufgespeicherten Schätze ist es gelungen,
die Kulturorganismen zu verstehen.“ (Frobenius 1898, 301)
Diese unmittelbare Nähe zur (universitären) Forschung verloren viele Museen
im 20. Jahrhundert. Die Volks- und Völkerkundler zum Beispiel gingen nun selbst
ins Feld, um mit den Menschen, die sie untersuchen wollten, zu sprechen, bei
ihnen zu leben und sie zu beobachten. Erkenntnis suchten sie nicht mehr in den
alten Dingen, sondern in selbst erhobenen, oft immateriellen Daten aus der eigenen Feldforschung. Je stärker sich die Wissenschaften ausdifferenzierten, desto
stärker verloren Museum und Universität den Kontakt. Mittelfristig führte das
dazu, dass der Forschungsauftrag der Museen aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand und von der Kulturpolitik immer weniger honoriert wird.
Museen sollen mit ihren Ausstellungen wissenschaftliches Wissen für ein breites Publikum vermitteln. Wie sehr etliche von ihnen dabei aus ihren Beständen
genuine Forschungsbeiträge leisten, wird oft nicht erkannt. Die Realität vieler
kleinerer Museen freilich sieht so aus, dass ihnen das Tagesgeschäft – vor allem
die Arbeit an den regelmäßig erwarteten Wechselausstellungen und die aufwendige Vermittlungsarbeit – kaum noch Zeit für Grundlagenforschung lässt.
Geforscht wird dann höchstens themenbezogen für die nächste Sonderschau.
Das Museum wird inzwischen – darauf komme ich später ausführlich zu sprechen – nicht mehr primär über seine Sammlungen wahrgenommen, sondern
über seine Ausstellungen.
Als Reaktion auf den bedrohten Forschungsauftrag der Museen deklarierten
sich 1977 Museen der Leibniz-Gemeinschaft als „Forschungsmuseen“: Zu diesen
Museen der sogenannten „Blauen Liste“ zählen das Deutsche Bergbau-Museum
in Bochum, das Deutsche Museum in München, das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz, das
Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn und seit 1980 das
Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven sowie seit 2009 das Museum für
Naturkunde der Humboldt-Universität Berlin. Hinzu kommt das Senckenberg-Naturmuseum Frankfurt. Die Forschungsmuseen der Blauen Liste sind außeruniversitäre Forschungsinstitute, die für sich in Anspruch nehmen, für ihren
Fachbereich „Aufgaben von zentraler Bedeutung zu erfüllen“. „Die Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft“, heißt es im Bund-Länder-Eckpunktepapier zu
diesen Museen, „sind Orte von Wissenschaft und Forschung […]. Traditionell verstehen sich die Forschungsmuseen als Orte der Bildung, der Wissenschaftskommunikation und des Wissenstransfers. Sie formen mit ihrer Arbeit das kulturelle
Gedächtnis einer Gesellschaft und können mit ihren Ausstellungen kulturelle
Identität und gesellschaftliche Integration stiften – und nicht zuletzt Menschen
jeder Herkunft und jeden Alters für Wissenschaft und Forschung begeistern.“
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(https://www.bmbf.de/files/Bund-Laender-Eckpunktepapier-Forschungsmuseen-Leibniz.pdf) Konkret bedeutet Forschung in diesen Museen, dass sie (natur-)
wissenschaftliche Verfahren zur Altersbestimmung von Artefakten entwickeln,
Restaurierungs- und Konservierungswissenschaften, Materialforschung sowie Bildungs- und Besucherforschung betreiben. Sie wollen neue Erkenntnisse über die
Entwicklung von Wissen, Wissenschaft und Wissensordnungen liefern.
Inzwischen ist der Forschungsauftrag der Museen in Deutschland auch jenseits dieser Leuchtturmprojekte wieder stärker ins Bewusstsein getreten, wofür
etwa die Förderlinien „Forschung in Museen“ (VolkswagenStiftung) oder „Die
Sprache der Objekte“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung) ein Indiz
sind. Kurzum: Nachdem Wissenschaft und Museum sich nach 1900 immer
stärker voneinander entfernten, lassen sich aktuell Zeichen einer Wiederannäherung erkennen (siehe Kap. 2.5, Museen als Wissens- und Forschungsorte).
Ausstellen
Neben den Aufgaben Sammeln, Bewahren und Forschen, die Museen vor allem
mit und in den Sammlungen bewältigen, gibt es zwei besonders öffentlichkeitswirksame Aufgaben: das Ausstellen und das Vermitteln. Mit beiden versucht ein
Museum, seine Erkenntnisse zu popularisieren, das heißt öffentlich bekannt zu
machen. Das klassische Format innerhalb des Museums dafür ist die Ausstellung.
Ihr Ursprung ist ein dreifacher: Kunstsalon, Gewerbeschau und Museum sind die
Entstehungsorte der modernen Ausstellung als ästhetischer, ökonomischer und
epistemischer Praxis.
Eine Ausstellung ist eine zeitlich begrenzte Präsentation von Objekten im
Raum zu Demonstrationszwecken. Sie ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern mobil und ein Instrument, dessen sich so unterschiedliche Institutionen wie Museen, Galerien, Bibliotheken, Universitäten, Kaufhäuser oder
Messen bedienen. Ausstellungen sind Schauzusammenhänge, die auf sinnliche
Erfahrungen zielen und beanspruchen, das Publikum gleichermaßen zu unterhalten und Wissen zu vermitteln.
Das Ausstellen im Museum unterschied sich lange Zeit von den Präsentationen der Weltausstellungen, Messen oder Warenhäuser. Es folgte (und folgt in der
Regel immer noch) einer anderen Logik. Die Formate beeinflussten sich gegenseitig, blieben aber, wie die Kulturwissenschaftlerin Gudrun König gezeigt hat, verschiedenen Präsentationslogiken verpflichtet. Statt die Dinge zu wissenschaftlichen Typologien, Stilräumen oder rekonstruierten Stuben zu arrangieren, wie im
Museum üblich, feierte die Warenwelt um 1900 das Einzelobjekt, das sie durch
Serien des Immergleichen in seiner Präsenz noch zu steigern wusste. Die kommerzielle Warenausstellung als flüchtiges Medium reagierte schneller auf neue
Sehgewohnheiten des modernen Konsumenten, als es dem an seiner Sammlungs© Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018,
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ordnung orientierten Museum seinerzeit möglich war. Solche Schauen machten
Dinge zu Symbolen modernen Lebensstils und verliehen ihnen durch räumliches
Arrangement in ansprechenden Raumbildern ganz neue Bedeutungen, die sich
durch das Sehen erschlossen: „Labor und Experimentierfeld für Operationen des
Zeigens waren nicht kulturhistorisches Museum und Museumsausstellung, sondern Gewerbeausstellung und Warenhaus.“ (König 2009, 353) Für die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen handelt es sich bei „Ausstellung und Museum
um zwei verschiedene Präsentationsweisen, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zueinander fanden“ (te Heesen 2012, 14).
Grundsätzlich können wir zwei Arten von musealen Ausstellungen unterscheiden: Dauer- und Wechselausstellungen. Dauerausstellungen sind für einen
längeren Zeitraum konzipiert (10 – 15 Jahre) und entsprechen dem musealen Prinzip der Schausammlung, d. h. sie beruhen vor allem auf Beständen aus der eigenen Sammlung und repräsentieren den Sammlungsbestand des Hauses. Wechselausstellungen hingegen sind von kurzer Dauer, können zwischen verschiedenen
Museen wandern („Wanderausstellung“) und sich ihre Exponate aus anderen
Sammlungen zusammenleihen. Sie können stärker zuspitzen und kühner inszenieren als Dauerausstellungen, da sie nach wenigen Monaten wieder abgebaut
werden. „Sie müssen den Mut zur These und den Mut zum Bild haben, damit
sie mit ihren Botschaften der öffentlichen Diskussion Stoff und Richtung geben
können. Sie sind Ausgangspunkte für Trends und weitreichende Verständigungsund Deutungsprozesse, die nachdrücklich jene diskursive Unruhe bewirken können, die für eine lebendige Geschichtskultur Voraussetzung ist.“ (Korff / Roth
1990, 21 f.) Wechselausstellungen sind flexibel, weil sie kurzfristig auf aktuelle
Debatten reagieren können. So inszenierte das Deutsche Historische Museum
in Berlin 2016 / 17 eine Ausstellung zur Geschichte des deutschen Kolonialismus
genau zu dem Zeitpunkt, als rund um das geplante Berliner Humboldt Forum
darüber gestritten wurde (und wird), welchen Rang die deutsche Kolonialvergangenheit in der deutschen Erinnerungskultur einzunehmen habe (siehe Kap. 2.5,
Kulturerbe und Provenienzforschung). Besonders eindrücklich zur „diskursiven Unruhe lebendiger Geschichtskultur“ hat 1995 – 1999 die sogenannte Wehrmachtsausstellung beigetragen, die mit der Botschaft antrat, „die Lüge von der
sauberen Wehrmacht“ zu entkräften. Sie wollte nachweisen, in welchem Ausmaß
deutsche Soldaten an den Massenermordungen im Vernichtungskrieg im Osten
beteiligt waren, und wurde zum Skandal. Neuere Formate wie die sogenannten
‚Interventionsausstellungen‘ versuchen, die kategorische Differenz zwischen
Dauer- und Wechselausstellung aufzubrechen: Sie ‚überspielen‘ mit temporären
Präsentationen einzelne Stationen der Dauerausstellung, indem sie neue Objekte
und Texte einbringen und so alten Inszenierungen eine neue Aussage geben.
Aufgabe jeder Ausstellung ist es, Themen mithilfe von Dingen, Texten und
Medien zu zeigen. Ausstellungen dekontextualisieren ihre Objekte, um sie narra© Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018,
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tiv neu zu ordnen, das heißt sie nehmen Objekte aus ihrem früheren Gebrauchszusammenhang, um sie zu Gegenständen des Nachdenkens und zu Symbolen
zu machen, also zu Exponaten. Diese Dinge inszenieren sie, ordnen sie „nach Maßgabe einer Deutung im Raum“ an (Korff 2007a, 144), um Deutungen nahezulegen und die Wahrnehmung zu lenken. Inszenierungen sind zwar stets bewusst
hergestellt, werden aber nicht immer bewusst decodiert, sondern können einen
überwältigen, einem zustoßen. Sie beziehen sich auf früher Erlebtes, Gelerntes,
Erfahrenes und basieren gleichermaßen auf einmalig subjektiv erlebten Ereignissen wie auf intersubjektiv gültigen kulturellen Codes, die der Betrachter verinnerlicht hat, ohne sich ihrer bewusst sein zu müssen. Inszenierungen entziehen sich weitgehend einer Nacherzählung in Begriffen, weil man sie nur partiell
kommunizieren, vollständig nur wahrnehmen, erleben kann. Ein Gutteil der
Inszenierung ist inkommensurabel, also nicht übersetzbar in andere Darstellungsformen, sondern nur im Schauraum fassbar.
Infobox
Inszenierung
Inszenierungen sind Strategien, die in einer Ausstellung Exponate mithilfe von Ausstellungsmobiliar, audiovisuellen und atmosphärischen Medien (Licht, Töne) räumlich in Szene setzen, um Deutungen nahezulegen und Objekteigenschaften und -bedeutungen sinnlich erfahrbar zu machen.
Sie sind mehr als die Summe ihrer Teile und nur partiell analytisch zu verstehen oder in Begriffe zu
übersetzen. Man muss sie erleben.
Vermitteln
Vermittlungsarbeit im Museum gestaltet den Dialog zwischen den Besuchern und den
Objekten und Inhalten in Museen und Ausstellungen. Sie veranschaulicht Inhalte, wirft
Fragen auf, provoziert, stimuliert und eröffnet neue Horizonte. Sie richtet sich an alle
Besucher / innen und versetzt sie in die Lage, in vielfältiger Weise vom Museum und
seinen Inhalten zu profitieren, das Museum als Wissensspeicher und Erlebnisort selbständig zu nutzen und zu reflektieren. Vermittlungsarbeit ist integraler Bestandteil der
Institution Museum und realisiert maßgeblich und nachhaltig ihren Bildungsauftrag.
(Deutscher Museumsbund / Bundesverband Museumspädagogik 2008, 8).
Diese Idee von Vermittlung sieht das Museum als dialogische Institution, die
den Besucher nicht belehrt, sondern vor allem mit ihm in Kontakt kommen
will. Das Museum ist ein öffentlicher Raum der Begegnung und des Austausches
mit Objekten, Kuratoren, anderen Besuchern und Experten sowie der Institution
Museum im Rahmen unterschiedlicher Veranstaltungen.
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Dem Bundesverband Museumspädagogik (BVMP) gilt all das als Teil des
„Bildungsauftrags“ der Museen – eine Denkfigur, die sich im 19. Jahrhundert
etablierte. Seit dieser Zeit ist Bildung in Deutschland ein Zentralbegriff der
Vermittlungsarbeit. Im Doppel mit Kultur wurde sie zu einem „deutschen
Deutungsmuster“ (Bollenbeck 1994, 25) (siehe Kap. 1.2, Kultur), das dem Humboldt’schen Ideal der umfassenden (zweckfreien) Bildung der Persönlichkeit dienen soll (siehe Kap. 2.3, Das Museum als Erziehungsanstalt und der Exhibitionary
Complex). Diese Idee von ‚Bildung‘ stand in den 1960er und 1970er Jahren zwischenzeitlich in der Kritik, weil sie bürgerlichen Idealen verpflichtet schien. Erst
in den späten 1980er Jahren wurde sie wieder diskutiert und unter dem Schlagwort ‚kulturelle Bildung‘ neu vermessen. „Kulturelle Bildung bedeutet Bildung
zur kulturellen Teilhabe. Kulturelle Teilhabe bedeutet Partizipation am künstlerisch kulturellen Geschehen einer Gesellschaft im Besonderen und an ihren
Lebens- und Handlungsvollzügen im Allgemeinen.“ (Ermert 2009, 1)
Neben ‚(kultureller) Bildung‘ ist der Begriff ‚Lernen‘ der zweite zentrale
Topos heutiger Vermittlungsarbeit im Museum. Während Bildung stärker auf
ein umfassendes Konzept von Persönlichkeitsentwicklung zielt, das Urteilsfähigkeit bei permanenter Selbstkritik einfordert, definiert der Kognitionspsychologe
Stephan Schwan Lernen „als relativ dauerhafte Verhaltensänderung aufgrund
von Übung oder Erfahrung“ (Schwan 2015, 64). Allen voran die Besucherforschung hat neue Theorien und Konzepte zum Lernen im Museum entwickelt, bei
denen das ‚informelle‘ Lernen im Zentrum steht, das „beiläufig aus einer anderen Aktivität heraus“ entsteht (ebd. 66). Im Museum basieren Bildung und Lernen
auf der direkten Konfrontation mit Dingen im Raum als eigenständiger ‚ästhetischer‘ Erfahrung. Die Ausstellung fungiert eher als Impulsgeber für Kommunikation, denn als Ziel der Vermittlungsarbeit: „Lernen und Bilden umfasst […]
ästhetische Erfahrung und ist als produktiver, selbsterzeugender Wissens- und
Erfahrungsaufbau zu verstehen – und nicht unbedingt an die Erzähllinie einer
Ausstellung gebunden.“ (Noschka-Roos 2016, 46)
Vermittlung bezeichnet heute jegliche Kommunikation im und über das
Museum – von der Ausstellungs- oder Depotführung über die Öffentlichkeitsarbeit, Konzeptentwicklung bis zum Besucherservice, der Besucherforschung und
dem sogenannten Audience Development. Sie soll – zumindest in der Theorie –
integraler Bestandteil jeglicher öffentlicher Museumsarbeit sein. Im englischsprachigen Raum ist ein solches Verständnis von Vermittlung traditionell stark
in den Museen verwurzelt. Die Macht der Education Departments innerhalb der
(großen) Museen ist ungleich größer als in Deutschland, wo der ‚Museumspädagoge‘ lange Zeit als Anhängsel zum wissenschaftlichen Kurator gesehen wurde.
Das ändert sich inzwischen.
In der Bundesrepublik war dafür die Bildungsreform der 1970er verantwortlich, die mit ihren Ideen des Museums als „Lernort“ und einer „Neuen Kultur© Narr Francke Attempto GmbH+Co. KG, 2018,
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politik“ (siehe Kap. 2.4, Museen in der Bundesrepublik) leicht zugängliche Kulturangebote für jedermann etablieren wollte. Immer mehr Museen begannen
nun (nochmals verstärkt seit den 1990er Jahren), ihre Angebote vom Besucher
und nicht mehr allein von den Sammlungen aus zu konzipieren. Zwar gab es Vorläufer wie die Museumsreformbewegungen um 1900, die versuchten, die deutschen Museen als Institutionen der ‚Volksbildung‘ zu ‚demokratisieren‘ und besucherfreundlicher zu machen; damals aber waren die meisten großstädtischen
Museen – anders als die dezidiert volkspädagogisch ausgerichteten Technik- oder
Heimatmuseen – in ihrem ganzen Habitus nicht offen für Klassen unterhalb des
Bürgertums und fest in den Händen von Verwaltungsbeamten, die sich allein
für die Sammlungspflege zuständig fühlten. Das änderte sich großflächig erst,
als sich die westlichen Gesellschaften Ende der 1960er Jahre im Zuge der Neuen
Sozialen Bewegungen grundlegend wandelten und sich eine internationale Kulturpolitik der Teilhabe etablierte, wie sie sich 1976 in der „Empfehlung über die
Teilnahme und Mitwirkung aller Bevölkerungsschichten am kulturellen Leben“
der UNESCO oder in neuen Museumsformen wie dem Ecomusée in Frankreich
oder den Neighborhood Museums in den USA äußerte. Beide Konzepte basierten
auf der Mitarbeit der Menschen vor Ort beim Aufbau neuer Stadtteilmuseen. Die
1970er Jahre sind in der Bundesrepublik die Zeit, in der Museen erste Planstellen für Museumspädagogen einrichteten. In der DDR geschah das bereits Mitte
der 1960er Jahre.
Heute versteht sich die Museumspädagogik als dialogische Disziplin, die ihre
Themen bevorzugt „handlungsorientiert“ vermittelt. Sie ist bestrebt, dass sich
die Besucher eigenständig Ausstellungen und Museumsangebote aneignen: „Vermittlungsarbeit macht die Institution Museum transparent und fördert eigene
Zugänge der Besucher zu den Präsentationen.“ (Deutscher Museumsbund/ Bundesverband Museumspädagogik 2008, 10) Dafür hat sich der Begriff ‚Partizipation‘ als Chiffre für aktive Teilhabe an Museumsaufgaben eingebürgert, um den
es in Kapitel 2.5 gehen wird.
Weiterführende Literatur
Commandeur / Kunz-Ott / Schad 2016: Beatrix Commandeur / Hannelore Kunz-Ott / Karin Schad (Hg.), Handbuch Museumspädagogik. Kulturelle Bildung im
Museum (München 2016).
Korff 2007a: Gottfried Korff, Museumsdinge. Deponieren – exponieren. In: Martina Eberspächer / Gudrun
Marlene König / Bernhard Tschofen (Hg.), Museumsdinge. Deponieren – exponieren (Köln, Weimar, Wien
20072 ).
Macdonald 2006: Sharon Macdonald (Hg.), A Companion to Museum Studies (Oxford 2006).
Pomian 1998: Krzysztof Pomian, Der Ursprung des
Museums. Vom Sammeln (Berlin 1998).
Pearce 1994: Susan Pearce (Hg.), Interpreting objects and
collections (New York 1994).
Walz 2016: Markus Walz (Hg.), Handbuch Museum.
Geschichte – Aufgaben – Perspektiven (Stuttgart
2016).
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