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System und Fragment: Gotthilf Heinrich Schubert und Johann Wilhelm Ritter Zwei Wege der romantischen Naturwissenschaft Stefan Höppner Printed version published in: Herausforderung Biologie: Fragen an die Biologie – Fragen aus der Biologie. Ed. Rüdiger Heinze, Johannes Fehrle, and Kerstin Müller. Münster; Berlin; Vienna; Zurich; London: LIT, 2010. 83–112. Glaubt man dem Dichter Durs Grünbein, ist das Jahr 1587 ein Wendepunkt in der Geschichte Europas. Damals hält Galileo Galilei an der Akademie in Florenz einen Vortrag über die Hölle in Dante Alighieris Göttlicher Komödie. Ihn interessiert aber weder Dantes Epos als Dichtung noch die religiöse Dimension der Darstellung. Galilei geht es allein darum, die Hölle räumlich zu beschreiben. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie nicht nur, wie schon bei Dante, in Kreise zerfällt, sondern dass diese Kreise konzentrisch angeordnet sind. Zusammen bilden sie einen Kegel, der zum Erdmittelpunkt hinzeigt, und der sich bei Neapel befinden muss. Galilei liefert eine „Topographie des Infernos im geometrisch strengen Sinn“ (Grünbein 91). Einerseits gewinnt seine Beschreibung damit an Genauigkeit gegenüber der Dantes. Viel schwerer, so Grünbein, wiegen aber die Verluste: Exaktheit tritt an die Stelle der Anschaulichkeit, die religiöse Bedeutung der Hölle oder die Erhabenheit ihrer poetischen Beschreibung spielen keine Rolle mehr. „Von nun an,“ so resümiert der Dichter, „laufen die Wege der Naturwissenschaften und Künste beschleunigt auseinander […] Und niemals schneiden sie sich mehr wirklich, nirgendwo kommt es zur unmittelbaren Kreuzung“ (91). Was Grünbein hier feststellt, ist freilich ein Allgemeinplatz. Am prägnantesten hat ihn wohl der britische Autor und Naturwissenschaftler Charles Percy Snow 1959 in seiner Rede von den „Zwei Kulturen“ formuliert: Auf der einen Seite haben wir die literarisch Gebildeten, die ganz unversehens […] die Gewohnheit annahmen, von sich selbst als von ‚den Intellektuellen’ zu sprechen, als gäbe es sonst weiter keine […] – auf der anderen Naturwissenschaftler, als deren repräsentativste die Physiker gelten. Zwischen beiden herrscht eine Kluft gegenseitigen Nichtverstehens, manchmal […] Feindseligkeit und Antipathie, in erster Linie aber mangelndes Verständnis. […] Die Gegenspieler der Naturwissenschaftler haben die eingewurzelte Vorstellung, jene seien immer seichte Optimisten, die nicht merken, wo die Menschheit steht. Andererseits glauben die Naturwissenschaftler, den literarisch Gebildeten gehe jede Voraussicht ab, sie kümmerten sich kaum um ihre Mitmenschen und sie seien in einem tieferen Sinne antiintellektuell und eifrig darauf bedacht, Kunst und Denken auf das existenzielle Moment zu beschränken“ (21f.). Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 2 Auf den ersten Blick beschreiben Grünbein und Snow schlicht die Tatsachen. Schaut man jedoch genauer hin, zeigt sich schnell, dass sich diese einfache Gegenüberstellung nicht halten lässt – schon gar nicht für die Literatur. Viele Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Wechselbeziehungen zwischen literarischem und wissenschaftlichem Schreiben viel enger sind als lange Zeit angenommen. Zum einen lassen sich auch Naturwissenschaftler von Kunstwerken, zumal von literarischen, inspirieren. Zudem wird naturwissenschaftliches Wissen in der Regel mit den Mitteln der Sprache weitergegeben, und unterliegt deren Regeln (Keller). Selbst typisch literarische Stilmittel wie Metaphern und Analogien sind fester Bestandteil naturwissenschaftlicher Texte. Zum anderen existiert eine lange Tradition der literarischen Auseinandersetzung mit den Wissenschaften, die spätestens in der Aufklärung beginnt und bis zum heutigen Tag anhält. In der deutschen Literatur gehört dazu etwa die Literatur der Gegenwart mit Romanen wie Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005), aber auch Lyrikern wie Ulrike Draesner, Jan Wagner, Raoul Schrott und Durs Grünbein selbst – oder die Klassische Moderne: Thomas Manns Zauberberg (1924) setzt sich neben vielem anderen mit dem damaligen Stand der Biologie auseinander, der Österreicher Hermann Broch schreibt mit Die unbekannte Größe (1933) einen Roman über einen Mathematiker, und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/42) ist ohnehin ein Versuch, alle Wissensbereiche der damaligen Welt in einem einzigen Roman zusammenzubringen. Eine der interessantesten Perioden in dieser Hinsicht ist jedoch die Zeit um 1800. Das berühmteste Beispiel ist Goethe, dessen Ambitionen in der Botanik, Anatomie, Geologie und Farbenlehre noch heute sprich-wörtlich sind. Die Handlung seines Romans Die Wahlverwandtschaften (1809) beruht gar auf der Übertragung einer damals aktuellen chemischen Theorie auf zwischenmenschliche Verhältnisse. Lange Zeit galt die Romantik als eine Epoche, die sich der Wissenschaft systematisch verweigerte und sich stattdessen in die Irrationalität flüchtete. Dieses Vorurteil entstammt dem späteren 19. Jahrhundert, das sich mit seinem Positivismus und seiner Gleichsetzung von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt von den unmittelbaren Vorgängern abgrenzen wollte. Die meisten romantischen Autoren lehnen die Wissenschaften nicht per se ab. Sie finden nur, dass man sie bisher falsch betrieben hat, nämlich einseitig rationalistisch und isoliert von den ihr benachbarten Feldern wie der Philosophie und den Künsten. Auch romantische Naturwissenschaft, so wird zu zeigen sein, versteht sich als Wissenschaft. Sie funktioniert lediglich nach anderen Regeln als die uns heute vertraute Naturwissenschaft, und sie hinterlässt massive Spuren in den philosophischen und literarischen Texten ihrer Zeit, die wir auf den ersten Blick nicht immer als solche wahrnehmen. Aber nicht nur das: viele Autoren der Romantik sind selbst praktizierende Wissenschaftler. Achim von Arnim (1781-1831) betätigt sich als Physiker, bevor er ausschließlich zum Schriftsteller wird; Heinrich von Kleist (1777-1811) erwägt nach seinem Abschied aus der preußischen Armee eine Karriere in der Naturwissenschaft; der Philosoph Friedrich Schelling (1775-1855) gründet eine Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 3 Zeitschrift für spekulative Medizin; Friedrich von Hardenberg (1772-1801) schließlich, der unter dem Namen Novalis publiziert, ist ausgebildeter Mineraloge und nimmt an führender Stelle an der ersten geologischen Landesaufnahme des Königreiches Sachsen teil (Schulz bes. 315-332). Wenn die literarische Romantik Wissenschaft und Literatur füreinander aufnahmefähig machen will, dann gerade weil ihre Protagonisten sich auf beiden Feldern auskennen. Dieser Aufsatz versteht sich als historische Einführung in die romantische Naturwissenschaft. Dabei geht es aber nicht nur um eine scheinbar weit entfernte Epoche. Sondern indirekt soll damit auch gezeigt werden, dass wissenschaftliche Disziplinen und ihr Verhältnis zueinander keineswegs „naturgegeben“ und selbstverständlich sind, sondern kulturelle Konstrukte ihrer Zeit. Gemeinsam ist ihnen zwar ihr jeweiliger Wahrheitsanspruch. Welche Geistes-, Natur- oder sonstige Wissenschaft aber als Leitdisziplin ihrer Epoche gilt, ist keineswegs evident, sondern ergibt sich aus Faktoren, die allenfalls am Rande mit dem Gegenstand und den Methoden einer Wissenschaft zu tun haben. Dass heute die Ökonomie als „Megaphilosophie“ unserer Zeit dominiert, wie Joachim Koch behauptet, oder die Molekularbiologie, oder die Neurowissenschaften, ist ebenso berechtigt oder unberechtigt wie die Tatsache, dass es – nach Kochs Modell – zuvor die Theologie oder die Philosophie tat (letztere demnach auch noch um 1800, dem uns interessierenden Zeitraum). Die einzelne Wissenschaft kann auf der Basis ihrer Prämissen ihr Wissen erweitern, aber es existiert keine globale Teleologie über die einzelnen Disziplinen hinaus, die vom absoluten Unwissen zum absoluten, objektiven Wissen verliefe. Wie stark zumindest viele Disziplinen, auch naturwissenschaftliche, von den kulturellen Dispositionen und den sozialen Faktoren ihrer Zeit geprägt waren und sind, haben zahlreiche Studien der letzten Jahrzehnte gezeigt, allen voran die historischen Arbeiten von Michel Foucault (Wahnsinn und Gesellschaft; Die Ordnung der Dinge). Auch dafür ist die romantische Naturwissenschaft ein triftiges Beispiel.1 Vor diesem historischen Hintergrund ist die „ZweiKulturen-Debatte“ nach Snow, die seit fünfzig Jahren immer wieder auflebt, eine Scheindiskussion. Diskutiert werden diese Aspekte am Beispiel zweier Romantiker, die zu den einflussreichsten Wissenschaftlern ihrer Zeit gehören. Zum einen ist dies Gotthilf Heinrich Schubert (1780-1860), der vor allem die naturwissenschaftlichen Auffassungen anderer Zeitgenossen populär machte und dadurch auch auf die Literatur einen immensen Einfluss ausübte; zum anderen geht es um Johann Wilhelm Ritter (1776-1810), der als Begründer der Elektrochemie und Entdecker des ultravioletten Lichtes gilt. Dabei steht das Wissen im Mittelpunkt, das wir heute mit dem Begriff der „Biologie“ bezeichnen. Es wird gezeigt, dass das naturwissenschaftliche Wissen über Pflanzen, Tiere und den Menschen in der Romantik keine isolierte Disziplin ist, sondern in größeren Kontexten aufgeht. Vor allem zur Philosophie und zur Literatur besteht eine große Nähe, die durchaus beabsichtigt ist. Das 1 Bahn brechend auf diesem Gebiet war aber bereits das Buch, das zuerst 1935 erschien: Fleck. Für einen nicht mehr ganz aktuellen Forschungsüberblick zum Thema „Poesie und Wissen“ vgl. Pethes. Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 4 geht in einigen Fällen bis zur Aufhebung der Gattungsgrenzen zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Dichtung. Schubert und Ritter sind eng miteinander befreundet, sie beeinflussen sich wechselseitig. Beide stehen aber auch für zwei unterschiedliche Wege der romantischen Naturwissenschaft, die in der Forschung oft nicht klar genug voneinander abgegrenzt werden. Während Schubert sein Wissen als ein geschlossenes System darstellt, in dem jedes Lebewesen seinen festen Ort einnimmt und eine genau zu beschreibende Funktion erfüllt, entwirft Ritter eine offene Sammlung von Bruchstücken, zwischen denen ein aktiver Leser selbst die Verbindungen herstellen muss. Dafür gibt es gute Gründe: Schubert ist von der Natur- und Systemphilosophie seines Lehrers Schelling beeinflusst, während sich Ritter an der frühromantischen Fragmenttheorie orientiert, die Friedrich Schlegel (1772-1829) und Novalis als Gattung zwischen Literaturkritik und Philosophie entwirft. Das Faszinierende an beiden Herangehensweisen ist, dass sowohl Schubert als auch Ritter mit Strukturmodellen arbeiten, die der Naturwissenschaft ursprünglich fremd sind. Damit eröffnen sie zum einen neue Sichtweisen auf die Natur und ihre Ordnung, zum anderen machen sie die Naturwissenschaft durchlässig für Verbindungen zur Literatur und zur Philosophie. Als Beispiele dienen zwei der jeweils einflussreichsten Werke der beiden Autoren: Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) und Ritters Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers (1810). In einem ersten Teil wird die romantische Naturwissenschaft näher vorgestellt. Als Beschreibungsmodell dient das von Thomas S. Kuhn entwickelte Modell des wissenschaftlichen Paradigmas. Kuhn beschreibt die Geschichte der Naturwissenschaften als Abfolge wissenschaftlicher Umwälzungen, die nicht nur jeweils ein neues Wissen etablieren, sondern auch neue Regeln dafür, welche Wissensbereiche gelten, und nach welchen Regeln das Wissen angeordnet ist. Wie sich am Ende des 18. Jahrhunderts ein spezifisch romantisches Paradigma der Naturwissenschaft etabliert, soll anhand von Friedrich von Hardenberg (Novalis) gezeigt werden, der als dessen Begründer gelten kann. Anhand von Schuberts und Ritters Schriften wird das Wesen der romantischen Wissenschaft dann näher bestimmt. Danach werden die Herangehensweisen Schuberts und Ritters einander gegenübergestellt. Im abschließenden Vergleich wird deutlich, dass innerhalb der romantischen Wissenschaft mindestens zwei fundamental unterschiedliche Methoden existieren, nach denen das Wissen angeordnet wird: die oben erwähnte Systemphilosophie und Fragmenttheorie. Beide bleiben jedoch auf gemeinsame Prämissen bezogen, die für die romantische Naturwissenschaft insgesamt gelten.2 Ein Wort zum Begriff der „Biologie“: Eigentlich ist es historisch unzulässig, diesen Begriff auf Schriften Ritters und Schuberts anzuwenden. Als sich in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts eine romantische Naturwissenschaft herausbildet, existiert dieses Wort noch nicht. Erst 1802 sprechen Jean-Baptiste Lamarck und Gottfried Reinhold Treviranus zum ersten Mal von „Biologie,“ und zwar unabhängig voneinander. Wenn sich zur selben Zeit der Naturforscher Goethe mit Fragen der Anatomie oder Botanik beschäftigt, spricht er von Morphologie, meint aber damit etwas Ähnliches (vgl. Kuhn, D. 133). Auch bei Schubert und Ritter hat sich der Begriff der Biologie noch keinesfalls durchgesetzt. Um Anachronismen zu vermeiden, wäre es wohl klüger, mit Foucault vom „Wissen von den Lebewesen“ zu sprechen (Die 2 Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 5 Was war die romantische Naturwissenschaft? Wenn man heute an die Romantik denkt, erinnert man sich vor allem an ihre künstlerische Seite. Dafür stehen Namen wie Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff oder Bettina von Arnim in der Literatur, Caspar David Friedrich in der Malerei oder Franz Schubert, Robert Schumann und Felix Mendelssohn-Bartholdy in der Musik. Dies alles macht aber nur einen Teil der Romantik aus. Vielmehr ging es darum, alle Lebensbereiche zu durchdringen und miteinander zu verbinden, so dass es ebenso eine romantische Sprachwissenschaft, Jurisprudenz, Philosophie, Psychologie, Anthropologie, Architektur – und eben auch eine romantische Naturwissenschaft gab. Im Gegensatz zur Literatur, Malerei und Musik hat sie außerhalb des deutschen Sprachraums kaum gewirkt. An vielen deutschen Universitäten aber war sie etwa zwischen 1800 und 1830 eine bestimmende Denkschule, teilweise noch lange darüber hinaus. Manche Universitäten wie Heidelberg, später auch München, wurden zeitweise von den Romantikern dominiert. Die Berliner Universität – die heute nach ihrem Begründer Wilhelm von Humboldt benannt ist – wurde 1810 sogar dezidiert im Geist der Romantik gegründet (Ziolkowski). Die Romantik umfasst also viele verschiedene Teilbereiche, die aber ähnliche Ziele verfolgen. In erster Linie heißt das: die Grenzen zwischen diesen Bereichen aufheben, eine Einheit von Kunst, Leben und philosophischer Erkenntnis erreichen. Auch die Naturwissenschaft ist dabei nicht streng von Philosophie und Kunst abgegrenzt; viele Romantiker sind auf mehreren Feldern tätig, wie der Geologe Henrik Steffens (1773-1845), der außerdem philosophische Vorlesungen hält, politische Traktate schreibt und sechzehn Bände Novellen vorlegt. Die romantische Naturwissenschaft lässt sich mit den Begriffen von Thomas S. Kuhn als wissenschaftliches Paradigma beschreiben. Kuhns Paradigmen bestehen nicht einfach aus einer bestimmte Menge von Experimenten und den daraus gezogenen Schlüssen. Es geht um etwas viel Größeres: nämlich um ein Feld aufeinander bezogener Disziplinen, Institutionen und Methoden, die darüber entscheiden, was eine wissenschaftliche Herangehensweise ist und ob ein Ergebnis innerhalb der vorgegebenen Regeln korrekt ist oder nicht. Dieses abstrakte Netzwerk ist eine Art Hintergrundrauschen des wissenschaftlichen Betriebs, über das der einzelne Wissenschaftler im Alltag nicht unbedingt nachdenken muss. Vielmehr hat er dessen Regeln bereits verinnerlicht und arbeitet nach ihnen (Kuhn, T.S. 24). Sie sind das, was der Philosoph Michel Foucault „das Unbewußte der Wissenschaft“ nennt, „die Einflüsse, die an [dem wissenschaftlichen Bewußtsein] hafteten, die impliziten Philosophien, die ihm zugrunde lagen, unartikulierte Thematik, die unsichtbaren Ordnung der Dinge 10). Wenn dennoch im Folgenden von der Biologie der Rede ist, dann immer im Bewusstsein, dass wir damit unsere Perspektive auf Texte der Vergangenheit beziehen, denen der Begriff unbekannt war. Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 6 Hindernisse“ (Die Ordnung der Dinge 11)3 – oder, anders ausgedrückt: wissenschaftliche Paradigmen beinhalten diejenigen Auffassungen und Methoden, die sich für den Wissenschaftler scheinbar von selbst verstehen. Dazu gehört etwa die Annahme, dass eine Publikation in Zeitschrift A ein höheres Ansehen genießt als eine in Zeitschrift B und darum wertvoller ist, dass ein bestimmtes Max-Planck-Institut renommierter ist als diese oder jene Universität, dass ein bestimmtes Experiment immer nach diesem oder jenem Schema durchgeführt werden sollte u.s.w. Wissenschaftliche Paradigmen sind zeitlich und räumlich begrenzt. Was für Deutschland zwischen 1800 und 1830 gilt, gilt nicht für andere europäische Kulturen, und was in der theoretischen Physik als unhintergehbare Voraussetzung gilt, muss es in einer anderen Disziplin nicht sein. Wissenschaftsgeschichte ist nach diesem Modell im Kern eine Abfolge von Paradigmen. Das heißt, dass Wissenschaft, entgegen früherer Ideale, keine objektive, asymptotische Annäherung an ein absolutes, für sich existierendes, Wissen ist. Der Untersuchungsgegenstand und die Methoden, mit denen man sich ihm nähert, sind erst durch das wissenschaftliche Paradigma geformt. Ein Aspekt, den Kuhn nicht berücksichtigt, ist das Verhältnis der Wissenschaften zu benachbarten Feldern, seien es benachbarte Disziplinen oder andere Felder wie die bildende Literatur, die Kunst oder die Philosophie. Auch deshalb gilt das, was Grünbein am Beispiel von Dante und Galilei beschreibt, nicht absolut. Zwar gibt es eine immer größere Menge von Erkenntnissen, die die Spezialisierung des einzelnen Wissenschaftlers fördert. Dies führt tendenziell zur Abschottung – nicht nur zwischen immer neuen wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch gegenüber den Künsten und der Philosophie. Aber dies ist eben nur eine Tendenz. Vielmehr werden diese Verhältnisse mit jedem neuen Paradigma neu ausgehandelt. Wie aber kommt es zu neuen Paradigmen? Ein Großteil der wissenschaftlichen Arbeit überhaupt bewegt sich innerhalb der jeweils aktuellen Paradigmen. Innerhalb des bereits existierenden Rasters vertiefen die meisten einzelnen Forscher Detailfragen, liefern Puzzlesteine, mit denen sich das jeweilige Wissen über einen Untersuchungsgegenstand vervollkommnen lässt (Kuhn, T.S. 3542). Dann aber gelangen sie an einen Punkt, wo das alte Paradigma keine befriedigende Erklärung mehr liefert. Was zunächst nach Anomalien oder Messfehlern aussehen mag, sammelt sich an. Je mehr dieser Hinweise es gibt, desto mehr verdichtet sich die Erkenntnis, dass die alten Modelle zur Erklärung dieser Phänomene schlicht nicht ausreichen. Neue Modelle werden formuliert, es kommt zu einer (natur)wissenschaftlichen Revolution (Kuhn, T.S. 52-109). Für die romantische Naturwissenschaft bahnt sich das Ungenügen der alten Paradigmen der Aufklärung in den 1790er Jahren an. Die Romantiker wenden sich nicht gegen die aufklärerische 3 Foucaults Überlegungen gelten natürlich nicht nur für Naturwissenschaftler. Auch Kuhns Modell, das dieser speziell für die Naturwissenschaften entwickelt, lässt sich mit entsprechenden Modifikationen auf andere Wissensbereiche übertragen. Der vorliegende Artikel folgt Kuhn aber insofern, als das Modell des wissenschaftlichen Paradigmas hier nur auf die Naturwissenschaften angewandt wird. Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 7 Naturwissenschaft an sich, wohl aber streben sie ihre Erweiterung durch bisher ausgeschlossene Wissensgebiete an. Ihrer Meinung nach besteht deren größter Fehler in einer einseitigen Betonung von Empirie und Rationalität, nach deren Regeln viele Phänomene nicht erfasst werden können, die ebenso Gegenstand der Naturwissenschaft sein müssten.4 Die Folge: die Naturwissenschaft verfehlt das eigentliche Wesen der Natur. Wie Gotthilf Heinrich Schubert formuliert: „In unsrer Wissenschaft sind gar viel spitzfündige Worte, aber das Lebendige haben sie todtgeschlagen, und jetzt sind wir eben darüberher das große Cadaver der Natur in dem Destillierkolben zu behandeln“ (Schubert in einem Brief an Johann Gottfried Herder. Bonwetsch 16). Mehr noch: die zergliedernden Augen und Hände des rationalistischen Wissenschaftlers führen dazu, dass, „was so offenbar die Erde einst gewesen war, ein vollkommenes Lebendiges, sie gegenwärtig nicht mehr sei,“ sondern nur noch „wie ein großer verloschner Feuerbrand“ (Ritter „Physik als Kunst“ 314) erscheine. Darum wendet man sich bisher unerklärten oder vernachlässigten Phänomenen zu, etwa dem Galvanismus oder dem so genannten „thierischen Magnetismus“ (eine Vorform dessen, was heute als Hypnose bezeichnet wird). Schubert fordert ein, „jene Nachtseite der Naturwissenschaft, welche bisher öfters außer Acht gelassen, mit nicht geringerem Ernst als andre allgemeiner anerkannte Gegenstände [zu] betrachten, vor allem „verschiedene[ ] jener Gegenstände die man zu dem Gebiet des so genannten Wunderglaubens gezählt hat, […] weil es mir schien, als ob aus der Zusammenstellung jener, von Vielen verkannten Erscheinungen, ein eigenthümliches Licht, auch über alle anderen Theile der Naturwissenschaft verbreitet würde“ (Schubert Ansicht 2) . Die einzelne Erkenntnis ist für ihn kein Selbstzweck, sondern Teil der Erkenntnis eines Höheren: dass es nämlich „in der ganzen großen Natur nur ein Gesetz“ (Schubert „Brief an Herder.“ Bonwetsch 16) gebe, „das Gesetz des Lebens und des Organismus selbst“ (Ritter „Physik als Kunst“ 313). Folglich ist das eigentliche Ziel von Schuberts Forschungen etwas, was von den wissenschaftlichen Paradigmen der Aufklärung und der Gegenwart gerade ausgeschlossen wird, nämlich das älteste Verhältnis des Menschen zu der Natur, die lebendige Harmonie des Einzelnen mit dem Ganzen, der Zusammenhang eines jetzigen Daseyns mit einem zukünftigen höheren, und wie sich der Keim des neuen zukünftigen Lebens in der Mitte des jetzigen allmälig entfalte (Ritter „Physik als Kunst“ 317). 4 Zu diesem Ungenügen siehe Eichner. Genauer zur Definition der romantischen Naturwissenschaft: Kamphausen und Schnelle; von Engelhardt. Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 8 Letztes Ziel der Naturwissenschaften ist, mit Johann Wilhelm Ritter gesprochen, die „Wiedervereinigung mit einer getrennten Natur, Zurückgang in die vorige Harmonie mit ihr“ (Ritter „Physik als Kunst“ 317). Weil dies auch eine Wiedervereinigung mit dem Göttlichen ist, spricht Schubert von einer „Physica sacra.“5 Aus heutiger Sicht ist dies eine Entgrenzung, ja Überforderung der Naturwissenschaft. Innerhalb des romantischen Paradigmas gehören Schuberts und Ritters Ziele dagegen zum wissenschaftlichen Mainstream. Die Entgrenzung der Wissenschaften führt gar so weit, dass Ritter sie selbst als Kunst ansieht. Denn die wichtigste Funktion der Kunst bestehe darin, dass sie der Selbsterkenntnis des Menschen und seiner Wiedervereinigung mit der Natur diene. Bislang habe sich die Kunst über die bisherigen Stufen Baukunst, Plastik, Malerei und Tonkunst diesem Ideal nur angenähert. Erst die Physik – bei dem Physiker Ritter meist Sammelbegriff für die Naturwissenschaft überhaupt – wird diesen Weg vollenden können, obwohl diese höchste aller Künste bis jetzt noch immer mehr den bloßen Namen einer Wissenschaft getragen […] Nicht aber bloß nach innen unendlich, Kunst überhaupt erst, ist, wovon wir sprechen; in jedem Sinn unendlich – allgemein – wird sie einst sein. Ihr nächster Gegenstand zwar ist das Individuum in ungetrübter eigener Wahrheit, Lebenskraft und Schönheit. Ein jedes Individuum aber ist sich solcher Gegenstand, und was eines Eigentum geworden, muß es allen sein. […] [W]ährend der Sterbliche wähnt, zu der Natur zurückzukehren, die er einst verließ, ist es ein Gott, der ihm entgegenkommt, und ihn jetzt in sich aufnimmt (Ritter „Physik“ 318).6 Wenn es einen Autor und Wissenschaftler gibt, der dieses romantische Paradigma begründet und in Idealform verkörpert, ist es der bereits erwähnte Friedrich von Hardenberg, besser bekannt unter seinem Pseudonym Novalis. Zwar dichtet er schon in seiner Jugend, der Naturwissenschaft widmet er sich ausführlich jedoch erst nach Abschluss seines eigentlichen Studiums. 1797 geht er an die Freiberger Bergakademie, auf diesem Gebiet damals das führende Institut Europas, um beim damals bereits berühmten Mineralogen Abraham Gottlob Werner (1749-1817) seine Kenntnisse des Bergbaus zu vervollkommnen. (Zur Rolle Werners für die Romantik vgl. Ospovat; Haberkorn) Gleichzeitig befasst er sich jedoch mit einer Vielzahl anderer Gebiete. An den Freund Friedrich Schlegel schreibt er, dass er sich neben dem eigentlichen, an sich bereits anspruchsvollen, Curriculum mit Poesie, Physik, Politik, Theosophie und Alchimie beschäftige. (Novalis „Brief an Friedrich Schlegel.“ Bd.4 242) Diese Felder und viele andere, u.a. Chemie, Mathematik und Geologie, aber auch „Romantik“ [Romantheorie], „Lebensgenusskunst,“ „Artistick“ und „Menschenlehre“ studiert 5 Obwohl er sonst viele seiner früheren Ansichten revidiert, gebraucht Schubert dieses Schlagwort bis ins hohe Alter; vgl. etwa den Brief an Albert Knapp (Bonwetsch 369). Mit „Kunst“ meint Ritter hier nicht irgendein Handwerk, sondern das Werk eines Genies – eine Auffassung, wie sie für die deutschsprachige Literatur bereits seit dem Sturm und Drang der 1770er Jahre als ästhetisches Ideal gilt. 6 Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 9 Novalis nicht nebeneinander her, sondern er versucht sie aufeinander zu beziehen. In einem Teil seiner Notizen jener Zeit, dem so genannten Allgemeinen Brouillon, unternimmt er das Projekt einer „Enzyklopädistik.“ Dort soll sämtliches Wissen der Welt nicht einfach nebeneinander, sondern nach seinem inneren Zusammenhang geordnet stehen. In dieser Sammlung von 1151 Einzelaufzeichnungen will er nicht nur die „Verhältnisse – Aehnlichkeiten – Gleichheiten – Wirckungen der Wissenschaften aufeinander“ darstellen. Letztlich geht es ihm um den Plan einer „wissensch[aftlichen] Algeber“ [= Algebra] (Novalis „Das Allgemeine Brouillon: Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99: Nr. 232.“ Bd. 3 280), eine „Vereinigung aller Wissenschaften, ihre[ ] wechselseitigen Erklärung und [die] Herausbildung einer ‚Universalwissenschaft’“ (207), die auch Teilbereiche der Kunst, besonders aber der Poetik umfasst. Über die Form, die das Buch erhalten soll, ist sich Novalis nicht recht im Klaren, und letztlich bleibt der Plan nach der Niederschrift der 1151 Bruchstücke unausgeführt. Trotz dieses Scheiterns bleibt das Projekt einer „Universalwissenschaft,“ die alle bekannten Disziplingrenzen sprengt, für Novalis wichtig. Nur versucht er es später innerhalb der Poesie zu verwirklichen. In seinen beiden erhaltenen Romanfragmenten spielt die Natur eine zentrale Rolle. So handelt der Roman Heinrich von Ofterdingen (1800/01) zwar von der Ausbildung eines mittelalterlichen Dichters. Notwendige Station auf diesem Weg ist jedoch eine regelrechte Initiation in die Naturerkenntnis. Dies geschieht, als Heinrich mit einem alten Bergmann namens Werner (!) in die Tiefen einer Höhle hinabsteigt.7 Das ist nicht nur eine Hommage an seinen Freiberger Lehrer Abraham Gottlob Werner, damit etabliert Novalis das Bergwerk als den Ort der Naturerkenntnis in der romantischen Poesie überhaupt (zur Geologie als Leitwissenschaft der Romantik vgl. u.a. Ziolkowski; Höppner). Poesie und Naturerkenntnis bleiben eine feste Einheit; eines lässt sich ohne das andere nicht betreiben. Bei kaum einem romantischen Autor ist die Wechselwirkung von Literatur und Naturwissenschaft so eng wie hier. Wichtig bleibt sie aber für die gesamte Epoche, auch für Gotthilf Heinrich Schubert und Johann Wilhelm Ritter, um die es im Folgenden gehen soll. Beide verstehen sich in erster Linie als Naturwissenschaftler, verfassen aber auch poetische Texte. Von Ritter sind diverse Gedichte erhalten, einige wenige davon auch in der Vorrede zu seinen Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, dem Text, um den es im Folgenden gehen wird. Noch stärker waren diese Ambitionen bei Schubert, der sogar als Romanautor debütierte und noch bis ins hohe Alter zahlreiche Erzählungen schrieb, wenn auch später vornehmlich mit pädagogischen Ambitionen. Im „Die Natur schien ihm nur deswegen so unbegreiflich, weil sie das Nächste und Traulichste mit einer solchen Verschwendung von mannichfachen Ausdrücken um den Menschen her thürmte. Die Worte des Alten hatten eine versteckte Tapetenthür in ihm geöffnet. […] Wie wunderte er sich, daß ihm diese klare, seinem Daseyn schon unentbehrliche Ansicht so lange fremd geblieben war. Nun übersah er auf einmal alle seine Verhältnisse mit der weiten Welt um ihn her; […] und begriff alle die seltsamen Vorstellungen und Anregungen, die er schon oft in ihrem Anschauen gespürt hatte“ (Novalis Bd. 1 252). 7 Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 10 Folgenden sollen sie mit jeweils einem exemplarischen Werk vorgestellt werden, wobei die Rolle des „Wissens von den Lebewesen“ im Mittelpunkt stehen wird. Schubert oder das System Gotthilf Heinrich Schubert wird 1780 als Sohn eines armen Pfarrers in Hohenstein-Ernstthal, einer kleinen Stadt im Erzgebirge geboren.8 Da er den Beruf seines Vaters ergreifen soll, wird er nach dem Besuch des Weimarer Gymnasiums, wo ihn Johann Gottfried Herder protegiert, zum Studium der Theologie an die Universität Leipzig geschickt. Sein eigentliches Interesse gehört aber schon zu diesem Zeitpunkt den Naturwissenschaften. Daher wechselt er 1801 zum Medizinstudium an die Universität Jena. Dort wird er Schüler Friedrich Schellings, der mit seiner Naturphilosophie das Denken der romantischen Naturwissenschaftler beeinflusst wie kein Zweiter nach ihm (vgl. Bach und Breidbach). Nach ersten literarischen Versuchen zieht Schubert 1805 mit seiner Familie nach Freiberg, um dort – wie vor ihm Novalis – bei Abraham Gottlob Werner seine Kenntnisse der Geologie zu vertiefen. Dort beginnt er auch mit seinem naturwissenschaftlichen Debüt, dem ersten Band der Ahndungen von einer allgemeinen Geschichte des Lebens (3 Bde., 1806-1821). Sein eigentlicher Durchbruch ist eine Serie von Vorträgen vor einer Dresdner Abendgesellschaft, die Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808). Mit diesem Buch, besonders mit den Darstellungen des „thierischen Magnetismus“, übt er einen ungeheuren Einfluss aus, insbesondere auf Heinrich von Kleist und E.T.A. Hoffmann (Barkhoff; Tatar). Gleiches gilt für den Nachfolgeband Die Symbolik des Traumes (1814).9 Dort formuliert Schubert die Idee einer verschlüsselten, universalen Traumsprache in uns, die noch Sigmund Freud in seiner Traumdeutung (1899) als Vorläufer seiner eigenen Forschung würdigt (Freud 347).10 Ab 1809 steht Schubert als Direktor des Nürnberger Realgymnasiums in Lohn und Brot. Der Tod seiner ersten Frau Henriette trägt zu einer tiefen persönlichen Krise bei, die bei Schubert zu einer religiösen Wende führt. Nach einem Intermezzo als Prinzenerzieher in Mecklenburg wird er 1819 als Professor für Naturgeschichte nach Erlangen berufen, 1826 durch Schellings Einfluss sogar nach München. Als er 1853 emeritiert wird und 1860 stirbt, ist er einer der berühmtesten Naturwissenschaftler Deutschlands. Die Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft entstehen eher aus Zufall und – wie oft bei Schubert – eigentlich gegen den erklärten Willen des Verfassers. Während seiner Dresdner Jahre überredet ihn der Autor Adam Müller im Winter 1807/08, dessen öffentlichen Abendvorträge 8 Zu Schuberts Biographie und Werk vgl. seine Autobiographie, die jedoch nicht in jedem Detail zuverlässig ist: Schubert Erwerb. Ergänzend dazu Merkel; Hoermann. 9 Als Faksimile ist die Ausgabe wieder erreichbar in: Schubert, Die Symbolik des Traumes, Heidelberg 1968. 10 Ansonsten erkennt Freud zwar Schubert als Vorläufer an, steht ihm aber skeptisch gegenüber; vgl. Freud 85f. Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 11 über Staatswissenschaften um eigene Vorlesungen zu ergänzen (Schubert Der Erwerb 227f.). Diese Vorlesungen machen ihn zur literarischen Berühmtheit, führen ihn zur Bekanntschaft mit Clemens Brentano und Heinrich von Kleist, der sich von den Abschnitten zum „thierischen Magnetismus“ zu seinen Stücken Das Käthchen von Heilbronn (1808) und Prinz Friedrich von Homburg (1811) anregen lässt. Mit der „Nachtseite“ des Titels sind tatsächlich vor allem das dreizehnte und das vierzehnte Kapitel des Buches gemeint, in denen sich Schubert mit dem thierischen Magnetismus, aber auch mit hellseherischen Erlebnissen beschäftigt. In ihnen sieht er Brücken zu einer höheren, göttlichen Existenzform, die wir normalerweise erst mit dem Tod erlangen, zu der wir so für Augenblicke aber bereits im Leben einen Zugang erhalten. Es ist eine astronomische Metapher, die Schubert hier benutzt. Die „Nachtseite“ hat zunächst nichts mit unerklärlichen Phänomenen oder den Abgründen der menschlichen Seele zu tun, wie etwa in E.T.A. Hoffmanns späteren Nachtstücken (1815/16). Der Begriff bezeichnet lediglich die nicht von der Sonne bestrahlte Seite eines Planeten oder Mondes. Nur Sonnenseite und Nachtseite gemeinsam ergeben das Ganze. Es geht also um eine Vervollständigung des Wissens durch jene Bestände, die von der rationalen Naturwissenschaft der Aufklärung bislang ausgegrenzt werden. Anders als Titel, Vorrede und Wirkungsgeschichte vermuten lassen, stellt Schubert aber nicht ausschließlich jene Nachtseiten dar. Sie werden stattdessen in eine Gesamtdarstellung der Natur eingebunden, und das, obwohl Schubert in der ersten Vorlesung gerade behauptet, dass er keine „vollständige Uebersicht über den Innhalt der gesammten [sic] Naturwissenschaft“ liefern will (Schubert Ansichten 2). Zunächst berichtet er von der „hohen, untergegangenen Naturweisheit“ (3) alter Völker, die ursprünglich Teil des religiösen Kultus ist. Ursprünglich leitet sie sich wohl von den Bewohnern von Atlantis her (47), doch von Geschlecht zu Geschlecht, sehen wir die eigentliche tiefe Wissenschaft statt zunehmen immer abnehmen […] So erscheint das, was bey uns Wissenschaft ist, in jener ältesten Zeit mehr als Offenbarung eines höheren Geistes an den des Menschen“ (50). Alle Geschichte reduziert sich für Schubert in letzter Konsequenz auf die Geschichte der Naturwissenschaft. Auch die Sprache dient ursprünglich der Naturerkenntnis, und tritt zuerst in metrischer, dichterischer Form hervor, bevor sie zur Prosa wird (60). Schubert und seine Zeitgenossen wollen so gesehen gar nicht in erster Linie zu neuen Erkenntnissen kommen. Vielmehr versuchen sie mit Ihren Mitteln das verloren gegangene Wissen der „Egyptier und Indier, Mexikaner und Chinesen, ja Isländer und Schweden“ (3) wieder einzuholen. Erst von dort ließe sich in wirklich neue Bereiche vorstoßen. Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 12 Während die ersten vier Vorlesungen hauptsächlich vom Wissen über die Natur handeln, liefert der weitaus größte Teil schlicht eine Beschreibung von ihr, wie sie sich für Schubert und seine Zeitgenossen darstellt. In der fünften bis zwölften Vorlesung werden zunächst das Weltall, dann die Gesteine und schließlich die Pflanzen- und Tierwelt beschrieben – nicht in jeder einzelnen Art, sondern vielmehr in ihrer gesamten Struktur. Am Ende steht selbstverständlich der Mensch als oberstes Glied der Schöpfung (219). Bemerkenswert ist aber, dass er nicht das zeitlich letzte ist, sondern zwischen zwei Reihen von Säugetieren steht. Für diese beiden ist er nicht nur der Schnittpunkt, sondern der „gemeinschaftlich höchste Gipfel der Vollendung beyder“ (217)11. Vor der Sintflut, so Schubert, existieren lediglich Pflanzen fressende Tiere, während sich kaum oder gar keine Fossilien von Raubtieren finden (275). Der Bildungstrieb dieser ersten Reihe strebt über die Elefanten und Cetaceen (Wale) direkt zum Menschen, kann sich ihm aber allenfalls im Affen annähern (284). Die zweite, nach der Sintflut entstandene Reihe ist dagegen Beispiel für eine gegenläufige Tendenz der Natur, nämlich „statt aufwärts zu steigen, sich allezeit in unvollkommnere Formen zu verirren. Eigentlich ist die ganze zweyte Reihe der Säugethiere, die der Raubthiere, ein solcher Abweg“ (285). Seit dem Auftreten des Menschen ist die Natur also in einem Verfallsprozess begriffen, der sich nur auf eine Art und Weise umkehren lässt: „Die Natur muß sich nach einem neuen und höheren Ideal umsehen, welches die schon erstorbene Gluth von neuem anfacht.“ Diesen Weg eröffnet der Mensch, indem er – und das ist der Inhalt der letzten beiden Vorlesungen – den Blick in „das höhere Geisterreich“ (287) des Göttlichen eröffnet. Zusammengehalten wird die universale Ordnung durch zwei Prinzipien: durch das Mittelglied und die Analogie. Sowohl zwischen den einzelnen Bereichen wie auch zwischen den Arten bestehen Übergänge. Diese sind nicht als zeitliche Abfolge gemeint, sondern als Nahtstellen innerhalb eines Systems. So fungieren die Metalle als Übergang zwischen der anorganischen und der organischen Natur (200f.), während die Flechten von der Seite der Pflanzen an das Reich der Steine grenzen (241). Die Polypen grenzen vom Tierreich aus an die Pflanzen (258f.), während sich der Delphin an der Grenze zum Menschen bewegt. Nicht nur halten sich Delphine aus einer inneren Sympathie mit Vorliebe in der Nähe von Menschen auf. Auch ihr Hirn ist dem menschlichen so ähnlich wie das keines anderen Tieres (289). Am erstaunlichsten ist aber, was sich bei seinem Tod ereignet: Der sterbende Delphin soll seine Jäger […] mit einem Blicke ansehen, in welchem sich der Schmerz und gleichsam ein sanfter Vorwurf oder ein Flehen um Mitleid so tief ausdrücken, als in dem menschlichen, und in welchem durchaus keine Spur des Thierischen ist. […] Vielleicht dämmert auch hier, in der Natur des sterbenden Thieres der erste Strahl eines Bewußtseins, und die Vorahndung eines künftigen höheren, – des menschlichen Lebens (290f.). 11 Der heute aktuelle Konflikt zwischen kreationistischen und evolutionstheoretischen Naturauffassungen spielt also für Schubert (noch) gar keine Rolle! Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 13 Hier sind wir aber bereits beim zweiten Bauprinzip – der Analogie. Das höhere Bewusstsein des Delphins im Angesicht des Todes deutet nämlich auf das voraus, was dem Menschen im Zustand des thierischen Magnetismus geschieht, der dem Menschen aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem Tode schon im diesseitigen Leben eine Aussicht auf die höhere Existenzform im Jenseits ermöglicht (357). Aus heutiger Sicht erscheinen solche Verbindungen willkürlich, wenn nicht sogar widersinnig und unwissenschaftlich. Tatsächlich argumentiert die ältere Forschung, Schubert greife immer dann zur Analogie, wenn er Sachverhalte nicht präzise erfassen könne (vgl. Elschenbroich). Eine neuere Arbeit von Tobias Leibold zeigt dagegen, dass hinter dieser „bisweilen sogar chaotische[n] Vernetzung disparater Diskursebenen“ (299) sehr wohl eine Methode steht. Zum einen leistet die Analogie eine plastische Vermittlung wissenschaftlicher Sachverhalte für ein Publikum von Nicht-Wissenschaftlern. Und zum anderen dienen sie tatsächlich der Vernetzung der verschiedenen Sachverhalte untereinander. Denn ähnlich wie Novalis in seinem Allgemeinen Brouillon tritt Schubert mit dem enzyklopädischen Anspruch an, nicht nur alles Wissen über die Natur in einem Werk zu sammeln, sondern die verschiedenen Wissensbereiche auch aufeinander zu beziehen. Das Bild der Natur, das Schubert entwirft, ist statisch und dynamisch zugleich. Es ist statisch, insofern er die Natur als System, als hierarchische Ordnung aufeinander bezogener Glieder beschreibt, und dynamisch, insofern er zugleich die Geschichte der Natur und des Menschen als eine Abfolge von drei aufeinander folgenden Epochen zeichnet. Am Anfang der Geschichte befindet sich der Mensch in „der ersten heiligen Harmonie mit der Natur, erfüllt von dem göttlichen Instinkt der Weissagung und Dichtkunst.“ Das menschliche „Urvolk“ lebt nahe am Pol, in dem Wunderlande Atlantis, wo die Gluth der noch jugendlichen Erde, einen beständigen Frühling, und dort wo jetzt das Land von beständigem Eise starrt, hohe Palmenwälder erzeugt. […] Damals hat nicht der Geist des Menschen die Natur, sondern diese den Geist des Menschen lebendig erfaßt […] Es hat in jenen Tagen nicht der Geist des Menschen den Gestirnen, sondern diese dem Daseyn des Menschen Gesetze gegeben, wie den Bewegungen der Erde, und die Weisheit der alten Welt war: Alles und ganz zu thun, was ihr die Natur gelehrt (Schubert Ansichten 4). Je stärker sich aber der Mensch von der Natur ablöst, desto mehr geht das ursprüngliche, poetische Naturwissen verloren. Die Naturwissenschaft der Griechen ist bereits eine Verfallsstufe (88), und um Christi Geburt hat das naturwissenschaftliche Interesse ganz aufgehört (11). Erst mit Kopernikus und Kepler gibt es einen Neuanfang, der sich in Schuberts Gegenwart anschickt, die wirklich wahre Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 14 Naturansicht wiederzugewinnen (13ff.)12 und letztlich – wie es ähnlich Ritter formuliert – die ursprüngliche Harmonie mit der Natur wiederherzustellen. Diesmal jedoch nicht als vorübergehender Zustand, sondern als Endziel. Mit den traditionellen Mitteln der aufklärerischen Naturwissenschaft allein ist dieses Ziel für Schubert freilich nicht zu erreichen. Daneben braucht es nicht nur die (Wieder)verschmelzung von Wissenschaft und Poesie, sondern auch die Verbindung mit einer künftigen, göttlichen Existenz unter christlichen Vorzeichen. Diesen Ausblick erlauben in der Gegenwart die erwähnten „Nachtseiten“ der Wissenschaft, weil heute nur sie ein Tor zur anderen Existenz öffnen. Doch letztlich geht es um eine neue, dritte Epoche der Geschichte, in der das Göttliche zur alltäglichen Existenz gehört: Der höhere Einfluß, welcher über dein [sic] jetzigen Daseyn ist wie über dem künftigen, vermag allein die neue Zeit mitten in der alten vorzubereiten […] Jene glückliche Nachwelt wird sich das durch ihr eignes hohes Streben wieder erringen, was in der ersten Vorwelt ohne ihr Verdienst, von der Natur gegeben war (382ff.). Eine solche Einteilung der Geschichte in drei Stufen – ein goldenes Zeitalter, Verfall mit nachfolgendem Neubeginn, dauerhafte Wiederherstellung des goldenen Zeitalters auf einer höheren Stufe – ist in der Romantik nichts Ungewöhnliches. Auch Ritters Physik als Kunst operiert mit diesem Modell, und insbesondere Novalis benutzt es in fast allen größeren Dichtungen (vgl. Mähl, Idee). Was Schuberts Ansichten davon unterscheidet, ist, dass er eine Vielzahl von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit in dieses Modell einzupassen sucht. Dass sich dabei zwischen den statischen und dynamischen Momenten seiner Beschreibung ein Widerspruch ergibt, scheint ihm zu entgehen. Dies ist möglicherweise dem Einfluss Schellings geschuldet, der Schuberts wichtigster philosophischer Lehrer ist. Zwar bezieht Schubert sich hauptsächlich auf dessen Naturphilosophie, dürfte aber auch mit dessen weiteren Schriften bekannt sein. In seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) entwirft Schelling „ein System des gesamten Wissens“ als „fortgehende Geschichte des Selbstbewusstseins,“ als „Stufenfolge von Anschauungen […], durch welche das Ich bis zum Bewußtsein in der höchsten Potenz sich erhebt“ (4f.). Dieses Unternehmen und die Naturphilosophie sind zwei aufeinander bezogene Projekte, die erst zusammen ein Ganzes ergeben. So wie die Transzendentalphilosophie vom Ich oder der Intelligenz auf das Objektive, die Natur kommen will, so sucht die Naturphilosophie, „von der Natur aufs Intelligente zu kommen,“ den Geist hinter den Naturerscheinungen zu erfassen (9f.). Diesen Prozess beschreibt Schubert und überbietet ihn zugleich. Für ihn ist der höchste Punkt des Prozesses nicht, dass die Natur in der Erkenntnis durch 12 Ohne Namen zu nennen, grenzt sich Schubert hier gegen Newton und Volta ebenso ab wie gegen den französischen Materialismus à la Descartes oder La Mettrie, „eine mechanische und handwerksmäßige Ansicht einer todten Natur […], in welcher sich wie Würmer, welche ein moderndes Gebein benagen nur noch die mechanischen Kräfte bewegen“ (14). Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 15 den Menschen zu sich selbst kommt, sondern ihre Überführung in eine göttliche Existenz, die mit den Mitteln der Philosophie gerade nicht mehr zu erfassen ist. Zudem übernimmt Schubert von Schelling das Modell einer Stufenfolge verschiedener Bewusstseinszustände. Aber für Schelling existieren diese Stufen in Wirklichkeit gleichzeitig. Er zerlegt sie nur in ein Nacheinander, um zu zeigen, wie das menschliche Bewusstsein zu sich selbst findet. Schubert dagegen stellt zwei eigene Stufenfolgen nebeneinander: eine zeitliche, die von der vergangenen Harmonie mit der Natur bis zu ihrer Wiederherstellung reicht, und eine hierarchische, die vom Weltall und den Gesteinen bis zum Menschen und über ihn hinaus bis zum Göttlichen reicht. Gegenüber Schellings Systemphilosophie ist dies ein Missverständnis, das sich aber für die Literatur und Naturwissenschaft der Romantik als äußerst produktiv erweist. Ritter oder das Fragment Einer der engsten Freunde und zugleich wichtigsten Anreger Schuberts war der Physiker Johann Wilhelm Ritter. Im Gegensatz zu Schubert, der eher als Lehrer und Popularisierer der Naturwissenschaften tätig war, war er als Forscher sehr viel produktiver und eigenständiger. Ritter gilt nicht nur als Begründer der Elektrochemie und Entdecker des ultravioletten Lichtes, er bereitete mit seinen Arbeiten auch die Entdeckung des Elektromagnetismus durch seinen Freund, den Dänen Hans Christian Ørsted, vor. Sein Leben verlief dagegen in weniger glücklichen Bahnen als das Schuberts (zu Ritters Biographie und Werk vgl. Wetzels; Richter). 1776 im schlesischen Samitz geboren, durchläuft Ritter zunächst eine Apothekerlehre, betreibt aber von Anfang an nebenbei eigene Experimente. Mit 20 Jahren schreibt er sich in Jena zum Studium der Naturwissenschaften ein. 1798 erscheint sein erstes Buch, der Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite. Schnell findet er Anschluss im Kreis der Romantiker, der sich zu dieser Zeit in Jena formiert. Dieser Kreis tauscht sich vor allem über Dichtung und Philosophie aus, aber auch über die naturwissenschaftlichen Themen des Tages. Die engste Freundschaft ergibt sich mit Novalis, der voll Bewunderung anmerkt: „Ritter ist Ritter und wir sind nur Knappen“ („Brief an Caroline Schlegel.“ Bd. 4 275.). Umgekehrt schreibt Ritter über die erste Begegnung, ihm „war schlechterdings nur eben, als wenn er einmal laut mit sich selber sprechen konnte“ (Ritter, Fragmente, XVIII). Johann Gottfried Herder wird für Ritter zum Mentor, wie er es für Schubert bereits ist; in dessen Haus lernen sich auch beide kennen und schließen sofort eine enge Freundschaft. Doch nach diesem Höhepunkt folgt für Ritter der Fall: 1802 soll er Professor in Jena werden, kann sich aber nicht habilitieren, weil er offiziell noch immer als Student eingeschrieben ist. Er scheitert schließlich am Widerstand der etablierten Professoren. Gleichzeitig löst sich der Jenaer Romantikerzirkel auf, Novalis und Herder sterben, Schubert geht nach Altenburg. Nach einer „Miss- Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 16 heirat“ schneidet ihn die Jenaer Gesellschaft. Besserung bahnt sich an, als er an die Bayerische Akademie der Wissenschaften berufen wird. Dort diskreditiert er sich jedoch durch Versuche zum sogenannten „Siderismus,“ das Wünschelrutengehen, das er als wissenschaftliche Methode etablieren will. Seine letzten Lebensjahre verbringt er in Isolation und pausenlosen Experimenten. Seine Selbstversuche zur Leitung von Strom durch den menschlichen Körper sind so extrem und selbstzerstörerisch, dass man sie teilweise bis heute nicht wiederholt hat. Dazu kommt eine wachsende Neigung zum Alkoholismus. Am 23. Januar 1810 stirbt er völlig verwahrlost und entkräftet. Schubert adoptiert Ritters Tochter Adeline und zieht sie gemeinsam mit seinem eigenen Kind auf. Für ihn geht mit dem Tod des Freundes der Aufbruch der Romantik zu Ende: Die anscheinend so viel versprechende, rüstige Jugend, […] die tüchtigsten Kämpfer der neuen Schule die Deutschland ein neues goldenes Zeitalter, glänzender als das erste, eine neue Blüthenzeit der Poesie und Wissenschaft bringen wollte, wo sind sie hin? […] Glaube mir, Ritter hat unter allen noch die honetteste Auskunft gefunden! („Brief an Emil von Herder.“ Bonwetsch 83). Kurz vor seinem Tod schließt Ritter jedoch noch ein bemerkenswertes Buch ab, um das es im Folgenden gehen soll: Die Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, die 1810 posthum erscheinen. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Sammlung von 700 Einzeltexten, die in der Länge zwischen einer Zeile und wenigen Seiten variieren; die einzelnen Bruchstücke sind grob nach ihrem Thema in 15 Einzelkapitel geordnet, zwischen denen es aber deutliche Überschneidungen gibt. Ritter selbst nennt sich lediglich als Herausgeber und gibt den Text als Sammlung von Notizen eines fiktiven Freundes aus, der anonym bleiben wolle (Ritter, Fragmente, II). Hinter dem scheinbaren Chaos steht jedoch eine Ordnung: Das Besondere an Ritters Fragmenten ist, dass sein Buch eine damals neuartige literarische Form der Romantik benutzt und auf das Gebiet der Naturwissenschaft überträgt. Ein poetisches Verfahren wird zu einem Mittel, naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Natürlich gibt es Fragmente im Sinne eines unvollständigen Textes, seit es überhaupt Schrift gibt. Dabei handelt es sich meist entweder um Texte, die nicht zu Ende geschrieben werden, oder aber ein Text ist unvollständig überliefert (Strohschneider). Das Neue am romantischen Fragment ist, dass es absichtlich als unvollständiger Text geschrieben ist. Abgeleitet ist diese neue Form von den „Maximen“ französischer Autoren wie François de la Rochefoucauld (1613-1680) und Nicolas Chamfort (1741-1794), die einen in sich abgeschlossenen, pointierten Gedanken präsentieren sollen. Das gilt zwar auch für das Fragment, das „gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet seyn [soll] wie ein Igel“ (Schlegel 197; Strack). Gleichzeitig versteht sich das Fragment aber als offene Form, die eine aktive Mitarbeit des Lesers fordert. Er ist es, der den Sinn des Textes nicht nur entziffert, sondern ihn sogar konstruiert und hineinlegt. Daher gibt es so viele Auslegungen ein und desselben Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 17 Fragments, so viele Leser bzw. Akte des Lesens es gibt. Das meint Novalis, wenn er in einer eigenen Fragmentensammlung schreibt: „Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn“ („Vermischte Bemerkungen. Nr. 125“ Bd. 2 470). Diese Sinnproduktion durch den Leser erfolgt nicht nur auf das einzelne Fragment hin, sondern auch auf ganze Fragmentsammlungen. Denn die einzelnen Fragmente können einander ergänzen, kommentieren oder sogar widersprechen. Dadurch sollen sie Denken und Erkenntnis im einzelnen Leser anregen. Der Ort, an dem Friedrich Schlegel und Novalis, die Begründer dieser neuen Form, zuerst mit ihr experimentieren, ist die von Friedrich und August Wilhelm Schlegel herausgegebene Zeitschrift Athenäum, die während ihrer kurzen Erscheinungszeit (1798-1800), zu dem Organ wird, in dem sich die literarische Romantik formiert und über ihre Konzepte verständigt. Das thematische Spektrum ist nicht festgelegt. Während Novalis sich in seinen Fragmenten über sehr verschiedene Themen auslässt, auch über die Naturwissenschaft, widmet sich Friedrich Schlegel meist Fragen der Poetik und der Kunstkritik. Wenn es jedoch darum geht, die Funktionsweise des Fragmentes zu beschreiben, dann benutzt Schlegel interessanterweise naturwissenschaftliche Metaphern. Wenn bei ihm etwa von „Verwandtschaft,“ „verschmelzen,“ „Mischung“ oder „Wechselwirkung“ die Rede ist, handelt es sich um zentrale Begriffe der Chemie um 1800 (vgl. Kapitza 92f.). Obwohl Schlegel im Unterschied etwa zu Novalis keine praktische Ausbildung in der Chemie besitzt, benutzt er diese Begriffe keinesfalls willkürlich. Indem Schlegel eine literarische Textsorte mit chemischen Metaphern schreibt, öffnet er die Literatur zur Naturwissenschaft hin – ganz im Sinne seines eigenen Konzepts einer progressiven Universalpoesie, die sämtliche Textarten in sich schließen soll („Athenäumsfragment Nr. 116“ Bd. 2 182). Aber damit eröffnet er auch den Austausch in die umgekehrte Richtung – nämlich Elemente der Poesie in die Naturwissenschaft einfließen zu lassen. Er formuliert in der Theorie, was Novalis in Texten wie dem Allgemeinen Brouillon bereits in die Praxis umsetzt. Wenn Ritter später eine Sammlung naturwissenschaftlicher Fragmente vorlegt, so kann er sich bereits auf solche Austauschprozesse zwischen Poesie und Wissenschaft berufen. Zwar gibt es bereits seit Hippokrates eine naturwissenschaftliche Tradition, Wissen in Aphorismen wiederzugeben. Tatsächlich wurde von einer älteren Forschungstradition konstatiert, dass Ritters Fragmente überhaupt nicht originell seien, ja dass sie sich in Form und Inhalt allzu sehr an Novalis anlehnten. Zeitweise wurde ihm sogar unterstellt, dass er einzelne Textstücke aus dessen Nachlass in seine eigene Sammlung hineinmontiert hätte. Belege dafür gibt es nicht. Doch während Novalis zumindest in seinen veröffentlichten Fragmenten die Naturwissenschaften eher am Rande behandelt, benutzt Ritter das Fragment fast ausschließlich als Transportmittel für naturwissenschaftliche Fragestellungen: Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 18 Möchten wohl alle Körper ohne Wärme, möchte alle Materie ohne Wärme, vielleicht gar keine Verwandtschaft mehr unter einander haben? – Aber ohne Wärme möchte wohl auch wohl gar keine verschiedene Materie, und keine überhaupt mehr stattfinden. (Ritter, Fragmente Bd. I 5) Mit diesem durchaus repräsentativen Text beginnt Ritters Sammlung. Die 15 Kapitel sind lediglich nummeriert und tragen keine eigenen Überschriften. So beschäftigt sich etwa Kapitel IV vorwiegend mit Optik, Licht und Farben, während in Kapitel VIII der Magnetismus, im Kapitel X die Phänomene des thierischen Magnetismus im Mittelpunkt stehen. Aber die thematische „Scheidung ist keineswegs scharf […], da ein Fragment oft in die Gegenstände anderer Abtheilungen überschweift, zerrissen aber der Zusammenhang verloren gegangen wäre“ (Ritter, Fragmente, LXXXVIII). Auch Ritter legt äußersten Wert auf die Sinnkonstruktion durch den Leser. Diese kann völlig verschieden ausfallen, selbst bei ein und demselben Leser, der Sinn des einzelnen Fragmentes kann sogar völlig kryptisch bleiben: Manche Fragmente selbst wird man nicht verstehen. Mit mehrern [sic] ist es mir selbst so gegangen. Nicht, als ob Zusammenhang darin fehlt, sondern, um des Gegenstandes, und der Höhe und Art seiner Ansicht wegen. […] Aber gleich vor- und nachher standen oft wieder verwandt [sic], die vollkommen klar waren, und so dachte ich, müßten es wohl auch jene in der Mitte gewesen seyn, und ich befände mich nur gerade nicht auf der Höhe jener Prämissen, und in der sie von selbst herbeybringenden Stimmung des Gemüthes, auf und in welcher der Verfasser war, als er sie schrieb. Mehrere z. B. werden sicher nur, wenn man verliebt ist, andere, wenn man liebt, verstanden, andere bey der höchsten Naturandacht, wieder andere, wenn man eben, wie man spricht, philosophirt, u. s. w. (LXXXVIIILXXXIX ) Ritter wendet sich damit radikal von der Wissenschaft der Aufklärung ab und setzt eine radikale Subjektivität, ja eine Veränderbarkeit des Subjektes selbst gegen eine Wissenschaft, die sich klar ausdrückt und jederzeit von jedem Leser verstanden werden soll. Einige Notizen lässt er sogar deshalb weg, weil sie „zu verständlich, oder deren Gegenstände schon zu gemein geworden waren“ (LXXXIX-XC). Wie Schlegel und Novalis verwendet Ritter in seinen Fragmenten gern Paradoxien, die erst durch den Leser entschlüsselt werden müssen. Stärker als diese beiden setzt er jedoch die Frage als rhetorische Form ein: Ist Eisen dasjenige Metall, aus dem alle übrigen entstehen, entstanden sind? – Was noch Bestandtheile, oder einen, enthält und hält, den die übrigen Metalle, nachdem sie aus ihm entstanden sind, nicht mehr halten? – Was noch einen Bestandtheil frey enthält, der [sic] jene gebunden enthalten?“ (Bd. I 6). Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 19 Was Ritter hier formuliert, ist keine rhetorische Frage, sondern sie ist wirklich offen, für ihn selbst wie für den Leser, der sie im Idealfall selbstständig weiterführen und beantworten kann. Parallel zu Schubert versucht auch Ritter alle Wissensbereiche enzyklopädisch miteinander zu verknüpfen. Mit Hilfe von Analogien und Metaphern „verlinkt“ auch er heterogene Bereiche im selben Fragment. Das hat zur Folge, dass die einzelnen Fragmente mit ihren Erkundungen weit über den thematischen Bereich der einzelnen Kapitel hinausgehen. Hier ein Beispiel: Newton verglich seinen Apfel mit dem Monde, und schloß von jenem auf diesen. Aber der Schluß läßt sich auch umkehren. Der Apfel ist eben so gut ein Trabant der Erde, als der Mond. […] Alles ist Weltkörper: Störung, –von derselben Art, wie, Erde und Mars, Saturn und Jupiter sich stören. Das System dieser Störungen ist das System chemischer … Verwandtschaften. Alle Chemie ist Astronomie. Jeder dieser kleinen Planeten hat seine Atmosphäre oder Schwersphäre so gut, wie ein großer Weltkörper; – dies ist schon faktisch. – Alles stört sich. Schönste Störung: – Liebe. Blume, Frucht, Pflanze, Saamen, Kind, Jüngling, Mann und Frau: – Weltkörper, – sie stören sich.“ (Ritter, Fragmente Bd. I 49f.) Die Kette der Assoziationen beginnt also in der Physik, geht von dort zur Astronomie, zur Chemie, zur Biologie und kehrt schließlich zur physikalischen Ausgangsmetapher zurück. So wird ein dichtes Netz von Assoziationen geknüpft, das nicht nur ein Kapitel mit einem anderen, einen Wissensbereich mit jedem anderen, sondern auch jedes Fragment zu jedem anderen in Beziehung setzt. Anders als bei Schubert haben wir es jedoch bei der Natur nicht mit einem fest gefügten System zu tun, das sich hierarchisch und linear vom Gestein über Pflanze, Tier und Mensch bis zum Göttlichen darstellen lässt. Sondern es handelt sich um ein Chaos aus einzelnen Bruchstücken, deren genaue Beziehungen immer erst aktiv durch den Leser hergestellt werden – genauer gesagt, durch den Akt der Interpretation. Dies kann der Leser für jedes einzelne Kapitel vornehmen, denn die Fragmente sind dort jeweils nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung geordnet. Das heißt, er kann und soll damit den Denkprozess des Autors in seiner zeitlichen Folge nachvollziehen. Er kann und soll aber auch Bezüge über die Kapitelgrenzen hinweg herstellen, auf den gesamten Bestand der 700 Fragmente hin, die wiederum nur ein Bruchstück des menschlichen Wissens über die Natur sind. Mehr noch: da sich ja die Disposition jedes einzelnen Lesers je nach seiner momentanen Verfassung ändert, wird das Netz der Beziehungen bei jeder Lektüre neu und anders erzeugt. Aus heutiger Sicht wirken solche Verbindungen zwischen den verschiedenen Wissensbereichen chaotisch, beliebig, teils aberwitzig und wurden von der Forschung lange nicht ernstgenommen.13 Für Ritter sind sie es nicht, weil alle Bereiche der Natur mit allen anderen zusammenhängen. 13 So schreibt Rudolf Haym in seiner Romantischen Schule, einer der einflussreichsten Arbeiten zur Epoche überhaupt, über Ritters Fragmente: „Weit am häufigsten stoßen wir auf verworrene, zerflossene, aufgeweichte Gedanken, auf halbe und Viertelsgedanken, so bunt, aber auch so vergänglich wie Seifenblasen. Unverdaute Brocken des neusten Idealismus werden mit etwas Chemie oder Physik überzogen. […] Fast ist man froh, zwischen all’ diesen Tollheiten auch noch auf Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 20 Außerdem gibt es für ihn eine eindeutige Leitwissenschaft, die Physik. Nicht nur ist es, wie der Titel sagt, gerade ein „Physiker,“ der als Autor auftritt. Die Physik ist für Ritter viel mehr: eine Königsdisziplin, die für die Erkenntnis der Natur einen zentralen Stellenwert hat, wie auch Sammelbegriff für Naturerkenntnis überhaupt. Selbst die Geschichtsschreibung14 wird als Feld der Physik vereinnahmt. Gleichzeitig wird die Physik nicht nur den Wissenschaften, sondern auch den Künsten zugeschlagen, insofern für Ritter die Künste vor allem Mittel der Naturerkenntnis sind. Eine autonome Funktion haben sie bei ihm nicht. Welchen Stellenwert hat nun das Gebiet der Biologie innerhalb von Ritters Gedankengebäude? Wie schon bei Schubert sind Aussagen über Pflanzen und Tiere nicht für sich selbst interessant, obwohl sie im IX. Kapitel ihren eigenen thematischen Schwerpunkt bilden. Wie dort sind sie vor allem Teil eines größeren Zusammenhangs. Doch während dieser eine hierarchische, systematische Ordnung entwirft und vor allem die Eigenschaften einzelner Arten beschreibt, interessiert sich Ritter vor allem für die physiologischen Eigenschaften der Organismen, wie etwa in diesem Fragment: Sind diejenigen thierischen Theile, in denen der Lebensproceß am langsamsten vor sich geht, nicht auch die specifisch schwersten, die, deren Theile am stärksten untereinander zusammenhängen? – Vergl. Knochen, Nägel, Zellgewebe, Muskeln, Nerven, u. s. w. Je specifisch leichter sie werden, desto stärker und rascher geht auch der chemische und der Lebensproceß in ihnen vor sich“ (Ritter, Fragmente, 29f.). Pflanze und Tier interessieren vor allem als Träger so genannter „Imponderabilien“ wie magnetischer Ströme oder einer allgemeinen Lebenskraft, die sich physikalisch als galvanischer Strom im Körper äußert. Oder es geht um sehr globale Analogien wie „Pflanze : Thier = Erde : Metall = Indifferenz : Pol“ (67) oder: Es ist der Begattungsact der Pflanze mit der Erde, in welchem die Pflanze selbst wieder empfangen wird. Im Begattungsact der Blüthe wird die Erde die Saamenhülle, denn die Erde selbst ist nichts, als der gediehene Keim des Saamens. So lange der Keim noch von der Erde geschieden ist, hat die Begattung statt. – So ist also jede Rose schon ein Rosenkönig, und was man jetzt so nennt, ein König des zweyten Grades. Alle Blumen sind Blumenkönige. Die Erde selbst ist aller Reich oder Blume (50f). kabbalistische Zahlenspielereien und auf Etymologien im Styl des Kratylus und Cicero De natura Deorum zu stoßen: denn jeder Zweifel schwindet nun, daß eine der Hauptursachen dieser krankhaft wuchernden, wilden Geistreichigkeit die Unbildung und die Unwissenheit des Verfassers ist“ (617f.). „Nicht Geschichte der Physik, sondern Geschichte = Physik = Geschichte“ (88). Dies ist besonders interessant vor dem Hintergrund einer fundamentalen Umwälzung in den damaligen Naturwissenschaften, nämlich ihrer „Verzeitlichung.“ Angesichts der Erkenntnis, dass die Erde wohl weit älter ist als die 6000 Jahre, die man angesichts der Bibel bisher für ausgemacht gehalten hat, spielt nun der Faktor der Dynamik, der Veränderung der Erde über lange Zeiträume eine weit größere Rolle; vgl. dazu Lepenies. Über die Gleichsetzung von Physik und Geschichte versucht Ritter diesen dynamischen Faktor in die Naturwissenschaften einzubinden. Wie bei Schubert wird dabei die menschliche Geschichte auf den Faktor des Wissens über die Natur reduziert. 14 Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 21 Ein kohärentes Bild ergibt sich so nicht. Wo Novalis und Schubert am Ende wieder eine kosmische Harmonie heraufbeschwören, findet sich Ritter mit seinen Fragmenten an einer Position wieder, wo ihn Schlegels poetologische Konzepte hinführen: zwischen Chaos und System. System und Fragment „Ein romantischer Autor ist ein Autor, der […] Gotthilf Heinrich Schubert für einen Psychologen und Johann Wilhelm Ritter für einen Physiker hält“ (Hacks 86). So der Dramatiker Peter Hacks in seinem Essay Zur Romantik (2001). Das ist als Beleidigung gemeint: Für Hacks, der die deutsche Romantik insgesamt für eine Verschwörung des englischen Geheimdienstes hält, welche die Ausbreitung der französischen Revolution eindämmen soll, besteht die romantische Wissenschaft aus „szientifische[m] Tönen“ ohne Substanz. Ihre Wirkung erklärt er zum einen daraus, dass die literarischen Autoren von der Wissenschaft fasziniert sind, weil sie selbst unfähig zu wirklicher Dichtung sind und ihre Texte daher mit pseudo-wissenschaftlichen Inhalten füllen können. Zum anderen ist sie Teil einer bewussten Verwirrungsstrategie, die den Blick auf die wirklich brennenden Fragen verstellt: „Die Art von Wissenschaft, deren sich die Gegenrevolution befleißigt, ist die Wissenschaft, falsche Fragen zu stellen, und dann auch die, keine richtigen Fragen zuzulassen.“ Oder schlichter: „Diese Partei wollte nicht, daß die Welt kapiert werde“ (87ff.). Selbst wenn die Polemik des bekennenden Marxisten Hacks historisch falsch ist: sie trifft doch einen wahren Kern. Ritter und Schubert sind tatsächlich Zentralgestalten der romantischen Epoche, und zwar gerade in den von Hacks genannten Disziplinen. Sie sind aber auch typisch für die romantische Naturwissenschaft insgesamt; sowohl dafür, was innerhalb der deutschen Romantik als Naturwissenschaft gilt, als auch dafür, in welchem Verhältnis diese Naturwissenschaft zu den Künsten und der Philosophie stehen soll. Nicht umsonst sind sie es, an denen sich auch die Kritik des späteren 19. Jahrhunderts entzündet, wenn sie die Romantik insgesamt abwerten will. Gerade Schubert wird später als Beispiel für die angebliche Unwissenschaftlichkeit der Romantiker angegriffen. Der berühmte Chemiker Justus von Liebig (1803-1873) verspottet ihn bei seiner Antrittsvorlesung an der Münchner Universität, während Schubert dort noch einen Lehrstuhl innehat. Für Liebig ist die romantische Naturwissenschaft überhaupt „die Pestilenz, der schwarze Tod des Jahrhunderts“ (Liebig 29), an die er selbst zwei Jahre seines Lebens verschwendet habe. Solche Ansichten sind symptomatisch für eine Zeit, für die technischer Fortschritt und Rationalität alles gilt. Sie sieht in den Romantikern, aber auch in Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten, kaum mehr als den „Fehler einer deutschen Uranlage,“ den „Hang zur Deduction gegenüber der Induction, zur Speculation, Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 22 deren zu stark geschwellter Luftball leicht im Steigen platzt, gegenüber der auf sicherem Grunde weilenden Empirie“ (Du Bois-Reymond 24f.).15 Als Galionsfiguren der romantischen Naturwissenschaft haben beide Autoren eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten: Beide haben eine ganzheitliche Vorstellung der Natur, in der jeder Bereich mit allen anderen verbunden ist. Das gilt auch über den für uns selbstverständlichen Umfang der Naturwissenschaft hinaus – beide ziehen ausdrücklich Verbindungen in das Gebiet der Philosophie, der Theologie und der Kunst. Die Grenzen zwischen der Naturerkenntnis und diesen Gebieten werden durchlässig für Austauschprozesse. Tendenziell werden diese anderen Bereiche allerdings oft als Teilgebiete den Naturwissenschaften zugeschlagen. Oder es wird zumindest behauptet, dass sie – wie die Naturphilosophie Schellings, oder die Kunst bei Ritter – der Erkenntnis der Natur und der harmonischen Wiedervereinigung mit ihr dienen. Für Schubert und Ritter wurzelt die Natur letzten Endes im Göttlichen. Für beide ist das, was wir heute Biologie nennen, integraler Bestandteil dieses größeren Zusammenhangs. Dabei ist das eigentliche Faktenwissen sekundär gegenüber der Funktion der Lebewesen in einer Kosmologie, der sie untergeordnet bleiben. Und schließlich suchen sowohl Ritter als auch Schubert nach geeigneten Wegen, um diesen größeren Zusammenhang darzustellen. Dabei übernehmen sie Schreibweisen, die normalerweise der Poesie zugeordnet sind. Hier zeigt sich aber ein erster wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Autoren: Für Schubert geht es darum, mittels der Poesie den Urzustand der Sprache und der Naturerkenntnis wiederherzustellen. Denn ursprünglich, so schreibt er in den Ansichten, sei alle Sprache in Versen gewesen. Darum ist auch das in den Versen der alten Ägypter oder Inder enthaltene Wissen ursprünglicher und tiefer als alles, was wir mit den Mitteln der gegenwärtigen Wissenschaftssprache in Erfahrung bringen können. Wenn Schubert also seine Darstellungsweise mit poetischen Elementen wie Metaphern, Analogien oder der Auslegung von Goethes Erzählung Das Märchen (1795) als naturphilosophische Allegorie (Schubert Ansichten 23ff.) anreichert, dann handelt es sich um den Versuch einer Annäherung an diesen Naturzustand, der durch die Rückkehr zur kosmischen Harmonie auf einer höheren Ebene eingelöst werden soll. Bei Ritter erhält das poetische Verfahren des Fragmentes eine ganz andere Funktion. Es soll keine kosmische Harmonie abbilden, unabhängig davon, ob sie bereits existiert oder erst hergestellt werden soll. Vielmehr wird die poetische Form selbst zum Mittel der Erkenntnis im Zusammenspiel von Text und Leser. Dies führt zu einer aktiveren Rolle des Lesers, im Idealfall zur Vertiefung seiner Erkenntnisse. Das Fragment führt aber nicht zu einem harmonischen System, sondern zur belebenden, aber haltlosen, Pendelbewegung zwischen System und Chaos. Wo Schubert Gewissheiten 15 Die Ausführungen des Autors, der zu den renommiertesten Naturwissenschaftlern seiner Zeit gehörte, gipfeln im Vorwurf an Faust, dass er „besser gethan hätte, Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen und Elektrisirmaschine und Luftpumpe zu erfinden“ (23). Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 23 beschreibt, die durch die harmonische Ordnung des Kosmos abgesichert sind, bleiben Ritters Fragmente notwendigerweise tastend und vorläufig, da ihre Bedeutung und ihr Zusammenhang in jedem Akt des Lesens und Interpretierens neu hergestellt werden. System und Fragment: Diese gegenläufigen Modelle haben auch mit inneren Widersprüchen in der romantischen Philosophie zu tun. Auf der einen Seite gibt es ganzheitliche Modelle, die alle Philosophie aus einem einzigen Satz abzuleiten suchen. So etwa Johann Gottlieb Fichte, der seine gesamte Wissenschaftslehre (1794) auf den einzigen Satz „Ich = Ich“ und dessen Ableitungen aufbaut. Hier oder in Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800) erscheint die gesamte Philosophie als harmonisches, logisch aufgebautes, klar strukturiertes System. Auch wenn Schubert nicht behauptet, Philosophie zu betreiben, sind seine Ansichten in ihrem Aufbau solchen Systemen verwandt. Dem gegenüber stehen Ansätze, in denen ein solch widerspruchsfreier Aufbau nicht möglich ist. In Novalis’ und besonders Friedrich Schlegels Poetik des Fragments bleibt das Paradox gerade als Paradox bestehen, kann die Reflexion ihr Ziel nie ganz erreichen, bleibt der Erkenntnisprozess stets im Fluss (Hühn). Ein solcher fließender Charakter seiner Ausführungen ist es, den Ritters Fragmente anstreben. Auch hierfür gibt es eine philosophische Grundlegung. Wie die idealistische Philosophie nämlich auf der einen Seite Ansätze zur Systematisierung der Philosophie entwickelt, so zeigt sie andererseits Grenzen der menschlichen Erkenntnis auf. So etwa, wenn Novalis in seinen philosophischen Aufzeichnungen formuliert, das oberste Prinzip der Philosophie müsse „schlechterdings Nichts Gegebenes, sondern ein Frey Gemachtes, ein Erdichtetes, Erdachtes, seyn“ („Philosophische Studien 1795/96 [‚Fichte-Studien’].“ Bd. 2 273). Oder wenn Schelling die Kunst „das einzige wahre und ewige Organon der Philosophie“ nennt: Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das allerhöchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet […]. Die Ansicht, welche der Philosoph von der Natur künstlich sich macht, ist für die Kunst die ursprüngliche und natürliche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt […] denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten (Schelling 299). In dieser Hinsicht ist die Kunst (einschließlich Poesie, Musik etc.) auch der Wissenschaft eindeutig überlegen. Obwohl beide dasselbe Ziel haben, nämlich die Erkenntnis dessen, „was ist“, löst die Kunst mit Hilfe des Genies diese Aufgabe problemlos und definitiv, während sie für die Wissenschaft eine unendliche bleibt (294). Auf das Absolute lässt sich demnach vorläufig nur mit den Mitteln der Kunst verweisen. Man kann es nicht aussprechen, aber darauf hindeuten. So gesehen, sind Ritters Fragmente in ihrer Verbindung von poetischer Form und naturwissenschaftlichen Inhal- Stefan Höppner // System und Fragment (2010) 24 ten sowohl der Versuch, das Absolute einzuholen, wie auch das Eingeständnis, dass sie es nicht unmittelbar darstellen können. Eine Vision gibt es allerdings – dass nämlich die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren (300). Wenn man dieses Ziel verfolgt, dann muss man die Naturwissenschaft der Poesie annähern. Diese Ziele verfolgen Schubert und Ritter mit ihren jeweiligen Darstellungsweisen. 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