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Das historische Buch meines Lebens Vito Fumagalli: La pietra viva Ich begegnete Vito Fumagalli (1938–1997) als junge Studentin an der Universität Bologna; er lehrte dort Geschichte des Mittelalters. Von seinen Büchern ist mir besonders La pietra viva. Città e natura nel Medioevo (1988) in Erinnerung geblieben. Auf dem Buchumschlag ist ein Detail aus einem Fresko von Giotto in der Scrovegni-Kapelle von Padua abgebildet: behauener Stein vor einer kargen Felslandschaft mit wenigen kleinen Bäumen. In La pietra viva («der lebendige Stein») analysiert Fumagalli die Auseinandersetzungen zwischen den Menschen und der Natur vom 6. bis zum 15. Jahrhundert. Er beschreibt den Verfall der Städte des Frühmittelalters: Wie sich eine von Städten aus Stein geprägte Umgebung in eine «wilde» Landschaft verwandelt, in der die Städte wortwörtlich zerfallen und sich langsam in Gespenster ihrer selbst verwandeln. Wälder, Moore und Heiden gewinnen wieder an Raum und zerstören die von Menschen gezogenen Grenzen. Steinmauern und Gebäude verschwinden unter der wuchernden Vegetation. Es entsteht eine Ruinenlandschaft. Der «lebendige» Stein erinnert auch daran, dass die Steine als heilig galten, weil sie die Leichname der Toten «aufbewahrten». Die lebendigen Steine bleiben auch im Zentrum der Analyse, wenn Fumagalli auf die Entwicklung der mittelalterlichen Städte zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert fokussiert. Es geht (auch) um die Wiederverwendung der alten Steine für neue Gebäude: Häuser, Paläste, Kirchen, Türme und Rathäuser, die bis heute das Herz vieler Städte sind. Die Stadt wird in diesem Prozess vermehrt zum Machtzentrum. Von der Stadt aus will man die Natur unter Kontrolle bringen, man ringt den Mooren und Sümpfen neues Land ab, macht es fruchtbar und entwickelt gleichzeitig eine strenge Unterscheidung zwischen Stadtbewohnern und Landbewohnern («i villani»), mit der sich die Stadt als Ort der Zivilisation («civiltà») inszeniert. Das Buch war für mich so inspirierend, weil es auch eine umweltgeschichtliche Analyse ist, da Fumagalli die Reaktion Simona Boscani Leoni, der Natur auf die menschlichen Eingriffe erörtert – ein Jahrgang 1970, ist SNFFörderprofessorin an der Thema, das durch den Klimawandel wieder an Aktualität geUniversität Bern. Sie winnt. Und weil der Autor die Entwicklung einer ideologiarbeitet zur Naturforschung schen Spaltung zwischen Stadt und Land nachzeichnet, zwiin der Frühen Neuzeit. Im Juni 2019 erscheint von ihr schen «hoch zivilisiert» (städtisch) und «wenig zivilisiert» eine Edition der Briefe von (wild/ländlich) – eine Unterscheidung, die die westliche GeJohann Jakob Scheuchzer. schichte bis heute geprägt hat. | G | 114 Illustration: Agata Marszalek Von Simona Boscani Leoni